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Wie in einem Panoramabild, wie auf der geplanten detailgetreuen Nachbildung des Ortszentrums stehen sie aufgereiht: der Nachbar, der den Arbeitsmantel trägt, der Flachländer, der jeden 21. Oktober nach dem Zimmer Nummer sechs verlangt, Isabelle, die den Hasen das Fell abzieht, Cervicek, Marianne, Herr Adam und all die Einsamen, die sich mit ihren leuchtenden Multifunktionsjacken irgendwann in die Landschaft eingefügt haben. Sie stehen dort im Winter, wenn die Bären ruhen, im Frühling, wenn der Winter überblättert wird, im Sommer mit nur wenig Kleidung und im Herbst, wenn die Sonne tief steht, gleich Figuren eines Wimmelbilds: vereinzelt, scheinbar unverbunden, wie Sonnen ihrer eigenen Welt – und doch vereint im großen Ganzen. Mit meisterhaft gesetzten Strichen zeichnet Anna Weidenholzer eine illustre Gesellschaft, der die Gewissheiten des Alltags allmählich zu entgleiten drohen und die sich einzurichten beginnt in den kleinen absurden Momenten voller Witz und Poesie.
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Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Anna Weidenholzer
Für später
Winter ist die Zeit, in der die Bären ruhen. Wir richten Kanonen auf Berge, die Straßen salzen wir. Er ist das Warten auf Schnee und das Verlangen, all der Matsch möge bald verschwunden sein, die Zeit von Gewürzmischungen und literweise Tee. Eine nimmt Abschied, und einer trägt eine Jacke in Blau. Ich sage: Zuerst zuckert der Winter die Gipfel, dann übernimmt er den Rest, ich lege meine Fingerspitzen auf drei graue Autos, die vor einem Haus parken, ich streiche über die Dorfstraße bis hin zum Hang. Bald wird es schneien, flüstere ich mit Blick auf die Bäckerei, und du sagst: Doch.
Das sind Zähne, mit denen ich leben kann, sagte Rosa an dem Tag, als der Flachländer zu uns kam. Es regnete, es stürmte, die Blätter der Palme im Garten bewegten sich, als würde der Herbst nun endgültig zum Abschied winken. Am Brenner soll es schneien, sagte Rosa und fuhr mit der Zunge über ihr neues Gebiss. Tut es weh?, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. Du bist jung, sagte sie und drückte mit dem Zeigefinger gegen ihren Schneidezahn, du musst erst lernen, dass eine Frau ganz anderes aushalten muss.
Als Harald und ich beschlossen, die Pension zu übernehmen, erwähnte er nicht, dass sie mit Rosa kommen würde. Er sagte: Es ist gut, neben dem Obstbau ein zweites Standbein zu haben, es ist besser, sich nicht nur auf Äpfel zu verlassen. Rosa hatte die Pension ein halbes Jahrhundert lang geführt, und sie sah auch danach, mit Anfang neunzig, keinen Grund, nicht jeden Tag im Frühstücksraum zu sitzen. Am Vormittag trank sie ein Glas Grappa, zur Belebung der Geister, wie sie meinte, am späteren Nachmittag ein Glas Rotwein, das sei gut fürs Herz. Schau, sagte sie jedes Mal, wenn Harald die Stirn runzelte, bis jetzt hat es gewirkt.
Kamen Urlauber an, war Rosa noch vor mir bei der Tür, um sie zu begrüßen. So auch an jenem regnerischen Herbsttag, als der Flachländer zum ersten Mal auftauchte. Flachländer waren Rosas Ansicht nach alle, die in Gegenden mit Bergen niedriger als zweitausend Meter wohnten, und das traf auf die meisten Gäste zu. Warum ausgerechnet ihm dieser Name geblieben ist, ich weiß es nicht.
