Himmelsfluch - Kristina Licht - E-Book

Himmelsfluch E-Book

Kristina Licht

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Beschreibung

Eine Seele. Ein Kreis. Verlässt deine Seele den Kreis, dann werden sie dich jagen. Kiara Golding stand schon immer auf die falsche Sorte Männer. Sie zog an, was schön war und Aufregung versprach. Mittlerweile will sie sich von genau dem fernhalten, als Ewan in ihr Leben tritt. Auf seiner Stirn hätte man genauso gut Achtung: Gefahr tätowieren können. Als der gutaussehende Mann ihr dann auch noch ein fragwürdiges Angebot macht, kann Kiara nicht Nein sagen. Sie braucht das Geld und was sind schon ein paar Milliliter Blut? Nein, Ewan ist kein Vampir. Doch als sie herausfindet, wer Ewan wirklich ist und was er will, ist sie bereits in den Untergang der Welt verstrickt. Ein sinnlicher New Adult Roman mit Fantasy-Elementen, Wiedergeburten, Göttern und über den Kreislauf unseres Lebens.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Himmelsfluch - Teil 1

0. endzeit

1. innerer sog

2. kapitulation

3. freie entscheidung

4. echo dunkler träume

5. kreisende vögel

6. blutshure

7. kein unschuldslamm

8. donnergrollen

9. kein geschenk des himmels

10. feindliches lager

11. chemische reaktion

12. tickende zeitbombe

13. enttarnt

14. durchbrochene spirale

Gotteswerk - Teil 2

-1. tödlicher Unfall

15. jenseits von verstand

16. des engels plan

17. zwischenzeitlich in der schlangengrube

18. nacht ohne morgen

19. wer suchet, der findet

20. in den händen des teufels

21. ein pakt zwischen himmel und hölle

22. eine reise ins nirwana

23. rot wie blut

24. himmlische unterredung

25. zwischen traum und wirklichkeit

26. der kreis des lebens

Danksagung

Über die Autorin

Himmelsfluch

Jenseits des Kreises

Band 1

Kristina Licht

GedankenReich VerlagDenise ReichowHeitlinger Hof 7b30419 Hannoverwww.gedankenreich-verlag.deHimmelsfluchBand 1 der Jenseits des Kreises-Dilogie

Text © Kristina Licht, 2017

Cover & Umschlaggestaltung: Kristina Licht

Umschlagmotive © 123rf

Lektorat: u.a. Wortspringer Lektorat, www.wortspringerlektorat.deSatz & Layout: Grittany Design, www.grittany-design.de

Innengrafigen: © 123rf, depositphoto

ISBN: 978-3-947147-15-1

© derNeuauflage: GedankenReich Verlag, 2017Alle Rechte vorbehalten.

Kristina Licht

Himmels

fluch

Jenseits des Kreises

Für jeden, der manchmal glaubt, nicht gut genug zu sein.

Achtung:

Liebe Leserin, lieber Leser

Hier kommt eine obligatorische Warnung, die dich darüber in Kenntnis setzen soll, dass in dieser Geschichte Kraftausdrücke und explizit beschriebene erotische Szenen auftauchen können.

Wenn du also zu jung bist, oder lieber Bücher ohne das Wort »Sex« (geschweige denn andere Wörter, die dir in dem Zusammenhang einfallen) lesen magst, dann kannst du das Buch jetzt zur Seite legen.

Und wo wir gerade schon bei Warnungen sind. Dieses Buch ist anders. Ja, das behaupten vermutlich viele Autoren von ihren Büchern, aber das meine ich nicht. Klare Antworten und einen chronologischen Aufbau sucht man hier vergebens. Viel mehr lebt die Geschichte davon, die Geheimnisse Stück für Stück aufzudecken und besonderen Stellen (z.b. den Zitaten an den Kapitelanfängen) eine größere Aufmerksamkeit zu schenken und sie gegebenenfalls sogar mehrmals zu lesen, um am Ende des Buches alle Puzzleteile zu einem Gesamtkunstwerk zusammenzulegen.

Du wirst also mitdenken, miträtseln und auch vielleicht mal zurückblättern müssen.

Bereit?

Ich wünsche dir viel Vergnügen.

Deine Kristina Licht

Ich bin kein guter Mensch. Bin es nie gewesen.

Zu oberflächlich, zu egoistisch, zu frustriert und zerstört vom Leben.

Menschen wie ich werden nicht zu Helden dieser Welt.

Menschen wie ich werden zu ihrem Untergang.

»Dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen;

die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen,

und die Erde und die Werke, die darauf sind,

werden ihr Urteil finden. «

– 2.Petrus 3,10

»Schreib weiter! Wir haben nicht mehr viel Zeit!«

»Dräng mich nicht so!«, brülle ich zurück und werfe den Kugelschreiber durch den Raum, da er nicht mehr schreibt. Schnell greife ich nach einem neuen und fahre fort, die dünnen Seiten des alten Buches zu bekritzeln. Meine unordentliche, hastige Schrift passt nicht in das Bild der säuberlichen, kunstvoll gestalteten Worte über ihr.

Wir haben es nicht ahnen können, waren unaufgeklärt von den Göttern auf der Welt gelassen worden. Unser Wissen war unser Fluch, doch niemand hatte gesgt offenbart, dass dieses Wissen nicht vollständig war. In ihrem Zorn ließen die Götter uns Ausgestoßenen alleine, schickten Gesandte, um uns zu töten – »Warum?«, haben wir unsgefragt. Die Antwort ist jetzt zeigt sich heute in

Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönt, als würde neben uns ein Haus einstürzen, gefolgt von einem Beben, das meine Hand abrutschen lässt. Ängstlich blicke ich zu meinem Begleiter hoch, der sich an der Wand abgestützt hat. Seine Haare sind zerzaust, Schweiß benetzt sein Gesicht. Obwohl er es nie zugeben würde, sehe ich so etwas wie Angst in seinem Blick flackern.

