Hier hat's mir schon immer gefallen - Annie Proulx - E-Book

Hier hat's mir schon immer gefallen E-Book

Annie Proulx

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Beschreibung

In neun neuen Geschichten erzählt Annie Proulx von den Mythen und Menschen Wyomings – lakonischer, böser und witziger denn je

Wyoming, dieser am dünnsten besiedelte aller nordamerikanischen Staaten, ist Annie Proulx’ Revier. Und sie schreibt über diese unwirtliche, bizarr-schöne Gegend wie niemand sonst, voller Sympathie und Ironie. Erinnerungen eines alten Mannes an seine Zeit als Rodeoreiter enthüllen familiäre Abgründe; eine große tragische Liebesgeschichte aus dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert zerreißt einem schier das Herz; bitterböse Satiren schauen dem Teufel und seinem Sekretär bei der Arbeit zu; Legenden erzählen von der Zeit, als die Indianer noch allein in den Bergen und Prärien lebten, ganz anders als heute, da Millionäre, Grundstücksmakler, moderne Hippies und sture Farmer ihr Glück im Land der Pioniere suchen.

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Seitenzahl: 341

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Inschrift
 
Familiensinn
 
Copyright
Für Muffy & Geoff Jon & Gail Gillis Morgan
Oberflächlich betrachtet, war alles bezaubernd, doch sobald man es von innen sah, waren die Demarkationslinien überdeutlich.
John Clay, My Life on the Range
Familiensinn
Mellowhorn Home war ein weiträumiges einstöckiges Blockhaus im sogenannten Westernstil - »indianisch« geometrisch gemusterte Möbelbezüge und mit Wildlederfransen herausgeputzte Lampenschirme. An den Wänden hingen Mr. Mellowhorns präparierte Maultierhirschköpfe und eine Zweimannschrotsäge.
Zu dieser Jahreszeit wurde Berenice Pann bewusst, dass die Erde der Dunkelheit entgegenging; keine gute Zeit, dachte sie sich, um eine neue Stelle anzutreten, vor allem eine so deprimierende Stelle wie die, sich um alte Rancherwitwen zu kümmern. Aber sie musste nehmen, was sie kriegen konnte. Im Mellowhorn-Altersheim waren Männer rar und bei den Frauen so gefragt, dass sie Berenice leidtaten. Sie hatte gedacht, der Sexualtrieb lasse im Alter nach, doch die alten Krähen kämpften um die Aufmerksamkeit paralysierter Opas mit wabbeligen, zitternden Armen. Die Männer hatten die Wahl zwischen formlosen Morgenmänteln und geblümten Vogelscheuchen.
Drei verstorbene und ausgestopfte Mellowhorn-Hunde waren an strategischen Wachpositionen aufgestellt: nahe der Eingangstür, am Fuß der Treppe und neben der rustikalen Bar aus alten Zaunpfosten. Auf Schildchen waren wie zum Beweis der Kunstfertigkeit des Brandmalers ihre Namen verewigt: Joker, Bugs und Henry. Wenigstens, dachte Berenice, die Henry den Kopf tätschelte, hatte man von dem Heim aus einen Blick auf die Berge ringsum. Es hatte den ganzenTag geregnet, und in der sich verdichtenden Dämmerung sahen die Bartgrasbüschel wie gebleichtes Haar aus. An einem alten Bewässerungsgraben bildeten Weiden eine unregelmäßige Linie in düsterem Dunkelbraun, und der Viehteich am Fuß des Hügels war so glatt wie Zink. Berenice trat an ein anderes Fenster, um zu sehen, welches Wetter bevorstand. Im Nordwesten trieb ein milchig weißer, frostiger Keil am Himmel Regen vor sich her. An dem Fenster des Gemeinschaftsraums saß ein alter Mann und starrte in das graue Herbstwetter hinaus. Berenice wusste seinen Namen, wie sie die Namen aller Heimbewohner wusste: Ray Forkenbrock.
»Kann ich was für Sie tun, Mr. Forkenbrock?« Sie hielt sich etwas darauf zugute, die Heiminsassen mit den entsprechenden Ehrentiteln anzusprechen, was die übrige Belegschaft nicht tat, die mit Vornamen um sich warf, als hätten sie mit den alten Leuten Säue gehütet. Deb Slaver war geradezu maßlos anbiedernd mit ihrem verschwenderischen Gebrauch von »Sammy«, »Rita« und »Delia«, interpungiert mit »Schatzi«, »Herzchen« und »Putzi«.
»Klar«, sagte er. Er machte lange Pausen zwischen den Sätzen, fügte die Wörter so bedächtig aneinander, dass Berenice ihm am liebsten mit Vorschlägen auf die Sprünge geholfen hätte.
»Bringen Sie mich hier raus«, sagte er.
»Geben Sie mir ein Pferd«, sagte er.
»Machen Sie mich siebzig Jahre jünger«, sagte Mr. Forkenbrock.
»Das kann ich leider nicht, aber ich kann Ihnen eine schöne Tasse Tee holen. Und in zehn Minuten ist Gemeinschaftsstunde«, sagte sie.
Sein Blick war schwer zu ertragen. Trotz des gewöhnlichen Gesichts mit den eingefallenen Lippen und dem faltigen Hals bot er einen ungewöhnlichen Anblick. Es lag an den Augen. Sie waren sehr groß, weit geöffnet und von hellstem Hellblau, der Farbe von Eissplittern, einem unmerklichen Blau mit Kristallstrahlen. Auf Fotos waren sie so weiß wie die Augen römischer Statuen, sah man von dem starren Blick der kleinen, dunklen Pupillen ab. Wenn er einen ansah, dachte Berenice, vergaß man darauf zu achten, was er sagte, weil man von den sonderbaren weißen Augen so fasziniert war. Sie mochte ihn nicht, tat aber so. Frauen mussten so tun, als hätten sie Männer gern und bewunderten, was sie taten. Ihre eigene Schwester hatte einen Mann geheiratet, der sich für Felsgestein interessierte, und musste sich jetzt mit ihm durch Wüsten und steile Berge hinauf quälen.
 
