Hildegard von Bingen und ihre Botschaft für heute: ganzheitlich leben - Johann Julius Prediger - E-Book

Hildegard von Bingen und ihre Botschaft für heute: ganzheitlich leben E-Book

Johann Julius Prediger

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Beschreibung

Auf einem Bauernhof aufgewachsen habe ich die damals noch wenig beeinträchtigte Symbiose von Mensch und Natur miterlebt, und auch die Mühen und Nöte dieser Zeit. Ich habe von klein auf mitbekommen, dass wir mit der Natur, von der wir leben, achtsam umgehen müssen und dass die Natur kleine Verfehlungen ausgleicht, uns aber für große büßen lässt. Wie ein guter Landwirt, muss die Menschheit die Erde bewirtschaften. Nur in Symbiose mit der Natur haben wir gute Zukunftsaussichten. Wie können wir heute, nach dem steilen, aber umweltbelastenden Entwicklungsweg, den wir beschritten haben, und angesichts des sich anbahnenden Klimawandels, wieder zu einer Natur- und Umweltverträglichen Lebenseinstellung finden? Kann uns vielleicht die heilige Hildegard von Bingen heute noch einen guten Rat geben? Kann sie uns, Dank ihrer Visionen, ein dringend notwendiges, ganzheitliches Welt- und Menschenbild vermitteln? Damit wäre uns schon weitergeholfen. Denn das ganzheitliche Weltbild veranschaulicht die Ansatzpunkte für eine nachhaltige, also zukunftsträchtige Lebensweise, die es uns ermöglicht uns daseins-lebensgerecht entwickeln und verwirklichen zu können, und mit uns auch die Gesellschaft in der wir leben. Das hier vorgestellte Naturverständnis ermöglicht Wissenschaftlern und Studenten einen neuen Zugang zu ihren Fachgebieten und damit auch den Zugang zu neuen Erkenntnissen. Und nicht zuletzt trägt die hier vermittelte, aber keineswegs neue Einsicht Teil der Natur zu sein, dazu bei unser Umweltbewusstsein zu schärfen.

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Inhaltsverzeichnis

I. Erfahrungen sind Wegweiser

Warum ganzheitlich?

Einsicht und Besinnung

Alle Wissenschaft hat

ein

Ziel

„Wisse die Wege“

Die Sinnkrise

Das klassische Weltbild

Nicht die Welt, sondern unser Weltbild wird uns zu eng

Am Wendepunkt

Visionen und Ideale

Der Boden der Tatsachen

Erkenntnis und Reife

Im Strome aufbauenden Geschehens

Unter Entwicklungsdruck

Die Welt verstehen wollen: Anmaßung oder Notwendigkeit?