Donnergrollen füllt die Luft und die Schreie von draußen, die nun schon seit endlos vielen Minuten zu uns heraufdringen, schrillen mir in den Ohren. Ich kann nicht mehr denken.

»Schau nicht so, mach weiter!«, schreit er und arbeitet sich durch die am Boden liegenden Bücher und zerbrochenen Möbel bis zum Fenster vor. Einen Moment lang sehe ich ihm ängstlich nach, erblicke hinter der zersprungenen Glasscheibe jedoch nur den dunklen Himmel. Die Wolken sind beinahe schwarz und der Wind nimmt allen Dreck, alle Zweige und Müll von den Straßen, lässt sie vor dem grauen Hintergrund der Welt durch die Stadt peitschen.

Mit hämmerndem Herzen wende ich mich von dem Szenario ab und überfliege meine Worte. Zu nichtssagend, nicht hilfreich. Doch ich darf nicht deutlicher werden. Wenn dieses Buch in die falschen Hände geraten würde …

Ein Knall, dann bricht die Zimmerdecke gleichzeitig mit meinem Schrei über mir zusammen. Mit zitternden Händen bedecke ich meinen Kopf, während Zementbrocken und Putz auf meinen Körper bröckeln und mich unter dem Gewicht standfester Jahrzehnte begraben.

»KIARA!« Zu laut, zu wütend, vielleicht ein wenig sorgenvoll. Doch das Blut, das mir in den Ohren rauscht, macht es ohnehin kaum möglich, seinen Ruf zu verstehen.

Ich werde von starken Händen gepackt und an der Hüfte unter dem Geröll herausgezogen. Scharfe Kanten reißen meine Haut auf. Das Echo von Schmerz macht sich in meinem Kopf breit. Verzweifelt schnappe ich nach Luft, doch ich ersticke beinahe unter dem Staub und den wirbelnden Körnern von zerborstenem Mörtel.

»Wo ist das Buch?!«, höre ich seine Stimme rufen und das macht alles nur noch schlimmer. Das Pochen in meinem Kopf nimmt kein Ende.

Seine Hände haben mich bereits wieder losgelassen und suchen nach dem Buch. Ich krabbele auf allen Vieren fort von der stickigen Wolke, schürfe mir die Knie durch meine zerrissenen Jeans auf. Neben dem umgestürzten Bücherregal bleibe ich hocken und fahre mit meinen Händen über das Gesicht, um mir den heruntergekommenen Putz aus den Augen zu wischen. »Hast du es?«, frage ich mit heiserer Stimme und beiße mir auf die Unterlippe. Schmecke mein Blut, da ich die Haut bereits vor Stunden abgeknabbert habe.

»Wir müssen raus«, ruft er hektisch. »Bevor alles einstürzt. Ich schreibe das Datum noch drunter. Für mehr ist keine Zeit!« Ich beobachte, wie er einen Kugelschreiber vom staubigen Boden aufsammelt und hastig etwas auf die Seite kritzelt.

Als ich mich nicht rühre, schaut er mich zornig an. »Steh auf!«

Seine Worte fahren mir durch Mark und Bein. Ich gehorche augenblicklich, mein zerschundener Körper folgt seinen Befehlen immer noch blind. Als ich es geschafft habe, mich aufzurappeln, ist mein Begleiter bereits an der Tür und hat das Buch zurückgelassen.

»Wir lassen es hier?«, frage ich ihn ungläubig, während er meinen Arm packt und mich hinauszerrt.

»Es ist scheißegal, wo es bleibt«, zischt er und hastet den Flur entlang. Mir bleibt keine Zeit, die Logik dahinter zu begreifen.

Meine Beine können nicht mehr, doch das sage ich ihm nicht. Er spürt das Zittern meines Körpers bestimmt deutlicher als ich. Ich fühle schon lange nichts mehr. Genauso wie ich vor etlichen Minuten die Schreie ausgeblendet habe und den Schmerz in all meinen Gliedern zu verdrängen suche.

Es ist ein Wunder, dass die Treppe noch einigermaßen begehbar ist. Nur die Hauswand ist an einer Stelle zerstört, an der es aussieht, als wäre ein Truck gegen sie gefahren.

»Was hast du ... als Nächstes vor?«, japse ich außer Atem. Dann stolpere ich plötzlich und mein Fuß verfehlt eine Stufe. Einen Herzschlag lang habe ich keinen Boden unter den Füßen und ich sehe mich bereits die Treppe hinunterstürzen, doch er hält meinen Arm weiterhin wie in einem Schraubstock umklammert, sodass ich in der nächsten Sekunde meine Beine wieder geordnet habe. Von dem stechenden Schmerz, der dabei durch meinen Arm fährt, sage ich nichts.

Er antwortet mir erst, als wir aus dem Haus schlüpfen, in das kalte, laute Grauen. Ich klammere mich an ihn, aus Angst fortgeweht zu werden. Aus Angst, durch einen vorbeifliegenden Baumstamm von ihm getrennt zu werden.

»Du rennst zu dem besprochenen Ort! Hast du verstanden?«, schreit er gegen den Lärm an. »Und ich sorge dafür, dass das hier nie passiert.« Seine braunen Augen halten die meinen fest, blicken in mein Innerstes und warten auf mein »Jawohl«. Wir wissen beide, was dies zu bedeuten hat. Und ich weiß, dass er es nicht tun will.

