Sündenfall - Kristina Licht - E-Book
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Sündenfall E-Book

Kristina Licht

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Beschreibung

Eine verfluchte Seele, die schon seit Jahrhunderten auf der Erde weilt. Eine Göttin, die zum ersten Mal erfährt, wie es sich anfühlt, zu leben und sich zu verlieben. Ein Mensch, der in ein Geheimnis eingeweiht wird, das er niemals hätte hören dürfen. Als Ewan durch eine Prügelei auf den charismatischen Milan trifft, ahnt er noch nicht, dass er durch ihn in eine übernatürliche Fehde hineingezogen wird. Was sich zwischen ihnen entwickelt, ist mehr als bloß Freundschaft – doch dann taucht Elaia auf. Eine Frau, die behauptet kein Mensch zu sein, und deren Geheimnis Ewan lüften möchte, koste es, was es wolle. Dass er dabei jedoch nicht nur sein Herz, sondern auch sein Leben verlieren kann, wird ihm erst bewusst, als es zu spät ist. Eine Vorgeschichte zum Roman "Himmelsfluch". "Sündenfall" kann sowohl vor als auch nach "Himmelsfluch" gelesen werden. Enthält explizite Szenen.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Über die Autorin

Sündenfall

Jenseits des Kreises

Kristina Licht

Band 0

Ewans Geschichte

GedankenReich VerlagDenise ReichowHeitlinger Hof 7b30419 Hannoverwww.gedankenreich-verlag.deSündenfallBand 0 der Jenseits des Kreises-Dilogie

Text © Kristina Licht, 2017

Cover & Umschlaggestaltung: Kristina Licht

Umschlagmotive © 123rf

Lektorat: u.a. Wortspringer Lektorat, www.wortspringerlektorat.deSatz & Layout: Grittany Design, www.grittany-design.de

Innengrafigen: © 123rf, depositphoto

ISBN: 978-3-947147-18-2

© GedankenReich Verlag, 2017Alle Rechte vorbehalten.

Anmerkung:

Es handelt sich hierbei um die Vorgeschichte von Ewan aus dem Roman

»Himmelsfluch«. Solltest du »Himmelsfluch« noch nicht kennen, ist das aber kein Hindernis. Du kannst auch mit dieser Geschichte anfangen und »Himmelsfluch«

anschließend lesen.

Für »Sündenfall« ist kein Vorwissen vonnöten.

Ich wünsche dir viel Vergnügen.

Kristina Licht

Kristina Licht

SÜNDEN

fall

Jenseits des Kreises

Rei, Götterwelt:

Der Wind zerrt an meinen langen Haaren. Sie wehen mir ins Gesicht, doch ich störe mich nicht daran. Meine Hände umklammern den Vergissmeinnichtstrauß, den ich auf dem Hinweg gepflückt habe, als wäre er mein letzter Halt. Meine Augen sind geschlossen und ich knie auf dem mit Morgentau bedeckten Gras. Der Duft der blauen Blumen steigt mir in die Nase, während ich stumm ein Gebet aufsage.

Heute ist der Todestag meiner Freundin Myra. Sie war wie eine Schwester für mich. Eine Dekade ist es nun her, dass sie hingerichtet wurde, nachdem sie bereits eine Ikade lang in Gefangen-

schaft verbracht hatte. Sie hätte um die Vergebung ihrer Sünden beten müssen, und Vater hätte ihr vergeben. Aber sie hat keine Reue gezeigt – und nun bete ich an ihrer Stelle.

»Ich habe dich nicht vergessen«, flüstere ich und öffne die Augen. Die Blumen lege ich vor mich neben das kleine Kreuz aus Holz, das ich provisorisch in die Erde gesteckt habe. Es gibt keine Grabstätten im Rei, keinen Ort, an dem irgendwelche Überreste von Myra noch zu finden wären – Myra ist fort. Doch hier auf diesen Weiden verbrachten wir die meiste Zeit miteinander, beim Ausreiten, beim Picknicken und zum Reden. Wir haben immer viel miteinander geredet. Und nun fehlt sie, als hätte ich einen Teil meiner Selbst verloren.

»Ich weiß, was du mir sagen würdest, wenn du jetzt hier wärst.« Ich seufze und meine Finger zupfen nervös an den Grashalmen. »Es ist Zeit, dass ich mein Versprechen einlöse. Ich habe schon zu lange gewartet.«

Ein paar Minuten noch gebe ich mich der Stille hin, als würde ich auf eine Antwort warten, als hoffe ein Teil von mir, dass Myra mir sagt, ich müsse das Versprechen nicht mehr einlösen. Doch der Wind, das Zwitschern der Vögel und das Schnauben meines Pferdes bleiben die einzigen Geräusche.

Ich erhebe mich und streiche mein Kleid glatt. Auf Höhe der Knie zeichnen sich nun Grasflecken ab, doch das kümmert mich nicht. Ich gehe auf meinen schwarzen Hengst zu und schwinge mich auf den Sattel.

»Los, Donner«, sage ich und drücke meine Beine gegen seinen Körper. Wir galoppieren über das weite Land, während meine Erinnerungen mich mit Bildern und Gesprächsfetzen überfluten, bis ich mir vorkomme, als würde ich in ihnen ertrinken.

»Versprich mir, dass du nach meinen Kindern siehst. Versprich mir, dass du auf sie aufpasst, Elaia.«

Wir reiten immer schneller, als wäre ich vor etwas auf der Flucht, doch ich kann nicht entkommen. Es gibt kein Zurück mehr – die Entscheidung ist gefallen.

