Wolfsfalle - Bernd Franzinger - E-Book

Wolfsfalle E-Book

Bernd Franzinger

4,8

Beschreibung

In der Asche eines Krematoriums wird ein wertvoller Platinring gefunden. Er trägt die Gravur „In ewiger Liebe, deine Leonie“. Eine Frau gleichen Namens erscheint bei der Polizei und meldet ihren Freund als vermisst. Am Abend dieses schicksalhaften Hochsommertages erhält Wolfram Tannenberg eine SMS, in der ihm Leonie mitteilt, dass sie ihn dringend sprechen müsse. Der Kriminalbeamte rast sofort zum Studentenwohnheim. Ein Alptraum beginnt: Als er nach tiefer Bewusstlosigkeit im Appartement der Studentin erwacht, ist Leonie tot - brutal ermordet. Die Indizien sprechen eine eindeutige Sprache: Tannenberg muss der Täter sein. Völlig verzweifelt entschließt er sich zur Flucht. Von der Polizei per internationalem Haftbefehl gesucht, von Profikillern gejagt, weiß er weder, wem er noch trauen kann, noch, wie er seine Unschuld beweisen soll.

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Titel

Bernd Franzinger

Wolfsfalle

Tannenbergs fünfter Fall

Impressum

Alle Personen und Namen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig

und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2005 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2007

Lektorat: Isabell Michelberger, Meßkirch

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Irmela Nothdurft

Gesetzt aus der 9,7/12 Punkt GV Garamond

ISBN 978-3-8392-3218-7

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Zitat

›Homo homini lupus‹ *

T. Hobbes

* Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf

1

»Edel geht die Welt zugrunde: Ein 1500 Euro teurer Platinring in der Asche einer Tierkörperbeseitigungsanlage«, murmelte Tannenberg kopfschüttelnd vor sich hin. »Sachen gibts.«

Der Lichtschein seiner Schreibtischlampe spiegelte sich in dem silberfarbenen Metall als kleiner, greller Leuchtpunkt wider. Er drehte den Ring, doch der gleißende Punkt verharrte unbeeindruckt an derselben Stelle. Schmunzelnd legte er den Platinring in die Kuhle seiner geöffneten linken Hand und ließ ihn darin ein paarmal herumhüpfen.

Nach mehreren erfolglosen Versuchen, das wertvolle Schmuckstück über den Knöchel seines linken Ringfingers zu drücken, steckte er trotzig den Ring an den kleinen Finger, wo dieser sich auch problemlos bis zum Handteller durchschieben ließ. Dann zog er ihn wieder ab und betrachtete die Innengravur. ›In ewiger Liebe deine Leonie‹ stand dort in das edle Metall eingefräst. Er drehte den Platinring im Urzeigersinn ein Stückchen weiter.

Aber wieso steht da kein Datum drin?, dachte er. In einen Ehering wird doch immer der Tag der Trauung eingraviert.

Nachdenklich brummte er auf. Da er diese Frage nur sich selbst gestellt hatte, erhielt er natürlich auch keine Antwort – dafür aber eine Inspiration: Plötzlich erinnerte er sich nämlich an ein Geschicklichkeitsspiel, mit dem er und sein älterer Bruder sich in ihrer Kindheit oft stundenlang die Zeit vertrieben hatten. Die einzigen Spiel-materialien, die sie dafür benötigten, war ein Trauring der Eltern und die mit einem Sekundenzeiger ausgestattete Küchenuhr.

In Windeseile hatte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission Akten, die Schreibtischunterlage und diverse andere Utensilien zur Seite geschoben. Er zückte ein Taschentuch und polierte mit flinken Bewegungen die freigeräumte Resopalplatte. Dann stellte er den wertvollen Platinring auf die spiegelglatte Oberfläche, drehte ihn mit den Fingerkuppen seiner Daumen und Zeigefinger um 90 Grad, so dass er sich genau senkrecht zu seiner Körperachse positionierte.

Nach einer kurzen Konzentrationsphase schleuderte er beide Hände zeitgleich so geschickt nach außen, dass der Ring, von einem unglaublichen Rotationseffet angetrieben, als durchsichtiger Silberball über die Schreibtischplatte zu tänzeln begann. Fasziniert folgte Tannenbergs gedankenversunkener Blick dem funkelnden Kreisel, der sich wie von unsichtbaren Marionettenfäden geführt in elliptischen Bahnen über die Tischplatte hinwegbewegte.

Sieht irgendwie aus wie eine Flipperkugel, dachte er. Nur eben mit dem gravierenden Unterschied, dass man durch sie hindurchschauen kann.

Plötzlich schlug die silbrige Kugel einen Haken, schoss direkt auf seinen Bauchnabel zu und sprang über die Tischkante hinweg in seine reflexartig geöffnete Hand. Lächelnd schickte er den Ring erneut auf die Reise, diesmal allerdings mit einem anschließenden Blick auf die Armbanduhr.

Knapp vierzig Sekunden – gar nicht schlecht!, lobte er sich selbst, nachdem sich der Platinring trudelnd auf die Seite gelegt hatte.

Er wiederholte das Kreiselspiel noch mehrere Male, schaffte es aber nicht, die im ersten der mitgestoppten Versuche erreichte Bestzeit zu übertreffen. Er nahm den Ring vom Tisch und betrachtete abermals die Innengravur. Bereits nach kurzer Zeit lösten sich jedoch seine Augen wieder von der geschwungenen Inschrift. Sein versonnener Blick durchdrang den Platinring und fiel auf einen roten Aktenordner.

Das ist genau der Song, der jetzt passt!, stellte er schmunzelnd fest. Er ließ den Ring noch einmal über den Tisch tanzen und sang dabei:

»I fell into a burning ring of fire

I went down, down, down

And the flames went higher

And it burns, burns, burns

The ring of fire, the ring of fire.«

»Vögelchen, die morgens singen, hat abends die Katze gefressen!«, erklang plötzlich die markante Stimme Dr. Schönthalers, der gerade Tannenbergs Büro betrat. »Sag mal, hast du etwa Drogen genommen?«

»Was? Warum?«, gab der Angesprochene konsterniert zurück.

»Na ja, Wolf.« Er blieb stehen und blickte auf seine Armbanduhr. »Es ist jetzt genau 8 Uhr 49. Und um diese Uhrzeit bist du elender Morgenmuffel doch sonst nie gut gelaunt. Außerdem ist auch noch Montag.«

Tannenberg reagierte mit einem kaum zu beschreibenden Geräusch, das nur schwerlich mit menschlichen Lautproduktionen in Verbindung zu bringen war.

Dr. Schönthaler bedachte ihn daraufhin mit einem herausfordernden Grinsen. »Da ist doch etwas faul, alter Junge, nicht wahr?«

»Quatsch!«

Der Rechtsmediziner hatte inzwischen Tannenbergs Schreibtisch erreicht. Mit seinen Adleraugen hatte er natürlich sofort erspäht, dass sein bester Freund, kurz nachdem er ihn bemerkt hatte, etwas in seiner Hand hatte verschwinden lassen.

»Komm, zeig mal dem lieben Onkel Doktor, was du da gerade vor ihm versteckt hast!«, forderte er mit kurzem, hartem Tonfall.

Tannenberg warf ihm einen irritierten Blick zu. Dann befolgte er die Anweisung und öffnete zögerlich seine rechte Hand. »Ach, nichts Besonderes, nur ein Ring«, sagte er eher beiläufig.

