Himmelhorn - Volker Klüpfel - E-Book + Hörbuch

Himmelhorn Hörbuch

Volker Klüpfel

4,5

Beschreibung

Der neunte Fall der Bestseller-Autoren Volker Klüpfel und Michael Kobr führt den Kult-Kommissar Kluftinger in die Allgäuer Alpen, genauer gesagt auf das Himmelhorn, einen der gefährlichsten Berge des Allgäus. Natürlich liebt Klufti die Berge – wenn sie kässpatzenförmig auf seinem Teller aufragen. Doch der neueste Streich von Gesundheitsfetischist Langhammer befördert den Kommissar samt E-Bike tief in die Allgäuer Alpen, wo die beiden prompt auf drei Leichen stoßen: ein bekannter Dokumentarfilmer und zwei einheimische Bergführer, die einen Film über die Erstbesteigung des Himmelhorns drehen wollten. Wie es scheint, waren sie dem als äußerst gefährlich geltenden Gipfel nicht gewachsen. Die Ermittlungen im Umfeld der Toten führt Klufti in sehr abgelegene Alpentäler und zu deren starrköpfigen Bewohnern, die noch wortkarger sind als er.

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Zeit:14 Std. 57 min

Sprecher:Christian Berkel

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martinawick

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

wie immer es ist spannend witzig einfach Klasse
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Volker Klüpfel / Michael Kobr

Himmelhorn

Kluftingers neuer Fall

Knaur e-books

Über dieses Buch

Düster. Spannend. Überraschend.

Der neue Kluftinger.

Ein abgelegenes Tal in den Allgäuer Alpen. Drei tote Bergsteiger. Zwei jahrhundertealte Bergführer-Familien. Ein dunkles Geheimnis. Die Ermittlungen führen Kluftinger zu schwer zugänglichen Höfen in den Alpen und zu deren starrköpfigen Bewohnern. Der Kult-Kommissar stößt an seine Grenzen, denn die Bergbauern sind noch wortkarger als er. Da hilft es nicht gerade, dass zu Hause ein nervöser Markus und die hochschwangere Yumiko sitzen und Doktor Langhammer auf amouröse Abwege gerät.

Inhaltsübersicht

MottoProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel’s Tännele vom RädlergrotDank
[home]

Um ein Sträußchen Edelweiß

gab er hin den höchsten Preis.

Er fiel nur dreißig Meter weit

und doch bis in die Ewigkeit.

Inschrift auf einem Wegkreuz nahe dem Himmelhorn

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Es war der entsetzlichste Abgrund, in den er je geblickt hatte. Wenn es irgendetwas Tröstliches daran gab, dann die Tatsache, dass er noch unten stand und nach oben schaute. Noch nicht dort war, wohin er musste. Noch am Anfang dessen, was sein Ende bedeuten könnte.

Unstet huschte sein Blick über vom Tau glitzernde, frühlingshafte Wiesen, über die schroffen, steil aufschießenden Felswände, suchte Halt an den zerklüfteten Vorsprüngen und blieb an dem winzigen überhängenden Plateau hängen, das wie ein schiefer Zahn aus einem dunklen Maul herausragte. Dort musste er hinauf. Um sich dann wieder hinunterzustürzen in die Tiefe, schwarz und bedrohlich, ein Schlund, der ihn gierig verschlingen und nur mit Glück wieder ausspucken würde, verwundet, versehrt.

Sollte er das wirklich tun? Sein Vorhaben schien ihm nun noch aberwitziger als zuvor. Doch es gab kein Zurück. Er spürte, wie seine Hände feucht wurden, und wischte sie an der Hose ab. Gab es wirklich kein Zurück? Einen Lichtstrahl der Hoffnung im Schatten dieser gewaltigen Wand …

»Na, majestätischer Anblick, was?«

Wuchtig schlug ihm sein Nebenmann die Hand auf die Schulter. Der Schmerz vertrieb kurzzeitig seine düsteren Vorahnungen und machte der Wut auf den Mann Platz, dem er die missliche Lage zu verdanken hatte: Doktor Martin Langhammer.

Der plauderte munter weiter: »Da wünscht man sich doch die Zeit zurück, als man noch im Einklang mit der Natur gelebt hat, noch gänzlich unbehelligt von den vermeintlichen Segnungen unserer modernen Zeit.«

Kluftinger nickte: »Wo die Menschen noch schweigen konnten und nicht jeden stillen Moment mit ihrem Geschwätz zerstört haben.«

Der Allgemeinarzt sah sein Gegenüber mit großen Augen an: »Genau, mein Lieber, da sind wir ja ausnahmsweise mal einer Meinung. Ich finde auch, dass man die Bergwelt nur in stiller Einkehr richtig erfassen kann. Nur die Ruhe macht diese archaische Kulisse erfahrbar, nur die …«

»Dann tun Sie’s doch endlich!«

»Was denn?«

»In stiller Einkehr richtig erfassen.«

Der Doktor gluckste. »Na, ich will doch meine Eindrücke mit meinem Freund teilen.« Wieder schlug er dem Kommissar auf die Schulter, ließ seinen Arm diesmal aber liegen.

Kluftinger entwand sich ihm. »Welchem Freund? Außer mir seh ich niemanden.«

»Genau, wie ich gesagt habe! Niemand hier außer uns. Ist für Biker noch ein echter Geheimtipp. Hierher verschlägt es kaum jemanden.«

Diese Information ließ Kluftingers Unbehagen noch wachsen. »Meinen Sie nicht, dass es vielleicht seine Gründe hat, dass da keiner herwill? Und überhaupt: Ist es heut nicht ein bisschen zu feucht und glitschig zum Radeln?« Er wollte die Hoffnung auf eine Rettung in letzter Minute noch nicht aufgeben.

»Zum Radfahren vielleicht, aber mit unseren Mountainbikes macht uns das nichts aus.«

»Macht es nicht?«

»Nein, im Gegenteil, das steigert die Herausforderung beim Biken.« Mit diesen Worten öffnete Langhammer seine Windjacke, worauf Kluftinger reflexartig die Augen zusammenkniff, denn ihm leuchtete ein neongrünes Trikot entgegen.

»Kriegen Sie dafür Geld?«, fragte der Kommissar und zeigte auf die zahlreichen Werbeaufdrucke.

»Ha, schön wär’s. Nein, das ist einem Mannschaftstrikot der Tour de France nachempfunden. Wunderschöne, originalgetreue Replika. Na ja, bis auf die Protektoren hier, hier und hier.« Er zeigte auf seine Unterarme, die Ellbogen und den Rücken. »Sie sind wirklich sicher, dass Sie ohne fahren wollen?«

»Ich hab Ihnen schon gesagt, dass ich von vornherein nirgends runterfahr, wo ich solche Dinger brauchen tät.«

»Ja, schon gut. Wir lassen es ganz langsam und sanft angehen. Sag ich den Damen auch immer.« Der Arzt zwinkerte ihm grinsend zu, und Kluftinger seufzte gequält. »Nein, im Ernst, Sie müssen erst Ihren Rhythmus finden, damit es Ihnen auch Freude bereitet. Wir wollen ja noch viele schöne Biketouren zusammen unternehmen.«

Nach dieser Drohung kam dem Kommissar die Sache mit dem Abgrund auf einmal ganz verlockend vor. Er seufzte und dachte darüber nach, wie er in diese Situation hineingestolpert war. Eigentlich hätte er es kommen sehen müssen, als vor zwei Monaten zu seinem Geburtstag dieses schwarz glänzende E-Bike mit einer Schleife vor ihm gestanden hatte. Aber er war ein wenig geblendet gewesen von der Vorstellung, nun tatsächlich wieder öfter aufs Rad steigen zu können. Und die Tatsache, dass nicht nur Erika und die Kinder, sondern auch der Vater seiner japanischen Schwiegertochter an dem Geschenk beteiligt waren, hatte es sowieso unmöglich gemacht, es abzulehnen. Letzterem hatte er auch ein weiteres Gadget zu verdanken, wie Yoshifumi Sazuka in seiner Geburtstags-E-Mail geschrieben hatte: eine kleine Kamera, die auf den Lenker montiert war. Da der Japaner leider keine Zeit hatte, schon wieder nach Deutschland zu kommen, um sein Geschenk mit ihm auszuprobieren, hatte er Kluftinger gebeten, Filme von seinen Touren aufzunehmen und ihm zu schicken.

Als dann Langhammer – bei seinem alljährlichen Geburtstagsbesuch ohne Einladung – von dem Geschenk erfuhr, hatte er sich nur wenig später ebenfalls ein elektrisch angetriebenes Rad gekauft. Ob er es getan hatte, damit er mit Kluftinger auf Tour gehen konnte oder weil er es nicht ertrug, dass der notorische Technikverweigerer nun über ein Spielzeug verfügte, das er selbst nicht besaß, wusste der Kommissar nicht, mutmaßte aber, dass beides zutraf.

»Dann wollen wir das schwere Gerät mal auf die Straße bringen«, riss ihn der Doktor aus seinen trübsinnigen Gedanken. »Nur gut, dass ich den Neuen hab. Kommt man ja überallhin damit.« Mit dem Neuen meinte Langhammer sein Mercedes-SUV, dessen Vorzüge er Kluftinger während der gesamten Fahrt in die Oberstdorfer Berge angepriesen hatte, als wolle er es ihm gleich weiterverkaufen. Dabei hätte der Kommissar ein solches Monstrum an Auto nicht einmal geschenkt haben wollen. Weswegen er Langhammers Kurzreferate über die Errungenschaften des modernen Autobaus immer mit einem »Früher konnten die Leut noch Auto fahren, da hat’s den ganzen Schmarrn nicht gebraucht!« quittierte. Er wusste wirklich nicht, welche Vorteile es haben sollte, ständig mit einem solchen Ungetüm durch die Gegend zu kurven, keine passenden Parkplätze zu finden und darüber hinaus regelmäßig einen sich rapide leerenden Achtzig-Liter-Tank füllen zu müssen. Mit seinem Passat war er immer überall hingekommen, und auch die aktuelle Abgasaffäre konnte ihm nichts anhaben, weil sein Wagen sowieso weit über allen Grenzwerten lag – das aber aufgrund der durch H-Kennzeichen verbrieften Anerkennung als Oldtimer auch durfte.