Ich lächele ihn aufmunternd an. Ein ehrliches Lächeln aus dem Ursprung meiner Seele. Obwohl um uns herum die Welt in tausend Stücke gesprengt wird, hat sich um uns eine eigenartige Stille gelegt. Als würde die Erde für eine Sekunde stillstehen und uns diesen einen friedlichen Moment gönnen. Dass das Schicksal uns jedoch nichts gönnt, haben wir bereits bitter erfahren müssen.

»Wenn es tatsächlich möglich ist, dann tue es«, sage ich. Die Worte werden von dem tosenden Wind verschluckt, doch ich weiß, dass er mich trotzdem versteht. »Verhindere dieses Ende. Verhindere meine Liebe. Verfluche mich, wenn es sein muss, töte mich – nur lass mich nicht der Grund für den Weltuntergang sein.«

Der Zorn der Götter haftet an unseren Fersen, folgt uns in alle Ecken dieser Welt, deren Bewohner nur das Trugbild eines Lebens führen. Wir haben den ewigen Kreis durchbrochen; ist der Grund für ihren Hass, dass wir ihnen nicht mehr gehorchen? Dass wir kein Spielzeug ihres Himmels bleiben wollen?

- aus dem Schwarzen Buch der Verfluchten -

September 2007

Die Luft war stickig und trocken. Meine nackten Oberschenkel klebten aneinander, winzige, helle Punkte tanzten auf ihnen, die das dreckige Fenster durch die Sonne auf meine Haut spiegelte. Die Hitze war drückend, die Klimaanlage im Bus anscheinend kaputt.

Ich wandte meinen Kopf zur Glasscheibe und erkannte dahinter die hohen, heruntergekommenen Häuser wieder, die mein Heimatviertel bildeten. Es kam mir vor, als würde ich sie nachts häufiger sehen als tagsüber. Heute stach mir die vom Schmutz geschwärzte Fassade und das grüne, schimmelig aussehende Moos besonders ins Auge. Ich verzog angewidert das Gesicht und die rot geschminkten Lippen meines Spiegelbildes taten es mir gleich.

Mein Finger drückte auf den gelben Knopf und ich stand auf. Nicht nur meine Oberschenkel waren offenbar zusammengeklebt, auch der Stoff meiner knappen Jeansshorts haftete unangenehm an meiner Haut.

Während der Bus langsamer wurde und sich der Haltestelle näherte, erblickte ich durch die Fenster einen Jungen am Bordstein. Ich hatte ihn schon ein paar Mal in den letzten Monaten gesehen und wie die Male zuvor überkam mich ein seltsames Gefühl bei seinem Anblick, als müsste ich ihn von irgendwoher kennen. Ein seltsames Gefühl von Vertrautsein. Eine Art Déjà-vu. Ob er wohl ein alter Grundschulfreund war? Jemand aus dem Schwimmverein? Oder hatte ich ihn erst vor kurzem in irgendeiner Bar kennengelernt? Auf einer Party gesehen, doch wegen des reichlich geflossenen Alkohols wieder vergessen?

Der Junge schaute mich auch heute an. Seine Augen waren blau. Er sah jünger aus als ich. Und mein Herzschlag beschleunigte sich.

Als die Türen des Busses sich öffneten, sprang ich raus, während er weiter vorn den Bus betrat. Ich konnte nicht anders, als noch einmal zurückzublicken und zu beobachten, wie er sich durch die Reihen der Sitze manövrierte und mich dabei nicht aus den Augen ließ. Irgendetwas sagte mir, dass er das Gleiche spürte wie ich.

Oder weshalb sonst starrten wir uns bei jedem flüchtigen Treffen so an, als wären wir zwei für immer verlassen geglaubte Menschen, die einander wiederfanden? Weshalb sonst fühle es sich intimer an, ihn anzusehen, als mit wem anders zu schlafen?

Meine Beine setzten sich in Bewegung und ich löste meinen Blick von dem sich entfernenden Bus. Aus den Augenwinkeln stach mir etwas Blaues entgegen und ich blieb stehen. Ein Schülerausweis lag am Boden, verloren auf dem trockenen Asphalt. Mit laut pochendem Herzen bückte ich mich und streckte meine Hand danach aus.

Als ich ihn öffnete, erblickte ich das Gesicht des Jungen.

Falk Reuer war sein Name.

5 Jahre später

»Du kommst dann morgen zum freien Training, oder?«, rief Mia mir zu und stieg bereits in den Wagen ihres Freundes. Sie hatte die Tür zugeschlagen, bevor sie meine Erwiderung hörte, doch wir trainierten bereits so lange gemeinsam, dass die Antwort immer dieselbe war.

Ich winkte ihr zu und setzte mein mechanisches Lächeln auf, als der silberne Audi an mir vorbeifuhr. Sobald der Wagen um die nächste Straßenecke gebogen war, verblasste es. Meine Hände griffen nach der Kapuze meiner schwarzen Sweatjacke und zogen sie über meine noch feuchten Haare.

Die untergehende Sonne tunkte den Himmel in ein tiefes Blutrot, auf das ich zwischen den Hochhäusern immer wieder einen Blick erhaschen konnte. Der Herbst hatte die Tage kürzer werden lassen und die Abende kühler.

Gedankenverloren schob ich meine Hände in die Taschen meiner Jacke und vergrub die Hälfte meines Gesichtes in dem weichen Schal. Mir war zwar immer noch furchtbar heiß vom Sport und der anschließenden warmen Dusche, doch diese Bewegung hatte für mich immer etwas Vertrautes und Sicheres. Ich liebte es, mein Kinn in den leichten Stoff zu schmiegen, erinnerte mich dadurch an frühe Kindheitstage zurück, an denen ich mich mit meiner Mutter unter eine Decke gekuschelt und heißen Kakao getrunken hatte. Ihre Wärme neben meinem kleinen Körper, die Decke, die uns beiden gleichermaßen Geborgenheit gespendet hatte.