II. Im Zeichen einer neuen „kopernikanischen“ Wende, hin zu einem ganzheitlichen Naturverständnis

Unser Weltbild und der fortschreitende

Erkenntnisprozess

Der Vitalismus

Die organismische Weltsicht

Die holistische, ganzheitliche Weltsicht

Die Welt als ein System geschichteter Beziehungen

Die integrale ganzheitliche Weltsicht

Die Hypothese der formenbildenden Verursachung

„Nada Brahma. Die Welt ist Klang“

Die Theorie der natürlichen kosmologischen Auslese

Das Leben – eine unendliche Geschichte

III. Bewusstsein – die geistige Wirklichkeit

Bewusstsein und Ganzsein

Ordnung verweist auf Sinn

Der Speicher der Information

Die Gravitation und das kosmische Informationsfeld

Lebendige Wirklichkeit

Das ewige Werden

Die Entstehung des Lebens auf der Erde

Der Mensch als Ausdruck der Wirklichkeit

Die embryonale Entwicklung und das kosmische Informationsfeld

Der Speicher und die Kraft unserer Gedanken

Das kleine und das große Selbst

Bewusstsein und Menschwerdung

Bewusst und vernünftig

Die Frage nach dem Sinn unseres Lebens und Daseins

Das kosmische Informationsfeld und extraterrestrisches intelligentes Leben

Die Eckpunkte der Arbeitshypothese

Bilder aus dem Weltgedächtnis

Vom „nicht zeitgemäßen“ Denken zum zeitaktuellen Weltbild

IV. Lebensnahe Einsichten und Erfahrungen

Mensch und Umwelt

Das Kleben an der Gewohnheit

Die Herausforderung geistig zu wachsen und zu reifen

Adler, Heidegger und der rechte Weg

Die Ehrfurcht vor dem Leben – das Kriterium für Gut und Böse

Das Schöne als das Erstrebenswerte

Zur Selbstverwirklichung herausgefordert

Meditation – oder was und frei und offen macht

Karma und Reinkarnation

Von der Evolution getragen

Mit der Schöpfung auf dem Wege

Literaturhinweise

„Die Zukunft ist offen […]“ denn die „Wirklichkeit ist keine starre Realität da draußen, sie ist voller Möglichkeiten draußen und in uns. Sie kann von uns geändert und neu gestaltet werden“.

Hans-Peter Dürr

I. Erfahrungen sind Wegweiser

Warum ganzheitlich?

Umweltfreundlich zu leben ist nicht nur eine Herausforderung unserer Zeit, auch unsere frühen Vorfahren waren schon damit konfrontiert. Durch die Jagd und das sammeln von essbaren Pflanzen konnten sie den Bestand dieser und des Jagdwildes gefährden, und damit auch ihre eigene Lebensgrundlage. Die Bemühungen, um eine uns selbst und der Welt in der wir leben angemessene Lebensweise, sind also nicht neu und reichen weit zurück. Die ersten Anzeichen die in diese Richtung gehen sind religiöser Natur, denn die Menschen lebten, wie archäologisch und geschichtlich nachgewiesen, schon immer im Rahmen des Horizontes religiöser Weltvorstellungen und den sich daraus ergebenden Zielsetzungen für das individuelle und gemeinschaftliche Leben. In diesem Rahmen ist auch das hildegardsche Wissen und Werk zu betrachten. Die Visionen der „heiligen“ Hildegard von Bingen veranschaulichen unsere Eingebundenheit in das Weltganze und damit auch die sich daraus für uns ergebenden Chancen, wie auch Gefahren und Risiken. Diese zu erkennen, erstere zu nutzen und letztere zu meiden, macht unsere Entwicklungsgeschichte aus – das stetige Ringen mit umweltlichen und sozialen Lebensbedingungen.

Freud und Leid sind der emotionale Rahmen unseres Lebens. Vom Erfolg belohnt, freudig und glückbeschwingt, macht das Leben Spaß und die Muse ermöglicht geistigen Austausch und kulturelle Entwicklung. Und vom Leid geplagt und notgedrungen, waren und sind wir immer wieder herausgefordert Routine und Gewohnheiten aufzugeben und Neues zu wagen. Der Anpassungsdruck und die Muse sind der Motor unserer zivilisatorischen und menschlichen Weiterentwicklung – des sich gegenseitig Hochschaukelns von Individuum und Lebensgemeinschaft. Die individuelle Entfaltung der Menschen kommt dem Wohlergehen ihrer Gemeinschaft zugute, was wiederum die individuelle Entfaltung begünstigt. Ein Humanitätsideal, die Selbstverwirklichung, erweist sich somit als unsere Anpassungsmodalität an die Umstände unserer Lebenswelt. Jedoch der Humanismus, so sehr wir seine Ideale auch schätzen, ist kein perfektes Leitbild. Ihm fehlt der uns in die Natur des Weltganzen einordnende Sinnbezug. Dieser aber ist die Orientierungsgrundlage für eine daseinsgerechte Lebensweise, die unserer Eingebundenheit in das Weltganze angemessenen ist.