Zur Gemeinschaftsstunde gab es für die Heimbewohner Drinks und Cracker mit Käsecreme aus dem Super-Wal-Mart, wo die Köchin einkaufte. Sie waren durch die Bank Schnapsdrosseln, mit besonderer Vorliebe für die Whiskeyflasche. Chauncey Mellowhorn, der das Mellowhorn-Altersheim gebaut und die Heimregeln bestimmt hatte, war der Ansicht, dass die letzten dämmerigen Jahre genossen werden sollten, und propagierte Rauchen, Trinken, Schmuddelfernsehen und billiges Essen in Hülle und Fülle. Weder Abstinenzler noch Frömmler verbrachten ihren Lebensabend im Mellowhorn Home.
Ray Forkenbrock schwieg. Berenice fand, dass er traurig aussah, und wollte ihn aufheitern.
»Was haben Sie früher gemacht, Mr. Forkenbrock? Waren Sie Rancher?«
Der alte Mann bedachte sie mit einem zornigen Blick. »Nein«, sagte er.
»Ich war kein Scheißrancher. Ich war Rancharbeiter. Ich habe für die Scheißkerle gearbeitet. Als Cowboy, wilde Pferde eingeritten, Rodeo, auf dem Ölfeld, Schafe geschoren, Lastwagen gefahren, was anfiel«, sagte er.
»Und hatte am Ende keinen Cent. Jetzt bezahlt der Ehemann meiner Enkelin dafür, dass ich in diesem Hühnerstall voller alter Weiber hocke«, sagte er. Oft wünschte er, er wäre draußen in einem Unwetter gestorben, allein und ohne jemandem zur Last zu fallen.
Berenice sprach in bemüht munterem Ton weiter. »Ich habe seit der Highschool auch alle möglichen Jobs gehabt«, sagte sie. »Kellnerin,Tagespflegerin, Putzfrau, Regalauffüllerin, solche Sachen.« Sie war mit Chad Grills verlobt; sie wollten im Frühjahr heiraten, und Berenice wollte nur noch eine Zeitlang arbeiten, um Chads Gehalt bei Red Bank Power aufzubessern. Doch bevor der alte Mann etwas erwidern konnte, kam Deb Slaver geräuschvoll herein, ein Glas in der Hand. Berenice konnte den dunklen Whiskey riechen. Debs laute Stimme drang stoßweise aus ihrer üppigen Brust.
»Bitte sehr, mein Süßer! Ein kleiner Drink für unseren Ray!«, sagte sie. »Kommen Sie weg von dem hässlichen dunklen Fenster und amüsieren Sie sich!« Sie sagte: »Hätten Sie Lust, mit unserem Mehlgesicht die Sendung Cops anzuschauen?« (Mehlgesicht war Debs Spitzname für eine angemalte alte Vettel mit haselnussbraunen Fingerknöcheln und bräunlichen Zähnen.) »Oder ist Ihnen heute einfach danach zumute, aus dem Fenster zu schauen und ein bisschen Trübsal zu blasen? Haben Sie etwa Sorgen? Ihr alten Leutchen wisst doch gar nicht, was Sorgen sind; ihr sitzt hier gemütlich mit einem schönen Glas Whiskey und schaut Fernsehen«, sagte sie.
