Higher Self - Psychedelika in der Psychotherapie - Gregor Hasler - E-Book

Higher Self - Psychedelika in der Psychotherapie E-Book

Gregor Hasler

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Beschreibung

Sich wieder mit der Welt und sich selbst verbinden Was genau sind Psychedelika und warum spielen sie eine zunehmend wichtige Rolle in den Bereichen Medizin, Resilienz und Spiritualität? Wie Psychedelika die Neuroplastizität verstärken und es dadurch ermöglichen, das Bewusstsein zu erweitern und das Selbst zugleich durchlässiger und widerstandsfähiger zu machen. Psychopharmaka wirken vorwiegend durch Veränderungen der Gehirnchemie. Psychedelika dagegen bedienen einen der stärksten Wirkfaktoren von Psychotherapie: Sie ermöglichen Bewusstseinserweiterung durch direkte Erfahrung. Der Psychiater Gregor Hasler erklärt, wie genau LSD, Psilocybin, MDMA (Ecstasy), Ketamin und Esketamin erlebte Einsicht fördern und wie sie die Neuroplastizität verstärken. Psychedelika-Psychotherapie ist eine Methode, sich der Welt und sich selbst wieder anzunähern. Bei schwer traumatisierten Menschen ist die Annäherung allgemein besonders schwierig und auch gefährlich. Hier kommt der Helioskop-Effekt von Psychedelika zu Hilfe: Sie haben einen Schutzfaktor »eingebaut«, der es erlaubt, mitten in seinen Schmerz zu schauen, ohne dabei wie von der Sonnenhitze der Gefühle verbrannt zu werden. So können Psychedelika als wichtige Katalysatoren psychotherapeutischer Prozesse dienen.

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Seitenzahl: 483

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Cover for EPUB

Gregor Hasler

Higher Self

Psychedelika in der Psychotherapie

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © Media Whalestock/Adobe Stock

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

ISBN 978-3-608-98462-0

E-Book ISBN 978-3-608-11973-2

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20603-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Geleitwort

Einleitung

Literatur

Kapitel 1

Die richtige Wahrnehmung: der Weg zur unmittelbaren Erfahrung

Frühe Psychedelika-Erfahrungen in Indien

Die

REBUS

-Theorie

Achtsamkeitseffekt

Abstraktes Denken als Ursache von Angst

Achtsamkeit und die Überwindung von Leiden

Achtsamkeit und ganzheitliche Wahrnehmung

Embodimenteffekt

Helioskopeffekt

Literatur

Kapitel 2

Die richtige Zeit: der Weg zum Ursprung

Erzähleffekt

Archetypeneffekt

Literatur

Kapitel 3

Die richtige Belohnung: der Weg zur unbedingten Freude

Psychedelika und das Hirnbelohnungssystem

Machen Psychedelika süchtig?

Positivitätseffekt

Das Epikur-Phänomen

Das Entelechie-Phänomen

Das Kundalini-Phänomen

Gipfelerfahrungseffekt

Literatur

Kapitel 4

Die richtige Bedeutung: der Weg zum sinnerfüllten Leben

Bedeutung und Psychotherapie

Bedeutung und Selbstverständnis

Bedeutung und Resilienz

Offenbarungseffekt

Visionseffekt

Literatur

Kapitel 5

Die richtige Beziehung: der Weg zur befreienden Geborgenheit

Therapeut-Patient-Beziehung

Das Tibetische Totenbuch

Perspektiveneffekt

Intimitätseffekt

Literatur

Kapitel 6

Das richtige Selbst: der Weg in die Transzendenz

Störungen des Selbst

Psychedelika und Spiritualität

Selbsttranszendenzeffekt

Selbstwirksamkeit

Selbstakzeptanz

Selbstverantwortung

Das richtige Selbst

Literatur

Kapitel 7

Die richtige Identität: der Weg zur Einheit

Vergessen und Psychotherapie

Nietzsches plastische Kraft

Identität und Ganzheit

Mystische und buddhistische Traditionen der Integrationsarbeit

Alchemieeffekt

Wann ist es genug?

Ayahuasca und Alchemie

Singularitätseffekt

Literatur

Kapitel 8

Die richtige Offenheit: der Weg in die grenzenlose Weite

Probleme der psychedelischen Offenheit

Transformative Offenheit

Gebäreffekt

Lichtungseffekt

Nahtoderfahrungen: das Licht am Ende des Tunnels

Das Betreten der Lichtung

An den Grenzen der Sprache

Literatur

Schlusswort

Dank

Sachverzeichnis

Extreme Heilmittel sind für extreme Erkrankungen sehr gut geeignet.

Hippokrates

Geleitwort

Als Gregor mich fragte, ob ich für sein neues Buch Higher Self – Psychedelika in der Psychotherapie ein Geleitwort schreiben möchte, habe ich mich gefreut. Zum einen aus naheliegenden Gründen, denn es ist eine Ehre, für ein Buch ein Geleitwort schreiben zu dürfen und dem Werk alles Gute zu wünschen auf dem Weg zu möglichst vielen Leserinnen und Lesern.