War ehemals die einer naturverehrenden, animalistischen Weltvorstellung entsprechende Lebensweise noch verhältnismäßig und lebensgerecht, so können wir das von unserer heutigen Lebenseinstellung nicht mehr behaupten. Unser klassisches, materialistisch-mechanistisches Weltbild – das die Natur als Objekt darstellt und sie dadurch dem Menschen uneingeschränkt verfügbar macht –, verleitet zu schonungslosem Umgang mit der sich Natur und ihren Ressourcen. Mit einem Weiter-so, mit der auf dieser Weltsicht beruhenden Lebenseinstellung, haben wir keine guten Zukunftsaussichten. Langsam merken wir, dass wir daran sind das die Erde umschließende Ökosystem und damit auch uns selbst zu gefährden. Und wir tun auch einiges, sowohl auf der Ebene des Staates und der Staatengemeinschaft wie auch als umweltbewusste Bürger, dass diese uns bedrohende Entwicklung nicht ganz außer Kontrolle gerät. Doch was wir tun reicht nicht. Viel effizienter und gleichzeitig auch nachhaltiger ist es unsere Lebenseinstellung und Lebensweise zu ändern – entsprechend einem Weltbild das den wissenschaftlichen Erkenntnissen unser Zeit angemessen ist. Also entsprechend einem weitgefassten, über unser klassisches Weltbild hinausreichenden, ganzheitlichen Weltverständnis. Diese ganzheitliche Weltsicht ist die Voraussetzung dafür, dass wir nachhaltige Alternativen für die Lösung unserer Probleme finden können. Denn [...] „letztlich sind alle […] [unsere] Probleme nur verschiedene Facetten ein und derselben Krise, […] [als] Folge der Tatsache, daß die meisten unter uns [...] an einem überholten Weltbild festhalten, an einer Weltanschauung, die zur Lösung der vielfältigen Probleme in unserer global vernetzten Welt ungeeignet ist“,1 schreibt Fritjof Capra, ein führender Vertreter des wissenschaftlichen ganzheitlichen Denkens.

Schon Platon und Aristoteles vertraten eine ganzheitliche Weltsicht und in beeindruckender Weise auch die heilige Hildegard von Bingen. Heute ist dieses ganzheitliche Weltverständnis aktueller denn je. Dieser Ansicht ist auch der österreichische Managementberater und Sachbuchautor Dr. Heinz Peter Wallner, wenn er schreibt: „Eine wichtige – für mich auch schon die wichtigste – Frage unter der Sonne für die Zukunftsfähigkeit Europas lautet so: Wie können wir eine Gesellschaftsordnung und eine Wirtschaftsform auf Basis eines ganzheitlichen Weltbildes entwickeln? Die Anforderungen sind groß. Das Spiel des mechanistischen Weltbildes haben wir zu Ende gespielt und bis zum letzten Tropfen ausgekostet. Das ganzheitliche Weltbild zeigt aber noch zu wenig Kontur, um neue Orientierung zu geben. Damit können wir also noch nicht umfassend arbeiten. Wir befinden uns im Übergangsraum, der alle Möglichkeiten bietet und uns alle Richtungen offen läßt. […] Nachhaltigkeit ist einer der Wegweiser, das ganzheitliche Weltbild die Grundfeste“.2

Aus ganzheitlicher Sicht werden die der Natur und der Welt zu Grunde liegenden vielseitigen verbindenden Zusammenhänge erkennbar, und damit auch die Ansätze und Möglichkeiten für die Lösungen unserer Probleme und ungeklärten Fragen, die diese Sichtweise offenlegt. Damit erschließt uns die ganzheitliche Weltsicht einen Weg in die Zukunft. Doch wir folgen dieser Einsicht nur zaghaft, denn es bleibt uns, wie bei allem Neuen, auch bei der Etablierung des ganzheitlichen Natur- und Weltverständnisses nicht erspart Wagnisse einzugehen und wissenschaftlich ungesichertes Terrain zu betreten. Aber ist nicht das ganze Leben ein Wagnis, eine Herausforderung die auf uns lauernden Gefahren und die sich uns bietenden Chancen erkennen und bemessen zu können?