Rosa schenkte dem Flachländer von Anfang an mehr Beachtung als allen anderen. Wie er die Schuhe abstreifte, bevor er den Frühstücksraum betrat, wie er den Stift hielt, während er das Gästeblatt ausfüllte. Als er mir den Kugelschreiber zurückgab, begann Rosa zu nicken, langsam und lange, ich wusste nicht, warum, es war eine Geste, die ich noch nie zuvor an ihr beobachtet hatte. Er sei auf Durchreise, sagte er: Ich hoffe auf einen ruhigen Schlaf, bitte geben Sie mir ein Zimmer von der Straße abgewandt.
Die Straße ist auf beiden Seiten, antwortete Rosa, Sie haben die Wahl zwischen Pest oder Cholera.
Es fahren wenig Autos, unterbrach ich sie rasch, auf beiden Seiten können Sie die Berge sehen, das ist der Vorteil, wenn man sich in einem Tal befindet.
Vorausgesetzt, Sie mögen Berge. Manchen fällt es schwer, mit ihrem Anblick umzugehen.
Cholera, bitte, sagte der Flachländer und schaute dabei Rosa an, die wieder zu nicken begann.
Ich reichte ihm den Schlüssel zu Zimmer Nummer sechs. Ein unauffällig gekleideter Mann, der sich gut an die Umgebung anpasst, dachte ich, vielleicht ist ihm Rosa deshalb zugeneigt. Sportschuhe, eine beige Hose, wie sie manche bei Wanderungen tragen, andere wiederum generell im Urlaub, ein kariertes Hemd. Vielleicht weil ich mir vorstellte, der Flachländer sei ein sportlicher Mann, erzählte ich, dass wir im Frühjahr ein Schwimmbecken bauen würden.
Wir haben die Pension gerade erst übernommen, bald wird alles schöner sein.
Sie haben geheiratet?
Wie bitte?
Das Foto dort, das sind doch Sie.
Am späten Nachmittag brachte der Flachländer Blumen und eine Karte. Rosa saß schon bei ihrem Glas Rotwein. Nur wer sich blamieren will, trägt einen Blumenstrauß wie eine Fahne vor sich her, flüsterte sie, als sie ihn zur Tür hereinkommen sah. Rosa, bitte. Ich stellte die Karte in die Vitrine, neben das Billett, das sie uns zur Hochzeit geschickt hatte. Herzlichen Glückwünsch zur Vermählung. Schaut, dass ihr niemandem das Herz brecht, es wäre schade drum. Ich holte eine Vase.
Als ich wieder zurück in den Frühstücksraum kam, hielt Rosa den Strauß mit beiden Händen und roch an den Blumen, Rosen und Schleierkraut, der Flachländer war ein traditioneller Mann.
Über die Jahre wurde die Regelmäßigkeit zu seinem auffälligsten Merkmal. Immer am 21. Oktober tauchte der Flachländer auf und verlangte nach Zimmer Nummer sechs. Angemeldet hatte er sich kein einziges Mal, es wäre auch nicht nötig gewesen. Er kam, streifte seine Schuhe ab, nahm im Frühstücksraum Platz, um das Gästeblatt auszufüllen, danach ging er stets zügig die Stiege hinauf in sein Zimmer, in dem er selbst die kleinste Veränderung bemerkte. Der Tisch war verschoben, die Gästemappe lag auf dem linken Nachtkästchen statt auf dem rechten, der Sessel war zum Fenster statt zum Fernseher hin ausgerichtet, was auch immer. Sobald er sein Zimmer betreten hatte, ordnete er alles wieder so, wie er es bei seinem ersten Aufenthalt vorgefunden hatte. Doch als Harald begann, die Zimmer neu zu dekorieren, kleine, aus Holz geschnitzte Äpfel aufzustellen, die alten Bilder, die noch aus Rosas Zeiten stammten, durch neue von Apfelhainen zu ersetzen, dachte ich nicht daran, was das für den Flachländer bedeuten könnte. Schön, sagte ich, und Harald lächelte.
Wenig später, am 21. Oktober, stellte der Flachländer sofort wieder alles auf den Gang und verlangte nach Rosas Bild.