Zum anderen habe ich mich gefreut, weil mich mit dem Autor eine nun schon mehr als zehnjährige Geschichte verbindet. Als ich 2007 eine klinische LSD-Studie beginnen durfte, weckte diese bald ein recht großes öffentliches Interesse, sodass die Studie in zwei Tagesschau-Sendungen des Schweizer Fernsehens vorgestellt wurde. Bei der zweiten Sendung am 18. Juli 2011 suchte das Schweizer Fernsehen aufgrund des kontroversen Themas eine Fachperson, die der Anwendung von LSD in der Medizin kritisch gegenüberstand. Letztlich übernahm Prof. Dr. Gregor Hasler diese Aufgabe und äußerte sich in der Sendung ablehnend, was den Einsatz von LSD in der Psychotherapie betraf. Fast zehn Jahre später konnte ich mit ihm ein persönliches Gespräch zu einem anderen Thema führen und habe ihn gefragt, wie es denn dazu gekommen sei, dass er seine Meinung in der Zwischenzeit geändert habe. Gregor meinte schmunzelnd, dass es Dinge im Leben gebe, zu denen man nun mal seine Meinung ändere, und er habe in den vergangenen Jahren auch viel interessante und aufschlussreiche Literatur dazu gelesen, was ihn veranlasst habe, seine Meinung zu revidieren.

Mich hat seine Antwort gefreut, weil genau diese auf Fakten basierende Meinungsbildung mir immer als meine wichtigste Aufgabe erschien, wenn ich mich zum Thema LSD in der Psychotherapie in der Öffentlichkeit äußern konnte. Rick Doblin, der Gründer der amerikanischen Stiftung MAPS (Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies) und ein langjähriger Kollege und Exponent in Sachen Psychedelika in der Medizin, sagte mir einmal, dass es sehr wichtig sei, über unsere Arbeit zu reden, das sei public education, was man wohl am ehesten mit »öffentliche Bildung« übersetzen kann.

Gregor, der von einer kritisch ablehnenden zu einer kritisch zustimmenden Haltung gegenüber dem Einsatz von bewusstseinsverändernden Substanzen gekommen ist, hat nun selbst ein Buch geschrieben, dass man im besten Sinne als public education bezeichnen kann. Als er mir das Buch vorstellte, sagte er, es handle sich dabei um ein populärwissenschaftliches Buch. Nach der Lektüre möchte ich ihm ans Herz legen, dass dies ein Understatement ist. Vielmehr ist es ein Buch für interessierte Laien und Fachleute, das außerordentlich gut recherchiert, fachlich kompetent und persönlich authentisch ist. Es verhandelt die Erkenntnisse und die Arbeit mit bewusstseinsverändernden Substanzen immer wieder in einem breiten vergleichenden Kontext mit Religionswissenschaft, Philosophie, biomedizinischer Forschung, Resilienzforschung und vielem mehr. Dazu kommen seine Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis und vielfältige Fallbeispiele, die auf überzeugende Weise von den erstaunlichen und positiven Wirkungen erzählen. Mit mutiger Offenheit schreibt er auch von seinen Selbsterfahrungen, die ihm einen tiefen Blick in die eigene Seele eröffnet haben.

Diese interdisziplinäre Vernetzung und die persönlichen Erfahrungen als Mensch und als Therapeut verknüpft mit neurobiologischen Forschungserkenntnissen – gewissermaßen der Blick über den Gartenzaun akademischer Abgeschiedenheit – machen das Buch nicht nur sehr interessant, sondern auch lehrreich und erhellend. Dabei scheut er sich auch nie davor, eigene Konzepte und Erklärungsmodelle auszuarbeiten und vorzustellen, zum Beispiel den Helioskopeffekt. So habe ich, obwohl ich mich schon lange mit Psychedelika beschäftige, sehr viel Neues erfahren.

Ich wünsche Gregor mit diesem Buch alles Gute und viel Erfolg. Möge es in die Hände vieler geneigter Leserinnen und Leser gelangen, darunter auch vieler kritisch ablehnender, die durch die gründliche Lektüre zu kritisch zustimmenden und gut informierten Menschen werden, die nun wissen, worum es geht, wenn von psychedelischen »Drogen« die Rede ist. Hoffentlich kann dieses Buch zu der längst überfälligen Abschaffung des im deutschen Sprachraum so unglücklich einseitig gebrauchten Drogenbegriffs beitragen. »Droge«, so wie wir es gebrauchen, ist ein umgangssprachlicher Begriff, der so viel meint wie »eine schädliche und illegale berauschende Substanz«. Dabei wird willkürlich eine Grenze zu Alkohol und Nikotin gezogen. Sprechen wir daher lieber von »psychoaktiven Substanzen«, kennen wir ihre Risiken und auch ihr Potenzial. Das vorliegende Buch von Gregor Hasler ist ein wichtiger Mosaikstein auf dem langen Weg zu diesem Ziel.

Peter Gasser

Kapitel 1

Die richtige Wahrnehmung: der Weg zur unmittelbaren Erfahrung

Als Kind habe ich die enorme Bedeutung der Wahrnehmung(1) für unser Wohlbefinden direkt erlebt. Meine Großmutter hatte über einige Monate plötzlich einschießende, vernichtende Gesichtsschmerzen. Ein Neurologe diagnostizierte eine Trigeminusneuralgie. Die Medikamente, die man ihr zur Vorbeugung und Linderung der Schmerzen empfahl, lehnte sie jedoch ab. Lieber wollte sie eine radikale Lösung des Problems und meldete sich bei einem Neurochirurgen. Dieser zerstörte einen Teil ihres Trigeminusnervs. Nach diesem Eingriff hatte sie tatsächlich keine Schmerzen mehr, doch ihre Wahrnehmung hatte sich deutlich verändert. Die Speisen im Mund konnte sie nicht mehr als Speisen spüren, sondern nur noch als störende Klöße. Rotwein schmeckte auf einmal so salzig, dass sie ihn ausspucken musste. Der Apfelkuchen, den sie so liebte, schmeckte nach Papier. Ferner hatte sich auch ihr Gehör verschlechtert und kosende Berührungen am Gesicht nahm sie als grobe Behandlung mit Schmirgelpapier wahr. Sprich: Ihre Wahrnehmung hatte sich komplett verändert und damit auch die Dinge, die sie für wahr hielt. Sie kam sich selbst fremd vor und konnte auch die Welt nicht mehr verstehen. In der Folge verschlechterte sich ihr geistiger und körperlicher Gesundheitszustand dramatisch. Sie, die Künstlerin mit überschäumenden Ideen und Plänen, die mit uns Enkeln Kirchenfenster bastelte, weil diese das Licht so schön brachen, begann, träge und lustlos zu werden, bis sie schließlich jegliches Interesse am Leben verlor und nur noch sterben wollte. Ein paar Monate später verschied sie an einer Lungenentzündung.