Das im vorliegenden Buch skizzierte ganzheitliche Weltbild, in dem das Leben im Mittelpunkt steht, ist ein Denkanstöße vermittelndes und an den Gegebenheiten und Erfordernissen des Lebens zu prüfendes Modell der unserem Einsehen und Verstehen zugänglichen Wirklichkeit. Und damit, auch das Modell einer Orientierung bietenden Grundlage für eine zukunftsträchtige Lebenseinstellung. Aber wie das nun mal so ist, das Leben kennt keinen Stillstand und überrascht uns nicht nur mit neuen Einsichten, sondern auch immer wieder mit neuen Herausforderungen. Aber es hält auch die Möglichkeiten bereit diese zu bewältigen, sodass wir mutig, mit Zuversicht und Freude, in die Zukunft blicken können.

Einsicht und Besinnung

Blauer Himmel, Schönwetterwolken und darunter die Farbenvielfalt einer sich bis an Wald und Berg ausdehnenden sommerlichen Kulturlandschaft – ein zum Bestaunen und Erfreuen einladendes Panorama. Felder in Grün-, Gelb- und Brauntönen schmücken die Hügel und ein weites Tal. Am Fuße der Hügel ragen aus dem dunklen Grün der sie umgebenden Bäume die roten Dächer von Häusern und die Spitze eines Kirchturms heraus, und im Dunst der Ferne sind noch die Silhouetten der Hochhäuser einer Stadt zu erkennen. Am Wegrand vor einem Kornfeld tummeln sich bunte Schmetterlinge über wildem Mohn und Wiesenblumen. Von leichtem Winde umspielt neigen sich die fruchtbeladenen Halme und hoch aus den Lüften klingt anschwellend und verhallend das rhythmisch-melodiöse Lied einer Lärche. Nicht weniger beeindruckend ist der funkelnde Sternenhimmel einer klaren Nacht, sowie der Zauber und die Romantik eines Mondlichtspaziergangs.

„Schön ist es auf der Welt zu sein“, heißt und klingt es auch im Refrain eines Freude weckenden Kinderliedes, eines Songs von Roy Black. Die Freude ist für jung und alt das Lebenselixier und die Natur ist, im Großen wie im Kleinen, voll von Freude weckender Schönheit. Wenn nach einem langen Winter die ersten Knospen sprießen und das Erwachen der Natur ankündigen erhellt sich auch unser Gemüt. Und wir freuen uns wenn, mit den wärmer werdenden Tagen, der Frühling mit Grünen und Blühen Einzug hält. Aber auch der Anblick eines Männchen machenden Häschens oder scheu davon galoppierender Rehe, wie auch der in einem klaren Bach munter schwimmenden Fische weckt Freude in uns – und wir würden es sehr vermissen, wenn in Feld und Wald kein Vogelgesang erklingen würde. Unser Mitgefühl für die Natur entspringt unserer Wesensverwandtheit mit ihr. Es ist also nahe liegend, dass wir uns als Kinder der Natur an ihrer Lebendigkeit und Schönheit wie an unserer eigenen erfreuen.

Schneebedeckte Berge, dunkle Wälder, grüne Täler und Flussauen, weite Meere mit schäumender Brandung und breiten Stränden, von der Sonne beschienen und vom Regen getränkt, das ist unsere schöne Erde – ein Garten Eden. Dank günstiger und stabiler klimatischer Verhältnisse ist die Erde ein lebensfreundlicher Planet, gekennzeichnet von der Vielfalt und Allgegenwärtigkeit des Lebens, bis hin in die unwirtlichen Wüsten- und Polarregionen. Die Pflanzen und Tiere wachsen und vermehren sich entsprechend dem Nahrungsangebot ihrer Umwelt, und entsprechend ihrem Anpassungsvermögen an die sich ändernden Umwelt- und Lebensbedingungen. Evolutionsbiologisch betrachtet gilt dies auch für uns Menschen, denn auch unsere ganze Entwicklungsgeschichte ist, wenn auch auf höherem Niveau, die Geschichte des sich in Lust und Freude bestätigenden und sich im Vorbeugen und Begrenzen von Leiden bewährenden Lebens.