»Nichts Besonderes, nur ein Ring«, äffte ihn der Gerichtsmediziner nach, während er ihm gegenüber Platz nahm. Der schon etwas betagte Bürostuhl protestierte mit einem ächzenden Quietschen. Er schlug sich an die Stirn. »Ich Hornochse! Jetzt versteh ich endlich! Der Herr Hauptkommissar trägt sich mit Heiratsabsichten!«

»Heiratsabsichten?« Der Kriminalbeamte lachte schallend. »So ein Blödsinn!«

»Nein, nein. Mir ist nun auch klar, warum du eben das alte Johnny-Cash-Stück bemüht hast. Natürlich! Ich bin nur zu spät gekommen.«

»Wieso?«

»Na, wie lautet wohl die erste Strophe dieses legendären Country-Songs?«

Tannenberg hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ich erinnere mich nur an den Text des Refrains.«

»Von wegen, du alter Schwerenöter! Du kennst ganz genau den Inhalt der ersten Strophe«, behauptete Dr. Schönthaler und intonierte:

»Love is a burning thing

And it makes a fiery ring.

Bound by wild desire

I fell into a ring of fire.

Deswegen auch die frühmorgendliche Endorphinausschüttung.«

»Was für’n Ding?« Tannenbergs Stirn glich einer ungebügelten, zerknitterten Tischdecke.

»Endorphine sind körpereigene Drogen, die in besonders euphorischen Glücksmomenten ausgeschüttet ...«

»Komm, Rainer, hör jetzt mal auf, hier wild herumzufantasieren!«, würgte Tannenberg den dozierenden Gerichtsmediziner ungehalten ab. »Was willst du überhaupt?«

»Och, eigentlich nichts Konkretes. Ich hatte nur Sehnsucht nach dir.«

Tannenberg sondierte sein Gegenüber mit einem verwunderten Gesichtsausdruck. »Aber wir haben uns doch erst gestern Abend getroffen.«

»So, haben wir das?«

»Ja, und zwar zum Schachspielen. Wenn ich dich daran erinnern dürfte: Ich hab dich zweimal hintereinander in geradezu genialer Manier mattgesetzt.« Tannenberg reckte stolz den Hals zur Zimmerdecke hin. Etwa zeitgleich legte er den Ring vor sich auf den Schreibtisch. Dann klatschte er seine Handflächen ein paarmal so aneinander, als wolle er sich demonstrativ selbst applaudieren. Gleich anschließend nahm er wieder den Platinring auf und ließ ihn abermals in seiner Hand verschwinden.

Dr. Schönthaler grinste. »Na, nun werd mal nicht gleich übermütig, du alter Angeber. Wollen wir doch mal ehrlich sein. Du hast doch nur deshalb gewonnen, weil du mich mal wieder mit deinem köstlichen Mirabellenschnaps vorsätzlich narkotisiert hast.«

»Von wegen!«

»Außerdem hab ich dich gewinnen lassen«, verkündete der Rechtsmediziner mit einem triumphalen Schmunzeln auf den Lippen. »Ich wollte es dir ja eigentlich gar nicht sagen, schließlich weiß ich ja aus Erfahrung, dass du nicht verlieren kannst. Bei der Zusammensetzung deiner genetischen Grundausstattung wurde damals nämlich die Abteilung ›Frustrationstoleranz‹ gänzlich vergessen.«

»Was? Sag mal, hast du heute deinen Fremdwörtertag?«

Nach dieser gelungenen Attacke schien Dr. Schönthaler plötzlich das Interesse an einer Fortsetzung der unter den Freunden häufig ausgetragenen Wort-Scharmützel verloren zu haben. Kommentarlos ergriff er Tannenbergs Hand, klappte die Finger nach außen und pflückte den Platinring heraus. Mit der anderen Hand zückte er seine Lesebrille, schob sie auf die Nase und begutachtete die Inschrift.

»In ewiger Liebe deine Leonie. Und wer ist das, diese Leonie?«, fragte er den Kriminalbeamten.

»Keine Ahnung. Ich hab den Ring doch auch erst vor einer halben Stunde von einem Kollegen aus Kusel überreicht bekommen.«

»Aus Kusel?«

»Ja. Dort gibt es anscheinend eine Tierkörperbeseitigungsanlage.«

Der Rechtsmediziner nickte eifrig. »Davon hab ich schon mal gehört.«

»Beim Filterwechseln hat jemand den Ring gefunden und ihn bei den Kollegen abgegeben. Und die haben eben gemeint, dass sie sicherheitshalber mal die zuständige Kripo davon in Kenntnis setzen sollten. Schließlich könnte ja vor der Einäscherung dieser Ring an einem Finger gesteckt haben, der wiederum zu einer Hand gehört hatte ...«

»Die wiederum an einem menschlichen Arm angewachsen war und so weiter und so fort«, vollendete der Gerichtsmediziner.

»Genau!«

»Ja, aber so ganz abwegig ist das doch wohl auch nicht. Oder seh ich da etwas grundlegend falsch?«

»Rainer, das ist eine Tierkörperbeseitigungsanlage, kein Friedhofskrematorium.« Tannenberg raubte den Platinring aus Dr. Schönthalers Hand, hielt ihn demonstrativ in die Höhe. »Den hat garantiert ein reicher Metzger verloren, als er Schlachtabfälle in den Container geworfen hat. Oder er hat den Ehering aus lauter Wut weggeworfen. Vielleicht weil er gerade erfahren hat, dass seine liebe Leonie ihn betrügt.«

Den Rechtsmediziner schien diese Argumentation nicht sonderlich zu überzeugen. Nachdenklich presste er die Lippen aufeinander, wiegte den Kopf skeptisch hin und her.

»Wolf, ich weiß nicht«, begann er, legte aber sogleich eine kurze Denkpause ein.

Er drückte sich räuspernd von seinem Stuhl in die Höhe und ging ein paar Schritte im Raum umher. Dann blieb er unvermittelt stehen, fixierte Tannenberg mit einem stechenden Blick.

»Wenn ich mir’s so recht überlege, wäre eine derartige Leichnamsentsorgung eigentlich der perfekte Mord. Sofern es keine anderen Täterspuren oder Zeugen gibt. Denn ein Mord ohne Leiche ...« Er brach ab, durchfurchte seine Haare mit den gespreizten Fingern. »Wolf, du weißt doch selbst am besten, wie ausgesprochen schwierig die Beweislage sich in solch einem Falle gestaltet.«

In Tannenbergs Bewusstsein tauchte die Erinnerung an ein bis heute ungeklärtes Tötungsdelikt vor vielen Jahren auf. Deshalb nickte er stumm.