»Nein danke, geht prima, inkommodieren Sie sich nur nicht«, ätzte der Doktor, als er das erste Rad vom Autodach hievte, wobei er sich auf den Schweller der geöffneten Fahrertür stellen musste.

»Herr Doktor, wollen Sie jetzt wirklich da stehen bleiben?«, fragte Kluftinger mit skeptischem Blick. Schlimm genug, dass sie überhaupt so weit gefahren waren: Schon vor drei Kilometern hatte ein Schild darauf hingewiesen, dass man den weiteren Weg ins Naturschutzgebiet Oytal nur mit einer Genehmigung der Gemeinde Oberstdorf befahren dürfe – die sie allerdings nicht hatten. Kurzzeitig war da die Hoffnung in Kluftinger aufgekeimt, ihr Ausflug fände womöglich ein frühes Ende, doch der Doktor erklärte ihm, dass er nur die Rettungsjacke von seinen Notarzteinsätzen im Auto drapieren müsse, was allen Parkwächtern und Politessen als ein ungeschriebener Kodex gelte und sie dieses Auto in Ruhe ließen. Und wenn man ihn anhalten sollte, habe er schließlich einen leibhaftigen Hauptkommissar dabei, der ihm aus der Patsche helfen würde.

Resigniert sah Kluftinger dem Doktor nun dabei zu, wie er sich auf dem Dach an Kluftingers Rad zu schaffen machte, nicht ohne vorher noch ein mikroskopisch kleines Staubkörnchen von der Silberlackierung des Autos zu pusten. »Ganz schön schwer, diese Dinger«, keuchte er, als er das E-Bike anhob.

»Soll ich helfen?«, fragte Kluftinger, ohne Anstalten zu machen, wirklich Hand anzulegen.

»Nein, geht schon«, presste der Arzt hervor, doch in diesem Moment entglitt ihm seine Fracht, und eines der Pedale ritzte mit einem satten Geräusch eine tiefe Kerbe in die jungfräuliche Lackierung des Wagens. Für einen Moment stand der Doktor wie versteinert da, das Rad immer noch in den Händen, die Augen ungläubig geweitet. Dann begannen seine Arme ob der Anstrengung zu zittern, und er stellte es ab.

»Das ist doch … das kann doch nicht …«, stammelte er.

»Ach, das sieht man doch kaum«, kommentierte der Kommissar vergnügt, worauf Langhammers Lippen zu beben begannen. »Ist wie bei frisch gewachsten Ski: Der erste Stein auf der Piste tut einem noch in der Seele weh, aber danach ist einem gleich viel leichter ums Herz.«

»Leichter?« Die Stimme des Doktors hatte einen hysterischen Unterton angenommen. »Leichter?«

Es dauerte fast zehn Minuten, bis er sich beruhigte, was auch daran lag, dass er – bei äußerst dürftiger Datenverbindung – die Versicherungsbedingungen seines neuen Autos mit dem Smartphone gegoogelt hatte. Als er überzeugt war, dass der Schaden ohne finanzielle Einbußen von der Vollkasko übernommen würde, normalisierte sich sein Puls wieder. »Nun gut, lassen wir uns den schönen Tag durch dieses schreckliche Unglück nicht verderben.«

»Welchen schönen Tag?«, wollte Kluftinger wissen. »Und welches Unglück?«

»Schon gut, jetzt sollten Sie sich aber allmählich umziehen, damit wir loskönnen.«

»Wie, umziehen?« Kluftinger blickte an sich herab. Gut, er war nicht mit der Hightech-Bikewear ausgestattet, die der Doktor so anpries. Aber auch er hatte auf Funktionalität gesetzt und seine Alltags-Lederhose angezogen. Dazu trug er ein kariertes Wanderhemd und ein Halstuch, falls es frisch werden sollte. Den Janker hatte er im Rucksack verstaut. Aus seiner Sicht war er perfekt gekleidet. Nur sein alter Mopedhelm mit dem hellblauen Mittelstreifen und dem zerkratzten Visier entsprach vielleicht nicht ganz dem Stand der aktuellen Rad-Technik, war aber immer noch besser als dieses goldfarbene Weltraumding, das der Doktor gerade aufzog.

Langhammer jedoch schien völlig anderer Meinung, was Kluftingers Ausrüstung betraf. »Sie wollen doch nicht wirklich damit aufs Rad steigen?«

»Wir können gern wieder heimfahren, wenn Sie meinen, dass ich nicht standesgemäß angezogen bin.«

»Aber Kluftinger, so war das doch nicht gemeint. Ich mache mir ja nur Sorgen um Sie, nicht dass Sie sich erkälten, weil Sie die falschen Klamotten anhaben. Wir werden ganz schön ins Schwitzen kommen, und bei der Abfahrt kann es zugig sein!«

Kluftinger war ein wenig beschämt, denn er wusste, dass der Doktor es gut meinte. »Keine Sorge, das passt schon so. Und wenn ich doch krank werden sollte, dann kenn ich da einen relativ passablen Arzt«, versuchte er sich an ein wenig Wiedergutmachung.

»Irrtum. Den besten!«, ließ ihn Langhammer seinen Versöhnungsversuch gleich wieder bereuen.

Dann legte sich Kluftinger unter den skeptischen Blicken des Doktors seinen Helm an, zog den porösen Lederriemen unter dem Kinn fest und rief: »Also, bringen wir’s hinter uns.«

»Nicht so voreilig, erst muss ich noch Ihre Kamera anknipsen.« Er drückte auf einen Knopf an dem kleinen Kästchen an der Lenkstange, dann tat er bei seinem Fahrrad das Gleiche. Langhammers »Cam«, wie er sie nannte, war allerdings nicht wie Kluftingers nach vorn, sondern auf ihn selbst gerichtet.

»So, und nun muss ich Ihnen noch das Fahrrad erklären«, tönte der Arzt.

»Was?«, schrie Kluftinger. Unter dem Integralhelm konnte er Langhammer kaum noch verstehen.

»Das Rad! Erklären!«

»Bitte, Herr Doktor, ich fahr Fahrrad, seit ich … zwölf bin.«

»Ja, aber bei einem E-Bike gibt es doch einiges zu beachten.«

»Ich hab das Ding doch länger als Sie!«

»Aber Sie haben es ja noch nicht ausprobiert. Und wie ich Sie kenne, auch die Gebrauchsanweisung nicht gelesen. Wie heißt denn zum Beispiel Ihr Modell?«

»Hans vielleicht.«

»Sehen Sie, was ich meine?«

Der Kommissar rang sich missmutig ein Nicken ab, während Langhammer darauf bestand, ihm zumindest die wichtigsten Funktionen zu erläutern, etwa, wie die Stärke des Hilfsmotors einzustellen war.

»Wieso einstellen? Ich will volle Kraft. Immer.«

»Ich persönlich gedenke, die Maschine nur im Notfall zuzuschalten. Das erhöht den Trainingseffekt. Außerdem wird der Akku sonst viel zu schnell leer.«

»Ja mei, dann müssen wir halt schweren Herzens wieder heimfahren.«

»Zudem ist es bei engen Kurven nicht ratsam, mit vollem Schub …«

»Ich versteh Sie nicht!«, schrie Kluftinger, auch wenn das nicht stimmte, und deutete auf seinen Helm.

»Erst mal nur Stufe eins. EINS! ONE! UNO! Verstanden?«

Kluftinger reckte den Daumen nach oben und stieg auf sein Rad. Er erwartete, dass der Doktor es ihm gleichtat, doch der drückte erst noch auf seiner Armbanduhr herum, die Uhrzeit, Luftdruck, Höhe, Pulsfrequenz und die zurückgelegte Strecke maß, wie er vorher geprahlt hatte – und wahrscheinlich auch noch den Busfahrplan und die Supermarkt-Sonderangebote anzeigte, vermutete der Kommissar.

Dann fuhr Langhammer in gemächlichem Tempo los. Kluftinger blickte auf seinen Lenker mit dem kleinen Schalter für den Elektromotor. Er überlegte kurz, zuckte dann mit den Schultern, stellte das Hebelchen auf MAX und trat in die Pedale.

Sofort machte das Rad einen Satz nach vorn, und Kluftinger entfuhr ein unkontrollierter Schrei. Das war weitaus mehr Schub, als er erwartet hatte. Ob er doch erst einmal einen Gang runterschalten sollte? Schmarrn, sagte er sich. Erst schlingerte er ein wenig, doch schnell hatte er den Bogen raus und entspannte sich. Diese neue Raderfahrung war einfach großartig. Es war dasselbe Gefühl, als würde er eine Rolltreppe hinaufrennen: Als hätte er Sieben-Meilen-Stiefel an, preschte das Rad bei jedem Tritt nach vorn, wobei er kaum Kraft dafür aufwenden musste. Der Fahrtwind war sogar durch seinen Integralhelm spürbar, und mit jedem Meter wurde das Grinsen auf seinem Gesicht breiter. Sein Spaß an dieser neuen Art der Fortbewegung wuchs sich zu einer kindlichen Freude aus, als er fast lautlos am Doktor vorbeizog. Er hob lediglich eine Hand und winkte ihm, ohne sich umzudrehen.

»Halt, Sie sind viel zu schnell … ich hab doch gesagt: nur Stufe eins!«, keuchte der Arzt hinter ihm, doch Kluftinger hörte ihn nur wie durch einen Schleier, was zum einen an seinem Helm, zum anderen am Rausch der Geschwindigkeit lag, den er verspürte. Er genoss den Moment, die wunderschöne Landschaft, die klare Luft, die …

»Das ist doch kein Sport so!«, hörte er plötzlich jemanden schreien.