Die letzten Jahre meiner Großmutter lassen vermuten, was viele Studien belegen: Die Wahrnehmung(1) ist für unsere psychische Gesundheit(1) von großer Bedeutung. Zum Beispiel führt der Verlust des Sehvermögens nicht selten zu schweren psychischen Störungen. Zu den Folgen von Hörverlust gehören Depression, paranoider Wahn und Demenz. Anhaltende Lärmbelastung und Tinnitus, die Wahrnehmung von Phantomgeräuschen und -tönen, können zu schweren Stressstörungen(1) führen. Gewisse Wahrnehmungsveränderungen(1) treten bei bestimmten Krankheiten besonders häufig auf. Bei der posttraumatischen Belastungsstörung(1) führen komplexe Wahrnehmungsveränderungen(1) zu sensorischer Taubheit(1), Licht-Überempfindlichkeit und sensorischen Unverträglichkeiten aller Art. Bei schwerer Depression können Geruchshalluzinationen(1)(1) auftreten, sodass die betroffenen Patienten über verdorbenen, verfaulten oder verbrannten Geruch klagen. Ein Mangel an sinnlicher Wahrnehmung ist das weitaus häufigste psychologische Problem in der Allgemeinbevölkerung. Er äußert sich in übermäßig abstraktem und unkonkretem Denken, negativem Gedankenkreisen, Grübeln und Entfremdungsgefühlen. An solchen und ähnlichen Beschwerden leiden große Teile der Bevölkerungen in modernen Industriestaaten.

Die richtige Wahrnehmung(1) ist für unser Wohlbefinden zentral. Kleinkinder entwickeln sehend, hörend und tastend sowie mittels Körperwahrnehmung(1) ein Urvertrauen in sich und ihre Umgebung. Da überrascht es nicht, dass die Psychiatrie eine Reihe von Behandlungen entwickelt hat, um die Wahrnehmung zu verändern.1 Die Bestrahlung mit hellem Licht ist eine Standardtherapie in der Depressionsbehandlung. Hörgeräte und Gehörtrainings haben das Potenzial, Demenzen zu verlangsamen. Die positive Stimulation des Gehörs, etwa durch Musik, löst Ängste und stärkt positive soziale Gefühle. Diese Therapieansätze sind aber nur die Spitze eines Eisbergs von Wahrnehmungsveränderungsmethoden(1), die jahrtausendetief in die Ursprünge der menschlichen Kultur und Philosophie reichen. Die aktuell einflussreichsten stammen aus der indischen und buddhistischen Psychologie. Vipashyana (oder Vipassana) ist ein (1)zentraler Begriff dieser Psychologie und bedeutet »achtsames Sehen«, »klares Sehen«, »direktes Sehen« oder »einsichtsvolles Sehen«, wobei Sehen in diesem Fall für die gesamte Wahrnehmung steht. Eine Flut wissenschaftlicher Studien zur Wirkung von Achtsamkeit bei Depression, Angst, Schmerz, Sucht und Trauma-Folgestörungen sowie die extreme Beliebtheit dieser Methode in der Psychotherapie und bei Entspannungsübungen weisen darauf hin, dass eine besonders direkte, achtsame, klare und einsichtsvolle Wahrnehmung von uns und der Welt das Wohlbefinden und die psychische Resilienz stärken kann.2

Frühe Psychedelika-Erfahrungen in Indien

Die große Bedeutung der richtigen Wahrnehmung in der östlichen Psychologie hat ihre Wurzeln im Rigveda(2), dem ältesten Teil der indischen Veden. In Hunderten von Hymnen beschreiben die Autoren die Veränderung der Wahrnehmung(1) durch Soma(1), ein Psychedelikum, das vermutlich aus dem Fliegenpilz gewonnen wurde. So heißt es dort zum Beispiel:3–5

Soma klärt und reinigt die Wahrnehmung.

Soma verleiht ein weites Auge, das alle Seiten sieht.

Soma hat tausend Augen.

Soma schenkt die Weisheit eines Sehers.

Soma vermittelt Einsichten, die mutig machen.

Soma erlaubt es, Sonnen zu finden und Sonnen zu sehen.

Aus heutiger Sicht kann man sagen: Die Veränderung der Wahrnehmung durch Soma ließ die indische Psychologie eine wichtige Erkenntnis machen, die zu einem zentralen Thema der modernen Neurowissenschaften, Bewusstseins- und Psychotherapieforschung geworden ist: Unser Hirn ist ein Filter oder ein Ventil. Seine Aufgabe ist es, unser Bewusstsein von allem abzuschirmen, was nicht von praktischem Interesse für uns ist. Das menschliche Bewusstsein(1) ist vergleichbar mit einem Adler, der aus großer Höhe eine Maus oder ein anderes kleines Beutetier erkennen kann. Das Gehör des Adlers allerdings ist schlecht. Diese Art Bewusstsein hat die Tendenz, übermäßig stark zu fokussieren, rational, instrumentell und nutzenorientiert zu sehen und zu denken. Wenn es keinen Nutzen verfolgen kann, ist es schnell gelangweilt und erschöpft. Offenheit ist seine Schwäche. Ferner hat es Mühe, sich seiner selbst bewusst zu werden, dazu ist es zu tunnelartig angelegt und zu sehr nach außen orientiert.