»Das Fatale an einer Einäscherung, die ja bei über 1200 Grad stattfindet, ist nämlich, dass du nach dieser enormen Hitzeeinwirkung keinerlei DNA-Spuren mehr finden kannst. Das übersteht nur ein Ring.«

»Aber auch nur ein Platinring, mein lieber Rainer. Der hat nämlich einen Schmelzpunkt von fast 1800 Grad, Gold dagegen nur 1000 und ein paar Zerquetschte. Das haste wohl nicht gewusst, du alter Klugscheißer, oder?«

Dr. Schönthaler reagierte nicht auf die Frage. Er zog einen Bleistift vom Schreibtisch und ließ ihn gedankenversunken über seine Fingerkuppen rollen. Ein paar Sekunden verstrichen, bis er fortfuhr: »Das heißt, ein menschlicher Organismus verschwindet im Krematorium spurlos. Da bleibt nichts mehr von ihm übrig.«

»Außer ein bisschen Asche.« Erneut kehrte für einen Moment besinnliche Stille in Tannenbergs Dienstzimmer ein. »Trotzdem glaub ich nicht an eine Mordopferbeseitigung.«

»Aber warum denn nicht, Wolf?«

»Weil bei uns hier in der Gegend zur Zeit keine einzige männliche Person vermisst wird. Das haben die Kollegen aus Kusel schon abgeklärt. Und der Gravurtext spricht wohl eindeutig für einen Mann, oder etwa nicht?« Tannenberg schickte einen fragenden Blick hinüber zu seinem Freund.

»Doch, das sieht wohl ganz danach aus«, hatte Dr. Schönthaler zunächst kopfnickend bestätigt. Aber mit einem Mal warf er die Stirn in Falten und korrigierte sich: »Muss aber auch nicht sein.«

»Wieso?«

»Na, es könnte ja wohl auch eine Frau in Betracht kommen.«

Tannenbergs um diese Uhrzeit manchmal etwas vernebelter Geist wurde von einem grell aufflammenden Blitzlicht erleuchtet. »Ach so, verstehe, was du meinst: ein Lesbenpaar.«

»Ja, genau. Gibt es denn eine vermisste Frau?«

Der Leiter des K1 wühlte in den zur Seite geräumten Papieren herum, bis er schließlich fündig wurde. Er wedelte mit einem Ausdruck aus der Vermisstendatei.

»Die Kollegen haben mir nur das hier mitgebracht«, sagte er, während er sogleich den Text querzulesen begann. »Da steht, dass vor etwa zwei Monaten eine gewisse Frau Isolde Decker, wohnhaft in Idar-Oberstein, spurlos aus ihrem normalen Lebensumfeld verschwunden ist. – Aber das ist doch Quatsch!«

»Warum?«

»Rainer, die Frau wurde 1936 geboren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die eine Liebesbeziehung mit einer Leonie hatte. Das ist doch ein ganz moderner Name.«

Der Rechtsmediziner strich sich nachdenklich übers Kinn. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. »Ist aber auch zunächst einmal egal. Viel wichtiger ist die Klärung der Frage, ob die Person, die diesen Platinring getragen hat, noch lebt oder ob sie in dieser Tierkörperbeseitigungsanlage auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist.«

Tannenberg warf energisch seinen Kopf hin und her. »Nein, nein, Rainer, das glaub ich einfach nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass da nichts dran ist.«

»Du und deine Gefühle – welch ein weites Feld.« Augenrollend blickte Dr. Schönthaler zur Zimmerdecke empor. »Nun gut, wir werden sehen. Hoffentlich hast du mit deinem Optimismus recht, alter Junge!«

Anschließend schickte er einen einsilbigen Abschiedsgruß in Tannenbergs Richtung und begab sich schlurfend zur Bürotür. Als er sie erreicht hatte, wandte er sich jedoch noch einmal zu ihm um.

»Obwohl, wenn ich mir’s recht überlege, wäre das bestimmt eine spannende Sache, so ein Mord ohne dazugehörige Leiche. Daran würdet ihr unfähigen Verkehrspolizisten euch garantiert die Zähne ausbeißen«, feixte der altgediente Gerichtsmediziner.

Tannenberg antwortete nicht auf die ungeschminkt vorgetragene Provokation. In Windeseile knüllte er einige Papierbälle zusammen und bewarf damit seinen besten Freund, der es augenblicklich vorzog, sich schnell aus dem Staube zu machen. Schließlich wusste er aus leidiger Erfahrung, dass mit einem erzürnten ehemaligen Regionalliga-Handballer in vielerlei Hinsicht nicht zu spaßen war.

Am Nachmittag erhielt Tannenberg einen Telefonanruf, der seine bisherige Tagesplanung urplötzlich völlig über den Haufen warf. Er ließ sofort alles stehen und liegen und eilte mit fliegenden Schritten an seiner verdutzt dreinblickenden Sekretärin vorbei aus dem Kommissariat. Auf Petra Flockerzies neugierige Frage nach dem Grund seines überhasteten Aufbruchs reagierte er lediglich mit einem kurz dahingeknurrten »privat«.

Marieke hatte ihm mit tränenerstickter Stimme mitgeteilt, dass sie große Probleme habe und ihn unbedingt so schnell wie möglich sprechen müsse. Da der kinderlose Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission die beiden Sprösslinge seines Bruders abgöttisch liebte, hatte er nicht einen Augenblick gezögert, war umgehend zu seinem Auto gespurtet und traf bereits wenige Minuten später am vereinbarten Treffpunkt am Bremerhof ein.

Mit weit überhöhter Geschwindigkeit raste er in den unbelebten Parkplatz des am südlichen Stadtrand gelegenen Waldgasthofs hinein. Mit einer Vollbremsung stoppte er den Wagen. Hektisch blickte er sich um. Dann entdeckte er endlich Marieke: Seine Nichte saß in der rechten hinteren Ecke des weitläufigen Geländes wie ein Häuflein Elend zusammengesunken auf ihrem Scooter. Dieser Anblick verursachte ihm sogleich einen schmerzhaften Stich in der Magengrube. Reflexartig ging er von der Bremse, gab wieder Vollgas.

»Um Gottes willen, Kind, was ist denn passiert?«, rief er ihr, noch bevor sein betagtes BMW-Cabrio erneut zum Stillstand gekommen war, durch das geöffnete Seitenfenster entgegen.

Marieke gab ihm zunächst keine Antwort. Sie erhob sich mit hängenden Schultern von ihrem Motorroller. Wie in Trance bewegte sie sich langsam auf ihren Onkel zu. Tannenberg sprang aus seinem Auto, hastete ihr entgegen. Als die beiden zusammentrafen, schmiegte sie sich sogleich eng an ihn. Tannenberg schlug seine langen, kräftigen Arme um sie, zog sie behutsam zu sich heran, wiegte sie wie einen Säugling ein paar Mal sanft hin und her. Zärtlich streichte er ihr über die zu unzähligen kleiner Zöpfchen geflochtenen Haare.

»Aber was hast du denn, Marieke?«, fragte er, während er sie gleichzeitig ein wenig von seinem Körper wegdrückte. Sein sorgenvoller Blick wanderte über das verheulte Gesicht seiner inzwischen 19-jährigen, bildhübschen Nichte. Er fischte aus seiner linken Hosentasche ein noch vollständiges Päckchen Papiertaschentücher heraus, reichte es ihr.

Marieke bediente sich, tupfte kurz die Tränen ab und putzte sich anschließend die Nase. Allmählich schien sie die Kontrolle über ihre aufgeschäumten Emotionen zurückzugewinnen.

»Lass uns einen Kaffee trinken gehen«, sagte sie mit belegter Stimme, während sie nach Tannenbergs Hand tastete. »Dann erzähl ich dir alles.«

Vor einer guten Stunde hatte ein plötzlicher Gewitterregen die nach Feuchtigkeit lechzende Natur mit einem bilderbuchmäßigen Wolkenbruch geradezu ertränkt. Aber schon bald nach dieser erfrischenden Wetterkapriole hatte sich die Sonne zurückgemeldet und kraftstrotzend ihre Macht demonstriert. Die unglaubliche Wärmeenergie ihrer Strahlen hatte bereits einen Teil des Regenwassers in hellgrauen Dampf verwandelt. Milchige Dunstschleier waberten nun über die Wiesenlandschaft und krochen in den majestätischen Hochwald hinein, der von drei Seiten her das lichtungsähnliche Gelände begrenzte.