Ein Auto fuhr rauschend an mir vorbei und spritzte den Regen vom Nachmittag auf. Ich versuchte vergeblich den kleinen Tropfen auszuweichen, störte mich aber nicht daran, als sie mich trotzdem erwischten. Die Ruhe, die ich nach dem Training immer verspürte, war ein Segen. Nur beim Taekwondo und kurz danach fühlte ich diese Ausgeglichenheit in meinem Inneren. Zu oft war ich sonst genervt von den Menschen um mich herum und meinen eigenen Gedanken. Zu gestresst davon, mein Leben so auf die Reihe zu bekommen, wie mein Vater es akzeptierte. Zu unruhig von den vielen Momenten, die mir eisige Schauer über den Rücken jagten. Das Gefühl, verfolgt zu werden, saß in letzter Zeit zu oft in meinem Nacken.

Ich erreichte die Bushaltestelle und erkannte erst ein paar Sekunden später die Person, die bereits auf der Holzbank saß. Er schaute auf seinen iPod und hatte Musikstöpsel in den Ohren, weshalb ich mich dazu entschied, ein paar Schritte von ihm entfernt stehen zu bleiben. Ich hatte sowieso keine Lust, mich mit ihm zu unterhalten. Und vielleicht verbarg meine ins Gesicht gezogene Kapuze zu viel von mir, als dass er mich erkennen würde.

Doch ich hatte Pech. Mein Kommilitone schaute auf und zog sich mit einem Grinsen die Stöpsel aus den Ohren. »Hey, Kiara«, sagte er. Im Gegensatz zu sonst trug er keine Brille.

»Hallo Falk«, grüßte ich murmelnd zurück und nickte ihm höflich zu. Wir studierten gemeinsam Philosophie - eine andere Gemeinsamkeit hatte ich zwischen uns jedoch nie entdeckt. Außer, dass wir uns zu häufig an Bushaltestellen trafen. Ich erinnerte mich noch schwach an meine ersten Begegnungen mit ihm, wusste noch, dass er mich in irgendeiner Weise fasziniert hatte und ich vor etlichen Jahren ein wenig für ihn geschwärmt hatte. Doch dieses Gefühl hatte schnell nachgelassen, als ich mich mit anderen Jungen getroffen hatte. Vielen Jungen. Hübschen Männern.

Falks blaue Augen hatten da nicht mehr mithalten können und bis zu unserem Studium hatten wir auch nie ein Wort miteinander gesprochen.

»Auf dem Weg nach Hause?«, fragte Falk und schien mich in ein Gespräch verwickeln zu wollen. Hatte er in den ganzen Monaten an der Uni etwa nichts gelernt?

Ich nickte nur und deutete auf meine Sporttasche, um seiner nächsten Frage zuvorzukommen.

»Welche Sportart?«

Na super. »Taekwondo«, antwortete ich und kehrte ihm den Rücken zu, um auf den Fahrplan zu schauen. Natürlich wusste ich, wann der Bus kam, aber vielleicht würde Falk dieses Zeichen ja verstehen.

Tat er nicht, oder wollte er nicht - so genau konnte ich es bei diesem Typen nicht sagen.

»Wow, ist ja cool. Wusste ich noch gar nicht.«

Gequält schloss ich für einen Moment meine Augen, dann antwortete ich mit einem honigsüßen Lächeln: »Du weißt vieles nicht von mir.«

Als ich wieder zu ihm hinüber sah, grinste er. Und obwohl man Falk nie als Schönheit bezeichnen würde, verursachte das Grübchen über seinem rechten Mundwinkel ein schwindelerregendes Gefühl in meinem Magen. Ich scannte ihn automatisch nach Muskeln ab, suchte nach dem Funkeln in seinen Augen, als wolle mein Körper ihn als nächstes Opfer betrachten. War zu gewöhnt an meine Zeit als Jägerin. Die ewige Jagd nach dem Vielversprechenden.

Ich schüttelte meine Gedanken ab und presste entschlossen meine Lippen zusammen. Diese Zeiten waren schon lange vorbei und Männer wie Falk passten sowieso nicht in mein Beuteschema.

»Wo ist deine Brille?«, fragte ich ihn stattdessen. Lag es an ihrem Fehlen, dass er so anders auf mich wirkte?

Er winkte die Frage mit einer abfälligen Handbewegung ab. »Trag‘ jetzt Kontaktlinsen.«

»Aha.«

»Kiara …«, meinte er dann langsam und ich zog fragend meine Augenbraue hoch. »Das hört sich jetzt doof an, aber wir müssen bis morgen doch diese Hausarbeit abgeben und ich wollte fragen, ob du noch einmal über meine drüber lesen könntest ...?«

In meiner Vorstellung schlug ich mittlerweile meinen Kopf gegen die Eisenstange der Haltestelle. Sehe ich so aus, als wäre ich eine hilfsbereite Kommilitonin? »Hast du sie dabei?«, fragte ich stattdessen. Der liebe Falk würde es bestimmt nicht verstehen, wenn ich meine Stirn tatsächlich gegen das Metall donnern würde. Außerdem war ich ihm etwas schuldig, weil ich vor ein paar Tagen eine Seminaraufgabe bei ihm abgeschrieben hatte.