»Elaia, was tust du?« Lorans Stimme schneidet die Luft wie ein Messer. Er weiß genau, was ich tue. Warum fragt er? Ich suche nach Myras Haarsträhne, die sie mir extra für diesen Zweck überlassen hat, und packe nebenbei für den zweitägigen Ritt nach Pentrale, dem Mittelpunkt des Rei.

»Ich weiß, dass es verboten ist. Du kannst dir eine Predigt also sparen. Du wirst mich nicht aufhalten können.«

»Ich habe Myra ebenso geliebt wie du. Aber du kannst nicht ...«

»Was? Ebenfalls sündigen? Ich werde nur nach ihnen sehen, Loran.« Ich ziehe den kleinen geflochtenen blonden Zopf triumphierend aus der Schublade und verstaue ihn in meiner ledernen Umhängetasche. Um im selben Kreis wie ihr Kind zu landen, werde ich ihre DNA brauchen. Und da Myras Haar sich beim Betreten der menschlichen Welt auflösen wird, da es mir nicht möglich sein wird, etwas Göttliches von hier in die andere Welt zu nehmen, habe ich auch nur diesen einen Versuch, nur diese eine Verbindung zwischen den beiden. Eigentlich dreien ... Myra hat Zwillinge zur Welt gebracht, doch man hat sie verbannt und dafür gesorgt, dass sie auf ewig getrennt sind.

»Elaia, jetzt sieh mich gefälligst an!«

Ich lasse von meinen Vorbereitungen ab und schaue Loran ins Gesicht. Es ist kantig und perfekt, mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Sein goldenes Haar fällt ihm in Wellen bis zu den Schultern. Ich gehe auf ihn zu und streiche ihm voller Sanftmut über die Wange.

»Lass mich gehen, Loran«, hauche ich. »Du weißt, dass ich nicht anders kann.«

In seinem Gesicht sehe ich den Widerstand bröckeln, wie Putz, der von einer Wand fällt. »Wir dürfen die Menschen nur beobachten ... aus der Ferne. Wir dürfen nicht Teil ihrer Welt werden«, flüstert er, als müsse er wenigstens alles versuchen, um mich davon zu überzeugen, nicht zu gehen. »Es ist gefährlich und du kennst dich da doch überhaupt nicht aus.«

Ich seufze leise und nehme meine Hand von seiner Wange. »Ich habe in allen vier Tempi gelebt und ein Millennium in der Botschaft gearbeitet. Wenn jemand über die Menschenwelt Bescheid weiß, dann wohl ich. Ich habe die Aufträge der Gesandten überwacht und sie zum Göttervater geführt. Auf dem Weg haben die Gesandten stets viel zu erzählen, weißt du?«

Loran schüttelt den Kopf. »Es bleiben Geschichten. Wenn du dort bist, wird es vollkommen anders sein. Du wirst trinken, essen und auch schlafen müssen.«

Ich lache. »Du tust so, als wären das ungeheuer schlimme Dinge.«

»Nein, aber wenn du sie vergisst ... kannst du sterben«, haucht er.

Ja, das Problem mit der Sterblichkeit. In dem Moment, in dem ich den Rei verlasse und mich in einen irdischen Kreislauf begebe, wird mein Körper menschlich. Verletzlich. Falls mein Körper stirbt, wird meine Seele zwar wieder zurück in den Rei geschickt, doch ich kann getrost auf die Schmerzen und die Erinnerungen eines Todes verzichten. Abgesehen davon, dass ich nur diesen einen Versuch habe. Falls ich sterben sollte, bevor ich Myras Kinder finde ...

»Und wenn jemand davon erfährt?«, fragt Loran. Für menschliche Ohren würde seine Stimme sorgenvoll klingen, doch ich weiß es besser. Götter empfinden keine Sorge.

Ich lege ihm meinen Zeigefinger auf die Lippen. »Es wird niemand erfahren. Ich werde zurück sein, ehe du dich versiehst.«

Resigniert schließt er die Augen. Er weiß, dass er verloren hat. Seine Vernunft gibt auf, weiter mit mir zu diskutieren.

»Pass auf dich auf. Und sündige nicht«, sagt er und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.

Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.

Aus der Bibel, 1. Buch Mose, 1:26

Menschenwelt, das Jahr 2012:

Ich sah schlimmer aus, als ich es nach letzter Nacht befürchtet hatte. Oberkörperfrei stand ich vor dem Spiegel in meinem Badezimmer und studierte meine Verletzungen. Ein Veilchen, eine Platzwunde, mehrere Prellungen – ohnehin sah mein Gesicht so aus, als hätte ich es in allen Farben von grün bis lila angepinselt. Mein rechtes Auge war so zugeschwollen, dass ich eigentlich nur noch mit dem linken sehen konnte. In meinem Mund schmeckte ich Blut. Als ich mir instinktiv über die trockenen Lippen lecken wollte, fand ich den Grund für den kupfrigen Geschmack.

Verdammt.

Zu gern würde ich wissen, wie der andere aussah. Im Normalfall erwischte es meine Gegner schlimmer als mich. Aber wenn er noch schlimmer als ich aussah, dann drohte mir bestimmt eine erneute Klage. Auf noch einmal drei Monate Knast konnte ich getrost verzichten. Ich hatte erst vor kurzem meine Bewährungszeit ausgesessen.

Ich wandte mich von meinem demolierten Spiegelbild ab, ließ die Pyjamahose auf den Boden gleiten und stieg in die Duschkabine. Das Brennen des Wasserstrahls auf meinem Gesicht ignorierte ich, genauso wie meine bei jedem Atemzug stechenden Rippen. Körperliche Schmerzen war ich gewohnt. Ich kam nicht sonderlich gut mit Menschen aus und es war egal, ob ich ihnen dumm kam oder sie mir: Männer wie ich scheuten sich nicht davor, zuzuschlagen. Doch in diesem Zustand konnte ich unmöglich auf der Arbeit aufkreuzen.