Umso mehr wunderte es uns daher, dass er den Kater akzeptierte, obwohl der erst vier Jahre nach dem Flachländer eingezogen war. Ein roter Kater, dem die Hälfte des Schwanzes fehlte und der zum dicksten Kater des Tals werden sollte. Beim Frühstück gab es niemanden, der ihn nicht fütterte. Harald war sich sicher, die Gäste taten das nicht aus Zuneigung, sondern aus Angst, denn das Tier wusste, wie es seinen Willen durchsetzte. Es schrie in einer Lautstärke, die durch Mark und Bein ging, was es unmöglich machte, ihm den Zutritt zum Frühstücksraum zu verwehren. Also überließen wir die Gäste dem Kater und kalkulierten beim Buffet mehr Wurst und Käse ein.
Die Menschen interessierten ihn nicht, nur ihr Futter. Einzig dem Flachländer war er zugeneigt. Sobald dieser sein Zimmer bezogen hatte, lief der Kater hinauf und verlangte Einlass. Beim Frühstück wiederum lag er auf dessen Schoß und gönnte dem Flachländer einen Großteil der Wurst. Wenn ich die beiden so sitzen sah, während ich dem Flachländer wie jedes Jahr zwei Eier auf den Tisch stellte, nicht zu hart und nicht zu weich, bitte, und der Kater seinen Kopf hob und schnupperte – ein langes Nicken, ähnlich Rosas Nicken damals, als der Flachländer zum ersten Mal den Frühstücksraum betreten hatte –, da überlegte ich manchmal, was wir machen sollten, würde der Kater verschwinden.
Den Schwanz einer anderen roten Katze abhacken, hätte Rosa gesagt, du überschätzt die Erinnerung unserer Urlaubsgäste.
Meiner Urlaubsgäste, und du hast ihn nicht gekannt, hast ihn nie miauen gehört, so einen Schrei vergisst man nicht, die ganze Nachbarschaft merkt, wenn unser Kater unzufrieden ist.
Dein Mann würde das bestimmt gut können, er schneidet Obstbäume mit einer Präzision, die ihresgleichen sucht.
Harald würde das nicht tun, da war ich mir sicher, selbst wenn er auf Rosas Seite wäre, würde er sagen, der Aufwand sei viel zu groß. Und tatsächlich kam der Tag, an dem sich zeigte, wie wenig er vom Flachländer hielt.
Von den meisten Tagen kann ich mit großer Sicherheit behaupten, ich hätte ihren Ausgang geahnt. Es ist wie im Supermarkt. Du gehst hinein und weißt genau, wo du die Zwiebeln finden wirst, weil du seit Jahren dort einkaufst. Und dann haben sie plötzlich umgestellt, und vor dir liegen Knoblauchknollen statt Zwiebeln. Ich könnte sagen, so verhielt es sich an jenem Tag, der als der verlässlichste des Jahres galt.
Ein paar Wochen zuvor war Harald mit einem Dackel nach Hause gekommen, er hatte schon länger von Hunden gesprochen, davon, dass es gut wäre, einen zum Jagen zu haben, nicht allein im Wald zu sein.
Am 21. Oktober hatte ich im Zimmer Nummer sechs den Originalzustand wiederhergestellt, alles war für den Flachländer vorbereitet. Nur an das Eichhörnchen hatte ich nicht gedacht.
Die Wand mit den Trophäen befindet sich im Eingangsbereich, wir gehen so oft daran vorbei, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen. In der Mitte der Wand der Wildschweinkopf, darüber die Geweihe, darunter die Stockente, der Marder und bodennah, den Blick zu den anderen Tieren, das Eichhörnchen. Zumindest, bis der Dackel eingezogen war und Harald das Eichhörnchen anderthalb Meter weiter oben zwischen Stockente und Marder angebracht hatte. Es sei zu gefährlich, gerade wenn der Hund das Jagen lernen sollte, ein präpariertes Eichhörnchen bekomme ihm bestimmt nicht gut.