Der Kommissar wandte den Kopf und sah Langhammer mit gerötetem Gesicht neben sich auftauchen. Er hatte sich aus dem Sattel erhoben und stieg mit aller Kraft in die Pedale. Kluftinger verstand nicht, warum sich der Doktor so plagte, wo doch das Rad die ganze Arbeit hätte übernehmen können. Wieder winkte ihm Kluftinger zu, dann trat er etwas kräftiger und zog davon. So fuhr er eine ganze Weile, bis er an eine Weggabelung kam und anhielt. Er drehte sich nach dem Doktor um und erkannte ihn als kleinen Punkt, der gerade aus einem Waldstück herausfuhr. Als er zu ihm aufgeschlossen hatte, schwitzend und noch immer aufrecht stehend, fragte Kluftinger: »Wo geht’s eigentlich hin?«

»Also wissen Sie, was soll denn das? Das ist doch kein Rollstuhl, man muss schon selbst auch noch was tun.«

»Muss man eben nicht.«

»Sie wissen schon, was ich meine.«

»Wohin?«

»Wir müssen hier rechts noch ein Stück nach oben, den Trail in Richtung Seilhenker.«

»Bitte was?«

»Trail. Weg.«

»Nein, ich mein das mit dem Seil.«

»Seilhenker. So heißt der Berg.« Langhammer stieg ab. »Sehen Sie, da gegenüber ist der Schneck, hier im Vordergrund das Himmelhorn …«

»Ja, ja, die kenn ich auch alle.« Kluftinger ärgerte sich, dass dieser Flachlandtiroler ihm seine Berge erklären wollte. Er blickte in die Richtung, in die der Doktor gewiesen hatte. Seilhenker schien ihm ein passender Name für den Anstieg, auch wenn er durch das E-Bike deutlich an Schrecken eingebüßt hatte: Der schmale Weg wand sich in Serpentinen den steilen Hang hinauf; obwohl es noch nicht einmal Mittag war, lag die gesamte Steigung bereits im Schatten der mächtigen Gipfel.

»Wenn ich das ohne Kreislaufversagen überleb, dann werd ich nie wieder was Schlechtes über moderne Technik sagen«, murmelte Kluftinger. Galgenhumor schien ihm hier die beste Überlebensstrategie.

»Pause?«

Das Wort war Sirenengesang in Kluftingers Ohren, auch wenn er aus dem Mund des Doktors kam. Sie waren auf halber Höhe des Hanges, und er vermied den Blick nach unten. Besonders wohl war ihm in solchen Situationen nie, noch dazu auf zwei dünnen Reifen statt auf seinen zwei Beinen.

»Wenn Sie eine brauchen, gern«, gab Kluftinger zurück und stieg sofort ab.

»Nein, also wegen mir können wir ruhig weiterfahren.«

»Ach, das braucht Ihnen doch nicht peinlich sein, Herr Doktor. Sie sind ja doch ein paar Jährchen älter als ich.« Kluftinger riss sich den Helm vom Kopf. Der Anstieg war selbst mit Hilfsmotor nicht gerade einfach gewesen, und er hatte unter dem viel zu warmen Integralhelm kaum Luft bekommen, trotz des offenen Visiers. Vielleicht war so ein moderner Radhelm doch keine so schlechte Idee. Es würde ja wohl auch noch welche geben, die nicht aussahen, als stammten sie aus einem Raumfahrtprogramm.

Sie setzten sich auf einen großen Stein und blickten nach unten. Keiner sagte etwas, aber Kluftinger spürte, dass sie genau dasselbe dachten: Die Aussicht war spektakulär. Er war dem Arzt fast ein bisschen dankbar, dass er ihn hier hinauf gezwungen hatte, was er allerdings tunlichst für sich behielt.

»So, dann genehmigen wir uns mal eine kleine Stärkung.« Der Kommissar nahm seinen Rucksack vom Rücken, wühlte ein bisschen darin herum und fischte schließlich ein Paar Wiener, etwas Käse, einen Kanten Bauernbrot und eine Flasche Bier heraus.

Ungläubig beobachtete ihn der Doktor dabei. »Wenn Sie das alles essen, werden Sie keinen Meter mehr weiterfahren können.«

»Für Sie wird’s immer noch reichen.«

»Jetzt hören Sie mal«, empörte sich der Arzt, »Sie waren doch nur schneller, weil Sie gleich die volle Motorleistung zugeschaltet haben.«

»Die bei der Formel Eins fahren ja auch nicht im ersten Gang.«

»Das ist doch ein absurder Vergleich.«

»Ist auch egal, jedenfalls lass ich mir das jetzt schmecken. Ist eh nur die erste leichte Brotzeit. Die richtige kommt später noch.«

»Ach, Sie haben noch mehr dabei?«

»Sie nicht?«

Langhammer hielt einen Energieriegel hoch. »Das reicht mir.«

»Und gar nix zum Trinken?«

»Doch, immer am Mann.« Er neigte den Kopf, nuckelte ein bisschen an seinem Rucksackträger herum und ließ dann ein zufriedenes »Ahhh!« vernehmen.

Kluftinger verzog angewidert das Gesicht. »Haben Sie grad den Schweiß aus Ihrem Tragegurt rausgezuzelt oder was?«

»Iwo, das ist mein Camelbag.« Jetzt erst sah Kluftinger das Ende eines Schlauches an Langhammers Tragegurt. »Sie wissen schon, wie die Wüstenschiffe. Alles im Rücken gespeichert.«

»Ja, verstehe, und mit einem ähnlich dämlichen Gesichtsausdruck, wenn ich das richtig sehe«, brummte der Kommissar in sich hinein.

Nachdem Langhammer seinen Riegel verspeist hatte, zog er ein kleines Fernglas aus seinem Rucksack und suchte damit die Hänge ab. »Irgendwo müssen die doch sein, diese Steinböcke. Mal sehen, ob ich möglicherweise sogar einen Adler aufspüren kann.«

Kluftinger ignorierte seinen Begleiter und genoss weiterhin seine Brotzeit, da stupste ihn der Arzt aufgeregt an. »Da! Dort drüben sind sie, schauen Sie!«

Er reichte dem Kommissar sein Fernglas, der halbherzig hindurchsah. »Ich seh da gar nix.«

»Dort, direkt unter der kleinen Gruppe aus Latschenkiefern.« Langhammer fuchtelte aufgeregt in der Luft herum.

Kluftinger zuckte die Achseln.

»Jetzt geben Sie sich mal ein wenig Mühe. Diese Steinböcke sind nämlich eine Besonderheit. Sieht man nur noch ganz selten.«

»Die haben anscheinend keinen Bock, Ihre Böcke«, brummte Kluftinger und wollte den Feldstecher gerade zurückgeben, als ihm an einem der steilen Abhänge auf der gegenüberliegenden Seite etwas auffiel. »Was ist denn das?«

»Ein Bock? Beeindruckend, nicht wahr?«

»Nix Bock.« Kluftinger drehte am Okular. »Da ist was im Baum.«

»Ein Adler? Ein Falke? Oder ein Murmeltier? Auch die sind hier oben durchaus verbreitet, hört man.«

»Und weil es Sie hat kommen sehen, hat es sich ein buntes Kleid übergezogen und an der nächsten Astgabel erhängt, das Murmeltier, oder wie?«

»Ein Kleid?«

»Ja, da drüben hängt was Farbiges im Baum, ich glaub, das ist ein Rucksack.«

»Rucksack, soso.« Der Doktor erhob sich. »Na, dann machen wir mal, dass wir weiterkommen. Nicht dass die Verdauung einsetzt und Ihnen die letzten Kraftreserven raubt.«

»Vergessen Sie’s, da müssen wir hin, zu dem Baum.«

Langhammer lachte kurz auf. »Mein lieber Kluftinger, Ihr eigener Rucksack ist zwar nicht mehr auf der Höhe der Zeit, aber in einem solchen Zustand, dass Sie Müll einsammeln müssen, ist er nun auch wieder nicht. Wenn Sie sich momentan keinen neuen leisten wollen: Ich hab noch das Vorgängermodell meines aktuellen Daypacks zu Hause hängen, das kann ich Ihnen kostengünstig überlassen.«

»Schmarrn, so ein Rucksack hängt doch nicht einfach von sich aus auf einem zwanzig Meter hohen Baum. Der ist bestimmt oben von der Felskante runtergefallen. Wir müssen nachschauen, nicht dass da jemandem was passiert ist.«

Langhammer griff sich den Feldstecher. »Lassen Sie mal den Fachmann sehen!«

»Fachmann für was genau?«

Der Doktor winkte kommentarlos ab und schaute mit gerunzelter Stirn durchs Fernglas. »Tatsächlich, das sieht fast aus, als wäre der runtergefallen. Von der Felskante vielleicht.«

Kluftinger seufzte.

»Ganz koscher kommt mir das nicht vor. Möglicherweise sollten wir die Sache mal in Augenschein nehmen.«

»Brillante Idee.«

Die beiden packten ihre Rucksäcke und stiegen auf die Räder.

»Jetzt gilt’s. Downhill. Wer als Erster unten ist«, rief Langhammer.