Nach der Dusche rief ich in der Firma an und meldete mich krank. Bis Ende der Woche hatte ich noch einen Auftrag abzuliefern, einen Entwurf für das Internetlayout eines aus dem Boden schießenden Produktionsunternehmens. Aber das Gute an einem Job als Designer war, dass ich meine Sachen auch zu Hause erledigen konnte.

Ich verbrachte den Nachmittag im Bett mit einem Kühlbeutel auf meinem Gesicht und versuchte, meinen Kater loszuwerden. Ich wusste nicht einmal, worum es gestern bei der Schlägerei überhaupt gegangen war. Scheiß Alkohol.

Normalerweise müsste mein Verstand jetzt versuchen mir einzureden, dass ich so nicht weiterleben konnte, dass ich etwas ändern musste, dass ich einen neuen Lebensinhalt brauchte, der über Partys, Sex und Geld hinausging. Doch ich war zufrieden mit Partys, Sex und Geld. Wobei ich das Zweite mittlerweile vermisste. Ich hatte einen guten Job in der Firma meines Vaters, für die ich Logos und Werbeplakate für große Betriebe entwarf und mich um ihre Webpräsenz kümmerte. Ich verdiente reichlich Kohle und gab sie auch genauso gern für teure Autos, Getränke und Partynächte aus. Mein Vater wusste nichts davon. Er hielt mich für einen anständigen, erwachsenen Mann, der zwar ein wenig zurückgezogen und introvertiert lebte und selten in Gespräche verwickelt war – doch hey, jede Art von Künstler führte sein Eigenbrötlerdasein. Mein Vater hielt große Stücke auf mich und wollte, dass ich die Firma übernahm, wenn er sich zur Ruhe setzte. Mir war es egal. Von mir aus könnte auch mein Bruder Darian die Firma leiten. Ich stand nicht so darauf, Verantwortung zu übernehmen.

Am Abend ging ich zur Tankstelle, um mir eine Schachtel Zigaretten zu besorgen, als ich ihn traf. Einen Mann, der genauso zugerichtet aussah wie ich selbst.

Er stand vor dem Kühlregal mit den Getränken, ich stellte mich in seine Nähe und tat so, als würde ich mir eine Kaugummisorte aus dem Regal aussuchen, während ich ihn aus dem Augenwinkel beobachtete.

Sollte ich mich lieber aus dem Staub machen? Wie hoch standen die Chancen, dass ich derjenige war, der ihn so zugerichtet hatte? Und falls er Anzeige gegen mich erstattet, aber keinen Plan hatte, wer ich war, wäre es ratsamer jetzt abzuhauen. Andererseits war ich nicht die Sorte Mann, die vor irgendetwas davonlief. Ich war eher die Sorte, die mit dem Kopf voraus gegen die Wand rannte. Deswegen ging ich auf ihn zu und tippte ihm auf die Schulter.

»Hey«, sagte ich zeitgleich.

Mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck drehte sich der Mann zu mir um. Sein Veilchen und die Prellungen im Gesicht hatte ich schon von Weitem gesehen, aber seine Augen sah ich erst jetzt. Ich kannte nicht viele Menschen mit grünen Augen. Vermutlich sogar niemanden persönlich.

Er betrachtete mich mit diesen sonderbaren Augen von Kopf bis Fuß und nickte dann. »Du bist es.«

»Ja«, sagte ich. Runzelte dann aber die Stirn, weil meine Antwort irgendwie keinen Sinn ergab. Was wollte ich jetzt überhaupt von diesem Typen? Aber offensichtlich hatte sich meine Vermutung bestätigt, dass er derjenige war, mit dem ich gestern eine Konfrontation gehabt hatte, denn er schien mich zu erkennen.

»Du siehst schlimm aus«, sagte er. »Hast du deine Wunden nicht versorgt?« Ich blinzelte ihn stumm an. Meinte er das ernst? »Gegen die Blutergüsse und Schwellungen solltest du Arnika nehmen«, fügte er hinzu.

»Seh’ ich aus, als wäre ich Krankenschwester?«

»Nein.«

»Na also.« Etwas irritiert über die Entwicklung des Gesprächs verschränkte ich die Arme vor der Brust, was mir sofort einen stechenden Schmerz auf meiner rechten Seite einbrachte. Verflucht.

»Du siehst aus wie ein Zombie aus The Walking Dead«, sagte der Blonde. Er ließ echt nicht locker.

»Hast du mich so zugerichtet?«, fragte ich und ignorierte seinen Kommentar. Der Kerl brauchte gar nicht erst versuchen, irgendwelche Witze zu reißen. Ich stand nicht auf Witze.

»Du erinnerst dich nicht?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf, tat es aber lässig mit einem Schulterzucken ab, als kümmere es mich nicht.

»Also erinnerst du dich auch nicht mehr an den Grund, warum wir auf einander losgegangen sind?«

Ich verengte meine Augen zu Schlitzen. »Nein. Du?«

Er zuckte ebenfalls mit den Schultern, nahm sich eine Colaflasche aus dem Kühlfach und hob eine große Reisetasche vom Boden auf. Ich blickte ihm hinterher, als er zur Kasse ging. Ließ er mich jetzt einfach so stehen?

Ich folgte dem blonden Kerl, blieb hinter ihm stehen und betrachtete Zähne knirschend seinen breiten Rücken. Irgendetwas wurmte mich, aber ich konnte nicht genau sagen, was es war. Vielleicht die Art und Weise, wie er gefragt hatte, dass ich mich nicht mehr an den Grund für unsere Prügelei erinnern konnte? Auch wenn es mir vorher egal gewesen war, jetzt wollte ich es wissen.