»Nein«, er lachte, als sei dies eine dumme Frage gewesen. »Wäre aber cool, wenn du morgen Vormittag bei mir vorbeischauen könntest.«

Das ist nicht sein Ernst. Ich blinzelte ihn stumm an und fragte mich, wieso der Bus noch nicht da war.

»Bitte?« Er grinste und ich hätte schwören können, dass in seinen Augen mehr lag als unschuldige Hilflosigkeit. Kurz runzelte ich die Stirn. Was sollte das hier? Falk war doch sonst nicht so aufdringlich. Das war mit ziemlicher Sicherheit das längste Gespräch, was ich je mit ihm geführt hatte.

»Nein, tut mir leid«, sagte ich, ließ ihn aber voller Absicht den Sarkasmus aus meiner Stimme heraushören.

Das dumpfe Grollen des heranfahrenden Busses brachte dann endlich die Erlösung. Zumindest vorerst. Als ich einstieg, schlich sich in mir nämlich der Gedanke ein, dass Falk sich neben mich setzen könnte. Und um dies zu verhindern, tat ich etwas, das ich sonst nie tat: Ich setzte mich, obwohl noch andere Plätze frei waren, neben die erstbeste Person, die ich entdeckte.

Im Normalfall mied ich die Nähe anderer Menschen – außer beim Sex, den ich aber schon viel zu lange nicht mehr hatte -, doch heute war sie mir willkommener als Falks Nähe.

Als ich Platz nahm, starrte ich erst meinen Kommilitonen an und fürchtete, den Triumph in meinem Blick nicht verschleiern zu können. Mit einem nicht zu definierenden Gesichtsausdruck ging Falk an mir vorbei, dann erst riskierte ich einen winzigen Blick nach rechts zu meinem Sitznachbarn.

Wumm. Mein Herz donnerte gegen meine Rippen.

Das war der Typ von Mann, der in mein Beuteschema passte.

Früheres Beuteschema, verbesserte ich innerlich. Er schaute mich aus seinen dunklen Augen an, schmunzelte einen schnellen, lauten Herzschlag lang, dann drehte er sein markantes Gesicht dem Fenster zu.

Mit erhitzten Wangen wandte ich mich von ihm ab und wollte mich auf andere Gedanken bringen. Ich schaute mich also im Bus um und suchte nach Falk.

Erschrocken riss ich meine Augen auf, als ich ihn auf dem Platz hinter mir erblickte.

»Was guckst du denn so?«, fragte er lachend.

Ich schnaubte. »Hoffentlich hast du dich nicht hier hingesetzt, um mich zu überreden, mich morgen mit dir zu treffen!«

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn du nicht willst, kann ich dich ja nicht zwingen.« Plötzlich blickte er rechts an mir vorbei und ein grimmiger Ausdruck trat in seine blauen Augen. Auch ich wandte mich um und sah den Mann neben mir an, der jedoch immer noch das Gesicht von mir abgewandt hatte.

»Genau«, antwortete ich schnell an Falk gerichtet und setzte mich dann wieder gerade hin. Ich nahm mir vor, für den Rest der Fahrt weder nach rechts noch nach hinten zu schauen. Stattdessen spielte ich mit dem Riemen meiner Sporttasche und heftete meinen Blick auf den roten Schriftzug, der die nächste Station verkündete. Da ich nur drei Haltestellen fahren musste, wurde meine Willenskraft auf eine nicht allzu große Probe gestellt.

»Nächster Halt, Uferstraße«, erklang die blecherne Ansage und ich stand auf, konnte und wollte das drängende Gefühl in meiner Brust jedoch nicht länger ignorieren. Ich blickte also ganz schnell noch einmal hinter mich, bevor ich auf die Tür zusteuerte, wollte nicht gehen, ohne das Bild dieses wunderschönen fremden Mannes ein letztes Mal in mich aufzunehmen. Wenn ich mich schon von solchen Männern fernhalten sollte, dann konnte ich zumindest nachts von ihnen träumen.

Zu meiner Überraschung trafen sich unsere Blicke. Mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck sah der gutaussehende Fremde mich an, bis mich die kühle Abendluft erlöste.

Ein leises Klacken hallte durch den Hausflur und ich drückte die Tür zu meiner kleinen Studentenwohnung auf. Dunkelheit war das Einzige, das mich hier empfing, und ich war froh darüber.

Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der ich mir die Wohnung mit einer anderen Studentin geteilt hatte, doch wie sehr ich mich auch zusammengerissen hatte, kam ich auf dem engen Raum nicht länger als zehn Minuten mit einem anderen Menschen klar. Ich brauchte Ruhe, wenn ich nach Hause kam, und kein hektisches, gestresstes Problem auf zwei Beinen, das immer meinen Rat hören wollte oder noch besser meine Probleme.

Mit langsamen, schlurfenden Schritten bewegte ich mich durch den Flur, knipste im Vorbeigehen das Licht an und ließ die Tasche von meinen Schultern gleiten. Vor dem Fenster in der »Wohnküche« - wie ich sie nannte - blieb ich stehen und starrte einige Sekunden lang reglos auf das spiegelnde Glas. Meine Probleme, wen gingen sie schon etwas an?

Mein Gesicht wirkte fahl in der Fensterscheibe, umrahmt von der schwarzen Kapuze meiner Sweatjacke. Die Farben im Hintergrund wirkten seltsam verzerrt. Es war mir schon von Kind auf unangenehm gewesen, nachts in einem erleuchteten Zimmer vor einem Fenster zu stehen, zu wissen, dass da draußen alles sein konnte, man aber nichts sah außer sich selbst. Als würde die Dunkelheit immer gewinnen, denn in ihr war man sicher. Man war unsichtbar.