Sie knuffte die Kissen auf dem Sofa. »Sorgen haben wir anderen - Rechnungen, untreue Ehemänner, freche Kinder, kaputte Füße«, sagte sie. »Unsereins muss das Geld für die Winterreifen zusammenkratzen. Mein Mann sagt immer, die Hexe mit den grünen Zähnen würde uns das Leben schwermachen«, sagte sie. »Kommen Sie, ich setze mich ein bisschen zu Ihnen und Mehlgesicht«, und mit diesen Worten zog sie Mr. Forkenbrock an seinem Pullover hoch, verfrachtete ihn auf das Sofa und setzte sich neben ihn.
Berenice ging in die Küche, um der Köchin zu helfen, die gerade Truthahnfrikadellen auf die Arbeitsfläche klatschte. Auf der Fensterbank flüsterte ein Radio.
»Sieht aus, als würde es aufklaren«, sagte Berenice. Sie fürchtete sich etwas vor der Köchin.
»Oh, gut, dass du kommst. Hol mir doch mal die Fritten aus dem Tiefkühlfach«, sagte die Köchin. »Dachte schon, ich dürfte alles allein machen. Deb sollte mir helfen, aber die macht lieber den alten Knackern schöne Augen. Denkt, sie würden ihr dann was vererben. Einige haben ja ein bisschen Land oder Ölaktien, von denen sie leben«, sagte sie. »Kennst du ihren Ehemann Duck Slaver?« Inzwischen raspelte sie Weißkohl in eine Edelstahlschüssel.
Berenice wusste nur, dass Duck Slaver für Ricochet Towing einen Abschleppwagen fuhr. Plötzlich fiel der Blick der Köchin auf das Radio, und sie stellte es lauter und erfuhr, dass es am nächsten Tag bedeckt sein würde, stellenweise klar, und am übernächsten Tag windig mit Schneeschauern.
»Wir sollten dankbar sein, dass es bei dieser Trockenheit regnet. Weißt du, was Bench sagt?« Bench war der UPS-Fahrer und für die Köchin ein unerschöpflicher Wissensborn, vom Zustand der Straßen bis zu Familienkrächen.
»Nein.«
»Sagt, wir wären kurz davor, dass hier alles Wüste wird.Wird alles weggeweht«, sagte sie.
Als Berenice in den Aufenthaltsraum ging, um das Abendessen anzukündigen - Truthahnburger, Pommes frites (die Mr. Mellowhorn noch immer hartnäckig »Freiheitsfritten« nannte), Bratensauce, Preiselbeerkompott, Mais mit Sahne und frischgebackene Brötchen -, sah sie, dass Deb Mr. Forkenbrock in die Ecke des Sofas gedrängt hatte und dass Mehlgesicht auf dem Sessel mit dem kaputten Bein saß und zusah, wie Polizisten Schwarze mit dem Gesicht auf den Gehsteig knallten. Mr. Forkenbrock starrte auf das dunkle Fenster, in dessen herabrinnenden Regentropfen sich das bläuliche Flackern des Fernsehers spiegelte. Er wirkte sehr allein. Deb und Mehlgesicht hätten genauso gut zwei ausgestopfte Hunde sein können.
Nach dem Abendessen riss Berenice auf dem Weg zur Küche die Tür auf und atmete tief die frische Luft ein. Die östliche Hälfte des Himmels war sternenübersät, die westliche schwarz wie Basalt.
 
