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Über unverbrüchliche Freundschaften, die weltveränderte Kraft von Gemeinschaft und den unschätzbaren Wert von Freiheit Lai wächst in einem trubeligen Arbeiterviertel in Peking auf. Ihr Vater redet nicht, die Mutter interessiert sich nur für das Geschehen auf dem Hausflur, einzig die Großmutter ist wirklich präsent, kompromisslos in ihrer Liebe zu ihren Enkeln. Bei einem Nachbarschaftsstreich lernt die junge Lai die Härte des Regimes kennen. Sie zieht sich zurück in die Welt der Bücher und erlangt ein Stipendium an der renommierten Peking-Universität. Dort eröffnet sich ihr eine neue Welt, in der die Meinung frei gesagt wird. Während sich der Widerstand gegen das Regime formiert, findet Lai ihre eigene Stimme und Freunde, die an ihrer Seite stehen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. »Ergreifend und kraftvoll.« DAILY MAIL »Ein eindringlicher Roman. Lai Wen erweckt in dieser zutiefst persönlichen Erzählung die Vergangenheit zum Leben.« PUBLISHERS WEEKL »Ein ergreifendes Epos über die Entwicklung eines politischen Bewusstseins in einer Zeit großer Gefahr.« LOS ANGELES TIMES »Ein bemerkenswerter Roman, den man nicht mehr vergisst, und der zeigt: Geschichte wird von Frauen geschrieben.«KRISTINA LUNZ
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Himmlischer Frieden
LAI WEN wurde 1970 in Peking geboren. Sie lebt heute mit ihrem Mann und zwei Töchtern in England, nachdem sie China nach den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 verlassen hat. Ihr international gefeierter Roman Himmlischer Frieden basiert auf ihrem eigenen Leben.JUDITH SCHWAAB ist Lektorin und Übersetzerin aus dem Englischen und Italienischen, unter anderem von Anthony Doerr, Jojo Moyes und Sue Monk Kidd. Für ihre Übersetzung von Chimamanda Ngozi Adichies Blauer Hibiskus erhielt sie 2020 den Internationalen Hermann-Hesse-Preis.
»EIN BEMERKENSWERTER ROMAN, DEN MAN NICHT MEHR VERGISST UND DER ZEIGT: GESCHICHTE WIRD VON FRAUEN GESCHRIEBEN.« KRISTINA LUNZLai wächst in einem trubeligen Arbeiterviertel in Peking auf. Ihr Vater redet nicht, die Mutter interessiert sich nur für das Geschehen auf dem Hausflur, einzig die Großmutter ist wirklich präsent, kompromisslos in ihrer Liebe zu ihren Enkeln.Bei einem Nachbarschaftsstreich lernt die junge Lai die Härte des Regimes kennen. Sie zieht sich zurück in die Welt der Bücher und erlangt ein Stipendium an der renommierten Peking-Universität. Dort eröffnet sich ihr eine neue Welt, in der die Meinung frei gesagt wird. Während sich der Widerstand gegen das Regime formiert, findet Lai ihre eigene Stimme und Freunde, die an ihrer Seite stehen auf dem Platz des Himmlischen Friedens.Ein eindringlicher Roman über die weltverändernde Kraft von Gemeinschaft und den unschätzbaren Wert der Freiheit.
Lai Wen
Roman
Aus dem Englischen von Judith Schwaab
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Tiananmen Square bei Swift Press, London© 2024 by Lai Wen© der deutschsprachigen Ausgabe 2025 by Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 BerlinAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected] powered by pepyrusISBN:978-3-8437-3565-0
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
ERSTER TEIL
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
ZWEITER TEIL
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DRITTER TEIL
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
VIERTER TEIL
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG
SIEBENUNDDREISSIG
ACHTUNDDREISSIG
NEUNUNDDREISSIG
EPILOG
BRIEF DER AUTORIN
Anhang
DANKSAGUNG
Bibliografie
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
ERSTER TEIL
Für alle Kinder der Revolution
Eine Flamme brennt am hellsten, kurz bevor sie erlischt.