Wieso ich trotzdem so viel Zeit damit verbrachte, nachts am Fenster zu stehen, konnte ich mir nicht erklären. Vielleicht war dies eines meiner Probleme. Ein Mädchen, mit dem ich früher befreundet gewesen war, hatte sich als Therapeutin aufgespielt und mir gesagt, dass mich dieses Angstgefühl faszinierte, genauso wie die Gefahr. Wie das pure, wilde Adrenalin in meinen Adern.

Dieses einsame, trostlose Stehen vor dem Fenster, in dem ich mich spiegelte, war wohl als Nachklang übrig geblieben. Das Echo meiner suchenden Seele.

Genervt wandte ich mich ab und schälte mich aus der Sweatjacke, während ich mein Schlafzimmer betrat. Ich kickte meine Vans vor die Couch, bevor ich mich rücklings darauf fallen ließ und an die modrige Zimmerdecke starrte, durch die sich feine Risse zogen.

Nachdem ich am nächsten Morgen den Brief an meinen Vater bei der Post abgegeben hatte, nahm ich mir die Zeit, in den hektischen Massen der Stadt unterzutauchen. In Läden ging ich nicht, da ich ohnehin nicht das Geld besaß, mir etwas zu kaufen. Selbst für eine Studentin und Wochenend-Kellnerin war ich erstaunlich arm. Ich hatte noch nie gut mit Geld umgehen können, hatte es zum Fenster hinausgeworfen, wie mein Vater stets sagte, sobald ich welches auf der Hand hatte. In den letzten anderthalb Jahren, in denen ich allein wohnte, zu studieren begonnen hatte und anfing, mein Leben zu ordnen, hatte ich versucht, mich zu bessern, doch ich hatte nie genug Geld besessen, um einen Erfolg zu beweisen.

Ich kickte eine leere Coladose über den Fußweg, als mein nächster Tritt zu heftig ausfiel und die Dose gegen das Jeansbein eines Passanten schlug, der in meine Richtung ging.

»Oh«, entfuhr es mir und ich schaute hoch, um mich zu entschuldigen, musste jedoch schlucken, als ich den Mann erkannte, der vor mir zum Stehen kam. Abschätzend starrte er auf die Blechbüchse zu seinen Füßen.

»Tut mir leid«, sagte ich schnell und biss mir auf die Unterlippe. Verdammt, was war los mit mir? So unsicher war ich doch sonst auch nie. Komm, sag etwas Lustiges, Kiara. Oder etwas Geistreiches. Oder lächle zumindest verführerisch.

Der Mann sah mich endlich an. Sein Blick verriet mir, dass auch er mich erkannte. Als ich für einen kurzen Augenblick etwas Feindseliges in seinen Augen aufblitzen sah, setzte mein Herz einen Schlag aus. Doch dann grinste der Typ schief und ich hätte schwören können, dass er wusste, was er mir damit antat.

»Hallo. Kiara, richtig?«, fragte er mit einer dunklen Stimme. Ruhig, ohne einen Funken Freundlichkeit. Männer, die mir gefielen, waren selten freundlich.

Ein Prickeln fuhr über meine Haut, während sich Aufregung in meinem Magen breit machte. »Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte ich perplex, wie gebannt von seinem Anblick.

»Der Blonde im Bus hat dich so genannt«, antwortete er.

Seine Augen waren von einem dunklen Braun und glänzten in der morgendlichen Sonne. Ich nickte, ohne über seine Antwort nachzudenken. Konnte mich nicht von ihm losreißen. Jedes Detail in seinem Gesicht erkundete ich, von den dunklen Haaren, die ihm in die Stirn fielen, und der großen, geraden Nase über seine markanten Wangenknochen und die schwarzen, kurzen Bartstoppeln; blieb mit meinen Gedanken schließlich an seinen vollen Lippen hängen. Ich stand auf volle Lippen. Seine bewegten sich und weiße, perfekte Zähne tauchten kurz auf, verschwanden wieder, tauchten auf. Erst als sein Mund geschlossen blieb, realisierte ich, dass er mich gerade etwas gefragt hatte.

»Wie bitte?« Ich blinzelte, um meine Gedanken wieder zu ordnen, und schob meine fehlende Konzentration auf mangelnden Schlaf.

Anstatt seine Frage zu wiederholen, kam der Fremde plötzlich näher. All die Personen um mich herum waren schlagartig vergessen. Sie hätten mich anrempeln können und ich wäre dankbar gewesen, ihm in die Arme zu fallen.

Reiß dich zusammen, Kiara. Doch es war hoffnungslos.

»Ich suche jemanden, der für mich arbeitet«, sagte der Mann und kam mir mit seinem Gesicht näher.

Näher.

Näher.

Sein Blick heftete sich ebenfalls auf meine Lippen und mir war vollkommen egal, dass ich diesen Mann überhaupt nicht kannte. Ich wusste nicht, wie er hieß, wer er war und weshalb er überhaupt mit mir sprach. Aber von mir aus konnte er mich gerne hier und jetzt küssen. Das Blut rauschte schwindelerregend schnell durch meinen Körper, viel länger würde ich es nicht aushalten können. Es war zu verlockend – er war zu verlockend. Ich wollte mich fallenlassen. Scheiß auf die Konsequenzen. Der verdrängte Schrei bahnte sich stumm seinen Weg nach draußen, kämpfte sich pulsierend an die Oberfläche. Der Ruf nach Leidenschaft.