Der Flachländer dürfte die Änderung sofort bemerkt haben, er dürfte das Eichhörnchen abgenommen und nahe seinem früheren Platz am Boden abgestellt haben. Wahrscheinlich wäre er ein paar Stunden später mit Werkzeug aus dem Ort gekommen und hätte es wieder an der Wand montiert. Aber keine Minute, nachdem er seine Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, war Harald in den Garten gegangen und hatte den Dackel dabei ertappt, wie er versuchte, das Eichhörnchen zu vergraben.
Um genauer zu verstehen, was daraufhin passierte, muss man wissen, dass Harald eigentlich ein ruhiger, friedliebender Mann ist, der sich lieber um Äpfel als um Worte kümmert. Du wirst sehen, irgendwann bricht alles aus ihm heraus, gleich einem Vulkan, der nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder Feuer spuckt, hatte Rosa einmal gesagt. An diesem Tag wird es von Vorteil sein, Abstand zu wahren, danach wirst du für längere Zeit wieder Ruhe haben, möglicherweise sogar ein Leben lang.
Harald war also hinauf zu Zimmer Nummer sechs gegangen, und vielleicht, dachte ich, würde dieser 21. Oktober tatsächlich der Tag sein, an dem er all seine schlechten Worte hinausließe. Nach fünf Minuten folgte ich Rosas Rat, ich setzte mich ins Auto und fuhr in Richtung Autobahn. Als ich zurückkam, war der Flachländer verschwunden. In seinem Zimmer hatte er einen Zettel hinterlassen: NICHTS ÄNDERN, stand darauf, doppelt unterstrichen und in Großbuchstaben.
Im folgenden Jahr hat sich dann trotzdem alles geändert. Der Flachländer kam nicht mehr. Anfangs dachte ich noch, sein Zug könnte sich verspätet haben, das war vor sieben Jahren einmal der Fall gewesen, aber nichts, kein Flachländer. Nach drei Tagen gab ich das Zimmer frei. Zwei Jahre ist er jetzt schon nicht mehr hier gewesen, und seit fünf Wochen ist der Kater tot. Ich habe ihn in die Tiefkühltruhe gelegt, ganz hinten, unter die Erbsen. Niemand in dieser Familie isst gerne Erbsen, er ist dort gut aufgehoben. Manchmal fällt es schwer, loszulassen, hat Rosa einmal gesagt. Damals habe ich ihr keine Antwort gegeben.
Mit wem sprichst du?, fragt Harald, er steht im Türrahmen, den Autoschlüssel in der Hand, er hat ihn gefunden. Seit Langem trägt er wieder einmal die Daunenjacke, viel zu warm für einen Tag mit Föhn. Eine blitzblaue Jacke, mit der er beim Einkaufen leicht zu finden ist, vielleicht hat er sie auch deswegen ausgewählt, Harald ist ein umsichtiger Mann.
Mit meinem Telefon, ich habe gefragt, ob es morgen kälter wird.
Harald kommt zu mir in den Frühstücksraum, er folgt meinem Blick zur Vitrine, in der Rosas Billett steht, wo sie es damals haben wollte. Rosa, sagt er, und: Meinst du nicht, es wäre gut, öfters was zu ändern?
Denkst du, er kommt im Herbst wieder?
Vielleicht hat er einen besseren Ort gefunden. Er hat doch einmal erwähnt, ihm fehle hier die Nähe zum Polarkreis. Der Flachländer ist ein Reisender, das haben wir von Anfang an gewusst. Wollen wir?
Ja, aber dieses Mal keine Tiefkühlprodukte, der Gefrierschrank ist vom letzten Großeinkauf noch voll.