In der morgendlichen Dunkelheit setzte der Regen wieder ein. Ray Forkenbrock kannte die Worte des Dichters nicht, hätte sie aber verstanden: »Ich erwache und fühle die Finsternis kommen, nicht den Tag.« Nichts kam ihm in der Natur hinterhältiger vor als dieses unsichtbare Anschleichen des Wetters, die unförmige Wolke, die sich unter dem Deckmantel der Dunkelheit heranpirschte. Als der Morgen schwach wie ein Foto im Entwicklerbad zum Vorschein kam, wurde das Geräusch des Regens schärfer. Hagel, dachte er und erinnerte sich an einen langen Ausritt eines Oktobers in seiner Jugend bei ähnlichem Wetter, seine Jeansjacke war durchnässt und mit Eiskristallen bedeckt gewesen, und er erinnerte sich, dass er dem alten Pferdefänger begegnet war, der in der Wüste lebte, musste schon über achtzig gewesen sein und hinkte daher durch den klirrenden Niederschlag, suchte die nächste Unterkunft für Rancharbeiter, wie er sagte, in der er vor dem Unwetter Schutz finden konnte.
»Die nächste ist Flying A«, sagte Ray und kniff die Augen zusammen, als ihm der Hagel ins Gesicht wehte.
»Gehört die nicht Hawkins?«
»Nö. Hawkins hat vor zwei Jahren alles verkauft. Gehört jetzt einem gewissen Fox«, antwortete er.
»Mist, hier draußen kriegt man nichts mehr mit. Bis vorgestern hatte ich eine prima Hütte«, sagte der Pferdefänger, der vor Kälte mit den Zähnen klapperte, und erzählte, dass seine Hütte abgebrannt war und er zwei Nächte im Beifußgestrüpp geschlafen hatte und dass sein Schlafsack jetzt pitschnass war und er nichts mehr zu essen hatte. Ray tat der alte Mann leid, und gleichzeitig wollte er ihn loswerden. Es war ein blödes Gefühl, dass er ritt, während der Mann zu Fuß ging, aber dieses unangenehme Schuldgefühl erfasste ihn jedes Mal, wenn er an einem Fußgänger vorbeiritt.Was konnte er dafür, dass der alte Mann kein Pferd hatte?Wenn er als Pferdefänger etwas taugte, hätte er Hunderte von Pferden besitzen müssen. Ray suchte in seinen Taschen und förderte drei, vier muffige Erdnüsse voller Fusseln zutage.
»Ist nicht viel, aber mehr habe ich nicht«, sagte er und hielt sie dem Mann hin.
Der alte Bursche hatte Flying A nicht erreicht. Tage später fand man ihn an einen Felsen gelehnt sitzend. Ray erinnerte sich an das unangenehme Gefühl, das die Begegnung begleitet hatte, an den Eindruck vom hohen Alter des Mannes. Jetzt war er selbst so alt, aber er hatte es nach Flying A geschafft - Wärme und Zuflucht im Mellowhorn-Altersheim. Und doch erschien ihm der Tod des alten Pferdefängers an dem Felsen ehrenhafter.
Es war halb sieben, und es gab keinen Grund aufzustehen, aber er zog Jeans und Hemd an und außerdem einen Altherrenpullover, denn im Speisesaal konnte es ziemlich kalt sein, bevor die Heizung in Gang kam; die Stiefel ließ er im Schrank, und er schlurfte den Flur in roten Filzpantoffeln entlang, die zu weich waren, als dass es sich gelohnt hätte, dem ausgestopften Bugs mit seinen Glotzaugen am Fuß der Treppe einen Tritt zu verpassen. Die Pantoffeln hatte ihm seine Enkeltochter Beth geschenkt, die mit Kevin Bead verheiratet war. Beth bedeutete ihm viel. Er hatte den Entschluss gefasst, ihr das hässliche Familiengeheimnis zu offenbaren. Er wollte seine Nachkommen nicht mit beschämenden Ungewissheiten belasten. Er wollte für klare Verhältnisse sorgen. Beth würde am Samstagnachmittag ihren Kassettenrecorder mitbringen und ihm helfen, die richtigen Worte zu finden. Unter der Woche würde sie alles in ihren Computer tippen und ihm dann die frisch ausgedruckten Seiten bringen. Er hatte es vielleicht in seinem Leben nicht weiter gebracht als zum Rancharbeiter, aber was er wusste, das wusste er.
 