Die idyllische Gartenwirtschaft war nur spärlich besucht. Tannenberg führte seine Nichte zu einem etwas abseits unter einer mächtigen Trauerweide gelegenen Tisch, deren weit herabhängende Ästchen leicht im Wind baumelten. Er schaute sich um, konnte jedoch niemanden vom Servicepersonal entdecken. Deshalb schritt er selbst zur Tat und befreite den altertümlichen Metalltisch ebenso wie die schweren Stühle mit Hilfe einiger Papiertaschentücher von den dicken Wasserperlen, die wie halbierte Glasmurmeln aussahen.

»Wolf, ich hab einen Test machen lassen«, sagte Marieke plötzlich. »Er ist positiv.«

Tannenberg fuhr der Schreck in alle Glieder. Die schockierende Mitteilung ließ umgehend seine Gesichtszüge versteinern. Mit aufgesperrtem Mund und weit aufgerissenen Augen ließ er sich wie ein tatteriger Greis auf den Gartenstuhl niedersinken. Er wurde von Kälteschaudern durchgeschüttelt.

»Was? Was? Ein Test?«, stammelte er. Sofort hatte er an Aids gedacht. Paralysierende Angst erfasste ihn. »Ein positiver Aids-Test. Oh Gott!«

Tannenberg schlug die Hände vors Gesicht, sein Oberkörper begann zu beben.

»Ein Aids-Test?«, fragte Marieke mit verwundertem Mienenspiel. »Wie kommst du denn auf sowas? Nein, ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht.«

Wie aus einem Katapult schoss Tannenberg in die Höhe. Er stand nun wieder direkt vor Marieke. Er packte sie bei den Schultern.

»Ja, was denn dann, Kind? Los, sag schon!«, schrie er in einer derartigen Lautstärke, dass sich die anderen Biergartengäste sogleich neugierig zu ihm hinwandten.

Marieke antwortete nicht sofort. Sie presste ihre vollen Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Ihr Blick senkte sich zur Tischplatte hinab. Dann erhob sie ihn wieder, sog in tiefen Zügen die feuchte Luft ein.

»Du hast es doch eben gerade selbst gesagt.«

»Was hab ich?« Tannenbergs Verwunderung stand ihm nur allzu deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Ja, du hast die Sache genau auf den Punkt gebracht.«

Tannenberg warf die Stirn in Falten, schüttelte heftig den Kopf. »Ich versteh im Moment nur Bahnhof.«

»Wolf, ich hab vorhin ...« Sie brach ab, räusperte sich mehrmals, bevor sie mit flüsternder Stimme fortfuhr, »einen Schwangerschaftstest gemacht. Ich bekomme ein Kind.«

Erneut schossen Tränen in Mariekes Augen und machten sich gleich auf den Weg hinunter in Richtung ihres Mundes. Reflexartig versuchte sie mit ihren Handrücken die salzigen Perlen aufzufangen.

Tannenberg zog ihre Hände vom Gesicht weg, streichelte sie zärtlich. »Jetzt versteh ich endlich! Gott sei Dank! Ich dachte schon, es sei etwas Schlimmes. Tut mir übrigens leid, dass ich dich schon wieder ›Kind‹ genannt habe.«

»Macht doch nichts.«

Riesige Erleichterung machte sich in ihm breit. Er lachte kurz auf. »Doch, doch. Das muss ich mir endlich abgewöhnen. Schließlich hast du mir schon als kleines Mädchen gesagt, dass du kein Kind mehr bist.«

Mit einem versonnenen Gesichtsausdruck entließ Tannenberg die samtweichen Mädchenhände seiner Nichte wieder in die Freiheit, kramte aus seiner Leinenhose die letzten beiden Tempos hervor und überreichte sie ihr.

Marieke bedankte sich mit einem stummen Nicken.

Während sie versuchte, sich die Feuchtigkeit aus ihrem Gesicht zu tupfen, faltete er schmunzelnd die Hände im Nacken, dehnte seinen Oberkörper. »Sag mal, Marieke, das sind dann ja wohl hoffentlich Freudentränen, oder?«

Unwillkürlich begann Mariekes Kinn zu zittern, um ihre Mundwinkel herum zuckte es.

»Ich weiß ... noch nicht ... so recht«, stotterte sie wimmernd.

Von der einen zur anderen Sekunde verfinsterte sich nicht nur Tannenbergs Miene, sondern auch sein Bewusstsein. Diese Chance ließ sich der aufdringliche Quälgeist hinter seiner Schädeldecke natürlich nicht entgehen.

Du bist wirklich das unsensibelste Trampeltier, das auf der ganzen Welt herumläuft!, polterte seine innere Stimme sogleich los. Was ist denn, wenn Marieke das Kind überhaupt nicht haben will? Du bist vielleicht ein Hornochse! Du kannst sie doch nicht derart massiv unter Druck setzen.

»Wolf, was ist denn mit dir los?«, fragte Marieke besorgt. Sie kannte ihren Onkel nun schon so lange, dass ihr seine plötzliche Wesensveränderung nicht verborgen blieb. »Warum schaust du denn so traurig?«

»Ach, ich bin einfach ein Hornochse«, bediente sich Tannenberg der Wortwahl seines psychischen Korrektivs.

»Warum?«

»Weil ich einfach kein guter, neutraler Gesprächspartner bin, sondern immer gleich meinen Senf zu allem und jedem dazugeben muss.«

»Aber genau das mag ich doch so an dir. Weil man dir einfach immer direkt anmerkt, was du denkst und was du wirklich fühlst.«

Tannenbergs Gesicht leuchtete auf.

»Wolf, ich will das Baby ja haben. Ich freue mich eigentlich wie verrückt. Aber ich hab eben auch Angst ...«

»Wovor hast du Angst?«

Marieke hielt den Atem an, wollte augenscheinlich nicht weiterreden. Doch sie konnte dem Überdruck in ihrem Mund nur wenige Sekunden standhalten.

»Ich hab auch ... ein bisschen Angst ..., wie Max reagieren ...«, kam es zögerlich über ihre Lippen.

»Ach, Max weiß noch gar nicht, dass er Vater wird?«, warf Tannenberg verwundert dazwischen.

»Nein. Ich weiß es doch selbst erst seit einer halben Stunde. Und ich seh Max ja erst wieder übermorgen. Er ist bei einem Kongress in München. – Am Telefon will ich ihm das nicht sagen.«

»Klar, versteh ich.«

»Ich hab auch Angst davor, wie Mama und Papa reagieren werden ... und Oma und Opa. Und außerdem weiß ich nicht, wie ich das alles schaffen soll. In zehn Monaten will ich doch mein Abi machen.«

Tannenberg brummte verständnisvoll. Er nahm ihren Kopf in seine Hände, lächelte sie schweigend an. Dann strich er ein geflochtenes Haarstränchen aus ihrem ebenmäßigen Gesicht.

Marieke kniff die Augenlider zusammen. »Aber, egal, was die alle meinen und egal, wie viele Probleme es geben wird, ich kann doch diesen armen kleinen Wurm in mir nicht töten lassen, oder?«

Nun wurden auch Tannenbergs Augen feucht. Er schniefte, putzte sich die Nase. Ihrer beiden Blicke trafen sich.