Der junge Mann bezahlte und ging. Schnell bestellte ich an der Kasse meine gewünschten Zigaretten und hastete dann nach draußen an die kühle Abendluft. Gemischt mit Abgasen und dem Geruch von Benzin schlug mir der Großstadtsmog entgegen.

Ich sah mich nach Blondie um, beinahe schon in Erwartung, loslaufen zu müssen, um ihn einzuholen, um noch mehr aus ihm heraus zu bekommen. Doch ich entdeckte ihn nirgendwo. Mist! Ich fluchte laut, dann erklang neben mir ein Lachen.

Ich drehte meinen Kopf nach links und sah ihn an der Wand des Gebäudes lehnend, die Arme verschränkt, die Reisetasche vor seinen Füßen. Er schaute mich an.

»Was lachst du so blöd?«, fuhr ich ihn an und ging auf ihn zu. Wollte er noch einmal von mir verprügelt werden?

»Hast du eben nach mir Ausschau gehalten?« Ein schiefes Grinsen zierte seine aufgeplatzten Lippen.

»Nein«, knurrte ich, machte auf dem Absatz kehrt und schlug die andere Richtung ein. Er durfte selbstverständlich nicht sehen, dass er mich erwischt hatte. Wie peinlich war das denn? Im Gehen zog ich eine Kippe aus der Schachtel, zündete sie an und klemmte sie mir zwischen die Lippen. Und dann war auch schon Blondie neben mir und lief an meiner Seite. Die Sonne ging langsam unter und unsere Körper warfen lange Schatten auf den Asphalt.

»Willst du auch eine?«, fragte ich.

»Gerne.«

Ich hielt ihm die offene Schachtel hin, ohne ihn anzusehen.

»Hast du Schiss, dass ich dich anzeige?«, fragte er, offenbar belustigt.

Ich reichte ihm das Feuerzeug und blies den Rauch in seine Richtung. Nun gut, mitten in sein Gesicht, um genau zu sein, während ich das Wort »Nein« übertrieben deutlich aussprach.

Er zog an der Kippe und qualmte mir ebenfalls ins Gesicht. Der Rauch hing für ein paar Wimpernschläge wie eine weiße Wolke zwischen uns. Wir waren mittlerweile mitten auf dem Bürgersteig stehen geblieben. Starrten uns gegenseitig an, abschätzend, skeptisch, ein klein wenig feindselig, während der Rauch sich verflüchtigte.

»Hast du, oder hast du nicht?«, fragte ich ohne jegliche Emotion in meiner Stimme.

»Ich habe dich angegriffen. Nicht du mich. Also nein, ich werde keine Anzeige erstatten. Außerdem jucken mich die paar blauen Flecken nicht. Aber hey, ich glaube, deine Nase ist gebrochen.«

Ich wollte mir gerade an die Nase greifen, als ich den Schalk in seinen Augen bemerkte. Der Typ hatte vielleicht Eier. Außerdem: er hatte mich angegriffen? Weshalb?

Verfluchter Filmriss.

»Willst du ein paar Arnika Kugeln? Deine Lippe ist aufgeplatzt und ziemlich geschwollen.«

»Danke, ich weiß, wie ich aussehe. Ich brauche keinen Krankenbericht«, knurrte ich und setzte mich wieder in Bewegung. Ich blickte nur kurz nach rechts und links und ging dann über die Hauptstraße, indem ich eine kurze Lücke zwischen zwei Autos abpasste. Blondie folgte mir ohne zu zögern.

»Willst du nicht nach Hause?«, fragte ich, als wir die andere Straßenseite erreichten und ich weiter in Richtung meiner Wohnung lief.

Auf meine Frage antwortete der Kerl nicht. Ich blieb stehen und hielt ihn am Ärmel seines hellen beigefarbenen Longsleeves fest.

»Wofür die Reisetasche?«, fragte ich, als er mich irritiert ansah.

»Da sind meine Sachen drin.«

»Du verreist?«

»Kann man so sagen.«

»Sehr aufschlussreich.«

Er entriss sich aus meinem Griff und sah so aus, als würde er von oben auf mich herabschauen wollen – nur war er leider ein paar Zentimeter kleiner als ich. Nicht viele Männer reichten mir hier oben das Wasser.

»Ich habe im Moment keinen festen Wohnsitz«, sagte er, als ich schon glaubte, er würde mir nicht mehr antworten. Doch mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Eher damit, dass er die Stadt oder das Land verlassen wollte, weil er wegen irgendwelcher krummen Dinge gesucht wurde.

»Und wo schläfst du dann heute?«, fragte ich mit zusammengekniffen Augen, ahnte bereits, dass ich mir mit der Frage selbst ins Knie geschossen hatte. Seit wann interessierte es mich auch, was andere Menschen taten? Aber der Kerl war taff, hatte Eier und sah aus, als würde er bei den Frauen ganz schön beliebt sein – er erinnerte mich ein wenig an mich und ich musste feststellen, dass ich genau so einen Typen in meinem Freundeskreis schon immer gewollt hatte. Die Männer, mit denen ich momentan abends durch die Straßen zog oder mit denen ich auf Partys trank, waren größtenteils feige oder kriminelle Hohlbirnen. Mehr als mit ihnen saufen konnte man nicht.

»Vertickst du Drogen?«, fragte ich.

»Was?«

»Ob du Drogen verkaufst, habe ich gefragt.«

»Nein. Bist du ein Junkie?«

»Hast du sonst irgendwelche illegalen Substanzen bei dir? Oder wirst wegen Vergewaltigung oder Totschlag gesucht?«

Seine grünen Augen funkelten mich an und ich wusste nicht, ob er amüsiert war oder ob er mich für geisteskrank hielt.