Beth hatte dunkle Haare und apfelrote Wangen, als wäre sie gerade geohrfeigt worden. Er nahm an, dass das ihr irisches Erbe war. Sie kaute Nägel, ein unschöner Anblick bei einer erwachsenen Frau. Ihr Ehemann Kevin arbeitete in der Kreditabteilung der High Plains Bank. Er beschwerte sich darüber, wie bescheuert sein Job sei, weil er Geld und Kreditkarten an Leute verteilte, die ihre Kredite nie und nimmer tilgen konnten.
»Früher musste man schwer arbeiten und kreditwürdig sein, um an eine Kreditkarte zu kommen. Heute gilt: Je bankrotter einer ist, umso mehr Karten schmeißen sie ihm nach«, sagte er zum Großvater seiner Frau. Ray, der noch nie eine Kreditkarte besessen hatte, ließ das darauffolgende Sperrfeuer von Erläuterungen über veränderte Kreditprinzipien und Bankschulden weitgehend verständnislos über sich ergehen. Diese Weiterbildungsveranstaltungen endeten regelmäßig damit, dass Kevin seufzte und düster sagte, das werde alles noch einmal ein schreckliches Ende nehmen.
Ray Forkenbrock hatte gedacht, Beth würde seine Erinnerungen auf dem Computer in der Immobilienfirma schreiben, in der sie arbeitete.
»O nein, Grandpa, wir haben zu Hause einen PC mit Drucker. Rosalyn wäre es nicht recht, wenn ich das in der Arbeit machen würde«, sagte sie. Rosalyn war ihre Chefin, und Ray hatte die Frau zwar noch nie gesehen, hatte aber das Gefühl, sie sehr gut zu kennen, weil Beth oft von ihr erzählte. Sie war ungeheuer dick und hatte Geldprobleme. Betrüger hatten sich wiederholt ihrer Identität bedient. Alle paar Monate musste sie stundenlang eidesstattliche Erklärungen ausfüllen. Laut Beth trug sie Bluejeans in Größe XXXL und einen Gürtel mit einer Silberschnalle, so groß wie ein Topfdeckel, die sie beim Bingo gewonnen hatte.
Ray schnaubte. »Früher waren Gürtelschnallen etwas wert«, sagte er. »Beim Rodeo war die Gürtelschnalle der beste Preis. Das Geld hat uns damals nichts bedeutet. Uns ging es um die Gürtelschnalle«, sagte er, »und heute gewinnen dicke Weiber so was beim Bingo?« Er verdrehte den Kopf und blickte zu der Tür seines Kleiderschranks. Beth vermutete, dass er dort einen Gürtel mit Rodeoschnalle hatte.
»Schaust du dir die Rodeoübertragungen im Fernsehen an?«, fragte sie. »Oder Bullenreiten?«
»Nee«, sagte er. »Das lassen die alten Schnepfen hier nicht zu. Sie haben das Fernsehprogramm von frühmorgens bis Mitternacht festgelegt - Sendungen über Verbrechen, diese Kacke aus dem wahren Leben, Mode und Komiker und Haustiere. Rodeo? Keine Chance«, sagte er.
Er warf einen zornigen Blick in den leeren Flur hinter der offenen Tür. »Nicht im Traum käme man darauf, dass sie fast alle ihr Leben auf einer Ranch verbracht haben«, sagte er.
 