»Marieke, es ist allein deine Entscheidung.« Er schöpfte tief Luft, seufzte. »Die kann dir niemand abnehmen. Ich kann dir nur versprechen, dass ich dir, egal wie du dich entscheiden wirst, helfen werde. Und um deine Eltern und Großeltern machst du dir am besten überhaupt keine Sorgen. Die wird natürlich zunächst der Schlag treffen. Aber wenn die erstmal alle ihren Schock überwunden haben, wirst du sehen, dass sie deine Entscheidung ebenfalls akzeptieren werden. Übrigens bin ich mir ganz sicher, dass dein Max, jedenfalls so wie ich ihn einschätze, vor Begeisterung total ausflippen wird.«

Marieke nickte stumm und bedachte ihren Onkel mit einem dankbaren Lächeln.

2

»Wolf, ich hab eben etwas reinbekommen, das zu unserem Ring passen könnte«, rief Michael Schauß durch die sperrangelweit geöffnete Tür seines Dienstzimmers.

Bereits kurz darauf stand der junge, athletische Kriminalbeamte vor Tannenberg. Er trug Jeans und ein dunkelblaues Polohemd, das seinen muskulösen Körper mehr als nur erahnen ließ. Er wedelte aufgeregt mit einem Fax, das er umgehend an seinen Vorgesetzten weiterreichte. Petra Flockerzie, die altgediente Sekretärin des K1, saß an ihrem Schreibtisch und präsentierte gerade Schauß Ehefrau Sabrina wortreich ein in der Mittagspause erworbenes Diätbuch.

»So ein Shit!«, fasste Tannenberg seinen Unmut in prägnante Worte. »Da hat doch tatsächlich eine Studentin ihren Freund als vermisst gemeldet. Und was glaubt ihr wohl, wie die Frau heißt?«

»Leonie?«, fragte Sabrina reflexartig. Kaum einen Wimpernschlag später war ihr jedoch schon klar, dass sie sich die Antwort auf diese rhetorische Frage eigentlich hätte sparen können.

Tannenberg nickte zustimmend in ihre Richtung. »Ja, leider.«

»Ach, herrje, die Arme«, bemerkte Petra Flockerzie seufzend und klappte ihren neuen Diätratgeber zu.

»Michael, ruf mal die Kollegen an und frag nach, ob die Studentin noch bei ihnen auf der Wache ist!« Nach einer kurzen Besinnungspause ergänzte Tannenberg: »Und wenn nicht, lass dir genau erklären, wo sie wohnt!«

Der junge Kommissar verschwand in seinem Büro und telefonierte. Nur wenig später verkündete er von seinem Schreibtisch aus, dass die Studentin die Wache inzwischen verlassen habe und ins rote Wohnheim gefahren sei, wo sie im 10. Stock ein Appartement bewohne.

»Gut Michael, dann ruf sie mal an und sag ihr, dass wir gleich bei ihr aufkreuzen werden«, sagte Tannenberg und signalisierte Sabrina mit eindeutiger Gestik, dass sie ihn bei diesem unerfreulichen Dienstgang begleiten solle.

Das Studentenwohnheim befand sich in unmittelbarer Nähe der Technischen Universität. Der Gebäudekom-plex setzte sich aus einem blauen und einem direkt daran angegliederten, roten Hochhaus zusammen.

Die beiden Kriminalbeamten stellten ihr Auto auf dem zu einem Supermarkt gehörenden Parkplatz ab. Als Tannenberg ausgestiegen war, ließ er seinen staunenden Blick die Plattenbau-Fassade hinaufwandern, die von kleinen Balkonen optisch aufgelockert wurde.

»Ganz schön hoch«, stellte er beeindruckt fest. »Das sieht von hier aus ja noch viel imposanter aus, als wenn man auf der Straße daran vorbeifährt. Was meinst du wohl, wie viele Studenten hier in diesem hässlichen Betonklotz wohnen?«

Sabrina schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, Wolf, absolut keine Ahnung. So was kann ich überhaupt nicht schätzen.«

»Ich auch nicht«, stimmte er schmunzelnd zu.

Nachdem sie schweigend eine kleine Grünanlage durchquert hatten, erreichten sie den überdachten Gebäudeeingang. Links neben der zweiflügeligen Glastür entdeckten sie die Klingelanlage.

»Wie hieß diese Leonie noch mal mit Nachnamen? Hab ich in der Hektik doch glatt vergessen.«

Sicherheitshalber zog die junge Kommissarin ihr Notizbuch zu Rate, das sie stets in ihrer Jacke bei sich trug. »Die Frau hieß nicht nur so, die heißt wahrscheinlich immer noch so: Leonie Kalkbrenner.«

Tannenbergs Augen begannen daraufhin von unten her die unzähligen Klingelschildchen abzuscannen.

»Wolf, was du da gerade machst, ist völlig überflüssig. Denn eigentlich brauchen wir doch nur im 10. Stock nachzuschauen«, warf Sabrina belehrend ein. Bereits einen Augenblick später präsentierte sie ihm mit Hilfe ihres rechten Zeigefingers einen Volltreffer: »Siehst du, hier ist es auch schon: Kalkbrenner/Steiner.«

»Ach, dann lebt die Studentin in einer Wohngemeinschaft«, sagte Tannenberg mehr zu sich selbst.

Sabrina schlug erneut ihr Notizbuch auf. »Ja, und zwar wahrscheinlich mit einem gewissen Lukas Steiner. Den hat sie nämlich als vermisst gemeldet.«

»Stimmt, den Namen hab ich ja vorhin selbst auf dem Fax gelesen.«

Sie betraten den hellen, farbenfrohen Eingangsbereich des Gebäudes, stellten sich wartend vor den Aufzug.

»Sag mal, Wolf, was ist denn los mit dir? Du bist heute gedanklich nicht so ganz bei der Sache, wie mir scheint, oder täusche ich mich da? Hast du vielleicht irgendwelche privaten Probleme?«

»Quatsch!«

Sabrina warf ihm einen kecken Blick zu. »Du weißt doch, mein liebes Wölfchen, dass du mir immer und überall dein Herz ausschütten kannst.«

Tannenberg reagierte mit einem breiten Grinsen. »Vielen Dank für das Angebot, mein liebes Sabrinalein. Nein, bei mir ist alles in Ordnung. Ich bin nur ziemlich verwundert darüber, dass an der Sache mit dem gefundenen Ring nun leider doch mehr dran ist, als ich gehofft hatte.«

»Als ›vorsätzliche Verdrängung‹ oder so was Ähnliches würde die Kollegin Kriminalpsychologin dein Verhalten jetzt wohl bezeichnen.«

»Wieso?«

»Na, weil du von vornherein nicht wahrhaben wolltest, dass da ein neuer Fall auf dich zukommt. Du hast diese Möglichkeit einfach verdrängt.«

Der Leiter des K1 antwortete nicht, sondern zuckte mit nach unten gezogenen Mundwinkeln die Achseln. Dabei presste er ein paarmal geräuschvoll Luft durch die Nase.

»Wie geht’s ihr denn eigentlich?«

»Wem?«

»Der Frau Kriminalpsychologin. Hast du eigentlich noch was mit ihr?«

Tannenberg ignorierte die süffisante Bemerkung seiner jungen Kollegin. Während er einen halblauten Fluch ausstieß, drehte er sich auf dem Absatz um und flüchtete mit Verweis auf eine angebliche Fahrstuhl-Klaustrophobie ins Treppenhaus.