Ich hob abwartend eine Augenbraue – er schüttelte wortlos den Kopf.

»Dann pennst du heute Nacht auf meiner Couch.«

Das war der Tag, an dem ich ihn kennengelernt hatte: den seltsamsten, eindrucksvollsten Mann dieser Welt – die wahrscheinlich einsamste Seele auf diesem gottlosen Planeten.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich ihn, als ich ihm eine Decke und ein Kissen ins Wohnzimmer brachte und ihm beides zuwarf. Aus irgendeinem Grund sahen seine Blessuren schon deutlich besser aus als meine. Vielleicht lag es auch nur am schwachen Licht der Stehlampe.

Er fing das Kissen auf, während die Decke irgendwo zwischen uns auf dem Boden landete.

»Milan. Und du?«

»Ewan.«

Ich sah ihm eine Weile beim Beziehen der Couch zu und grübelte darüber, was ich hier eigentlich tat. Das Ganze war gar nicht typisch für mich, doch ich konnte ihn ja schlecht die Nacht auf der Straße verbringen lassen.

»Willst du noch `ne Runde zocken oder `ne Serie gucken vorm Schlafen?«, fragte ich. Ich fand, ich machte mich ziemlich gut in meiner neuen Rolle als Gastgeber.

Milan ließ sich auf die Couch sinken. »Klar, gern.« Mir entging nicht, dass sein Blick wachsam blieb. Skeptisch. Ich musste mir einen Plan überlegen, wie ich ihn so einlullen konnte, dass er mir erzählte, was der Grund für unsere Prügelei gewesen war. Außerdem wollte ich wissen, warum er keine Wohnung hatte. Er sah nicht aus wie ein Obdachloser.

»Bist du pleite?«, fiel ich mit der Tür ins Haus, während ich meine Xbox anschaltete und den zweiten Controller heraussuchte.

Milan lachte auf. »Nein. Ich werde mir vermutlich bald ein Haus kaufen. Aber ich bin erst seit gestern in der Stadt und muss mich noch ein wenig umschauen.«

Ich runzelte über die Erklärung die Stirn. Wenn man vorhatte umzuziehen, dann sah man sich für gewöhnlich die Stadt an, bevor man ohne Bleibe anreiste. Doch ich sagte nichts mehr darauf, sicher meinte er es ohnehin nicht ernst. Ich hatte keine Angst vor Fremden und wenn er es wagen würde, mich nachts auszurauben, dann würde er sich wünschen, nie geboren worden zu sein. Von daher war alles in bester Ordnung. Ich wägte mich in Sicherheit, hatte mein Leben lang auch nie etwas anderes getan. Doch das würde sich sehr bald ändern.

»Kommst du nun mit oder nicht?«, brüllte ich durch die ganze Wohnung. Ich stand an der Eingangstür und wollte zum Fitnessstudio, wartete lediglich darauf, dass Milan endlich seinen Arsch bewegte. Bereits eine Woche wohnte er bei mir und die Verletzungen, die wir uns gegenseitig zugefügt hatten, waren mittlerweile verheilt. Es stellte sich heraus, dass es mit dem richtigen Mitbewohner sogar nett sein konnte, nicht ständig allein zu sein. Aber das würde ich ihm natürlich niemals sagen. Ich war schon immer ein Einzelgänger gewesen und umgab mich nur zum Feiern mit einer Gruppe von Menschen oder mit Frauen, wenn ich ein wenig Spaß und Ablenkung suchte. Im Alltag wusste ich nicht, worüber ich mich mit anderen Menschen unterhalten sollte. Einen Mitbewohner hatte ich stets für nervend und störend gehalten, doch Milan belehrte mich eines Besseren. Er stellte nicht viele Fragen und mit ihm war selbst das Schweigen nicht unangenehm. Beim Essen oder Fernsehen plauderten wir über belanglosen Quatsch und keiner von uns betrat die Privatsphäre des anderen. Wir verstanden uns auf einer Wellenlänge, als hätten wir dieselbe Frequenz.

Milan kam mit einer gepackten Sporttasche aus dem Wohnzimmer und grinste mich an. Ein für ihn typisches, einnehmendes Lächeln, das über sein halbes Gesicht ging. Ich hätte wetten können, dass er es mit diesem breiten Grinsen nicht schwer hatte, Frauen den Kopf zu verdrehen.

»Hetz doch nicht immer so«, sagte er und klopfte mir im Vorbeigehen auf die Schulter.

Ich zog die Tür hinter uns zu und folgte ihm die Treppen hinunter durch den Hausflur. Wir gingen schweigend über den Hof zu meiner Garage, während die spätsommerliche Sonne uns im Nacken brannte. Immer wieder schaute ich zu meinem blonden Begleiter. Sein Blick scannte wie so oft die Umgebung, er sah nicht wirklich unruhig aus, sein Gesicht war eine in Stein gemeißelte Perfektion, trotzdem schien er immer wachsam. Als traute er mir noch immer nicht – oder als erwartete er, dass sich jeden Moment das SEK vom Gebäude abseilen und den Innenhof stürmen würde.

Wir stiegen in meinen mattschwarzen CLS AMG und warfen unsere Taschen auf die Rückbank. Ein Teil von mir war immer noch enttäuscht, dass Milan nicht einmal ein Sterbenswörtchen über meinen Benz verloren hatte. Die meisten meiner Kollegen rasteten förmlich aus, wenn sie ihn zum ersten Mal sahen.

»Musikwünsche?«, fragte ich knapp, während ich aus der Einfahrt fuhr und Milan das AUX Kabel reichte. Er zog seinen iPod aus der Hosentasche und fünf Sekunden später ertönte eine deutsche Männerstimme, die irgendwelche kitschigen Sätze von sich gab.