Beth sprach Mr. Mellowhorn an und sagte, sie finde, ihr Großvater sollte wenigstens ab und zu die Möglichkeit haben, Rodeoübertragungen anzusehen, seine Unterbringung sei schließlich nicht ganz billig. Mr. Mellowhorn war völlig ihrer Ansicht.
»Aber ich halte mich bewusst aus den Entscheidungen unserer Heimbewohner heraus, was das Fernsehen angeht, und wenn Ihr Großvater Rodeosendungen sehen will, dann muss er nur eine Mehrheit unter den Heimbewohnern mobilisieren, die eine Petition unterschreibt, und …«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn mein Mann und ich ihm einen Fernseher für sein Zimmer besorgen?«
»O nein, keineswegs, aber ich möchte nicht verschweigen, dass weniger wohlhabende Heimbewohner denken könnten, er wäre privilegiert oder würde sie von oben herab behandeln, wenn er sich in seinem Zimmer vergräbt und Rodeos ansieht, statt sich der Auswahl der Gemeinschaft anzuschließen …«
»Sehr gut«, sagte Beth und unterbrach die Leier der Gemeinschaftstyrannei von Mellowhorn Home. »Dann machen wir das. Wir kaufen ihm einen hochnäsigen Angeberfernseher. Familiensinn ist für Kevin und mich keine leere Floskel«, sagte sie. »Ich nehme an, Sie haben keine Satellitenschüssel?«, fragte sie.
»Tja, nein. Wir haben es in Erwägung gezogen, aber - vielleicht nächstes Jahr …«
Sie hatte Ray einen kleinen Fernsehapparat mit DVD-Gerät und ein paar DVDs von Rodeos der letzten Jahre besorgt. Das hatte ihn in Fahrt gebracht.
»Mann, ich erinnere mich noch daran, als die Endausscheidung in Oklahoma City war, nicht im verdammten Las Vegas«, sagte er. »Bullenreiten hat ja heutzutage alle anderen Disziplinen ausgebootet, ade Wildpferdzureiten mit und ohne Sattel. Ich war dabei, als Freckles Brown 1962 Tornado geritten hat«, sagte er. »Sechsundvierzig Jahre alt, und heute setzen sie Kinder auf die Bullen! Die eine Million Dollar kriegen. Heute ist alles nur noch Show«, sagte er. »Die alten Burschen waren ein wüster Haufen. Fast alle schwere Trinker. Wenn man wissen will, was Schmerzen sind, dann muss man mit einem üblen Kater einen Bullen reiten.«
»Hast du in deiner Jugend viele Rodeos geritten?«
»Nein, viele nicht, aber genug, um mir ein paar Knochen zu brechen. Und mir eine Gürtelschnalle zu verdienen«, sagte er. »Wenn man jung ist, heilen die Brüche schnell, aber im Alter machen sie einem zu schaffen. Das linke Bein habe ich mir an drei Stellen gebrochen. Bei Regen tun alle drei weh«, sagte er.
»Wie kommt es, dass du Cowboy geworden bist, Grandpa Ray? Dein Daddy war kein Rancher oder Cowboy, oder?« Sie drehte die Lautstärke herunter. Die Reiter kamen wie in einer unaufhörlichen Wiederholungsschleife aus der Box in die Arena und trugen offenbar alle den gleichen schmutzigen Hut.
»Nee, war er nicht. Er war Bergarbeiter. Rove Forkenbrock«, sagte er. »Meine Mutter hieß Alice Grand Forkenbrock. Dad hat in den Union-Pacific-Bergwerken gearbeitet. Dann ist ihm was passiert, und er musste aufhören. Hat dann als Bote für verschiedene Firmen gearbeitet, Texaco, California Petroleum, große Firmen. Was für eine Arbeit mein alter Herr da hatte, weiß ich nicht genau. Er fuhr einen verdreckten alten Model-T-Ford. Ist immer wieder mal gefeuert worden und musste sehen, dass er was Neues fand. Obwohl er an der Flasche hing, was meistens der Grund war, dass er rausflog, fand er jedes Mal schnell eine neue Arbeit.« Er trank einen kleinen Schluck Whiskey.
»Aber mich hätten keine zehn Pferde in die Nähe von so einem Bergwerk gebracht. Mit Pferden konnte ich ungefähr so viel anfangen wie mit Arithmetik, aber mit Kühen kam ich zurecht, und als ich nach der achten Klasse mit der Schule fertig war, fand Dad, das mit der Highschool sollte ich besser lassen, denn die Zeiten waren hart, und ich musste Arbeit finden«, sagte er. »Damals war mir das egal. Wenn mein Dad sagte, was ich tun sollte, tat ich das, und basta. Ich habe ihn geachtet. Ich habe meinen Vater geehrt und geachtet. Für mich war er ein guter und anständiger Mensch.« Unerklärlicherweise kam ihm Unkraut in den Sinn.
»Ich sah mich nach einem Job um und fand einen auf Bledsoes Double B Ranch«, sagte er. »Rancharbeiter. Die Bledsoes haben mich mehr oder weniger aufgezogen, bis ich ins Wahlalter kam. Damals wollte ich mit meiner Familie nix mehr zu tun haben«, sagte er und verfiel in eine altersbedingte Träumerei. Unkraut, Unkraut und Wildnis.
Beth schwieg für ein paar Minuten und plauderte dann über ihre Söhne. Syl hatte in einer Schulaufführung einen Adler gespielt, und das Kostüm war eine echte Herausforderung gewesen. Bevor sie ging, sagte sie ganz nebenbei: »Weißt du, ich möchte, dass meine Söhne ihren Urgroßvater kennenlernen. Was hältst du davon, wenn ich den Kassettenrecorder mitbringen und alles aufnehmen und abtippen würde? Es wäre wie ein Buch über dein Leben - etwas, was die künftigen Generationen unserer Familie lesen könnten.«
Er lachte spöttisch. »Manches davon würde man lieber nicht wissen. Wir haben unsere schmutzige Wäsche, genau wie jede andere Familie.« Aber nachdem es ihm eine Woche lang im Kopf herumgegangen war und er sich gefragt hatte, warum er es so lange für sich behalten hatte, sagte er zu Beth, sie solle ihre Maschine mitbringen.
 