Nach einem etwa fünfminütigen, schweißtreibenden Anstieg traf er schnaubend im 10. Obergeschoss ein.

Höflich hielt ihm Sabrina die Tür auf. »Und wie geht’s ihr nun?«

Tannenberg musste erst einmal einen Augenblick verschnaufen, bevor er antworten konnte.

»Hör doch endlich mal auf mit diesem albernen Blödsinn«, sagte er sichtlich genervt. »Sag mir lieber, ob du inzwischen die Wohnung der Studentin gefunden hast.«

»Ja, komm, es ist gleich da vorne um die Ecke.«

Da Sabrina inzwischen den Eindruck gewonnen hatte, mit ihren Provokationen ein wenig zu weit gegangen zu sein, hakte sie sich bei ihrem Vorgesetzten und väterlichen Freund unter. »Wolf, verzeih mir bitte. Ich glaub, ich habs gerade ein wenig übertrieben. Ich wollte dich wirklich nicht ärgern.«

»Schon gut.«

Sabrina läutete.

Die junge Frau, die nach ein paar Sekunden im Türrahmen erschien, erweckte sofort das Mitgefühl der beiden Ermittler. Man sah ihr deutlich an, dass die quälende Ungewissheit über den Verbleib ihres Freundes sie seelisch und körperlich stark in Mitleidenschaft gezogen hatte: Ihr hübsches, mädchenhaftes Gesicht hatte seine jugendliche Frische gänzlich verloren und war durch den gleichen gräulichen Farbton ersetzt worden, den man von dem verhärmten Antlitz alter Menschen her kennt. Die glasigen, geröteten Augen starrten an Sabrina vorbei auf die gegenüberliegende Flurwand.

Nachdem Tannenberg, mit bewusstem Verzicht auf die Angabe ihrer genauen Kommissariatszugehörigkeit, sich und seine Begleiterin vorgestellt hatte, drückte er kurz die ihm apathisch entgegengestreckte Hand. Sie war eiskalt und zitterte.

Allem Anschein nach hatte irgendjemand die Studentin bereits im Vorfeld über den genauen Ort des Ringfundes ins Bild gesetzt. Tannenbergs gewaltiger Unmut über das unsensible Verhalten eines seiner Kollegen war kaum zu zügeln. Trotzdem zwang er sich mit aller Macht, sich seinen Zorn nicht anmerken zu lassen.

»Ja, es stimmt«, versetzte er wahrheitsgemäß. »Irgendein Mitarbeiter dieser Anlage in Kusel hat den Ring beim Wechseln der Filter gefunden.« Dann schob er einen Beschwichtigungsversuch nach: »Aber zunächst einmal bedeutet das rein gar nichts. Sie sollten sich nicht allzu sehr beunruhigen. Zu diesem frühen Zeitpunkt kann aus kriminalpolizeilicher Sicht über den Verbleib ihres Freundes noch überhaupt nichts Definitives ausgesagt werden.«

»Sie haben gut reden«, entgegnete Leonie mit tränenerstickter Stimme. »Ihr Freund ist ja nicht spurlos verschwunden.«

In dem von grellem Neonlicht durchfluteten, schmalen Korridor öffnete sich plötzlich eine Appartementtür.

»Frau Kalkbrenner, sollten wir nicht besser in Ihre Wohnung gehen?«, fragte Tannenberg daraufhin. Allerdings eher pro forma, denn sein hünenhafter Körper hatte sich zwischenzeitlich bereits in Bewegung gesetzt und an Leonie vorbeigeschoben. Sabrina folgte ihm auf dem Fuß.

Die Studentin geleitete die beiden Kriminalbeamten durch einen engen Flur in ein sonniges Zimmer, das Tannenberg im Geiste spontan als das absolute Gegenteil dessen deklarierte, was er sich bislang unter einer so genannten ›Studentenbude‹ vorgestellt hatte: Der ca. 25 Quadratmeter große Raum war sehr modern eingerichtet und vor allem – was Tannenberg geradezu als Stilbruch empfand – vorbildlich aufgeräumt.

Nirgendwo lagen Bücher, Zeitschriften oder Kleider herum. Auch sahen seine verwunderten Augen weder irgendwelche Flaschen noch Gläser, nichts dergleichen. Selbst das Obst in der Glasschale auf dem Couchtisch war von makellosem Äußeren und zudem auf einem farblich exakt abgestimmten Deckchen perfekt arrangiert. Irgendwie hatte er den Eindruck, sich im Ausstellungsraum eines Designer-Möbelhauses zu befinden.

Leonie bot den Ermittlern höflich einen Platz auf einer der beiden schwarzen Zweisitzer-Ledersofas an, die, von besagtem Glastisch getrennt, einander direkt gegenüber positioniert waren. Dann setzte sie sich selbst.

»Wann haben Sie denn Ihren Freund zum letzten Mal gesehen?«, ergriff Sabrina sogleich die Initiative.

Die junge Studentin schlug ihre mit schwarzen Jeans bekleideten Beine übereinander, umschlang mit ihren gefalteten Händen das obenliegende Knie und antwortete seufzend: »Am letzten Donnerstag.«

»Aber das ist ja schon fünf Tage her. Warum haben Sie ihn denn dann erst heute als vermisst gemeldet?«, sprudelte es spontan aus Tannenberg heraus. Aber gleich nachdem er seine eigenen Worte vernommen hatte, kam ihm zu Bewusstsein, dass seine Frage einen unüberhörbaren Vorwurf enthielt. Deshalb ergänzte er geschwind: »Entschuldigen Sie, Sie werden wohl Ihre Gründe dafür gehabt haben.«

Leonie Kalkbrenner nickte stumm. Man merkte ihr deutlich an, wieviel Kraft es sie kostete, einigermaßen die Contenance zu wahren.

»Sie bewohnen dieses Appartement gemeinsam mit Herrn Steiner?«, versuchte Sabrina Schauß das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

»Ja.«

»Studieren Sie beide hier an der Uni?«

»Ja.«

»Und was, wenn ich fragen darf?«, wollte Tannenberg wissen.

»Biologie.«

»Und Herr Steiner?«

»Informatik.« Leonie fasste sich mit der linken Hand an die Stirn, massierte sie kurz. Gleich anschließend erhob sie sich. »Entschuldigen Sie, ich muss mir ein Glas Wasser holen. Möchten Sie auch etwas trinken?«

»Nein, danke«, antworteten die beiden Kriminalbeamten wie aus einem Munde.

Anscheinend stand Tannenberg das Erstaunen über das unerwartet luxuriöse Ambiente der Studentenwohnung sehr deutlich ins Gesicht geschrieben. Denn während er sich kopfschüttelnd umblickte, flüsterte ihm Sabrina hinter vorgehaltener Hand zu: »Wunderst du dich auch so über das, was du hier gerade siehst?«

Tannenberg warf seiner Mitarbeiterin einen zustimmenden Blick zu.

Leonie kehrte mit einem dickbauchigen, halbgefüllten Wasserglas zurück. Sie nahm wieder auf der gleichen Stelle der Ledercouch Platz. Die Hände auf dem Schoß abgelegt, starrte sie mit leerem Blick vor sich auf den Boden.