»Was ist das denn für ein Mist?« Ich schielte skeptisch zum eingebauten Musikplayer, als würde ich nicht glauben, dass diese Klänge aus meinem Auto kamen. Das war doch keine Musik!

»Das ist Philipp Poisel«, antwortete Milan und da er immer noch nicht umschaltete, musste ich davon ausgehen, dass er das Lied nicht nur aus Versehen angemacht hatte.

»Ich bin keine Frau, die du mit dieser Schnulze beeindrucken musst«, murmelte ich genervt. Allein dieses langsame Gitarrengezupfe tat mir in den Ohren weh.

Milan lachte und sah aus dem Fenster. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu, während dieser Philipp davon sang, dass ihm das Wasser bis zum Hals stand. Ja, so ähnlich fühlte ich mich auch. Ich würde Milan definitiv nie wieder erlauben, die Musik auszusuchen.

Viele Menschen hatten dunkle Geheimnisse, Schatten ihrer Seele, die sie nicht gern zeigten, oder Erlebnisse ihrer Vergangenheit, über die sie nicht gern sprachen. Ich war nicht der Typ, der in den Geheimnissen anderer Leute herumschnüffelte. Ich wollte schließlich auch nicht, dass irgendein Trottel auf die Idee käme, seine Nase in meine Angelegenheiten zu stecken. Deswegen respektierte ich es, wenn Milan nicht von seiner Vergangenheit sprach, und es war mir egal, dass ich nicht wusste, was er getan hatte, bevor er in die Stadt gekommen war. Er könnte auf der Flucht vor etwas sein oder genauso gut auch auf der Suche. Ein Abenteurer, der die Welt bereiste. Seiner Art zu leben, haftete das Gefühl von Freiheit an, das man beinahe mit bloßem Auge sehen konnte. Zumindest kam es mir so vor. Selbst die Frage, weswegen wir uns an jenem Abend betrunken geprügelt hatten, war nicht mehr wichtig. Ab und zu ertappte ich mich jedoch dabei, wie ich trotzdem noch darüber nachdachte. Wie jetzt gerade, als ich realisierte, dass ich ihn die ganze Zeit beim Seilziehen beobachtete. Schnell wandte ich den Blick von seinem Spiegelbild ab zu meinem eigenen verschwitzten Körper im Spiegel vor mir. Hoffentlich hatte er nicht gemerkt, dass ich ihn die ganze Zeit angestarrt hatte. Nachher hielt er mich noch für eine Schwuchtel.

»Kommst du mit zum Bankdrücken?«, fragte ich und ließ die Seile los. Ich ging zu meiner Trinkflasche und nahm einen großen Schluck. Milan gesellte sich zu mir und warf sich sein Handtuch um den Nacken.

»Na komm. Wie viel schaffst du?«, fragte er mich und ging voraus. »Neunzig? Hundert?«

Ich lachte hart auf. »Ich glaub’, du unterschätzt mich, Kleiner. Ich habe dich wohl nicht stark genug verdroschen.«

Milan strich sich mit seiner freien Hand die blonden Haare aus der Stirn. »Wollen wir wetten?« Er drehte sich zu mir um und seine grünen Augen funkelten siegessicher. Vielleicht auch angriffslustig wie die eines Raubtiers.

Ich verzog meine Lippen zu einem schiefen Grinsen. Wetten waren genau mein Ding. »Was willst du wetten?«

»Ich drücke mehr als du. Wenn ich gewinne, gibst du mir einen Döner aus.«

Einen Döner? Was ein läppischer Preis. Wie gut, dass ich Besseres im Sinn hatte. »Abgemacht. Wenn ich gewinne, erzählst du mir, warum du mich verprügeln wolltest.«

Milan gewann. Ich wusste nicht, wie er es anstellte. Sein Körperbau ließ zwar vermuten, dass er nicht gerade unsportlich war, doch im Gegensatz zu mir sah er aus wie ein Spargeltarzan. Vielleicht übertreibe ich ein bisschen, aber ihr wisst, was ich meine. Dieser Gedanke ließ vielleicht auf meine Arroganz oder Oberflächlichkeit schließen, doch das war mir egal. Ich sah mich eher als nüchternen Realisten. Ich wusste, was ich hatte. Ich wusste, was ich konnte. Normalerweise. Denn ich hatte gedacht, Milan schlüge ich mit links.

»Hast du mich gewinnen lassen, weil du Hunger hast?«, höhnte mein neuer Kumpel, als wir auf dem Weg in die Umkleiden waren. Seine Frage war eine Antwort nicht wert, deshalb gab ich nur ein missmutiges Grunzen von mir. Ich hasste es zu verlieren – wer nicht? – aber ich musste zugeben, dass es eine interessante Abwechslung darstellte, einen Kumpel zu haben, der stärker war. Auch wenn Stärke nicht alles war und in unserer Zeit ohnehin keinen Mann mehr weit brachte.

»Ich hoffe, du erstickst gleich an deinem Döner.« Ich schloss meinen Spind auf und holte ein Handtuch und mein Duschgel heraus. Neben mir gluckste Milan belustigt.

»Du bist echt ein schlechter Verlierer, Mann. Eine kalte Dusche wird dir guttun.«

Eine kalte Dusche würde ihm guttun. Ja klar, damit meinte ich vermutlich hauptsächlich mich selber.

Er zog mich an wie eine zweite Schwerkraft. Ihn anzusehen, war ein Naturgesetz. In seiner Nähe zu sein, meine Bestimmung. Fast sieben Tage hatte ich mit ihm verbracht, die Wohnungssuche aufgeschoben, weil etwas an ihm anders war. Ich wollte herausfinden, was es war, was dieses Gefühl zu bedeuten hatte, das wie eine Naturgewalt über mich hereingebrochen war, bevor ich weiterzog.