Aus dieser Rolle des Gehirns wird klar, dass wir je nach Art unserer Wahrnehmung(1) besser oder schlechter mit unserer Umwelt und uns selbst verbunden sind. Die Verbindung entsteht durch bewusstes und unbewusstes Filtern und Zusammenführen von Teilinformationen zu sinnvollen Gesamteindrücken. Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess, in dem unsere Aufmerksamkeit und unsere Bewegungen im Raum(1) das Wahrgenommene bestimmen. Die moderne Neurowissenschaft zeigt, dass in diesem Prozess unsere vorgefassten Erwartungen und Werturteile das Wahrgenommene massiv beeinflussen und dass das Wahrgenommene(1) laufend mit unseren Vorstellungen von der Welt abgeglichen wird. Dieser Prozess ist für unser Leben von herausragender Bedeutung. Denn wie schon die deutsche Sprache nahelegt, ist für uns Wahrnehmen gleichbedeutend mit »für wahr nehmen«. Unsere Wahrnehmung(1) entscheidet also darüber, was wir für die Wahrheit und die Wirklichkeit halten.

Moderne Technologien erlauben es uns, die Welt immer abstrakter und technischer zu sehen. Das Internet bietet uns eine Fülle von Informationen über die Beschaffenheit der Welt; Wearables und Gesundheits-Apps liefern – scheinbar – wichtigere Informationen über uns selbst als unser eigenes Körpergefühl. Wir können es uns leisten, zunehmend auf die unmittelbare Wahrnehmung, die oft anstrengend und gefühlsbetont ist, zu verzichten und ein Leben zu führen, dass von abstrakten Ideen geleitet ist. Das Problem dabei ist nur, dass wir dadurch auf den direkten Bezug verzichten und damit auf die Fülle des Lebens und die Komplexität der Welt.

Dieser Konflikt zwischen einer aufwendigeren direkten Wahrnehmung(1) und einem abstrakteren computerisierten Energiesparmodus findet sich auch beim Bau von Robotern. Das Moravec-Paradoxon(1) beschreibt die Entdeckung von Forschern im Bereich der künstlichen Intelligenz(1), dass entgegen traditioneller Annahmen das logische Denken(1) auf hoher Ebene nur sehr wenig Rechenleistung erfordert, während die direkte sinnliche und motorische Wahrnehmung(1)(1) auf niedriger Ebene eine enorme Rechenleistung benötigt.6 Deshalb leuchtet es auch ein, dass ein Roboter den besten Schachmeister der Welt schlägt, aber Schwierigkeiten hat, eine Treppe hinunterzugehen oder eine Tür zu öffnen. Schachspieler sind sehr viel leichter durch Computer zu ersetzen als Friseure und Krankenpfleger, weil diese Tätigkeiten auf komplexer direkter Wahrnehmung basieren. Dem österreichisch-kanadischen Intelligenzforscher Hans Moravec(1) zufolge erklärt sich das Paradox durch die Evolution: Unsere körperliche, intuitive, sensorische Intelligenz hat über eine Milliarde Jahre gelernt, die sich wandelnde und komplexe Welt wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung erlaubt es uns, mit der Welt und mit uns in inniger Verbindung zu stehen. Das abstrakte Denken(1) hingegen ist eine relativ neue Erfindung, weniger als hunderttausend Jahre alt, und hat sich mit der sehr viel älteren körperlichen Intelligenz noch nicht richtig arrangiert. Wenn wir unser Leben also zu sehr nach diesem neuen Trick ausrichten, berauben wir uns damit der Fülle des Lebens.

Die REBUS-Theorie

Eine der einflussreichsten Theorien üb(1)er die Wirkung von Psychedelika behauptet, dass diese Substanzen das abstrakte Denken(2) schwächen und uns damit einen Zugang zur körperlich-intuitiven-sensorischen Intelligenz eröffnen. Die Theorie heißt relaxed beliefs under psychedelics (kurz: REBUS), was so viel wie »gelockerte Überzeugungen(1) unter Psychedelika« bedeutet. Zugleich ist die Abkürzung eine Anspielung auf das lateinische Wort rebus, das »inmitten der Dinge« bedeutet. Die von den britischen Forschern Robin Carhart-Harris und Karl Friston vorgebrachte Theorie besagt, dass Psychedelika(1)(1) das Bewusstsein verändern, indem sie die grundlegendsten abstrakten Überzeugungen und Annahmen über die Welt schwächen oder lockern, was zu einer unmittelbareren Wahrnehmung(1) der Welt führt.7 Wobei wir uns in diesem Kapitel auf die Lockerung persönlicher Vorurteile(1) konzentrieren, während es in späteren Kapiteln um die Lockerung fundamentaler Wahrnehmungsstrukturen wie Zeit, Belohnung und Selbst gehen wird.