»Ich brech mir nicht den Hals wegen so einem dummen Wettrennen«, knurrte Kluftinger und ließ es gemächlich laufen. Doch als er das erste Mal in die Pedale trat, tat das Rad einen heftigen Ruck, und er raste los, überholte den Doktor, der ihm noch irgendetwas zurief, das wie »Motor aus!« klang, dann hörte er nur noch das gedämpfte Rauschen des Fahrtwinds unter seinem Helm. Schnell verengte sich der Weg zu einem Pfad, über den immer wieder dicke Wurzeln verliefen, die das Rad gefährlich ins Schlingern brachten. Und das bei diesen halsbrecherischen Kehren. Panisch zog Kluftinger am Bremshebel und drückte den Knopf, mit dem man den Elektromotor ausschaltete, doch der gab weiterhin Schub. War es doch der andere Schalter gewesen? Der Kommissar schwitzte trotz des kalten Fahrtwinds. Er konnte sich nicht auf die Anzeige konzentrieren, denn ständig musste er Ästen und Steinen ausweichen. In seiner Verzweiflung versuchte er es mit der Rücktrittbremse, doch die Pedale drehten ins Leere, worauf er aus einem Reflex erneut nach vorn trat. Sofort beschleunigte der Elektromotor wieder, gerade, als die Piste noch steiler wurde. Kluftinger schanzte über einen Stein, und es hob ihn samt Fahrrad ein Stück in die Luft. Er versuchte, durch Gewichtsverlagerung eine weiche Landung hinzubekommen, und zischte gleichzeitig ein Stoßgebet: »Großerhimmelvatterstehmirbei! Gerade jetzt, wo der Markus mir einen Enkelsohn schenkt. Wenn ich das überleb, zünd ich in Maria Rain ein Dutzend Kerzen an.«

Er sah sich bereits ins Unterholz stürzen, doch in letzter Sekunde gelang es ihm, das Rad auf Kurs zu bringen. Sofort bremste er so stark, dass er beinahe über den Lenker geflogen wäre, dann wurde er endlich langsamer und das Terrain flacher. Kluftinger bog zitternd auf die breite Schotterstraße ein, von der sie vorhin nach rechts abgebogen waren. Der Kommissar ließ das Fahrrad ausrollen, nahm den Helm ab und wischte sich mit der Hand den Schweiß vom Gesicht. Erst jetzt merkte er, dass auch sein Hemd völlig durchgeschwitzt war.

Von oben hörte er ein leises Knacken, dann das Quietschen der Scheibenbremsen des Doktors, der seinen Rückstand allmählich aufholte. Da packte Kluftinger doch noch der Ehrgeiz. Die Möglichkeit, den Quacksalber auf sportlichem Gebiet das Fürchten zu lehren, würde es frühestens im Winter beim Skifahren wieder geben. Und bis dahin dauerte es fast noch ein Dreivierteljahr.

Also gab er sich einen Ruck, trat mit voller Wucht in die Pedale und nahm nun, da es nicht mehr bergab, sondern bergauf ging, kämpferisch den Gegenhang in Angriff. Die Pedale boten kaum Widerstand, fast mühelos schaffte er wie vorher den steilen Anstieg. Hin und wieder wandte er sich nach seinem Begleiter um, doch Langhammer war noch nicht einmal an der Talsohle angekommen, als Kluftinger schon die Hälfte der Steigung hinter sich hatte.

Hinter einer kleinen Felskante tauchte nun die Baumgruppe auf, die er vorher mit dem Fernglas gesehen hatte. Er hielt darauf zu und erblickte den Rucksack in einer der Baumkronen. Er seufzte. Das Ding war so weit oben, dass es ihnen nie gelingen würde, es zu bergen. Über dem Wäldchen baute sich drohend eine Felswand auf. Ob der Rucksack von dort …

Da hörte er in seinem Rücken ein Geräusch, schwang sich schnell vom Rad, öffnete den Rucksack, nahm seine Sitzunterlage heraus, ließ sich darauf nieder, atmete tief durch und biss genüsslich in einen Apfel, als Langhammers Fahrradhelm hinter der Kante sichtbar wurde. Pfeifend stimmte Kluftinger die Bergvagabunden an und schaute dem Doktor dabei zu, wie der sich mit rotem Kopf den Berg hinaufquälte. Als er in Hörweite war, legte der Kommissar los: »Herr Langhammer, Sie schnaufen ja wie ein dämpfiges Ross, was ist denn los mit Ihnen? Ich wollte schon die Bergwacht rufen.«

»Ich wollte lediglich meinen Akku schonen und hatte nur zehn Prozent Unterstützung drin. Mein Bike hat neulich bei einer Ausfahrt unvorhergesehen schlappgemacht.«

»Mei, wie der Herr, so ’s G’scherr, heißt es bei uns.«

»Wie auch immer, ich muss Ihnen tatsächlich Respekt zollen, wie Sie da hinuntergebrettert sind. Hut ab, so einen halsbrecherischen Fahrstil hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«

»Wer kann, der kann, Herr Doktor.«

»Na ja, bei Ihnen zieht einfach auch die Masse schon kräftig talwärts, nicht wahr, mein Lieber?«

»Jetzt werden Sie nicht unverschämt! Ich hab vielleicht ein bisschen mehr Körper als Sie, aber den beherrsch ich dafür besser. Das hilft einem ungemein, wenn man sich in die Kurven legen muss.«

»Wollen wir uns Ihre Kamikaze-Fahrt gleich mal auf der Kamera anschauen?«

Abrupt erhob sich der Kommissar. Er dachte an sein Stoßgebet und erwiderte rasch: »Ach was, die … soll doch erst noch weiterfilmen, dann können wir alles am Stück anschauen.«

Langhammer zuckte mit den Achseln. »Wo ist denn nun das Corpus Delicti?«

»Da oben, direkt über Ihrer Glatze.«

Der Doktor legte den Kopf in den Nacken. »Oh, ziemlich unzugänglich, das Ganze. Da würde selbst ich mich schwertun hinaufzukommen.«

Erst jetzt fiel Kluftinger das Stück Seil mit dem offenen Karabinerhaken auf, das etwas unterhalb des Rucksacks im Wind baumelte. Ein allzu bekanntes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus – und das verhieß nichts Gutes.

»Vielleicht sollten wir uns in der Umgebung ein wenig umsehen«, regte Langhammer in seinem Hobbydetektiv-Tonfall an. »Möglich, dass wir auf weitere Fundstücke und Indizien stoßen, die es uns ermöglichen, den Vorgang zu rekonstruieren.«

Kluftinger nickte genervt.

»Sehen Sie mal, hier ist ein Seil, und dort unten liegt ein Bergschuh«, tönte der Doktor wenig später. An einer kleinen Fichte hing in Kopfhöhe ein Seil. Allerdings keines dieser modernen Bergseile, sondern ein altertümliches aus Hanf. Kluftinger schluckte, als der Doktor ihm den ledernen Schuh zeigte, der ein wenig abseits des Weges zum Liegen gekommen war. Einen Schuh verlor man nicht einfach. Schon gar nicht im Gebirge. Er blickte nach oben, wo der Rucksack hing, dann zum Schuh. Schließlich ging er ein paar Schritte auf den Abhang zu, der steil in einen Tobel abfiel.

»Wir müssen hier systematisch alles abscannen, Kluftinger. Hören Sie? So sagen Sie doch was.«

Doch der Kommissar schüttelte nur langsam den Kopf und streckte die Hand aus. Was er am Grund des Tobels entdeckt hatte, hatte ihm buchstäblich die Sprache verschlagen.

Nun näherte sich auch Langhammer mit fragendem Blick der Abbruchkante. »Haben Sie den zweiten Schuh … Scheiße.«

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Aus dem Gipfelbuch am Hochvogel

Die beiden sahen sich mit weit aufgerissenen Augen an. Dort unten lag tatsächlich der zweite Bergschuh. Samt einem Bein, das in ihm steckte. Der Rest der Person war wegen eines Felsvorsprungs nicht zu erkennen.

»Wir müssen runterklettern«, krächzte der Doktor. »Erste Hilfe leisten.«

Der Kommissar warf einen skeptischen Blick auf das Felsmassiv, das über ihnen aufragte. Dass jemand einen Sturz von dort oben überlebt hatte, war mehr als unwahrscheinlich. Dennoch: Langhammer hatte recht, um Gewissheit zu bekommen, mussten sie nachsehen. Auch wenn Kluftinger beim besten Willen nicht wusste, wie er diesen steilen Abhang hinunterkommen sollte, ohne selbst zum Absturzopfer zu werden.

»Na los, Ihre Hand, sichern Sie mich«, rief der Arzt, der schon losgeklettert war und ihm nun aufgeregt den Arm entgegenstreckte.

Priml. Der Kommissar ging in die Hocke, hielt sich mit einem Arm an einem Baum fest und reichte dem Doktor die andere Hand. »Sehen Sie was, Langhammer?«

»Noch nicht mehr als von oben. Sie müssen weiter nach unten kommen.«

»Mein Arm ist aber nicht länger, zefix.«

»Dann steigen Sie ab.«

Zähneknirschend fasste sich Kluftinger ein Herz, drehte sich zum Hang und suchte mit einem Bein nach Halt.

»Sie müssen mir einfach nachsteigen!«, rief der Doktor von unten.

»So weit käm’s noch«, brummte Kluftinger, der keinen rechten Tritt fand. Zentimeter für Zentimeter quälte er sich abwärts. Als er wieder nach unten sah, hatte Langhammer bereits den halben Abstieg geschafft. Das spornte auch den Kommissar an, er wollte nach dem siegreichen Radrennen nicht gleich wieder eine Niederlage einstecken. Eine Weile kam er auch gut voran, nur hinunterzuschauen traute er sich nicht mehr. Schließlich gelangte er zu dem kleinen Überhang, den sie von oben gesehen hatten. Er wollte daran vorbeiklettern, doch da rutschte er mit den Beinen weg. Mit einer Hand fuchtelte er wild in der Luft herum und bekam einen Ast zu fassen. Er klammerte sich daran fest, während seine Füße in der Luft baumelten. Lange würde er sein Körpergewicht so nicht halten können. Er merkte, wie seine Hände zu zittern begannen.

»Langhammer, ich kann mich nicht mehr halten. Gehen Sie weg unter mir, sonst geschieht ein Unglück«, brüllte er in einem letzten Aufbäumen.