Fast sieben Tage hatte ich nun diesen Mann vor meiner Nase – und heute war der erste Tag, an dem ich mehr sehen konnte, als ich sollte. Ewan wusste nicht, wer ich war. Und Ewan wusste nicht, dass ich ihn anziehend fand. Zwei Tatsachen, die mich eigentlich davon abhalten sollten, hinzusehen. Denn wenn er auch nur eines der beiden Dinge wüsste, hätte er sicher etwas dagegen, mit mir in einer Gemeinschaftsdusche zu stehen. Nackt – wie es beim Duschen für gewöhnlich üblich war. Ich hatte auch nie ein Problem mit Gemeinschaftsduschen gehabt, damit, mich nackt zu zeigen, oder damit, andere Männerkörper zu ignorieren. Die meisten ließen mich völlig kalt. Doch aus irgendeinem Grund (wie oben erwähnt: Naturgewalt) konnte ich seinen nicht ignorieren. Und ich musste verdammt aufpassen, dass er meine Blicke nicht bemerkte.

Noch mehr musste ich darauf aufpassen, dass das, was ich sah, mir nicht zu sehr gefiel.

Ich holte tief Luft und hielt meinen Kopf dann wieder unter den kalten Wasserstrahl. Meine Augen geschlossen. Das Wasser rieselte über mein Gesicht, trommelte auf meine Augenlider und floss mein Kinn hinab. Ich versuchte, das Bild in meinen Gedanken zu verscheuchen. Die Kälte tat ihr Übriges, um zu verhindern, dass hier etwas größer wurde, als es sollte.

Ich war froh, dass ich unsere Wette gewonnen hatte. Natürlich hatte Ewan nie eine realistische Chance gegen mich gehabt, aber ich war dennoch erleichtert. Warum wollte er auch immer noch wissen, was vor einer Woche im Club passiert war? Ich hatte gedacht, unsere Schlägerei juckte ihn nicht mehr. Besoffene fanden schließlich dauernd Gründe, um sich zu prügeln. Ich war nicht scharf darauf, ihm zu verraten, dass ich ihm eine reingehauen hatte, weil er mich eine Schwuchtel genannt hatte.

»Hey Milan.«

Ich öffnete die Augen und drehte meinen Kopf. Sein Blick brach durch jahrzehntealte Mauern und mein Herz klopfte so laut, dass es mir vorkam, als hätte es die letzten hundert Jahre regungslos in meiner Brust verbracht.

»Bist du fertig?« Ewan hatte sein Handtuch um seine Hüften gewickelt und schüttelte sein klitschnasses Haar.

Wortlos trat ich aus dem eisigen Wasserstrahl und griff nach meinem Handtuch. Als ich hinter ihm in den Umkleideraum zurücklief, meinen Kiefer angespannt, beim Anblick seines nackten, breiten Rückens, nahm ich mir etwas vor.

Ich brauchte eine eigene Wohnung. Doch vorher würde ich herausfinden, wer Ewan war. Was er war. Es war kaum möglich, dass ein einfacher Mensch eine solche Anziehungskraft auf mich ausübte. Ich streifte schon zu lange durch das Leben, war immer der Außenseiter, derjenige, der nicht dazugehörte. Mir war nicht klar, ob die Sinnlosigkeit der Jahrhunderte mir etwas genommen hatte, oder ob ich ohne dieses Etwas auf die Menschenwelt gekommen war. Aber ich suchte es, in jedem Jahrzehnt, an jedem neuen Ort, an den ich zog. Ich war ein Reisender auf der Suche nach einem Teil meiner Selbst. Und nun, endlich, schien ich es gefunden zu haben: im Körper eines einfachen, unwissenden, mürrischen Typen namens Ewan.

Ich fühlte mich zwar, als hätte ich es gefunden, doch was genau dieses Etwas war, wusste ich nicht. Aber ich würde es herausfinden. Ich werde deine harte Schale knacken, mein wortkarger neuer Freund.

Ich war gerade eingeschlafen, als mich ein Klingeln hochschrecken ließ. Verwirrt blickte ich mich in der Dunkelheit um, griff nach meinem Handy und sah nach der Uhrzeit. Kurz vor Mitternacht.

Erneut klingelte es an der Haustür.

»Wer zur Hölle -?«, brummte ich und hievte mich aus dem Bett. Ich zog mir noch schnell eine Jogginghose und ein T-Shirt über, bevor ich aus dem Schlafzimmer stolperte. Im Wohnzimmer brannte bereits Licht. Milan saß auf der Couch und blickte mir argwöhnisch entgegen. Sein blondes Haar zerzaust, seine Augen schläfrig zusammengekniffen.

»Erwartest du Besuch?«

»Nein.« Ich lief an ihm vorbei in den Flur und zog gedankenlos die Wohnungstür auf. Davor stand jemand, den ich nur allzu gut kannte. Ein junger dürrer Mann Mitte zwanzig mit zerzausten braunen Locken. »Joshua? Was? Ich hatte doch gesagt, ich mache bei deinem Scheiß nicht mehr mit, ich –« Ich hielt inne, als ich in sein bleiches ausdrucksloses Gesicht sah. »Josh, was ist?« Irgendetwas stimmte nicht und mein vom Schlaf benebeltes Gehirn brauchte zu lange, um das zu realisieren.

»Hil...fe«, krächzte der junge Mann vor der Tür und auf einmal sackte er in sich zusammen. Fiel auf den Boden wie ein Sack Kartoffeln.