Meine früheste Erinnerung ist die an meine Großmutter. Ich weiß noch, wie sie roch. Eine Mischung aus Jasmin und dem erdigeren Geruch des Lederöls, das sie benutzte, wenn sie aus Tierhaut Pantoffeln für die Nachbarn auf unserem Flur nähte. Auch ihr Atem war so: ein warmer und süßer Hauch an meinem Gesicht, mit einer winzigen säuerlichen Note. Vor allem jedoch sind mir ihre Hände im Gedächtnis geblieben. Die knotigen Finger, die geschickt mit dem Leder umgingen oder blitzschnell Reis ins kochende Wasser streuten, ohne sich an der Dampfwolke zu verbrennen.
Außerdem erinnere ich mich – damals kann ich nicht älter als zwei oder drei Jahre gewesen sein –, wie mich die dicken dunkelroten und grünlichen Venen faszinierten, die wie Weinreben auf jenen fleckigen, abgearbeiteten Handrücken wuchsen. Manchmal griff meine Großmutter dann nach meiner kleinen Hand – die viel leichter und glatter war – und legte sie in die ihre, zog mich damit in ihren Bann. Doch vor allem spürte ich die Wärme, die ihre ledrige Haut verströmte und auf meine Hand ausstrahlte. Und ich fühlte mich sicher und beschützt.
Die Falten auf ihrer Stirn, die schlaffen Wangen – diese unschönen Einzelheiten stießen mich nie ab, obwohl die Boten des Alters Kinder manchmal erschrecken können. Vielmehr waren das Gesicht meiner Großmutter, ihr Körper, ihr Wesen wie eine alte Landkarte, vertraut und fremd zugleich, die ich immer wieder mit meinen Augen und Fingern erkunden konnte. Denn ich berührte oft ihr Gesicht, fuhr mit meinen kleinen Fingern über ihre schmalen grauen Augenbrauen, strich sanft über die dicken Haarstoppeln, die aus ihrem Kinn wuchsen und die mich aus irgendeinem Grund immer in gute Laune versetzten. Manchmal zupfte ich daran und brachte meine Großmutter zum Niesen. Das trug noch mehr zu meiner guten Laune bei, und ich kicherte, das fröhliche, endlose Glucksen eines kleinen Mädchens. Meine Großmutter – die hingegen eine feierliche und gefasste Miene zur Schau trug – sah mich an, wie ich mich vor Lachen ausschüttete, und nur das winzige Zucken ihrer Mundwinkel und das Funkeln ihrer graublauen Augen ließen erahnen, dass sie gleich lächeln würde.
Bei meinen Eltern lagen die Dinge anders. Sie waren mir verbunden, so wie eine chinesische Familie in den Siebzigerjahren ihrer Tochter eben verbunden war: eine freundliche Zuneigung, gepaart mit einer gewissen Zurückhaltung (mein Bruder war damals noch nicht auf der Welt). Vor allem jedoch waren sie … vielleicht sollte ich es distanziert nennen. Mein Vater war ein freundlicher Mann, stets auf Moral bedacht. Doch meine ganze Kindheit hindurch blieb er mir fremd, obwohl ich ihm jeden Tag begegnete: am Morgen, wenn ich zum Frühstück geweckt wurde, und am Abend, wenn er von der Arbeit nach Hause kam.
Manchmal stapfte ich durch den Flur unserer kleinen, hellhörigen Wohnung, in Gedanken verloren, in Gespräche mit einer erfundenen Freundin oder in Streitigkeiten mit eingebildeten Widersachern verstrickt, und wurde urplötzlich in die Wirklichkeit zurückgeholt, weil ich ihm in die Arme gelaufen war. Meinem Vater. Heute weiß ich, dass er eher klein war, hager und doch von kompakter Statur, als Kind aber lebt man in einer Welt von Riesen, und mein Vater war der größte Riese von allen. Vielleicht war er das in meinen Augen deshalb, weil seine Strenge so riesig war; wenn wir uns auf dem Flur trafen, blickte er ernst auf mich herab, als wäre er statt seinem eigenen Fleisch und Blut einem wildfremden Menschen in Miniaturform begegnet.