Während Sabrina einige sozialstatistische Daten erhob und diese in ihr Notizbuch eintrug, taxierte Tannenberg sein Gegenüber etwas intensiver.

Eine wirklich sehr attraktive junge Frau, dachte er. So gepflegt und elegant gekleidet. Aber nicht aufdringlich, sondern dezent. Eigentlich gar nicht wie eine Studentin. Eher wie eine Bankangestellte oder sowas in der Art.

Tannenbergs Augen wanderten von dem mit einer blonden Lockenmähne eingerahmten, leichenblassen Modell-Gesicht über den V-Ausschnitt ihres caramelfarbenen Tops hinunter zu weißen Clogs, die den ehemaligen Leistungssportler deshalb so enorm faszinierten, weil diese Schuhe eigentlich genauso aussahen wie Tennisschuhe, nur eben mit dem gravierenden Unterschied, dass die Ferse offen war und somit dem Fuß kein Halt gegeben wurde.

Was für’n bescheuerter neumodischer Schnickschnack!, schimpfte er lautlos. Entweder ich entscheide mich für Clogs oder für Sportschuhe. Was soll dieser unsinnige Mischmischkram?

»Frau Kalkbrenner, was genau war in den Ring eingraviert?«

Obwohl eigentlich Sabrina die Frage nach dem genauen Wortlaut der Ringgravur gestellt hatte, richtete die Studentin ihre Antwort an Tannenberg: »›In ewiger Liebe ... deine Leonie‹ steht im Ring«, schniefte sie mit gebrochener Stimme.

Während sie dies sagte, hatte sie für einen Augenblick den Kopf gehoben. Nun sank er wieder matt zurück auf ihre Brust. Sie weinte bitterlich.

»Ach, jetzt machen Sie sich mal keine allzu großen Sorgen«, versuchte Tannenberg abermals die niedergeschlagene Frau zu trösten, obwohl seine Intuition eindeutige Signale in eine ganz andere Richtung aussandte. »Ihr Freund taucht garantiert bald wieder auf. Den Ring hat er bestimmt irgendwo verloren. Und dann ist er durch Zufall in einem dieser Abfallcontainer gelandet.«

Leonie reagierte nicht auf seinen erneuten Aufmunterungsversuch. Während sich ihr trauriger Blick in die Glasplatte über ihren Füßen hineinbohrte, spielte sie gedankenversunken mit ihrem Platinring, drehte ihn, schob ihn zum Fingerknöchel hin. Er sah genauso aus wie derjenige, den Tannenberg vorhin auf seinem Schreibtisch in einen funkelnden Kreisel verwandelt hatte, nur wies er eben einen kleineren Durchmesser auf.

Sie wiegte mit fest zusammengepressten Lippen monoton den Kopf hin und her. »Ich kann einfach nicht glauben, dass Lukas den Ring verloren hat. Und freiwillig hergegeben oder weggeworfen hat er ihn ganz bestimmt auch nicht. Warum um alles in der Welt sollte er denn unseren teuren Verlobungsring wegwerfen? Wir wollen doch noch vor Weihnachten heiraten.«

Betroffen schwiegen Tannenberg und seine Mitarbeiterin, denn sie hatten noch nicht einmal eine halbwegs plausible Erklärung für die von Leonie in den Raum geworfene Frage parat.

»Den hat ihm jemand abgenommen, da ...« Ihr Mund erstarrte plötzlich zur Regungslosigkeit. Sie warf den Kopf ins Genick. Anschließend fuhr sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht mit beiden Händen in ihre naturblonde Lockenpracht. »Oh Gott, nein.«

»Was ist denn, Frau Kalkbrenner?«, hakte Sabrina sofort nach.

»Wie haben die denn den Ring abgekriegt? Der hat so unheimlich fest ... an seinem Finger gesessen.«

Der Gedanke, der Tannenberg gerade wie eine Silvester-Rakete ins Hirn schoss, war so makaber, dass er ihn sogleich wieder verdrängte. Aus Rücksichtnahme sprach er ihn natürlich nicht aus, sondern schwenkte zu einem anderen Themenbereich über: »Sie haben Ihren Freund am vergangenen Donnerstag zum letzten Mal gesehen. Das ist doch richtig, oder?«

Stummes Kopfnicken.

»Wo?«

»Hier in unserer Wohnung. Ich bin dann nach Worms zu meinen Eltern gefahren, weil ich in Ruhe lernen wollte. Ich schreib nächste Woche Prüfungsklausuren.«

»Und Herr Steiner ist hier geblieben?«

»Ja. Er wollte übers verlängerte Wochenende mit seinen Freunden nach Holland zum Surfen fahren.«

»Sie haben auch nicht mehr miteinander telefoniert?«, fragte Sabrina.

»Nein. Ich hab ...« Sie krauste die Stirn, schaute kurz an die Decke, »am Sonntag versucht, ihn auf seinem Handy anzurufen. Aber es ging niemand dran. Nur die Mailbox.«

»Haben Sie ihm etwas auf die Mailbox gesprochen?«

»Ja.«

»Und was?«

»Na, eben, dass er sich mal melden solle, entweder auf meinem Handy oder bei meinen Eltern.«

»Gut. Danke, Frau Kalkbrenner!«, sagte Tannenberg und erhob sich von der Ledercouch. »Seien Sie bitte noch so nett und geben Sie meiner Kollegin die Namen und Adressen der Freunde von Herrn Steiner, mit denen er wegfahren wollte. Dürfte ich mich in der Zwischenzeit hier ein wenig umsehen?«

»Ja, sicher.«

Zuerst trottete er an ein graphitfarbenes Highboard, das zwischen einem Breitbild-TV und einer mit zwei Glastüren versehenen, von innen beleuchteten Vitrine stand. Es war gekrönt von einer noblen Stereoanlage. Er wandte sich um, betrachtete sich das ungewöhnlich feudal eingerichtete Studenten-Appartement aus dieser anderen Perspektive.

»Entschuldigen Sie, Frau Kalkbrenner, wenn ich Sie so direkt darauf anspreche. Aber ich wundere mich ehrlich gesagt schon ein wenig über Ihre luxuriösen Lebensverhältnisse. Für Studenten sind die recht ungewöhnlich, wie ich finde. Hier sieht es irgendwie aus wie in der Penthouse-Wohnung eines erfolgreichen Jungmanagers, nicht wie in einer Studentenbude.«

Leonie schien über diese durchaus pointierte Aussage nicht sonderlich verwundert zu sein, allem Anschein nach war sie schon des Öfteren mit derartigen Nachfragen konfrontiert worden.

»Ich lege eben viel Wert auf ein gepflegtes Ambiente. Das hab ich wohl von meinem Elternhaus mitbekommen«, antwortete sie mit einer leicht arroganten Klangfärbung ihrer Stimme.

Davon ließ sich der Leiter des K1 jedoch nicht beeindrucken. »Aber wer hat denn nun diesen ganzen Luxus finanziert? Ihre Eltern?«

»Ja, unter anderem. Wir stammen beide aus ziemlich wohlhabenden Familien. Und da ist es eben nun mal üblich, dass man seine Kinder finanziell ausreichend unterstützt. Außerdem jobben wir beide neben unserem Studium.«

Tannenberg begnügte sich mit dieser Antwort. Er dachte einen Moment lang zurück an die Studienzeit seines älteren Bruders Heiner, der sich damals mit einem äußerst bescheidenen Lebensstandard arrangieren musste, obwohl auch er regelmäßig gearbeitet hatte.