»JOSH!« Ich ging in die Hocke und musterte voller Panik meinen bewusstlosen Kumpel. Der Geruch von Alkohol umhüllte ihn, doch das war nicht der Grund für seinen Zusammenbruch. Sein weißes T-Shirt war voller Blut. In seinem Bauch steckte ein Messer. »Scheiße verdammt.«

Ich sprang auf die Füße und rannte zur Brüstung des Treppengeländers. »Hey!«, schrie ich und sah abwechselnd nach oben und nach unten. Lauschte, doch es blieb still. Und das Treppenhaus leer. Josh war allein hier. Hatte er sich die ganzen Stufen verwundet hier hochgeschleppt? Wer hatte ihn angegriffen? Und warum?

Ich stürzte wieder zurück zu meinem Kumpel, als Milan plötzlich im Türrahmen stand.

»Was ist los?«, fragte er. Seine schläfrige Verwirrung war einer Wachsamkeit gewichen, die er mit seinem ganzen Körper ausstrahlte.

Ich sah hoch und lehnte mich dabei etwas zurück, ermöglichte Milan damit einen Blick auf den blutbeschmierten Oberkörper meines Freundes. Mehr brauchte es nicht.

»Wir tragen ihn rein. Komm«, ordnete Milan mit fester Stimme an. Er packte mit an und half mir, Josh in meine Wohnung zu tragen. »Vorsichtig«, sagte er und manövrierte uns zum Sofa, auf dem wir Josh ablegten. Seine Lider waren geschlossen, sein Gesicht so bleich, dass ich Sorge hatte, er würde uns jeden Moment wegsterben.

»Das Messer«, sagte ich. »Sollen wir es rausziehen?«

Milan schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, damit könnten wir nur noch mehr Schaden anrichten. Geh und ruf sofort einen Krankenwagen.«

Das musste er mir nicht zweimal sagen. Ich hastete in mein Schlafzimmer für mein Handy, eine Minute später sagte mir die freundliche Frauenstimme, dass ein Rettungswagen unterwegs sei.

»Was ist passiert?«, fragte Milan, als ich zurück ins Wohnzimmer kam. Josh lag immer noch regungslos auf der Couch und blutete mir alles voll.

»Ich weiß es nicht.« Ich stöhnte genervt und hockte mich neben Josh. Vergeblich versuchte ich, ihn wachzurütteln. In was für eine Scheiße hatte der Kerl sich bloß wieder reinziehen lassen?

»Kennst du den Typen denn?«

»Ja, wir waren mal Freunde. Er hatte aber dauernd Probleme mit Alkohol und dem Dealen und so.«

Milan nickte, als kenne er genug solcher Typen. »Er wird schon wieder. Du solltest ihn aber lieber nach Drogen durchsuchen, bevor der Rettungswagen hier ist.«

Stimmt. Josh würde vermutlich so schon eine Menge Probleme bekommen, wenn er später wegen seiner Verletzung ausgefragt werden würde. Da mussten sie ihn nicht noch mit irgendwelchen illegalen Substanzen finden.

Ich durchsuchte die Taschen seiner Jeans. Tatsächlich fand ich in den hinteren mehrere Tüten Kokain und eine Knarre, die zwischen seinem Hosenbund und seinem Steißbein eingeklemmt war.

»Shit«, fluchte ich. Josh hatte bestimmt keine Erlaubnis, eine Waffe mit sich zu führen. Wieso zur Hölle lief er überhaupt mit einer Knarre herum?

»Check auch seinen Oberkörper«, wies Milan an.

Als ich Joshuas Oberkörper betastete, fand ich heraus, was Milan damit meinte. Ich schluckte hart und zog vorsichtig an der Seite sein T-Shirt hoch. Um seine Mitte war noch weiteres Kokain getaped.

»Ich brauch deine Hilfe. Schnell«, sagte ich. Schweiß stand mir auf der Stirn. Wie sollten wir Josh das T-Shirt ausziehen, ohne das Messer oder seine Wunde zu berühren? Und wir hatten nicht mehr viel Zeit. Jede Minute könnte der Krankenwagen kommen.

Milan kniete sich zu mir auf den Boden und fühlte dann Joshuas Puls, legte sein Ohr auf seine Brust. »Er wird das überleben«, sagte er dann und griff nach dem Saum des T-Shirts. Mit einem Ruck zerriss er den Stoff und legte Joshuas Oberkörper frei, der eine reine Koksplantage war.

»Los, schnell.«

Wir entfernten die Drogen, die sicherlich einen Wert von mehreren tausend Euro hatten. Mittlerweile hatte ich sein Blut nicht nur im ganzen Wohnzimmer, sondern auch an den Händen. Die tiefrote Farbe brandmarkte mich, schien mich zu verhöhnen.

»Versteck es!«

Wohin sollte ich mit dem Zeug? Ins Schlafzimmer? Ins Badezimmer? Ich entschied mich für Letzteres und versteckte die Waffe und das weiße Pulver inmitten eines Stapels Handtücher. Dann wusch ich meine Hände mit so heißem Wasser, bis sie schmerzten. Joshua hatte Probleme schon immer angezogen wie Scheiße die Fliegen. Vermutlich sollte ich meinen Bruder Darian anrufen und ihm Bescheid geben. Sie waren gut befreundet, erst durch ihn hatte ich Josh überhaupt kennengelernt. Ich hatte das Gefühl, dass mein Bruder immer irgendwie auf ihn aufgepasst hatte. Oder es zumindest versuchte.

Ich wanderte erneut ins Schlafzimmer, hob mein Smartphone vom Bett und suchte in meinen Kontakten die Nummer meines Bruders. Es war ewig her, dass wir miteinander gesprochen hatten.