Schon seit frühesten Zeiten waren die Menschen, um zu überleben, aufeinander angewiesen. Was dazu führte, dass sich im Laufe der Zeit – wohl auch unter dem Einfluss von religiösen Gefühlen –, zwischenmenschliche Beziehungen und Verhaltensweisen herausbildeten, die das Zusammenleben in Gemeinschaften ermöglichten. Regionale Abgeschiedenheit und unterschiedliche Lebensumstände führten zu eigenständigen kulturellen Entwicklungen der Völker. Ihren unterschiedlichen Erfahrungen entsprechen auch, mehr oder weniger, voneinander abweichende Wertvorstellungen und ethische Verhaltensweisen. Aber bei aller Unterschiedlichkeit von Aussehen, Sprache und Mentalität verbindet uns alle die gemeinsame Sprache unserer Gefühle. Wenn die Gefühle sprechen, sind Worte entbehrlich. Auf der Ebene der Gefühle befähigt uns die Liebe – indem sie unser ganzes Wesen einfühlsam und unser Denken und Handeln erbauend stimmt –, zu einem weltweit gleich gewertet und gleich verstandenen, wohlwollenden Verhalten. Damit trägt die Liebe zu einem gelingenden Leben und Zusammenleben bei. Sie ist die natürliche Grundlage für ein gemeinsames Weltethos.

Wir sind zwar gefühlsbedingte, aber auch vernunftbegabte Wesen und als solche für die Folgen unseres Handelns verantwortlich. Nun wird jedoch ein weltweit abgestimmtes, werte- und zukunftsorientiertes Handeln, sowohl durch die den nationalen und wirtschaftlichen Interessen untergeordnete Politik erschwert, als auch durch die unterschiedlichen Erfahrungen und Ansichten, zu denen die unterschiedliche geschichtliche Entwicklung der Völker geführt hat. Anderseits ist diese Vielfalt an Erfahrungen und Ansichten ein wertvoller Schatz. Indem wir uns als Menschen und Völker gegenseitig kennen und verstehen lernen bietet sich uns die große Chance voneinander, aus der Erfahrung der Andern, zu lernen und Dank eines umfassenden Erfahrungsaustauschs stets die besten Lösungen für die jeweils anstehenden Probleme zu finden.

Das Vertrauen in die in Jahrtausenden gesammelte Erkenntnis und in die mit der Tradition übernommene Lebenserfahrung hilft uns, wie an der Hand geführt, in die Zukunft zu schreiten. Ein Ja zum Leben ist also ein Ja zur zukunfteröffnenden Erkenntnis. Und da unser Verstand die Anhaltspunkte für seine Erkenntnis von den Sinnen bezieht, ist ein Ja zum Leben auch ein Ja zur Sinnlichkeit. Ein Ja zum Leben ist ein Ja zu Vernunft und Glauben, zu Liebe und Gemeinschaft, denn wir sind nur als soziale Wesen denkbar und bedürfen einander zum Leben und Überleben. Die Liebe gibt uns Freiraum in dieser Gebundenheit aneinander und der religiöse Glaube gibt uns die Gewissheit geführt zu werden und nicht zufallhaftem Schicksal überlassen zu sein. Und was die Vernunft betrifft, die lässt uns diese und auch weitere, unser Leben bestimmende und bedingende Zusammenhänge erkennen. Sie optimiert unser Handeln zielorientiert.