»Worum ... geht es denn?«, wollte ich mit heiserer Stimme wissen. »Ein bisschen Geld habe ich nötig.« Meine Antwort klang seltsamer als gewollt. Ihn bloß anzusehen, reichte anscheinend, um mein Gehirn lahmzulegen. Fern lag jeglicher Gedanke, wie eigenartig es war, von einem fremden Mann mitten in der Stadt auf einen Job angesprochen zu werden. Derart nah vor ihm zu stehen …

»Und ich habe ein bisschen viel Geld übrig. Für ein so hübsches Mädchen wie dich.«

Nanu, er will mich doch nicht etwa dafür bezahlen, dass ich mit ihm schlafe?, schoss es mir durch den Kopf. Seine Wortwahl irritierte mich, sein angedeutetes Angebot überraschte mich. Andere Mädchen würden erschrocken zurückschrecken, ich hingegen wollte auch ohne Bezahlung mit ihm schlafen. Ich hatte schon schlimmere Sachen getan.

»Wofür wollen Sie mich denn bezahlen?«, fragte ich leise. Aus Angst, ein zu lautes Geräusch würde die Anziehung zerstören, die von ihm ausging.

»Dein Blut«, raunte er. Die Worte flossen durch mich hindurch wie kochendes Wasser.

Die Anziehung war zerstört. Ich runzelte die Stirn über diese ungewöhnliche Antwort, die mich aus meinen verkorksten Fantasien riss.

»Wie bitte?«, fragte ich und lehnte mich ein Stück zurück. Hatte ich gehofft, ihn grinsen zu sehen? Es als Scherz abzutun?

»Du hast mich schon verstanden«, sagte er dann. »Hundert Milliliter Blut für hundert Euro. Beim ersten Mal kriegst du eine Prämie von zweihundert.« Er schmunzelte, eine verzerrte Grimasse auf seinem soeben noch perfekten Gesicht.

Mein Herz raste, wusste nicht, was es davon halten sollte. Seine Worte wirkten fehl am Platz, so absurd in der Situation. Wer fragte einen mitten auf der Straße nach seinem Blut und bot einem dafür so viel Geld an?

Und ich hatte mich ihm beinahe wie eine Prostituierte an den Hals geworfen.

Der Mann trat einen Schritt zurück und hielt mir eine Visitenkarte unter die Nase. Obwohl ich sie nicht nehmen wollte, streckten meine Finger sich danach aus.

»Ruf mich an, Kiara. Es ist leichtes Geld.«

Ich hielt die Luft an, wollte meinen Kopf schütteln, doch er bewegte sich nicht.

»Das Angebot steht bis heute Abend«, sagt er, dann drehte er sich um und ging.

Einige Sekunden lang konnte ich mich nicht rühren. Stand einfach so da, mitten in der Einkaufsstraße mit dieser lächerlichen, schwarzen Visitenkarte in der Hand und dem komischen Gefühl in meinem Magen.

Mit zusammengepressten Lippen musterte ich den roten Schriftzug, der mir seinen Namen verriet. Ewan Everett.

Das war doch niemals sein richtiger Name, oder? Unter diesen zwei Worten stand in weißen kleinen Buchstaben seine Adresse und Telefonnummer.

Wütend starrte ich die Karte an, unsicher darüber, ob ich sie einfach zerknüllen und wegwerfen sollte. Unsicher darüber, weshalb ich überhaupt wütend war. Ich fand ihn heiß und er wollte statt meinem Körper mein Blut. Na und? Das sollte mich nicht so aufregen. Ich würde natürlich nicht anrufen und damit hätte sich die Sache erledigt. Verrückte gab es überall auf dieser Welt. Ich könnte so tun, als sei ich diesem Prachtexemplar von Mann nie begegnet. Wie hatte sich dieser Mr. Everett das überhaupt vorgestellt? Sollte ich ihm mein Blut in Beuteln abfüllen? Was wollte er damit? Wenn er Blutspender für Krankenhäuser suchte, hätte er das doch anders formuliert, oder? Und warum dachte ich darüber nach, wenn ich ohnehin schon beschlossen hatte, ihn nicht anzurufen?

Mein Blick fiel auf einen Mülleimer ein paar Meter weiter und ich löste mich aus meiner Starre, setzte gerade zum ersten Schritt an, als sich eine Hand auf meine Schulter legte.

Erschrocken wirbelte ich herum.

»Falk?«, rief ich überrascht und funkelte ihn alles andere als freundlich an. Was tat er hier? Und was fiel ihm ein, mich so zu erschrecken? Schnell stopfte ich die Visitenkarte in meine Jeanstasche.

»Hey, Kiara.« Er grinste mich doof an und schob die Hände in die Taschen seiner Jacke. Sein Grinsen konnte er sich sparen.

»Was willst du?«, wollte ich wissen. Es reichte, dass ich mich gestern länger als zwei Minuten mit ihm unterhalten hatte – er brauchte nicht auf die Idee zu kommen, dass wir das jetzt jedes Mal wiederholten, wenn wir uns trafen.

Falk runzelte die Stirn. »Ist alles okay mit dir?«

Was sollte denn diese Frage? »Ja. Und selbst wenn nicht, hat es dich nicht zu interessieren«, sagte ich und drehte mich von ihm weg, um weiter zu gehen. Das taten wir auch sonst immer: aneinander vorübergehen wie Fremde. Wir waren nicht mehr als Fremde. Warum schien Falk gerade jetzt etwas daran ändern zu wollen?

Er lief neben mir her. »Wieso bist du so unfreundlich? Habe ich dir etwas getan?«

Oh Gott, oh Gott, oh Gott. »Falk bitte ... ich bin nicht in Stimmung. Wir sehen uns doch eh nachher an der Uni. Das reicht doch, findest du nicht?« Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, doch er starrte mit zusammengekniffen Lippen geradeaus. Als er nicht antwortete, seufzte ich.