Dann schlenderte er durch die gardinenlose Verandatür hinaus auf den Balkon. Er lehnte sich vorsichtig über die Brüstung des rot eingefärbten Betongeländers und ließ dabei seine Augen nach unten wandern. Plötzlich verspürte er ein leichtes Schwindelgefühl. Umgehend nahm er seinen Oberkörper wieder zurück und ging einen Schritt nach hinten.

Nachdem er in tiefen Zügen Atem geschöpft hatte, ließ er seinen Blick hinüber zu dem Gelände des ehemaligen Abstellbahnhofs schweifen, das seit etwa einem Jahr grundlegend umgestaltet wurde. Von der bis zu diesem Zeitpunkt nur noch als Eisenbahnfriedhof und wildem Lagerplatz genutzten Bundesbahnanlage war inzwischen absolut nichts mehr zu erkennen. Eine regelrechte Armada von PS-gewaltigen Baustellenfahrzeugen hatte die stark verzweigten Gleisanlagen demontiert, großflächige Erdbewegungen durchgeführt und Straßen angelegt.

Als er den Kopf nach Süden wandte, schob sich in den linken Bereich seines Sichtfeldes der Rohbau eines Gebäudekomplexes, der gerade für das Fraunhofer-Institut errichtet wurde. Auch an anderen Stellen des weiträumigen Geländes zeugten Baukräne, Containersiedlungen und Betonmisch-Fahrzeuge von einer regen Bautätigkeit.

Eigentlich der ideale Ort zur Leichen-Beseitigung, sagte Tannenberg zu sich selbst, als sich sein Blick an einer gerade frisch gegossenen, dunkelgrauen Bodenplatte festhakte. Würde mich wirklich mal interessieren, wie viele Mordopfer bisher in solch einem Betongrab auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind.

Nachdem er das Appartement wieder betreten hatte, kratzte er sich nachdenklich am Hals und fragte dabei an die attraktive Studentin gerichtet: »Also, Frau Kalkbrenner, ich verstehe da etwas nicht: Sie sagten doch vorhin, dass Ihr Freund Informatik studiert, oder erinnere ich mich da etwa falsch?«

Leonie bedachte ihn mit einem erstaunten Blick. »Nein, das stimmt.«

»Aber wo ist denn sein Computer? Ich seh gar keinen. Das gibts doch nicht, dass ein Informatik-Student keinen Computer hat.«

Die Studentin erhob sich langsam von der Couch. »Kommen Sie, ich zeig Ihnen mal was.« Sie geleitete die beiden verwunderten Kriminalbeamten aus dem Appartement hinaus in den Korridor und öffnete die gegenüberliegende Tür.

»Voilà: Das ist unser zweites Appartement. Meins benutzen wir als Wohnzimmer und das von Lukas als Schlaf- und Arbeitszimmer.«

»Verstehe«, entgegnete Sabrina. »Deswegen auch nur das eine gemeinsame Klingelschild. Damit Sie beide in dem anderen Zimmer ihre Ruhe haben.«

»Ja, aber Ruhe zum Lernen hat man hier trotzdem nicht«, antwortete sie seufzend.

Tannenberg nickte verständnisvoll. »Deshalb waren Sie auch die letzten Tage bei Ihren Eltern.«

Dieses Appartement war zwar vom Grundriss her genauso geschnitten wie das andere, jedoch fehlte der Balkon. Zudem war ein kleinerer Teil des Raums mit Hilfe eines schweren, dunklen Vorhangs vom Rest abgetrennt. Rechts stand ein mattschwarzes Metall-Doppelbett. Unmittelbar vor dem Fenster ein großer Schreibtisch.

Neugierig schob Tannenberg den trägen Vorhang beiseite. Was er nun erblickte, erinnerte ihn unweigerlich an das Chaos-Zimmer seines Neffen Tobias. Denn in völligem Kontrast zu den beiden anderen, augenscheinlich von Leonie dominierten Räumlichkeiten, herrschte auf diesen wenigen Quadratmetern die blanke innenarchitektonische Anarchie: Links an der Wand stand ein halb geöffneter Kleiderschrank, in dem Jeans und Hemden wild durcheinander lagen oder hingen.

Zwei nebeneinander angeordnete Schubladen waren weit herausgezogen und gewährten einen neugierigen Blick auf stark dezimierte, ungeordnete Socken- und Unterwäschebestände. Rechts daneben ächzte ein Stuhl unter der Last zweier Winterjacken. Ein unmittelbar davor sich auftürmender kleiner Berg Schuhe rundete den optischen Eindruck einer Caritas-Altkleider-Sammelstelle ab.

Leonie schien Tannenbergs Rumpelkammer-Assoziationen zu erahnen, denn mit einem deutlich vernehmbaren Ausdruck der Scham in ihrer Stimme sagte sie: »Ich weiß, was Sie jetzt denken. Aber was soll ich denn machen? Lukas bestand von Anfang an darauf, einen eigenen Bereich in unserer Wohnung zu haben. Wir haben uns dann eben auf diese blöde Abtrennung geeinigt.«

»Verstehe«, bemerkte Tannenberg in mitleidigem Ton.

»Ich geh da eigentlich nie rein. Ich kann dieses heillose Durcheinander einfach nicht ertragen. Aber Lukas sagt, er braucht das für sein Studium und für seine Arbeit. Er nennt das immer ›konstruktives Chaos‹.« Sie seufzte tief auf. »So sind sie nun mal, diese verrückten Computerfreaks.«

»Und was ist das für eine Arbeit?«, hakte Sabrina sofort neugierig nach.

»Er jobbt im Wertstoffhof in der Pirmasenser Straße. Dort werden alle möglichen Elektrogeräte entsorgt, auch alte Computer.«

»Ja, ja, ich weiß, wo das ist«, warf Tannenberg ein. »Irgendwann war ich schon mal dort. Da kann man nämlich auch kaputte Waschmaschinen hinbringen.«

Leonie zeigte sich von dieser ziemlich überflüssigen Zwischenbemerkung völlig unbeeindruckt und führte derweil ihren Gedankengang zu Ende: »Bevor die Computer vernichtet werden, baut Lukas die noch funktionsfähigen Teile aus und montiert sie dann hier zu Hause mit gekauften Teilen wieder zu neuen Computern zusammen.«

»Ach, so, verstehe. Und die verkauft er dann«, entgegnete Tannenberg, der nun direkt vor einem mit mehreren Computerbildschirmen und sonstiger Hardware beladenen, breiten Holzschreibtisch stand, der ihn aufgrund seiner beeindruckenden Größe unweigerlich an einen Tapeziertisch erinnerte.

Links neben dem Tisch türmte sich wie eine Miniatur-Schrotthalde ein wild zusammengeworfener Haufen aus Towergehäusen, Keyboards, Mäusen, Druckern und diversen Kabelschlangen auf. Unmittelbar darüber hing ein schiefes großformatiges Poster mit dem Spruch ›Nur die Kleingeistigen halten Ordnung – Genies durchblicken das Chaos‹.

»Will diese alten Kästen denn überhaupt irgendjemand haben?«, führte Tannenberg seinen noch nicht abgeschlossenen Gedankengang fort.

»Ja, natürlich. Diese getunten Dinger sind nämlich viel billiger als die im Geschäft, aber mindestens genauso gut. Behauptet jedenfalls Lukas. Ich kenne mich damit ja nicht aus.«