Die taktile Wahrnehmung(1) eignet sich gut, um den REBUS-Effekt zu veranschaulichen. Stellen wir uns eine blinde Frau vor, die sich durch einen weglosen Wald tastet. Sie nimmt ihre Umgebung durch Berührung wahr, nicht alles auf einmal, sondern nach und nach, indem sie die Informationen, die sie erfasst, nutzt, um ihre Bewegungen und die berührungsbasierten Wahrnehmungen, die sie auf ihrem Weg braucht, geschickt zu planen. Da sie eine Vorstellung von einem Wald im Kopf hat, braucht sie nicht viel zu berühren. Sie weiß zum Beispiel, dass Bäume normalerweise nicht dicht beieinanderstehen. Und tatsächlich kommt sie durch den Wald, ohne gegen einen Baum zu stoßen. Nimmt sie nun Psychedelika ein, schalten diese die mentale Karte des Waldes aus. Das hat zur Folge, dass sie langsam durch den Wald kriechen und dabei jeden Zentimeter der Erde und der Bäume berühren muss. Prinzipiell ist das eine äußerst unpraktische Weise, um den Wald zu durchqueren, doch bietet sie eine sehr reichhaltige Erfahrung des Waldes in seiner vollen Komplexität. Die Frau wird viele neue Dinge entdecken, die als Mittel zum Zweck (für die Navigation) irrelevant, aber in ihrem Selbstzweck bereichernd sind, zum Beispiel die feuchte Weichheit von Moos oder das friedliche, harmonische Muster einer Birkenrinde.

Menschen mit psychischen Störungen(1) haben schlechte oder gar falsche Pläne und überschätzen deren Genauigkeit. Zumeist verallgemeinern sie negative Erfahrungen, etwa dass der Wald immer nass und kalt ist, und übersehen, dass permanent neue Bäume, Pflanzen und Wege entstehen. Wobei dies nur als eindrückliches Bild dienen soll, um zu zeigen, dass fast alle psychischen Störungen mit einer Fixierung von Erwartungen einhergehen. Das heißt, die Betroffenen verlassen sich auf ein Modell, das ihre Handlungen basierend auf abstrakten Gedanken und Vorstellungen bestimmt, während sie den körperlich-praktischen Lebensvollzug vernachlässigen. Wenn ich einmal überzeugt bin, dass meine Mitmenschen kein Vertrauen verdienen, trete ich in keine sozialen Interaktionen mehr ein und mein Sozialleben verarmt. Korrigierende Erfahrungen sind so nicht mehr möglich. Wenn ich mir allein in meinem Zimmerchen meine Ziele für die nächsten Jahre setze, kommt mit großer Wahrscheinlichkeit alles anders, als gedacht. Das Resultat kann ein Leben in Illusionen und Abschottung sein oder, am anderen Ende des Spektrums, eine fantasielose, unkreative Anpassung an die Umwelt, bis hin zur Unterwerfung.

Die Bedeutung der direkten Wahrnehmung(2) beschäftigt nicht nur Psychotherapeuten und Intelligenzforscher, sondern auch Politiker und Manager. Der belgische Unternehmensberater Frédéric Laloux(1) schreibt in seinem Buch Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, dass die direkte Wahrnehmung auch in Firmen immer wichtiger wird. Dabei soll Sensing Führung(1) nach Plänen, Strategien und Change Management ersetzen. Er beobachtet, dass Firmen evolutionär, durch fortlaufendes Sensing und fortlaufende Anpassung an die Innen- und Umwelt, wachsen, und erkennt in modernen Organisationsformen einen Wandel von der »Voraussagen-und-Kontrollieren«- zur »Wahrnehmen-und-Antworten«-Führungsregel.

Der Schriftsteller Aldous Huxley(1) betonte die enorme Bedeutung der Wahrnehmung(1) in Religion und Kunst. Er übernahm den Titel seines berühmten Psychedelika-Buchs Die Pforten der Wahrnehmung8 von dem englischen Dichter William Blake, der schrieb: »Wären die Pforten der Wahrnehmung gereinigt, würde dem Menschen alles so erscheinen, wie es ist: unendlich. Denn der Mensch hat  sich verschlossen und sieht die Dinge nur noch durch die engen Spalten seiner Höhle.«9 Huxley wiederum erkannte in der Erforschung und Anwendung von Psychedelika große Chancen: »Wir müssen unsere Fähigkeit bewahren und, wenn nötig, intensivieren, die Welt direkt zu betrachten und nicht durch das halb undurchsichtige Medium der Begriffe, das jede gegebene Tatsache in das allzu vertraute Bild einer allgemeinen Bezeichnung oder erklärenden Abstraktion verzerrt. Systematisches Denken(1) ist etwas, auf das wir weder als Spezies noch als Individuen verzichten könnten. Aber wir können auch nicht auf die direkte Wahrnehmung der inneren und äußeren Welt(1), in die wir hineingeboren wurden, verzichten, je unsystematischer, desto besser, wenn wir gesund bleiben wollen. Diese gegebene Realität ist eine Unendlichkeit, die alles Verstehen übersteigt und dennoch erlaubt, direkt und in gewisser Weise vollständig erfasst zu werden.« Andere Psychedelika-Pioniere wie Terence McKenna(1) gehen sogar davon aus, dass wir Psychedelika für die Lösung von Umweltproblemen benötigen, weil dazu die direkte Wahrnehmung und die ökologische Verbundenheit mit unserer Umwelt fundamental wichtig seien.10