»Himmel, Kluftinger, springen Sie!«

»Springen? Sind Sie deppert?«

»Vertrauen Sie mir!«

»Ihnen? Nie …« In diesem Moment knackte es in dem Ast, er gab nach, und Kluftinger verlor den Halt. Er brüllte »Neeei–«, doch er konnte das Wort nicht einmal zu Ende schreien, schon war sein Sturz vorbei, und er hatte wieder festen Boden unter den Füßen. »Was zum Geier …?«

»Ich hab doch gesagt, Sie sollen springen«, sagte der Doktor und zeigte auf den Überhang, der nur gute zwei Meter über dem Boden herausragte. Seine Körpergröße abgezogen, war Kluftinger nicht einmal einen Meter tief »gefallen«.

Er wollte soeben etwas dazu sagen, da erblickte er den reglosen Körper, den sie von oben nur zur Hälfte gesehen hatten. Er schluckte. Vor ihnen lag ein Mann mittleren Alters in einer altertümlichen Kniebundhose, eine Art Knickerbocker, und groben Wollstrümpfen. Sein Oberkörper jedoch steckte in einer hellblauen Funktionsjacke. Auf dem Kopf hatte er einen zerkratzten Helm, der weite Teile seines zerschundenen Gesichts verbarg. Seine Gliedmaßen waren völlig verdreht.

Kluftinger und Langhammer sahen sich an und schüttelten beide mechanisch den Kopf. Hier kam jede Hilfe zu spät.

Während der Kommissar mit der aufsteigenden Übelkeit kämpfte, flüchtete sich der Arzt in eine professionelle Sachlichkeit. »Sieht nicht so aus, als läge der schon lange hier. Ich schaue dennoch mal, ob man eventuell Verwesungsspuren erkennen kann.«

»Sie fassen hier gar nix an«, presste Kluftinger hervor. Er haderte mit seinem Schicksal: Ausgerechnet er musste in seiner kostbaren Freizeit einen abgestürzten Bergsteiger finden.

»Ich gucke nur«, versprach der Doktor und näherte sich dem Körper. Er lag unmittelbar vor einem mächtigen Felsvorsprung, der den Blick auf den weiteren Verlauf des Tobels versperrte. Wäre er ein Stück weiter hinten zu liegen gekommen, hätte man ihn vom oberen Weg aus unmöglich sehen können. Kluftinger verspürte nicht das geringste Verlangen, dem Arzt zu folgen, doch der begann auf einmal, aufgeregt zu winken.

»Schon recht, Herr Doktor, ich hab bereits mehr als genug gesehen.«

Als sich Langhammer umdrehte, war sein Gesicht kreidebleich. »Das glaube ich nicht, Kluftinger.«

»Ja, Himmel, Langhammer, Sie haben doch so ein ultramodernes Gscheithafensmartfondings.« Kluftinger hatte sich wieder gefangen, und sein erster Schock über die neue Entdeckung war einem professionellen Pragmatismus gewichen, für den er zwar nicht gerade bekannt war, der sich aber in Extremsituationen recht verlässlich einstellte. Dennoch hatte es heute ein bisschen länger gedauert, denn als der Doktor ihn um die Ecke des Felsvorsprungs gelotst hatte, waren ihm kurzzeitig die Knie weich geworden: Inmitten verstreut liegender, verbogener und geborstener Ausrüstungsgegenstände lagen die zerschundenen und beim Sturz ineinander verkeilten Körper zweier weiterer Männer.

Erst nach ein paar Minuten war er in der Lage gewesen, sich den Fundort dieses schrecklichen Unglücks genauer anzuschauen. Er fand unter anderem einen Pickel und mehrere Steigeisen, die wirkten, als kämen sie direkt aus einem Alpinmuseum. Die Leichen trugen ebenfalls historische Kleidung, was die Szenerie zusätzlich gespenstisch wirken ließ.

Doch im Moment hatten er und der Doktor ein anderes Problem: eine Stelle zu finden, wo ihre Handys Empfang hatten, damit Kluftinger die Kollegen verständigen konnte.

»Funktioniert dieser neumodische Taschencomputer auch nicht besser als mein Telefonierknochen, oder wie?«

»Wissen Sie, Kluftinger, was den Handyempfang an sich betrifft, sind herkömmliche …«

»Zefix, Langhammer. Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für einen Ihrer Vorträge. Wir müssen schleunigst jemand im Präsidium erreichen.« Und dann unbedingt schauen, dass wir von hier wegkommen, fügte Kluftinger in Gedanken hinzu.

»Also oben hatte ich immerhin noch schwachen Empfang, gehen wir eben wieder rauf und telefonieren dort.«

Kluftinger war einverstanden, schließlich bot sich ihm so auch die Möglichkeit, etwas mehr Raum zwischen sich und die Toten zu bringen. »Wollen Sie wieder vorsteigen?«

Der Arzt nickte und begann, an dem steilen Hang emporzuklettern. Doch immer wieder rutschte er schon auf den ersten Metern ab.

»Sollen wir es mit Räuberleiter probieren?«

Langhammer warf ihm einen prüfenden Blick zu, als wisse er nicht recht, ob es sein Gegenüber ernst meine. »Bitte, wenn Sie meinen …«, sagte er schließlich. »Aber nicht, dass Sie sich verheben.«

»Keine Sorge, dem bisschen Haut und Knochen werd ich schon noch Herr.«

Allerdings verfluchte sich Kluftinger für seinen Vorschlag, als der Doktor an ihm hinaufstieg und bei dem Versuch, etwas weiter nach oben zu gelangen, seine Körpermitte an Kluftingers Gesicht drückte. Zudem nützte ihre Klettereinlage nichts, denn immer wieder geriet der Arzt an dem felsigen Überhang ins Stocken und musste schließlich erschöpft aufgeben.

»Keine Chance. Wollen Sie es vielleicht mal versuchen, mein Lieber? Möglicherweise haben Sie mehr Glück.«

Kluftinger besah sich die Wand: Wenn nicht mal der drahtige Arzt das schaffte, hatte er erst recht keine Aussicht auf Erfolg. Daher schüttelte er den Kopf und sah sich nach einer Alternativroute um. Es musste doch auch einen anderen Weg heraus aus dieser Schlucht geben. Aber solange er sich auch im Kreis drehte und seinen Blick schweifen ließ: Es sah nicht danach aus. Hinter ihnen ragte die unbezwingbare Felswand auf, vor ihnen der Hang, an dem Langhammer soeben gescheitert war, und auf der Rückseite versperrten riesige Findlinge den Ausgang aus dem Tobel. Kluftinger und Langhammer sahen sich für einen Moment an.

»Sieht aus, als säßen wir in einer Art …«

»Falle«, vollendete der Kommissar den Satz, und zu der Bestürzung über ihren Fund gesellte sich ein weiteres Gefühl: Furcht.

»Sie sagen es.«

»Priml.«

»Wie meinen?«

»Scheißdreck, mein ich.«

»Schlicht ausgedrückt, aber es umschreibt die Situation recht treffend.«

Der Kommissar ließ sich auf einen Baumstumpf sinken und schloss die Augen. Es war von Anfang an eine dumme Idee gewesen, sein neues Elektrorad ausgerechnet im Allgäuer Hochgebirge auszuprobieren. Die Hügel rund um Altusried hätten fürs Erste locker gereicht. Aber die gefürchtete Troika aus Erika, Langhammer und seinem Sohn Markus hatte wieder einmal etwas anderes für ihn beschlossen. Und nun saß er hier neben drei übel zugerichteten Leichen und dem Doktor in einer Schlucht, aus der er nicht mehr herauskam, und konnte noch nicht einmal Hilfe verständigen. »Und jetzt?«

»Jetzt ist unser Durchhaltevermögen gefragt«, stellte der Doktor fest und setzte sich neben den Kommissar, der demonstrativ ein Stückchen wegrutschte.

»Himmelsackzement. Wo man reinkommt, muss man doch auch wieder rauskommen.«

»Werden schon nicht verhungern. Wir haben doch noch Ihren Proviant im Rucksack.«

»Der reicht nicht lang.«

»Drei, vier Wochen bestimmt«, gluckste der Doktor. »Und unsere Frauen lassen sicher bald nach uns suchen. Heute Abend spätestens. Mit diesen modernen Wärmebildkameras.«

»Heut Abend?«, kreischte Kluftinger. »Ich bleib doch nicht untätig hier neben drei Leichen sitzen und warte ab, ob uns unsere Frauen wirklich vermissen.« Wieder sah er an den moosbewachsenen Steilwänden empor, dann starrte er auf sein Handy, das nach wie vor Kein Netz meldete. Da hatte er eine Idee. »Wenn wir uns schon nicht selbst da raufbringen, müssen wir eins von den Handys nach oben verfrachten. Da am Weg ist doch Empfang, haben Sie gemeint.«

Der Doktor nickte. »Schon, aber wie genau wollen Sie das denn anstellen? Nein, ich denke eher, wir sollten sehen, ob wir bei den Verunfallten noch brauchbare Pickel oder intakte Steigeisen finden, mit denen wir die Wand in Angriff nehmen könnten.«

»Nix da, Sie kontaminieren mir hier nicht die Spurenlage. Erst probieren wir das mit dem Handy.«

Einige Minuten später hatten sie ein paar Äste mit zwei Gurten ihrer Rucksäcke zu einer langen Stange zusammengebunden. »Unser privater Handymast«, nannte der Doktor stolz die Konstruktion. An dessen Ende befestigten sie mit Langhammers Heftpflastervorräten dessen Smartphone.

Kluftinger betrachtete sich ihren Eigenbau und schlug sich dann gegen die Stirn: »Mein Gott, sind wir blöd. Wer soll denn dann oben auf den Knopf drücken?«

»Papperlapapp, ich werde einfach die Sprachsteuerung aktivieren.«

»Ah so, ja, dann.«

Sie balancierten das wackelige Gebilde in die Höhe.