»Okay, hab’s verstanden«, sagte er schließlich und bog ohne Vorwarnung nach rechts ab. Ließ mich meinen Weg allein durch die Straße ziehen – so wie ich es wollte. Doch wieso waren meine Beine plötzlich so schwer wie Blei und wollten nicht weitergehen? Wieso hatte ich dieses drückende Gefühl in meiner Brust? Ich verkniff es mir zwar, ihm schuldbewusst nachzuschauen, trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen. Es lag nie in meiner Absicht, andere Menschen zu verletzen. Sie interessierten mich nur nicht. Es war immer dasselbe. Immer das gleiche oberflächliche Getue, dasselbe sich wiederholende Schema von Kennenlernen und Auseinandergehen.

Ich brauchte das nicht mehr.

Ich habe nicht geahnt, aus wie vielen Blickwinkeln man einen Menschen betrachten kann. Auf welche unterschiedlichen Weisen ich dich betrachten kann. Es ist unheimlich, manchmal lustig, aber die meiste Zeit ist es traurig. Diese Augen zeigen mir, wie blind ich gewesen bin. Wie viel ich nie gesehen habe.

Aber weißt du, was all diese Blickwinkel auf dich gemeinsam haben?

Ich verrate es dir nicht. Noch nicht.

- aus den Briefen eines Gejagten -

Meine Hausarbeit über die Vorstellungen des Lebens nach dem Tod wanderte aus meinen Fingern in die Hände unseres jungen Professors. Ich hatte lange an der Arbeit gesessen und der Blick, den ich meinem Dozenten unwillkürlich zuwarf, besagte, dass er lieber von meiner Arbeit genauso überzeugt sein sollte wie ich. Kein betörendes, nettes Lächeln von mir wie von meinen Kommilitoninnen. Einige von ihnen hatten mir bereits gesagt, dass meine Blicke nicht die nettesten waren. Die meisten fürchteten sich derart davor, dass es schon beinahe Spaß machte. Ich tat es nicht absichtlich, um andere einzuschüchtern, aber ich würde mir auch nicht die Mühe geben, mir meinen »Killer-Blick« - wie ihn eine Studentin mal genannt hatte - abzugewöhnen. So war er doch manchmal ganz praktisch.

Als ich aus dem Hörsaal trat, lief ich direkt in die Arme von Rachel und ihrer Clique. Man hätte meinen können, dass man für diese pubertierenden Zusammenschlüsse zu reif an der Uni war, doch ich wurde jedes Mal aufs Neue eines Besseren belehrt.

»Hey, Kiara«, flötete Rachel betont freundlich, als wären wir beste Freundinnen. Tatsache war, dass wir erst einmal mehrere Stunden am Stück zusammen verbracht hatten – und das war, als ich ihr bei einer Party vor anderthalb Jahren eine Flasche Wodka über den Schädel gezogen hatte und wir beide ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Seitdem kam es mir so vor, als würde sie mir aus dem Weg gehen.

»Ich schmeiße am Wochenende eine Party zu meinem Geburtstag und ich wollte fragen, ob du auch kommst«, sagte sie unerwarteterweise und hielt mir eine Einladungskarte hin. Wie reizend. Ich konnte nicht verhindern, meine Augenbrauen hochzuziehen, als ich das Foto von ihr betrachtete, auf dem sie mir zuckersüß entgegenlächelte.

»Oh, das tut mir jetzt wirklich leid«, fing ich an und bemühte mich um einen betroffenen Ausdruck, »aber ich habe leider bereits etwas vor. Ich weiß, ich werde euch auf der Party bestimmt fehlen.«

Eine Freundin von Rachel, die jedoch keins von meinen Fächern studierte und deren Namen ich deshalb noch nicht einmal wusste, warf mir einen vernichtenden Blick zu. Fast hätte ich gelacht. Warum luden sie mich denn auch ein?

»Oh, Falk hatte schon gesagt, dass du absagen würdest«, beteuerte die Blondine und ihre blauen Augen fixierten mich aufmerksam. »Vielleicht überlegst du es dir noch anders, wenn er auch kommt?«

Perplex blinzelte ich sie an. Das wurde selbst mir langsam zu lächerlich. Mit einem genervten Stöhnen drückte ich Rachel ihre Einladungskarte gegen die Brust und marschierte an den vier aufgetakelten Mädchen vorbei.

Das Hallen meiner Schritte wurde für einen kurzen Moment von einem aufgebrachten Knurren hinter mir begleitet. Ich grinste. Meine Mundwinkel senkten sich jedoch, als ich Falk am Ende des Flurs stehen sah. Seine Miene war merkwürdig ernst und viel zu düster für seinen Honigkuchenpferd-Charme.

Sobald unsere Blicke sich trafen, wandte er sich von mir ab und verschwand hinter der nächsten Ecke, was mir nur recht war. Nach unserem Zusammentreffen heute Morgen wollte ich ihm am liebsten gar nicht mehr über den Weg laufen.

Heute Morgen. Mist, jetzt konnte ich nicht anders, als wieder über den seltsamen Typen nachzudenken, auf dessen Stirn man geradewegs ‚GEFAHR‘ tätowieren sollte. Obwohl mich das wahrscheinlich noch mehr angezogen hätte, als es ohnehin schon der Fall war. Ich war eindeutig ein hoffnungsloses Exemplar von Mensch. Weshalb sonst hatte ich seine Visitenkarte immer noch nicht weggeworfen? Stattdessen brannte sie gerade wie Feuer in der Tasche meiner Jeans. Sie brannte wie eine Sünde.