Dank der Psychedelika-Forschung der letzten Jahrzehnte wissen wir, wie diese Substanzen im Hirn die Wahrnehmung verändern. Der Thalamus(1) ist eine zentrale Nervenschaltstelle im Zentrum des Gehirns, die eine wichtige Filterfunktion hat, weil fast alle Sinnesinformationen durch den Thalamus in die höhere bewusstseinsfähige Großhirnrinde geleitet werden. Man spricht auch vom thalamic gating oder sensory gating, (1)um(1) diese Filterwirkung des Thalamus zu  beschreiben. Psychedelika wie Ketamin11(6), LSD(3) oder Psilocybin(2) lockern den Filter, was zu weitgehenden Veränderungen in der Hirnfunktion führt: Die Ressourcen für die körperlich-sensorische Verarbeitung von Informationen steigern sich auf Kosten der Verarbeitung höherer Ordnung, etwa des abstrakten Denkens. Außerdem wirken Psychedelika auch direkt auf die bewusstseinsfähige Großhirnrinde, wodurch der Einfluss von Vorurteilen und vorgefassten Erwartungen abnimmt. Allgemein führen diese Wirkungen dazu, dass im ganzen Hirn hierarchische Strukturen und Organisationseinheiten an Bedeutung verlieren, weswegen man diesen Zustand überspitzt auch als »anarchisches Hir(1)n« beschreibt.

Und wie fühlt sich das an? Meistens sehr gut. Das abstrakte Denken(3) verschwindet und Geräusche, Bilder, Gerüche und Berührungen werden intensiver wahrgenommen. Die Folge ist eine innere Ruhe, die die Wahrnehmung(1) nochmals verstärkt. Wohl am besten lässt sich dieser entspannte, gemütliche Zustand mit dem deutschen Adjektiv »lauschig« fassen: Es weist darauf hin, dass Lauschen und stille Behaglichkeit miteinander zu tun haben.

Man fühlt mehr, hört mehr, sieht mehr, erfährt mehr. Für gewisse neue Wahrnehmungen(1) fehlen oft die Worte, relativ gut lassen sich aber die Veränderungen der visuellen Wahrnehmung beschreiben: Sie sind lebhafter, realer, beinhalten mehr Rot-, Orange- und Gelbtöne. Das ist erstaunlich, da zum Beispiel Träume üblicherweise farblos sind und Farben darauf hindeuten, dass es sich nicht um eine Fantasie, sondern um die Realität handelt. So ergibt sich insgesamt das Bild einer tieferen, reicheren, unvoreingenommeneren, ursprünglicheren Realität. Wobei der Eindruck der Ursprünglichkeit freilich schwierig zu erklären ist. Aldous Huxley beschreibt die psychedelische Ursprungserfahrung(1) folgendermaßen: »Ich sah, was Adam am Morgen seiner Erschaffung gesehen hatte – das Wunder, das sich von Augenblick zu Augenblick erneuernde Wunder bloßen Daseins.« Die Ursprünglichkeit entsteht für ihn also aus den fehlenden Urteilen und der direkten Erfahrung dessen, was ist.

Die Wahrnehmung fühlt sich nicht nur tiefer, sondern auch gesamtheitlicher an. Soma verleihe ein weites Auge, das alle Seiten sehe, heißt es dazu im Rigveda(4). Zu diesem Eindruck tragen zum Beispiel Synästhesien(1) (wörtlich »Zusammen-Wahrnehmen«) bei. Dazu kommt es durch die Verflechtung verschiedener Sinnessysteme im anarchischen Hirn. Töne können Farben haben, Gerüche Musik erzeugen.12 Eine meiner Patientinnen beispielsweise sah ein Gespräch, das ich mit meiner Mitarbeiterin führte, als Farben, die sich in schillerndes Licht verwandelten.

Das Verschwinden jeglicher Langeweile ist die zuverlässigste Folge dieser Wahrnehmungsveränderungen(1). Vor der Einnahme des Psychedelikums langweilen sich Patienten gelegentlich, beginnen Gespräche mit mir, spielen mit dem Smartphone oder lesen. Sobald jedoch die Wirkung eintritt, erübrigen sich alle Ablenkungs- und Zerstreuungsmethoden, und die Patienten legen sich entspannt hin. Die Betrachtung eines Bildes oder einer Vase kann plötzlich für viele Stunden erfüllend sein. Aldous Huxley etwa beobachtete nach der Einnahme von Meskalin(1) über mehrere Stunden seine Hose: »Diese Falten in meiner Hose – welch ein Labyrinth unendlich bedeutsamer Vielfältigkeit! Und das Gewebe des grauen Flanells – wie reich, wie tief bedeutsam und geheimnisvoll üppig!« Der französische Schriftsteller Charles Baudelaire berichtet von der psychedelischen Faszination am Duft einer Blume, die ihn über einen ganzen Tag gefangen nahm, ohne dass er das Bedürfnis verspürt habe, diesen Duft in einem Gedicht zu beschreiben und poetisch zu überhöhen. Und eine Patientin von mir, eine Anglistin, die stundenlang eine Rose bewunderte, sagte, dass sie den Satz »Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose« der amerikanischen Schriftstellerin Gertrude Stein unter LSD(4) das erste Mal wirklich verstand.