Wir sind also darauf angewiesen, vernünftig zu sein. Aber lassen wir uns auch von der Vernunft leiten? Ja, kann uns die Vernunft allein leiten? Ganz bestimmt nicht immer. Öfter als wir es wahr haben wollen verhilft uns die Intuition zu einem Verhalten, das den Erfordernissen des Augenblicks entspricht – ohne dass wir dafür Vernunftgründe angeben könnten. Intuition ist Gefühlsvernunft und als solche auch am Entstehen der Schöpfungsmythen mitbeteiligt. Entsprechend leistet das mythisch-religiöse Weltverständnis, Sinn vermittelnd und Ordnung stiftend, was unserer auf Einsicht und Verstehen beruhenden naturwissenschaftlichen Weltsicht versagt bleibt. Am Unüberschaubaren, an der Unendlichkeit der Welt und der Unendlichkeit der darin bestehenden Bezogenheiten, scheitert die Vernunft. Es besteht also kein Widerspruch darin, unserer Einsicht folgend, ein naturwissenschaftliches Weltbild zu vertreten und gleichzeitig die Welt als Schöpfung zu bezeichnen, und damit die Unzulänglichkeit unseres Verstandes, letzte Fragen beantworten zu können, einzugestehen.

Im Rahmen der Grenzen die sie selbst auslotet, bleibt die Verstandesvernunft für uns unverzichtbar. Folgen wir ihrer wohlwollenden Stimme nicht, so stellen sich sehr bald unliebsame Konsequenzen ein, die der Vernunft letztlich zu ihrem Recht verhelfen. Die manchmal scheinbar machtlose Vernunft kann sich immer wieder durchsetzen, weil in ihr die Logik der Schöpfung zu tragen kommt. Die in der Natur der Welt waltende Logik, die sich in der Logik unserer eigenen Vernunft wieder findet, befähigt uns zur Welt- und Selbsterkenntnis, den Grundlagen unserer Überlebenschancen- und Strategien. Schon Zarathustra, (1600 v. Chr.) der Prophet und Stifter des Zoroastrismus, fand es geht nicht ohne Vernunft und legte sie, mit den Maximen „gutes Denken, gutes Reden, gutes Handeln“, der Ethik zu Grunde.

Der vielseitig Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) betonte die Einheit der göttlichen und menschlichen Vernunft und gelangte, davon ausgehend zu einem rationalen Weltverständnis, dem sowohl die naturwissenschaftlichen und mathematischen Erkenntnisse, als auch der Bezug zum Universellen, zu Gott, zugrunde liegen. Die Lehre dieser hervorragenden Persönlichkeit der europäischen Geistesgeschichte entsprang dem Bemühen, den Menschen in Lebens- und Rechtsfragen Orientierung bieten zu können. Auch der große Philosoph Immanuel Kant (1724-1804), der die Vernunft kritisch hinterfragt, möchte die Menschen vor Trugschlüssen bewahren und ihnen dadurch helfen sich selbst und die Welt besser zu verstehen. Denn wie die Theologie den Willen Gottes deutet, damit ihn die Menschen als seine Geschöpfe zu ihrem Leib- und Seelenheil befolgen können, so deutet die Philosophie die Weltwirklichkeit, damit die Menschen der Wirklichkeit, und damit auch sich selbst gerecht werden und es ihnen erspart bleibt durch Schaden klug zu werden. Heute erscheinen uns Wissen und Glauben als Gegensätze. „Glauben ist Nicht-Wissen“ heißt es spöttisch, wobei sich sowohl die Philosophen als auch die Theologen um die Wahrheit bemühen und damit ihre Nöte haben. Vor der Undefinierbarkeit Gottes und der Unendlichkeit der Welt versagt unsere Vernunft – soweit jedoch ihre Logik reicht, verhilft sie uns zur Einsicht in die Gegebenheiten dieser Welt und die sie bedingenden Zusammenhänge.