Sie saßen bei geschlossener Tür in seinem kleinen Zimmer.
»Das gilt hier als ›asozial‹. Hier sitzen alle bei offener Tür im Zimmer und brüllen die Besucher an, als wäre jeder mit jedem verwandt. Das nennen sie ›ländliche Familie‹. Ich bin lieber für mich.«
Sie stellte ein Glas Whiskey und ein Glas Wasser neben seinem Ellbogen auf den Tisch und legte den Kassettenrecorder dazu, der kleiner als eine Zigarettenschachtel war. Dann sagte sie: »Er ist eingeschaltet, Grandpa. Erzähl mir, wie es war, damals aufzuwachsen. Du redest einfach, wenn dir danach zumute ist.«
Er räusperte sich und begann langsam zu sprechen, den Blick auf das Ausschlagen der Lautstärkeanzeige gerichtet. »Ich bin vierundachtzig Jahre alt, und was früher war, ist vorbei, und deshalb ist es egal, was ich jetzt erzähle.« Er nahm nervös einen Schluck Whiskey und nickte.
»Neunzehnhundertdreiunddreißig war ich vierzehn, und keiner hatte einen roten Heller.« Die Stille jener Zeit vor dem Verkehrsgetöse und den Laubbläsern und dem prahlerischen Lärm des Fernsehens war Teil seiner Persönlichkeit; seine Worte kamen spärlich, es fiel ihm schwer, seine Geschichte zu erzählen. Die Geräuschlosigkeit seiner Jugend, abgesehen vom natürlichen Geräusch des Windes, der trampelnden Hufe, des Knackens der alten Balken der Blockhütte in winterlicher Kälte und der Schreie wilder Reiher, die flussabwärts flogen. Wie wortkarg waren damals Männer und Frauen gewesen, die ganz ihrer Beobachtungskraft vertraut hatten! An manchen Tagen waren vereinzelte Federwolken über den Himmel gezogen, und er hatte sich vorgestellt, dass sie so leise waren, als bewegte man eine Feder über einen Draht. Der Wind blies sie fort, und der Himmel war leer.
»Als ich klein war, hatten wir es nicht leicht, das kannst du mir glauben. Coalie Town, etwa acht Meilen von Superior entfernt. Nichts mehr von übrig«, sagte er. »Hütte mit drei Zimmern, ungeschützt, die Kinder immer krank. Meine kleine Schwester Goldie starb in der Hütte an Meningitis«, sagte er.
Allmählich fand er Geschmack an seiner traurigen Geschichte. »Kein Wasser. Einmal in der Woche kam ein Laster mit Wasser für unsere paar Fässer. Mama zahlte einen Vierteldollar pro Fass. Keine Toilette im Haus. Heute machen die Leute Witze darüber, aber es war kein Spaß, bei Eiseskälte morgens draußen aufs Plumpsklo zu gehen, wenn der Wind durch alle Ritzen pfiff. O Gott«, sagte er.
Er schwieg so lange, dass Beth das Band zurückspulte und die Pausetaste drückte. Er zündete sich eine Zigarette an, seufzte und begann plötzlich weiterzuerzählen. Bis Beth den Recorder wieder in Betrieb gesetzt hatte, waren die ersten Sätze verklungen.