Voll war das Glas, ich bin mir sicher, jetzt ist es leer. Heute ist wieder solch ein Tag. Ich trete näher ans Fenster heran, schaue, ob er schon auf der Straße steht. An Tagen, an denen nichts gelingt, streift der Mann, der unser Nachbar ist, seinen schmutzigen Arbeitsmantel über, der eigens für solche Tage am Haken hinter der Türe hängt und den er nur zu solchen Anlässen trägt. Sorgfältig knöpft er den Mantel zu, er beginnt ganz unten und arbeitet sich langsam nach oben vor. Im Spiegel neben dem Haken überprüft der Nachbar sein Gesicht, kämmt sich die Haare nach hinten. An solchen Tagen, an denen ihm die Nacht noch in den Knochen steckt, kann es vorkommen, dass die Augenringe tiefer liegen als sonst. Augenringe passen zu einem Mann, der aussieht, als hätte er viel zu tun. Er holt einen Hammer und versucht, ihn in der Manteltasche zu verstauen. Zu klein. Der Mann, der unser Nachbar ist, legt ihn stattdessen in die rechte Hand. Mit dem Hammer in der Hand tritt er auf die Straße hinaus. Er wirft einen kurzen Blick auf unser Haus, als wollte er sicherstellen, dass jemand zu Hause ist. Meine Lippen formen jedes Mal die Worte: Ich sehe dich. Dann geht er los.
An Tagen, an denen nichts gelingt, geht der Nachbar im Arbeitsmantel mit einem Hammer in der Hand die Dorfstraße auf und ab. Er begutachtet das eigene Haus, das Gerüst für den Marillenbaum, er lässt sich treiben, hinüber zur Schule, vorbei an der Bäckerei bis hin zum Imbissstand. Dort legt er den Hammer ab, um das Bier zu bezahlen, das er zu sich nimmt. Er bedankt sich und hält sich nicht lange auf. An Tagen, an denen er den Arbeitsmantel trägt, bleibt der Nachbar nur kurz stehen. Vom Imbissstand zur Bäckerei zur Schule, wo die Kinder die Minuten bis zum Pausenläuten zählen. Auch der Nachbar hat Hunderte Vormittage hier verbracht. Er schaut kurz hoch zum Gebäude, auf das S, das abgefallen ist, vor Jahren schon. Dann nimmt er den Hammer in die andere Hand, setzt seine Route fort. Für Außenstehende muss der Nachbar wie ein Mann wirken, der viel zu erledigen hat. Ich weiß, was an solchen Tagen zu tun ist. Ich kenne jeden Schritt.
An Tagen, an denen der Nachbar den Arbeitsmantel trägt, ist er ein geselliger Mann. Er grüßt, er lässt sich ansprechen. Er nickt freundlich, wenn er auf Monika trifft, die von ihrem Vorhaben erzählt, sich Jerseyrinder anzuschaffen. Herdenreine Kuhmilch, sagt Monika, Tausende Liter Milch verschiedenster Herden werden Tag für Tag in unseren Molkereien zusammengemischt, wir alle wissen davon und sind zu bequem, daran etwas zu ändern, meine Kühe mit denen vom Mayrhofer und so weiter und so fort, kein Wunder, dass es so viele Unverträglichkeiten gibt. Herdenreine Kuhmilch, das wird die Zukunft sein.
An Tagen, an denen der Nachbar den Arbeitsmantel trägt, gratuliert er Monika zu dieser Idee, von der sie seit anderthalb Jahren spricht, sobald ihr jemand eine Minute schenkt. Macht nichts, sagt er, wenn sie sich entschuldigt, dass sie ihn aufgehalten hat, und setzt seinen Weg fort. Er bleibt bei jeder Straßenlaterne stehen und prüft ihren Mast. Er schüttelt den Kopf, wenn er einen Aufkleber entdeckt, geht weiter.
An Tagen, an denen der Nachbar den Arbeitsmantel trägt, lässt er sich von Reisenden ansprechen, die sich über die Aufmerksamkeit des freundlichen, fleißigen Mannes freuen. Er gratuliert ihnen zu ihrer Urlaubswahl, erkundigt sich nach weiteren Plänen, er empfiehlt den Bärenwirt, wo Ludwig ihnen von seinen Ideen zur Umgestaltung des Kreisverkehrs erzählen wird, ein Thema, das ihn sehr beschäftige, seit er tiefer in die Materie eingetaucht sei, wie Ludwig sagt. Kreisverkehre seien die Visitenkarte eines jeden Ortes, die Seele, ja, es gebe sogar welche mit kleinen Kirchen in der Mitte, aber das sei in unserem Fall nicht angebracht. Ludwig wünscht sich für den Kreisverkehr eine detailgetreue Nachbildung des Ortszentrums: unsere Häuser, die Volksschule, der Bärenwirt, der Imbissstand, die Pension Apfelkern, kleine Figuren der Menschen, die hier wohnen. Die Kirche könnten wir weglassen, aber die Schule nicht. Es müsse sich nur jemand finden, um dieses Vorhaben zu finanzieren oder zu bauen oder beides zugleich. Dann hätte unser Dorf den Kreisverkehr, den es verdiene.
