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5 kurze Geschichten ... über zwei Filmmelodien, die so eng mit zwei Frauen verbunden sind, dass Zeit und Raum schon mal durcheinandergeraten können, ... über eine Szene auf einem Golfplatz, die sich zu Beginn des Jahres 1980 zugetragen hat, ... über den Versuch, den Tod nicht als Sensenmann, sondern als Handlungsreisenden zu sehen, ... über ein Tagebuch, das nicht alles preis gibt, ... über jemanden, der zuhören kann; vielleicht aber auch von Menschen, denen niemand zuhört.
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Seitenzahl: 41
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Leia und Jill
John Lennon und Herb Rosenberg
Der Besucher
Das Tagebuch
Ich höre Ihnen zu
Nachwort
Der Zug fährt in den Bahnhof ein und hält schließlich. Reisende steigen aus, Rinder und Pferde werden aus den Viehwagen getrieben.
Sie trägt einen Hut, die Sonne scheint. Sie steigt aus dem Zug und geht den Bahnsteig entlang. Dort schaut sie auf die Bahnhofsuhr. Es ist 5 Minuten vor 8 Uhr.
Es ist anders als sonst.
Irgendetwas ist anders als sonst.
Die Musik, die Jill hört, ist nicht die, die sie hören sollte. Es ist nicht die Musik von Ennio Morricone. Es ist eine schöne Melodie, aber es ist nicht jene, die sie erwartet hat zu hören, die sie gewohnt ist zu hören. Es ist nicht ihre.
Sie ist irritiert, schaut nach rechts, schaut nach links und zieht die Stirn kraus. Einen Moment lang hält sie inne, weiß nicht, was sie machen soll.
Sie macht kehrt und steigt wieder in den Zug.
Sie geht in Richtung ihres alten Abteils. Auf der Fahrt hierher hatte sie allein im Abteil gesessen. Sie möchte ungestört darüber nachdenken, was da draußen auf dem Bahnsteig gerade vor sich ging und überlegen, wie es jetzt weitergehen sollte.
Jill erreicht das Abteil. Eine ältere Frau sitzt auf der mit grünem Samt bezogenen Bank gegenüber dem Platz, der ihrer war, als sie angereist ist. Sie vergewissert sich durch einen Blick auf die Nummer neben der Tür, dass sie wirklich in das richtige Abteil zurückgekehrt ist, als die Frau sie anspricht: „Setz dich!“
Der Träger, der die ganze Zeit hinter ihr her getrottet ist, hievt die beiden Koffer wieder in das Abteil zurück und schaut sie erwartungsfroh an. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, noch immer irritiert zu sein, um es zu bemerken. Die Frau, die nunmehr das Abteil mit ihr zu teilen scheint, kramt in ihrer Jacke und gibt ihm einige Münzen. Der Kofferträger nimmt die Mütze vom Kopf, bedankt sich und verlässt den Zug, als das Signal für die Weiterfahrt ertönt.
„Setz dich!“, sagt die Frau noch einmal, freundlich, aber bestimmt.
„Ich heiße Leia.“
Jill starrt die Frau, die Leia heißt, an, nickt, als käme sie grad erst wieder zu sich und setzt sich.
„Leia“, sagt Jill, „das ist ein eigenartiger Name.“ Sie sieht durch das Fenster, wie der Zug den Bahnhof verlässt.
„Ich bin Jill“, sagt sie.
Jill beugt sich zu der älteren Frau mit dem merkwürdigen Namen hinüber. Sie flüstert, als gelte es, ein Geheimnis zu teilen: „Der Ablauf ist immer der gleiche. Der Zug fährt ein, die Reisenden steigen aus, Rinder und Pferde werden aus den Viehwaggons getrieben. Ich halte die Nase kurz aus dem Zug, mein Blick schweift ein wenig hin und her. Dann gehe ich den Bahnsteig entlang. Es ist immer 5 vor 8. Und es erklingt immer dieselbe Melodie. Es ist meine Melodie. Morricone hat sie für mich komponiert. Alles war wie immer, aber heute war da eine andere Melodie.“
Leia lächelt. Heute am Bahnhof erklang Leias Melodie. Ihre Melodie. Die Melodie, die John Williams komponiert hat. Für sie. Aber diese Melodie gibt es heute noch nicht. Und es gibt auch noch keine Laserschwerter und Todessterne. Nichts davon sagt sie Jill. Noch nicht.
Vor wenigen Minuten erst sah Leia aus dem Zugfenster hinaus auf einen Bahnhof im staubigen Nirgendwo. Sie weiß bis jetzt nicht, seit wann und warum sie in diesem Zug sitzt, weiß nicht, wie sie in diesen Zug geraten ist. Alles hier ist ihr fremd. Die Zeit, der Ort, die Menschen. Einzig die Melodie, die sie hörte, als der Zug am Bahnhof stand, ist ihr bekannt. Es war ihre. Und dennoch gehört Leia hier nicht hin. Das alles sagt sie Jill nicht. Das junge Ding scheint verwirrt genug.
Der Speisewagen ist gut besucht. Zwei Männer bieten ihnen ihre Plätze an. Zwei so schöne Frauen, sagt der eine, und sie seien ohnehin fertig, der andere und lächelt sie an. Jill schaut zu Boden und merkt, wie ihr die Röte ins Gesicht steigt. Leia bemerkt es und verdreht die Augen. Jill nimmt in Fahrtrichtung Platz. Sie bemerkt, dass Leia den Männern hinterher sieht und lächelt.
„Was!?“, fragt Leia und fühlt sich ertappt. Nicht dass es ihr etwas ausmachte.
Ein junger Mann in einer weißen Uniform bringt zwei Tassen Kaffee. Der Kaffee ist stark und schwarz und heiß. Die Frauen schauen schweigend aus dem Fenster. Das Land ist karg.