Der chilenische Psychiater und Psychedelika-Pionier Claudio Naranjo(1) fasst diese Veränderungen der Wahrnehmung wie folgt zusammen: »Psychedelische Zustände(1) sind mit einem besonderen Wahrnehmungsmodus verbunden, in dem die Welt der Personen und Dinge weder verzerrt noch versteckt werden. Die Welt wird mehr sich selber, könnte man sagen. Alles wird klarer, schärfer, nicht nur scheinbar ›präsenter‹ als sonst, sondern erscheint mit einer Dichte an formalen Beziehungen, die den Eindruck erwecken, dass jedes Ding selbst in seiner Unvollkommenheit ein Wunder an Perfektion ist.«13

In der Therapie sind die Gefühle, welche die direktere, weniger gefilterte Selbstwahrnehmung(1)(1) auslöst, besonders wichtig. Das gelegentlich starke Interesse der Patienten an visuellen oder akustischen Veränderungen der Umwelt ist eher hinderlich für den therapeutischen Prozess. Deshalb werden in Therapien die Emotionalität(1) und die Introspektion(1) durch Musik unterstützt. Musik hat an sich schon eine therapeutische Wirkung, wie der amerikanische Neurologe Oliver Sacks(1) schreibt: »Das Wahrnehmen(1) von Musik aktiviert mehr Hirnregionen als jede andere Aktivität. Sie aktiviert ein umfangreiches Netzwerk, das die akustische und die visuelle Hirnrinde, den motorischen Kortex, die Basalganglien(1), das Kleinhirn, die Amygdala(1) und den Hippocampus(1) umfasst. Das ist der Grund, warum Musiktherapie(1) bei so vielen Gesundheitszuständen wirksam ist.«14 Diese Wirkung ist unter Psychedelika noch viel intensiver, da die neuronalen Netzwerke, die durch Musik belebt werden, durch das Psychedelikum voraktiviert sind. Daher eignet sich im therapeutischen Kontext vor allem ruhige und langsame Musik, wie sie der englische Psychedelika-Musik-Experte Mendel Kaelen(1) auf Spotify in Playlists mit der Bezeichnung psilodep (kurz für: Psilocybin bei Depression) zusammengestellt hat. Wichtig dabei ist, dass die Musik nicht wie in einem Supermarkt in Form einer Dauerberieselung, sondern ganz gezielt eingesetzt wird, weil sonst der Effekt verpufft oder die Musik die Therapie stören kann. Ich beispielsweise spiele nur in circa einem Drittel der Zeit Musik ab, wobei ich wie ein DJ jeweils die Stücke auswähle, die zum aktuellen Zustand des Patienten passen. Zu Beginn der Therapie sollte die Musik sehr langsam und ruhig sein. Auf dem Höhepunkt des Trips eignet sich etwas schnellere Musik, auch mit Gesang. Zum Schluss sollte die Musik wieder ruhiger werden.

Nachdem ich nun die allgemeinen psychedelischen Wahrnehmungsveränderungen beschrieben habe, möchte ich auf drei Psychedelikaeffekte eingehen, die für die Psychotherapie besonders wichtig sind. Bei den ersten beiden, dem Achtsamkeits(1)- und dem Embodimenteffekt(1), handelt es sich um Wirkfaktoren, die in der Therapieforschung seit Langem bekannt sind und durch Psychedelika lediglich verstärkt werden. Der dritte, der Helioskopeffekt, ist dagegen eine Psychedelika-spezifische Wirkung, die für die Psychotherapie von größter Bedeutung ist und die therapeutische Anwendung von Psychedelika meines Erachtens hinreichend rechtfertigt.

Achtsamkeitseffekt

Wenn man von Achtsamkeit als(2)(1) Entspannungstechnik spricht, meint man damit eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die absichtsvoll ist, sich auf den gegenwärtigen Moment bezieht und dabei nicht wertend ist. In diesem hellwachen und klaren Zustand werden die Umwelt, der Körper und die Psyche direkt erfahren, das heißt ohne Ablenkung durch abstrakte Gedanken, vorgefasste Vorstellungen und Erinnerungen.

Geschichtlich betrachtet ist Achtsamkeit vor allem in der Yoga-Lehre und in der buddhistischen Meditationspraxis zu finden. Beide haben ihre Wurzeln in der psychedelischen Soma-Erfahrung des Rigveda. Es erstaunt deshalb nicht, dass meditative und psychedelische Zustände viele Gemeinsamkeiten aufweisen. In der westlichen Kultur wiederum ist das Üben von Achtsamkeit durch den Einsatz in verschiedenen Psychotherapiemethoden bekannt geworden. Außerdem wird der Begriff »Achtsamkeit« im Rahmen der Care-Ethik(1)(1) für eine bestimmte Praxis der Zuwendung verwendet.

Im Folgenden habe ich die Ähnlichkeiten zwischen meditativer und psychedelischer Achtsamkeit(1)(1) zusammengefasst:

Absichtlichkeit:(1)Im Gegensatz zu spontanen Wahrnehmungen und spontaner Selbsterkenntnis ist Achtsamkeit eine absichtliche Handlung mit einem klaren Beginn und einem klaren Ende. Sowohl bei der Meditation wie auch bei der Psychedelika-Therapie gibt es eine klare und absichtsvolle Planung und Durchführung.

Klarheit: Im Rigveda wird Klarheit(1) als zentrales Merkmal der Soma-Wirkung beschrieben. Der Buddha legte großen Wert auf die innere Klarheit seiner Mönche und machte sie ständig darauf aufmerksam, dass Hypnose und Trance keine meditativen Zustände sind, sondern Hindernisse der Meditation. Achtsame Klarheit(1) bezieht sich vor allem auf die Wahrnehmung sowie auf einfache, wichtige, anschauliche Einsichten – und nicht auf die Klarheit des abstrakten Denkens. Es dürfte einem schwerfallen, unter Psychedelika-Einfluss einen Vortrag über das Bruchrechnen zu halten.