»Hey, Siri«, brüllte der Doktor plötzlich derart laut, dass der Kommissar zusammenzuckte. Dann flüsterte er: »Wen genau soll ich denn anrufen?«

»Rufen Sie meine Nummer im Geschäft an, die ist auf die Zentrale umgestellt, wenn ich nicht da bin.«

»Prima, die habe ich eingespeichert«, erklärte Langhammer geschäftig, dann erhob er wieder seine Stimme. »Hey, Siri! Rufe Erikas Mann, Büronummer, an.«

Kluftinger zog die Brauen zusammen. Im Telefonverzeichnis des Doktors lief er noch nicht einmal unter seinem eigenen Namen? Er beschloss, Langhammers Nummer wieder unter dem altbewährten Quacksalber abzuspeichern, wenn das hier alles überstanden war.

»Scheint nicht zu klappen. Siri kann mich nicht hören.«

»Wer ist denn überhaupt diese …dings? Heißt so Ihr Handy, oder wie?«

»Sozusagen. Eigentlich heißt es ja Speech Interpretation and Recognition Interface, aber das würde im Moment möglicherweise zu sehr ins Detail gehen.«

»Möglicherweise. Also, was tun wir jetzt?«

»Telefonieren könnte tatsächlich schwierig werden, aber es gäbe da schon noch eine Möglichkeit: Wir könnten eine Nachricht an einen Ihrer Kollegen senden. Sogar eine Videobotschaft wäre drin. Wir nehmen das auf, und sobald das Handy dort oben Netz hat, wird es versendet.«

»Okay, wenn Sie meinen. Das schicken wir dann am besten dem Maier, der ist auch so ein Handyfuzzi.«

Langhammer warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Seien Sie mal froh, dass es technikaffine Menschen wie ihn gibt. Sonst müssten wir uns mit Rauchzeichen befreien.«

»Wahrscheinlich. Also wie jetzt?«

»Ich nehme Ihre Videobotschaft auf. Geben Sie mir mal flugs die Kontaktdaten Ihres Kollegen.«

Kluftinger kramte sein Handy aus der Tasche und las Maiers Mobilnummer vor.

»Gut, Kontakt ist gespeichert. Sind Sie bereit, Kluftinger?«

Reflexartig streckte der Kommissar die Brust raus, fuhr sich mit den Fingern durchs schüttere Haar und räusperte sich ausgiebig. Dann legte er sich die Worte zurecht, die er Maier von hier unten schicken wollte. »Bereit«, vermeldete er schließlich.

»Alles klar, Kluftingers Botschaft an den Kollegen Maier, Klappe eins die Erste – und Action.«

»Was soll denn der Schmarrn?«

»Läuft schon«, flüsterte Langhammer.

»Ach so, ja, also: lieber Maier«, begann der Kommissar, »wir sind hier … ach nein, das ist blöd. Noch mal.«

Langhammer drückte auf seinem Handy herum, dann gab er seinem Gegenüber ein Zeichen, von vorn zu beginnen.

»Grüß Gott, Richie. Du wunderst dich vielleicht, dass du so ein Video von mir kriegst. Normalerweise täte ich das auch niemals machen, schon gar nicht bei dir, aber ich bin dazu gezwungen …«

Langhammer winkte ab. »Ihnen ist klar, dass wir da oben nur minimales Edge-Netz haben?«

»Auweh, ist das schlimm?«

»Was heißt da schlimm? Aber je länger unser Filmchen wird, desto länger dauert das Senden, und desto größer ist die Gefahr, dass es am Ende doch nicht rausgeht. Geht das nicht auch im Telegrammstil?«

Kluftinger nickte. »Verstanden. Telegramm geht auch. Kann’s losgehen?«

»Einen Moment, bitte … so, Kamera läuft … und bitte.«

»Richie, sofort kommen, volles Aufgebot. Stopp. Auch Willi und Böhm. Hier Unfall passiert, drei Tote. Stopp. Schotterweg von Oytalhaus auf Himmelhorn, kurz nach Weggabelung links nach oben. In Schlucht unten. Kommen nicht mehr aus Tobel raus. Stopp. Pressiert, weil Brotzeit schon fast aufgegessen. Ich und der Langhammer. Servus.«

Der Arzt grinste. »Für ein paar Verben und Artikel wäre schon noch Zeit gewesen, aber lassen wir es dabei bewenden.«

Kluftinger zuckte entschuldigend die Schultern. »Kann ich den Film mal sehen, bevor Sie ihn wegschicken? Nicht, dass ich recht blöd ausschau dabei.«

Langhammer hielt ihm das Smartphone hin.

»Nein, also das geht so nicht, ich hab ja einen knallroten Kopf«, protestierte Kluftinger nach ein paar Sekunden. »Und ein Doppelkinn. Sie dürfen nicht so von unten filmen, da schau ich total dick aus.«

»Also, schönen kann die Kamera leider noch nichts, sie gibt lediglich die Realität wieder.«

»Jetzt machen wir’s noch mal, während Sie von oben filmen.«

»Dann sieht man aber, wie Sie auch oben schon abgeräumt haben, das ist auch nicht gerade vorteilhaft. Und Sie sollen sich ja nicht für Germany’s Next Topmodel bewerben mit dem Video. Gibt es denn inhaltlich noch etwas, was Sie verändern möchten?«

»Inhaltlich? Nein, also, von daher tät es schon passen so.«

»Hervorragend«, schloss Langhammer, »dann drücke ich noch flugs auf Senden, und wir bringen das Handy wieder an der Stange an. Helfen Sie mir doch mal.«

Gemeinsam richteten sie die wacklige Konstruktion wieder auf und starrten eine Weile gebannt von unten auf das Smartphone. Es dauerte nicht lange, da ertönte oben ein Piepsen.

»Ah, es hat anscheinend funktioniert, wir haben bereits Antwort«, strahlte Langhammer und holte die Stange wieder ein. Dann lasen sie die Nachricht:

wunderschönen guten tag, lieber herr doktor langhammer, hallo chef. habe ihren bzw. deinen hilferuf erhalten. wir kommen. bitte handy angeschaltet lassen, um funkortung zu ermöglichen. nur nicht die hoffnung fahren lassen, hilfe naht. bis später dann, ihr – respektive dein – rm

»Immerhin, das lässt doch hoffen«, sagte Kluftinger mit dem Anflug eines Lächelns.

»Einen sehr kompetenten Mitarbeiter haben Sie da in Ihrem Herrn Maier.«

»Weil er bei Ihnen immer recht rumschleimt, heißt das noch lange nicht, dass er kompetent ist.«

Langhammer zuckte die Achseln. »Was halten Sie davon, wenn wir jetzt damit beginnen, die Spuren zu sichern?«

»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen, oder ist das die Höhenkrankheit?«, entfuhr es dem Kommissar.

»Na, ich denke mal, es ist ziemlich eindeutig, dass die drei Herren da drüben von recht weit oben abgestürzt sind. Soll ich nicht wenigstens mal mit der Leichenschau beginnen, um uns einen groben Überblick über Todeszeitpunkt und -ursache zu verschaffen?«

»So weit käm’s noch. Dafür kommt ja gleich der Böhm, also ein richtiger Fachmann. Wir sollten eh so weit wie möglich von den Toten wegbleiben. Und außerdem müssen Sie den Stock mit dem Handy hochhalten.«

»Na schön«, lenkte der Arzt ein, »dann müssen wir uns die Zeit eben anders vertreiben.«

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Aus dem Gipfelbuch am Köpfle

Jetzt bin ich dran: Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot.« Langhammer bedachte den Kommissar mit einem überlegenen Grinsen.

»Ich sag’s Ihnen noch mal, Herr Doktor, die Leichen spielen nicht mit.«

Der Arzt zog eine enttäuschte Schnute. »Sie sind wirklich ein Spielverderber. Na gut, dann Sie wieder.«

Kluftinger seufzte. Es war zwar albern, was sie hier trieben, aber immerhin bewahrte es ihn vor den kriminalistischen Anwandlungen des Doktors. Also sagte er lustlos: »Ich sehe was, was Sie nicht sehen, und das ist …«

Weiter kam er nicht, denn das Knirschen von Reifen auf einem Feldweg ließ sie aufhorchen. Wenig später waren am hinteren Ende der Klamm, in der sie seit nunmehr einer Stunde festsaßen, mehrere Autos zu erkennen, darunter ein Polizeitransporter, ein Auto der Bergwacht und ein Krankenwagen.

»Hm, scheint, als kennen sich Ihre Kollegen etwas besser aus in der Gegend«, kommentierte Langhammer das Auftauchen der Beamten. »Dahinten wären wir wohl doch rausgekommen.«

Kluftinger bekam einen roten Kopf und zischte dem Arzt zu: »Kein Wort davon zu denen, klar?«

Dann hielt die Wagenkolonne an, und die Türen öffneten sich. Kluftinger ging auf die Beamten zu, Langhammer folgte ihm auf dem Fuß.

»Wie du’s nur immer hinbringst, Klufti«, sagte Roland Hefele sofort, nachdem er sich aus dem Auto gezwängt hatte.

»Was meinst du?«

»Egal wo du bist, irgendwie stolperst du immer über ein paar Leichen.«

»Ja, das stimmt«, bekräftigte Richard Maier. »Man sollte sich in der Freizeit besser nicht in deiner Nähe aufhalten!« Dann stakste der schlaksige Württemberger, der mit seinem Jackett und dem akkuraten Seitenscheitel in der Bergkulisse reichlich deplaziert wirkte, auf die Toten zu.