An Tagen, an denen der Nachbar den Arbeitsmantel trägt, denke ich an unseren künftigen Kreisverkehr. Ich stelle mir vor, wie wir darauf zu sehen sein werden. Ein Mann mit einem Hammer in der Hand, ein zweiter Mann, der ihm mit einigen Metern Abstand folgt. Vielleicht wären die Fenster der Häuser beleuchtet, die ganze Nacht bis zum Sonnenaufgang, oben die Sterne und unten wir, vielleicht wäre sogar Platz für eine Eisenbahn, die wir rund um den Kreisverkehr laufen lassen könnten, auch wenn der Zug unseren Ort nicht umrundet und von unserer Straße aus nicht zu sehen ist.
An Tagen, an denen der Nachbar den Arbeitsmantel trägt und ich ihm auf seinen Stationen folge, kann ich gut meinen Gedanken nachgehen. Erst, wenn wir wieder bei unseren Häusern ankommen und der Nachbar auf diese ganz bestimmte Weise den Hammer in die Hand nimmt, den Kopf ein wenig zur Seite neigt und sich der Fassade seines Hauses nähert, gilt es schnell zu sein.
Stopp, rufe ich dann, an diesen Tagen, an denen der Nachbar den Arbeitsmantel trägt, weil ihm die vorige Nacht in den Knochen steckt, und ich renne los. Stopp, Robert, schreie ich und nehme ihm wie vereinbart den Hammer ab, damit er sich nicht verletzt, wenn er es mit der Tarnung übertreibt und tatsächlich zu arbeiten beginnt.
Beginnt es jetzt? Draußen parken die Autos, grau, grau, dunkelgrau. Ich dachte nicht, dass sie zu dritt hier auftauchen würden. Es ist der 31. Jänner, es ist der Tag, an dem mein Aufenthalt enden soll. Das Wetter zeigt sich wie an den meisten anderen Tagen, ein strahlendes Blau. Kurz nach zwölf, die Radiomoderatorin spricht von Sonne in den Föhnstrichen und Nebel anderswo. In den Föhnstrichen, hier bin ich zu Hause.
Zu Hause sage ich, und ich meine es so. Dieses Tal hat die Form eines Herzens, und sie bekommen mich hier nicht weg. Frau Künstlerin, meinte die Unterkunftgeberin, als ich ihr vor ein paar Tagen erklärte, dass ich lieber nicht abreisen wolle. Sie sprach es beiläufig aus, wie jemand, der ein Kind beschwichtigen will, weine nicht, schschschsch, alles wird gut, alles wird gut. Frau Künstlerin, sagte sie, es wird nicht möglich sein, dass du länger bleibst, der nächste Künstler reist zwei Tage nach dir an. Wir haben das vor Monaten mit dem Ministerium vereinbart, du weißt, uns sind die Hände gebunden, die Vorgaben kommen von anderswo.
Wir saßen auf unseren Plätzen in ihrem Wohnzimmer, auf diesen unglaublich bequemen Sesseln mit Geranienmuster, wir schauten in den Garten, schauten dem Hund zu, wie er seine Kreise zog. Einmal gehen wir noch essen, sagte sie nach einer Weile, zieh dich ordentlich an, wir gehen aus wie Kaiserinnen, du, deine Betreuerin und ich. Kommt Harald auch mit?, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. Warum sollte er? Weil er das letzte Mal dabei gewesen ist. Harald ist mein Neffe, er betreut dich nicht.