Nicht-Handeln:(1) Meditation und achtsame psychedelische Zustände zeichnen sich durch körperliche Ruhe und das Gebot aus, Handlungsimpulsen nicht nachzugeben. In Jäger-Sammler-Gesellschaften, die psychedelische Pflanzen für die Jagd verwenden, werden diese als »Pflanzen der Stillsitz-Kraft« oder »Gaben der Stille« bezeichnet.10 Die Verbesserung der Impulskontrolle ist ein langfristiges Ziel beider Achtsamkeitsmethoden.

Anstrengung:(1) Wie die Meditation ist auch der psychedelische Zustand mit Arbeit zu vergleichen. Die Anwendung ist kein reines Vergnügen, was erklärt, warum das Suchtpotenzial von Meditation und Psychedelika gering ist. Vielmehr könnte man sie mit einer Bergwanderung vergleichen, die anstrengend, aber auch sehr befriedigend ist.

Urteilslosigkeit:(1) Meditative und psychedelische Achtsamkeit sind gekennzeichnet durch eine Haltung der interessierten Neutralität und das Wegfallen von Urteilen, was Aldous Huxley(2) in seinem Buch Die Pforten der Wahrnehmung(1)als Befreiung beschreibt. Er vergleicht seinen Zustand mit dem seiner zwei nüchternen Begleiter: »Aber beide gehörten einer Welt an, aus der mich für den Augenblick das Meskalin(2) befreit hatte – der Welt des Selbst, der Zeit, der moralischen Urteile und der Nützlichkeitserwägungen, der Welt der Selbstbehauptung, der Selbstsicherheit, der überbewerteten Wörter und vergötzten Begriffe.« Derartige Gefühle der Befreiung sind in Psychedelika-Therapien nicht selten. So sagte mir beispielsweise ein Patient, der an negativem Gedankenkreisen litt: »Nun habe ich erlebt, wie schön und wunderbar die Welt ist, wenn ich auf meine negativen Gedanken verzichte.«

Verbundenheit:(1) Die Befreiung von Urteilen und Begriffen ist in der Regel nicht asozial. Es ist keine Freiheit jenseits menschlicher Bezüge. Im Gegenteil, die Befreiung ist meistens von Gefühlen der Verbundenheit, der Empathie und der Liebe begleitet. Es ist kein Zufall, dass viele spirituelle und religiöse Traditionen davon ausgehen, dass eine achtsame Haltung spontan zu einem Zustand des Mitgefühls mit sich selbst und anderen und zu einer tiefen Wertschätzung der Verbundenheit aller Dinge führt. Dies hat damit zu tun, dass die Filterung der Wahrnehmung(1) durch abstrakte Konzepte und Urteile uns oft aus dem Kontakt mit der uns umgebenden Welt herauszieht. Nicht selten führt das Ausschalten dieser Filterung zu grundsätzlichen Einsichten über das Geben und Erhalten von Liebe.

Zeitlosigkeit:(1)Achtsamkeitsübungen(1) beinhalten den Auftrag, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Bei Psychedelika tritt dieser Effekt spontan ein und wird therapeutisch gefördert. Während der Phase der Achtsamkeit kann sich die Gegenwartsorientierung(1) derart verstärken, dass der Zeitsinn vorübergehend verloren geht (mehr dazu im nächsten Kapitel).

Unendlichkeit:(1)Naturwissenschaft und Medizin beschäftigen sich vor allem mit fassbaren, endlichen Dingen, Philosophie, Kunst und Religion dagegen auch mit dem Unfassbaren und Unendlichen. Weil Achtsamkeit Gefühle und Vorstellungen von Unendlichkeit vermitteln kann, sind Achtsamkeit, Kontemplation und Psychedelika nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch in den Geisteswissenschaften ein wichtiges Thema. »Hinter den Wolken der Gedanken erscheint ein kleines Stück blauen Himmels«, schrieb der Harvard-Professor Ram Dass(1)(1) über das Unendlichkeitsgefühl unter Psychedelika. Im letzten Kapitel über die richtige Offenheit werde ich auf die Dimension des Unendlichen in der Psychotherapie noch näher eingehen.

Achtsamkeit(1) ist ein sehr allgemeines Mittel der Beruhigung in der Psychotherapie, aber auch in der Medizin und in der Pflege. Dem aufgeregten Patienten sagt man, er solle sich weniger mit seinen sorgenvollen Gedanken beschäftigen, sich setzen, seinen Körper und seine Atmung spüren. Durch diese Veränderung wird er sich beruhigen und eher fähig sein, dem Personal zu vertrauen und Ratschläge anzunehmen, selbst wenn die wahrgenommenen Inhalte negativ sind (z. B. Rückenschmerzen oder Darmprobleme), weil die Befürchtungen und nicht die Empfindungen die Hauptursache der Angst(1) sind. In allen psychedelischen Therapien, die ich bisher durchgeführt habe, haben sich die Patienten entspannt, selbst wenn sie ihre Schmerzen deutlicher und präziser wahrnahmen oder sie sich mit schweren traumatischen Erfahrungen auseinandersetzten. In einer Pilotstudie konnten wir zeigen, dass das Wegfallen von negativen Urteilen(1) und abstraktem Denken(4) mit einer deutlichen Zunahme der Vagus-Nerv-Aktivität einhergeht, selbst bei starken Schmerzgefühlen. (Der Vagus-Nerv(1) ist Teil des beruhigenden, vegetativen Nervensystems, er verbindet Hirn, Lunge, Herz und Darm.)15

Loni, eine ehemalige Eiskunstläuferin mit extremen, anhaltenden Bauch- und Knochenschmerzen erlebte eine starke psychedelische Achtsamkeitswirkung. Ich behandelte Loni mit LSD(5)