Ein lautes Hupen ließ ihn jedoch zusammenfahren. Es kam von einem kleinen weißen BMW älteren Baujahrs, dem nun der ebenfalls recht kurz geratene und nicht mehr ganz taufrische Willi Renn entstieg. »Untersteh dich, Richie, noch einen Schritt, dann sorg ich dafür, dass du ein zweiwöchiges Praktikum bei mir im Erkennungsdienst machen musst. Kannst meine Asservatengläser mit den abgetrennten Gliedmaßen neu beschriften.«

Maier hob beschwichtigend die Arme und trollte sich. Sie wussten alle, dass Renn keinen Spaß verstand, wenn es um seine Arbeit als Spurensicherer ging.

»Der Willi ist am Wochenende noch unausstehlicher als zu normalen Arbeitszeiten«, kommentierte der großgewachsene Mann mit Schildmütze, der sich nun zu Kluftinger und dem Doktor gesellte. »Ich bin übrigens Georg Böhm, der Gerichtsmediziner«, sagte er und streckte Langhammer seine Hand entgegen. »Oder Leichenfledderer, wie mich die Banausen da nennen.« Er deutete mit dem Kopf auf die anderen Polizisten.

Langhammer schlug mit einem strahlenden Lächeln ein, dankbar, dass einer der Ankömmlinge nun endlich auch ihn mit einbezog: »Ach, sehr schön, dass man hier einen Kollegen trifft. Noch dazu einen, der offenbar mit den gleichen Widrigkeiten der nichtmedizinischen Welt zu kämpfen hat. Ich bin Martin Langhammer. Doktor Martin Langhammer, um genau zu sein. Facharzt für Allgemeinmedizin.« Er wartete auf eine Reaktion, doch als diese ausblieb, fuhr er fort: »Ich kenne mich ja ein bisschen aus, was Ihre Ermittlungsarbeit betrifft.«

»Stimmt«, erwiderte Böhm. »Sie waren doch damals bei der Geschichte mit dem Toten in dem Hotel dabei.«

»Genau, Herr Doktor. Da haben Sie dem Chef ja wirklich viel geholfen«, stimmte auch Maier ein.

»Schon gut, das wissen wir. Tut jetzt aber rein gar nichts zur Sache«, unterbrach ihn Kluftinger, der fürchtete, dass der Doktor nach einer solchen Ermutigung kaum noch zu bremsen sein würde.

»Na ja, so viel Zeit muss sein. Den Fall in dem Berghotel haben wir damals zusammen aufgeklärt.« Er deutete gönnerhaft auf den Kommissar, der sofort einen Hustenanfall bekam. »Ich hatte hier vor Ort als Erster die Gelegenheit, die Opfer dieser Katastrophe in Augenschein zu nehmen«, fuhr er fort und deutete auf die Toten. »Wenn Sie also meine Expertise benötigen, stehe ich zur Verfügung.«

»Herr Langhammer, was hab ich Ihnen vorher über das Raushalten gesagt?«, zischte Kluftinger den Arzt an.

»Ich dachte ja nur, falls …«

»Wir denken hier nicht, wir arbeiten.« Der Kommissar hörte seinen eigenen Worten nach und musste zugeben, dass sie recht unglücklich gewählt waren.

Dann sahen sie schweigend dabei zu, wie Willi Renn und sein Team die Örtlichkeit nach verwertbaren Spuren absuchten. Die mit weißen Ganzkörperanzügen bekleideten Männer bildeten dabei einen Ring, den sie immer enger zogen, bis sie schließlich bei den Toten angelangt waren. Dazwischen verpackten sie immer wieder Dinge in kleinere und größere Plastiksäcke, machten Fotos und Notizen.

Langhammer beobachtete das fasziniert, die anderen gelangweilt. Irgendwann gesellte sich auch Eugen Strobl zu ihnen. »War wirklich nett von euch.«

»Was denn?«, fragte Kluftinger.

»Dass ihr die Toten bewacht habt, bis wir gekommen sind. Ihr seid ihnen ja nicht von der Seite gewichen. Der Weg außen rum ist aber auch wirklich ziemlich weit, wenn man zu Fuß unterwegs ist.«

»Spar dir deinen Sarkasmus. Hättest dir lieber noch was Vernünftiges angezogen, statt hier gescheit daherzureden.« Er deutete auf die Kleidung des Beamten, der eine Wildlederjacke zu Stiefeln aus demselben Material trug.

»Es schadet nie, ein bisschen Stil zu zeigen«, kommentierte der.

Entgeistert starrte Kluftinger ihn an. »Ich weiß nicht, was mit dir neuerdings los ist, Eugen!«, sagte er kopfschüttelnd. Etwas leiser schob er nach: »Da drüben ist der Langhammer. Ich glaub, ihr würdet euch gut verstehen.« Mit diesen Worten ging er zu Willi Renn.

»Immer diese Bergtouristen am Wochenende. Man hat doch wirklich Besseres zu tun, als die hier vom Boden abzukratzen.«

Kluftinger erwiderte nichts.

»Sieht auf den ersten Blick nach einem gewöhnlichen Unfall aus. Allerdings seltsam, dass die so altertümliche Klamotten anhaben. So geht man doch heutzutage auf keine Tour mehr.«

»Ja, verstehe ich auch nicht«, sagte Kluftinger, ohne hinzusehen. Der Anblick hatte sich schon in seinem Gehirn eingebrannt, er brauchte die Szenerie nicht erneut in Augenschein zu nehmen. »Aber es sind ja auch nur zwei von ihnen so ausgerüstet, der eine scheint zumindest obenrum normale Sachen anzuhaben. Jedenfalls das, was heutzutage in den Bergen als normal gilt.«

Renn sah Kluftinger an und schien erst jetzt dessen Aufzug bewusst wahrzunehmen. »Ist halt nicht jeder so traditionsbewusst wie du, Klufti.«

»Geschenkt, Willi. Es geht hier nicht um mich.«

»Jedenfalls hast du recht. Dass die anderen zwei so ähnlich aussehen wie du, das ist schon seltsam.« Renn machte ein Zeichen, womit er den Tatort freigab. Sofort liefen die anderen Beamten zu den Leichen – gefolgt vom Doktor.

Böhm hatte die Männer kaum erreicht, da pfiff er schon durch die Zähne: »Ja, verreck, wisst ihr, wer das ist?« Alle Augen richteten sich gespannt auf den Gerichtsmediziner. »Das ist der Bischof Andi.«

Fragende Gesichter blickten ihn an.

»Andi Bischof, der berühmte Berg-Filmemacher.« Die Anwesenden wirkten ratlos.

»In der Alpin-Szene ist der eine Berühmtheit. Zu Recht. Dreht spektakuläre Streifen über gefährliche Besteigungen, besondere Routen und so.«

Kluftinger wusste nicht, worüber er mehr verwundert sein sollte: dass Böhm in dem völlig entstellten Gesicht noch jemanden zu erkennen vermochte, oder über den Umstand, dass sie hier offenbar einen Prominenten unter den Toten hatten. Priml. Das würde ihre Arbeit womöglich unnötig in den Fokus der Öffentlichkeit rücken.

»Ich bin ab und zu beim Bouldern«, schob Böhm noch nach.

»Also, deine Verdauungsprobleme kannst du für dich behalten«, kommentierte Kluftinger.

Georg Böhm grinste und zeigte auf die Aufschrift auf seiner Baseball-Kappe: Boulder Team Sonthofen. »Klettern in Bodennähe, ohne Seil, wenn dir das lieber ist. Deswegen kenn ich den.«

»Und die anderen?«, wollte Kluftinger wissen.

Der Gerichtsmediziner zuckte die Achseln.

»Warum haben die so komische Klamotten an? Und der Dings …«

»Bischof.«

»… und der Bischof obenrum nicht.«

»Vielleicht haben sie was gefilmt?«, schaltete sich Langhammer ein, und die Kollegen lobten ihn zu Kluftingers Leidwesen für seinen Beitrag.

»Haben wir irgendwo eine Kamera gefunden?«, wollte Kluftinger wissen.

Die Beamten schüttelten den Kopf.

»Also, sehen Sie!« Damit war die Sache für den Kommissar erledigt.

Allerdings nicht für den Doktor: »Wie schätzen Sie denn die Sachlage ein, Herr Kollege?«

Böhm war so überrascht von der Frage, dass er tatsächlich Luft holte, um zu antworten, dann aber innehielt. Schließlich schüttelte er den Kopf, winkte entschuldigend ab und ging weiter. Doch Langhammer folgte ihm auf dem Fuß, was Kluftinger mit einem süffisanten Grinsen zur Kenntnis nahm. Er hörte nur noch, wie der Arzt sagte: »Also, meiner bescheidenen Meinung nach stellt sich das Szenario folgendermaßen dar …«

Dann wandte der Kommissar sich Renn zu.

»Und, Willi, was haben wir?«

Der Kollege musterte ihn missbilligend durch die dicken Gläser seiner Hornbrille. Kluftinger wusste, dass er es nicht ausstehen konnte, wenn er sein Wochenende wegen eines Einsatzes drangeben musste.

»Wen meinst du mit wir?«

»Hm?«

»Du hast gefragt, was wir haben.«

»Komm, Willi, ich kann auch nix dafür. Also lass deine schlechte Laune nicht an mir aus.«

»Jaja, schon gut. Meiner Meinung nach sind die, die jetzt da herunten liegen«, er zeigte auf die leblosen Körper, »von da oben herabgefallen.« Jetzt deutete er auf die Felswand, die sich über ihren Köpfen erhob.

Kluftinger seufzte. Es hatte wohl keinen Sinn, sich noch länger mit Renn aufzuhalten. Im Büro würde er schon eine vernünftige Auskunft bekommen.

Er ging ein bisschen herum und versuchte dabei einerseits, sich den Hergang des Unglücks vorzustellen, andererseits aber auch, die Bilder nicht zu plastisch vor seinem geistigen Auge heraufzubeschwören. Er vermutete, dass ein solcher Absturz eine schreckliche Art sein musste, sein Leben zu lassen. Vielleicht waren die Männer nicht einmal sofort tot gewesen? Diese Frage trieb ihn derart um, dass er sie auf der Stelle beantwortet haben wollte. Er suchte also nach Georg Böhm, der noch immer den unablässig auf ihn einredenden Martin Langhammer im Schlepptau hatte.