»Die Leute waren zufrieden, wenn sie am Leben blieben. Man kann sich damit abfinden, Staub statt Brot zu essen, hat meine Mutter immer gesagt. Sie hatte eine Menge alte Sprichwörter parat. Ist dein Apparat an?«, fragte er.
»Ja, Grandpa«, sagte Beth. »Er ist an. Erzähl weiter.«
»Speck«, sagte er. »Sie sagte, wenn der Speck sich in der Pfanne krümmt, wäre die Sau beim falschen Mond geschlachtet worden. Speck gab es nicht oft, und von uns aus hätte er sich in der Pfanne zu Korkenzieherlocken drehen können, solange wir welchen bekamen«, sagte er.
»Damals gab es in der Nähe des Bergwerks eine Menge solcher Hütten. Die Gegend hieß Coalie Town. Viele Fremde. Als ich größer wurde«, sagte er, »habe ich vor allem kämpfen gelernt, vögeln - entschuldige die unfeine Ausdrucksweise - und noch mal kämpfen. Wenn es was zu regeln gab, haben wir uns geschlagen. Ich erinnere mich an alle. Pattersons, Bob Hokker, die Grainblewer-Zwillinge, Alex Sugar, Forrie Wintka, Harry und Joe Dolan - wir hatten eine gute Zeit. Kinder haben immer eine gute Zeit«, sagte er.
»Klar«, sagte Beth.
»Kinder fangen nicht an rumzumeckern, weil sie kein Klo im Haus haben oder weil es keine frische Butter gibt. Für uns war alles prima, wie es war. Ich hatte eine glückliche Kindheit. Als wir größer wurden, gab es Mädchen. Forrie Wintka. Sah richtig gut aus, lange schwarze Haare und schwarze Augen«, sagte er und versuchte zu erkennen, ob er seine Enkelin schockiert hatte.
»Sie hat den alten Dolan geheiratet, nachdem seine Frau gestorben war. Die Dolan-Jungen, das waren wilde Kerle. Sie konnten sich nicht ausstehen, prügelten sich bis aufs Blut, haben mit Brettern aufeinander eingeschlagen, aus denen Nägel ragten, mit Steinen geschmissen.«
Beth versuchte, ihn zu seiner Familie zurückzulotsen, aber er versteifte sich auf die Dolans.
»Ich hab meine Gewohnheiten«, sagte er. Sie nickte.
»Einmal hat Joe Harry bewusstlos geschlagen und in den Platte geworfen. Harry wäre um ein Haar ertrunken, mit Sicherheit sogar, wenn Dave Arthur nicht vorbeigekommen wäre und das Lumpenbündel gesehen hätte, das sich im Wasser in einem Rechen verfangen hatte, zusammen mit allem möglichen Unrat. Er hat gedacht, es wären vielleicht Kleider. Ging nachsehen und zog Harry aus dem Wasser«, sagte er.
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Fine Just theWay It Is. Wyoming Stories 3 bei Scribner, New York.
Verlagsgruppe Random House
 
 
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2008 Dead Line Ltd. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
eISBN : 978-3-641-02513-7
 
www.luchterhand-literaturverlag.de
 
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