»Georg?«, rief er, und der Gerichtsmediziner kam schnellen Schrittes zu ihm.

»Wenn du deinen Freund nicht gleich hier wegschaffst, gibt es noch eine Leiche mehr, das versprech ich dir«, zischte er.

»Erstens ist er nicht mein Freund, und zweitens …«

»Also, Kollege Böhm, ich habe mir das noch einmal überlegt«, tönte der Doktor, als er zu ihnen aufschloss. »Vielleicht könnte sich auch einer der Männer beim Fallen am Seil stranguliert haben, das sollten Sie im Auge behalten, ist dann ja eine ganz andere Fall-Lage, als wenn …«

»Danke, Herr Doktor, ich glaube, wir machen uns dann mal wieder auf den Weg«, unterbrach ihn Kluftinger, worauf Böhm ein stummes Danke mit den Lippen formte.

»Fragt sich nur, wie«, wandte Langhammer ein.

»Zefix, das stimmt natürlich.«

»Was denn?«, wollte Böhm wissen.

»Unsere Fahrräder stehen ja da oben.« Kluftinger zeigte auf den Rand des Tobels.

»Und?«

»Genau genommen, also, ich mein …«

»Ich glaub, der Klufti will sagen, dass er nicht mehr hinaufkommt«, hörte er Hefeles höhnische Stimme in seinem Rücken.

Böhm grinste. »Deswegen habt ihr hier auf uns gewartet! Aber wieso seid ihr nicht einfach außen rum gegangen?«

Kluftinger beugte sich zu dem Mediziner: »Jetzt sei friedlich, sonst fordere ich den Langhammer als externen Berater in pathologischen Fragen an.«

»Nur nicht das Maß verlieren, ja?« Böhm schaute sich die Abhänge etwas genauer an, dann pfiff er durch seine Finger dem Fahrer des VW-Busses.

 

»Toll! Ihr könntet doch in Zukunft immer als Maskottchen auf dem Wagen mitfahren«, rief Maier, und die Kollegen lachten. Sie standen alle um den Transporter herum, den Böhm an eine strategisch günstige Stelle dirigiert hatte. Anschließend waren Kluftinger und Langhammer auf den Dachträger des Fahrzeugs gestiegen, von wo aus sie den Rest des Abhangs hochklettern wollten, was Kluftinger immer noch besser fand, als den langen Umweg außen herum in Kauf zu nehmen. Allerdings hatte er keine Lust, das unter den Augen seiner feixenden Kollegen zu tun.

»Jetzt haut’s ab und macht’s eure Arbeit, ihr Deppen!«, schimpfte er.

»Wir sind doch schon fertig«, gab Willi Renn zurück, der seine gute Laune wiedergefunden zu haben schien. »Und das möchten wir auf keinen Fall verpassen. Vielleicht können wir ja noch was lernen von so erfahrenen Kletterern. Richie, kannst du das nicht mit deinem Smartphone filmen?«

»Los, Spiderman!«, schrie Maier, doch Strobl verbesserte: »Nein, das ist Käferman!«

»Ich warne euch!«, drohte Kluftinger. »Ich teil euch die nächsten zehn Jahre für jeden Sonntagsdienst ein, wenn ihr jetzt nicht die Klappe haltet.«

»Das ist dienstrechtlich gar nicht zulässig«, schaltete sich Maier ein, der nun sein Handy in der Hand hielt.

Kluftinger gab auf. Sollten sie doch ihren Spaß haben, er wollte einfach nur weg und diesen in jeder Beziehung schrecklichen Ausflug beenden. Auch der Doktor war einigermaßen kleinlaut; ihm schien es ebenfalls wenig Spaß zu machen, unter den Augen der Polizisten den Bergsteiger spielen zu müssen.

Sie kletterten also die Wand hoch, halfen sich, so gut es ging, gegenseitig, und Kluftinger protestierte nicht einmal, als der Doktor ihm über einen Vorsprung hinweghalf, indem er ihn mit beiden Händen am Gesäß nach oben schob. Als sie am Rand angekommen waren, brandete von unten Applaus auf, versetzt mit Bravo-Rufen und Pfiffen. Sie sahen jedoch nicht mehr zurück, eilten zu ihren Rädern, stiegen auf und fuhren ohne ein weiteres Wort in Richtung Auto.

 

»Das ist ja jetzt wirklich extrem unangenehm.«

Kluftinger und der Doktor standen vor dem Mercedes und betrachteten die Parkkralle, die am rechten Vorderrad des Autos befestigt war.

»Ein Strafzettel hätte es doch auch getan, oder etwa nicht? Da legt man einfach einen Arztwagen still! Polizisten sind solche Kleinkrämer.«

»Mei, Herr Doktor, die haben halt gedacht, wer so eine Protzkarre fährt, bei dem muss man härtere Maßnahmen ergreifen, dass er aus seinen Fehlern lernt.« Kluftinger hatte Mühe, seine Schadenfreude in Zaum zu halten.

»Sie brauchen sich gar nicht so zu freuen, mein Lieber. Mitgefangen, mitgehangen.«

»Wenn Sie glauben, dass ich mich an den Kosten beteilige, dann können Sie das gleich vergessen. Ich hab Sie mehr als einmal gewarnt, dass Sie hier nicht reinfahren, geschweige denn parken sollen.«

»Nein, ich meine, dass Sie jetzt genauso wenig hier wegkommen wie ich.«

Schlagartig verschwand das Grinsen aus Kluftingers Gesicht. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. »Himmelherrgott, das ist ja wirklich saublöd. Also echt: Ein Strafzettel hätte doch auch gereicht!«

»Können Sie nicht jemanden anrufen, der das in Ordnung bringt? Schließlich waren wir hier im Einsatz.«

»Wen denn? Das ist von der Gemeinde angebracht worden. Steht doch drauf auf dem Ding!«

»Na, Ihre Kollegen zum Beispiel. Vielleicht können die uns mitnehmen.«

Kluftinger dachte nach. Sicher würden die anderen die Gelegenheit nutzen, noch weiteren Spott über ihm auszugießen. Aber es war ja Langhammers Auto, er hatte sich also nichts vorzuwerfen. »Na gut, ich hoffe, die haben genug Platz.«

 

Leider hatten sie den nicht, und da die Auslösezeit für die Parkkralle samstags nur bis 14 Uhr ging, wie ein am Scheibenwischer angebrachtes Informationsschreiben verriet, hatten sich Kluftinger und der Doktor eine Alternative überlegen müssen, über die der Kommissar nach anfänglichem Hadern nicht einmal so unglücklich war: Sie hatten beschlossen, mit dem Rad zurückzufahren. Kluftinger streckte den Kopf in die Luft und ließ sich den Fahrtwind um die Nase wehen. Seinen Helm hatte er im Mercedes abgelegt, der Elektromotor schnurrte wie ein Kätzchen, weswegen er sich darauf konzentrieren konnte, die Landschaft zu bewundern. Allerdings hielt seine gute Laune nur so lange an, bis sie auf die Bundesstraße bogen und sich in die Autokolonne der Touristen und Lkws einreihten. Ständig donnerte irgendein Gefährt so nahe an ihnen vorbei, dass er Angst hatte, im Graben zu landen.

»Toll, die Luft hier, oder?«

Das konnte der Doktor nicht ernst meinen, Kluftinger jedenfalls roch nur Dieselabgase und den Abrieb von Autoreifen. »Wissen Sie, Herr Langhammer«, schrie er gegen den Lärm an, »vielleicht sollten wir besser auf die Nebenstraßen …«

Ein langgezogener Piepton unterbrach ihn. Zunächst fürchtete er, er habe ein Loch im Reifen, doch dann hörte das Piepsen auf, um ein paar Sekunden später von neuem zu beginnen. Irritiert suchte der Kommissar sein neues Rad nach der Quelle des Geräusches ab. Als er sie fand, wurde es ihm heiß und kalt zugleich: Akku laden, stand da in Rot auf dem kleinen Display, daneben blinkte die Darstellung einer leeren Batterie. Sie waren gerade mal auf der Höhe von Fischen; nach Altusried waren es noch mindestens fünfzig Kilometer. Ihm war klar, dass er diese Mammutstrecke ohne Zusatzschub niemals schaffen würde.

»Neues Kommando«, rief er deswegen dem Doktor zu. »Wir brauchen Strom.«

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Aus dem Gipfelbuch am Edelsberg

Kluftinger hatte einige Mühe damit, seinen Haustürschlüssel ins Schloss zu bekommen. Das hatte mehrere Gründe: Es war schon spät und beinahe finster, er war müde von all den Ereignissen des Tages, erschöpft von den ungewohnten körperlichen Strapazen, denen er sich ausgesetzt hatte, und genervt vom langen Beisammensein mit dem Doktor. Vor allem aber war er ziemlich angesäuselt von ihren beiden Zwangspausen, die sie zum Aufladen der Akkus in zwei Gasthäusern auf der Strecke zwischen Oberstdorf, dem südlichsten Fleck des Oberallgäus, bis zum beinahe nördlichsten Zipfel Altusried hatten einlegen müssen.

Er nestelte noch immer an dem Schloss herum, da wurde die Tür aufgerissen, und Erika stand vor ihm. »Ja, sag mal, was war denn los?«, fragte sie und zog ihn nach drinnen. »Wieso geht ihr nicht ans Handy, du und der Martin, hm?«

Kluftinger grinste und ging auf seine Frau zu. »Schätzle, einen wunderschönen guten Abend erst mal.« Mit einem schiefen Lächeln drückte er ihr einen Kuss auf die Wange.

Erika sah ihn skeptisch an. »Hast du was getrunken, Butzele?«, sagte sie und begann zu schnuppern.