Mein Vater spähte mich blinzelnd an, als wäre er sich nicht ganz sicher, wer ich war; um mir dann, während das Schweigen größer und größer wurde, murmelnd eine Frage zu stellen: »Hast du … hast du … deine Hausaufgaben schon gemacht?« Oder: »Bist du mit deiner Arbeit fertig?« Als Fünfjährige waren meine Hausaufgaben mehr als überschaubar, doch ich nickte trotzdem eifrig, denn ich war mir in jenen Momenten sicher, man würde mich noch am selben Abend des Hauses verweisen, wenn ich mich nicht gefügig zeigte. Natürlich hatten meine Eltern in keiner Weise so etwas angedeutet, doch irgendwie hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, dass genau diese Gefahr drohte. Es war eine der vielen Ängste, die ich hatte.
Im Rückblick denke ich, dass mein Vater genauso panische Angst davor hatte, mir zu begegnen, wie umgekehrt. Deshalb sagte er auch das, was ihm als Erstes in den Sinn kam. Er war Wissenschaftler, genauer gesagt Kartograf – er beschäftigte sich mit Landkarten und Geologie. Eine eher nichtssagende Tätigkeit, die allerdings gut zum ebenso präzisen wie harmlosen Wesen meines Vaters passte. Trotzdem hatten Leute wie er während Maos Kulturrevolution unter Verfolgung gelitten. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Lehrern, Technikern und Intellektuellen hatte damals ihr Leben verloren, weil man sie für entartete, bourgeoise Spießer hielt, und meiner Vermutung nach hatte mein Vater die Angst und Ungewissheit jener Zeit niemals ganz abgelegt. Sie prägte ihn, hielt Einzug in jeden Aspekt seines Lebens. Selbst in die Beziehung zu seiner Tochter.
Ich wuchs in den Nachwehen des Maoismus auf – nach dem Tod des Großen Steuermanns –, weshalb jene Angst für mich nicht real war, zumindest nicht bis zu den Ereignissen etwa fünfzehn Jahre später. Doch meinem Vater war es nie gelungen, aus dem Schatten der Furcht herauszutreten.
Vielleicht linderte mein Vater seine Angst, indem er es zuließ, dass er an Kontur verlor und sich in die unbestimmte und abstrakte Welt der Tabellen und Diagramme zurückzog, von denen sein Arbeitszimmer voll war. Zu diesem Ort hatte das umtriebige Chaos des Familienlebens keinen Zutritt: die schmutzigen Windeln und das auf dem Teppich verstreute Spielzeug; das Gequengel eines Krabbelkindes; die trotzig zu ihm aufblickenden kleinen Gesichter, erwartungsvoll und empört zugleich, mit Rotz und Tränen verschmiert.
Meine Mutter ging mit ihren Ängsten anders um. Sie war eine zupackende Person, die versuchte, jeden Aspekt und jede Wendung im Leben ihrer Familie zu überwachen. Sie sorgte dafür, dass wir uns alle um Punkt sechs Uhr abends um den Tisch versammelten und dass die Servietten, die wir benutzten, akkurat auf unserem Schoß ausgebreitet waren. Während der Mahlzeit wurden wir davon in Kenntnis gesetzt, was den Nachbarn, die auf unserem Flur lebten, widerfahren war, wir erfuhren von den Leistungen, derer sie sich brüsteten, und den Skandalen, die sich hinter verschlossenen Türen abspielten. Insbesondere von den Skandalen. Meine Mutter war erfasst von einer überbordenden Energie; einer Lebenskraft, die wie ein Tsunami jede Hürde, die sich ihr in den Weg stellte, niederreißen und überwinden konnte. Sie speiste sich aus Klatsch und Tratsch, eine Antriebskraft, die sie einsetzte, um uns alle abzufüttern und dafür zu sorgen, dass unsere Kleidung sauber war und uns niemand auf unserem Lebensweg in die Quere kam. Das wurde mir allerdings erst viel später klar. Damals empfand ich meine Mutter einfach nur als übergriffig und lästig.
Am Ende der Kulturrevolution war mein Vater degradiert worden, doch es war ihm gelungen zu überleben. Kurze Zeit war er inhaftiert gewesen, schaffte es aber, wieder eine Anstellung zu bekommen. Ich vermute, er gehörte einfach zu denen, die Glück hatten. Bis zum heutigen Tage weiß ich nicht, welche Demütigungen – oder Schlimmeres – er hatte erdulden müssen. Das war etwas, das seiner Familie zu offenbaren er niemals auch nur in Erwägung gezogen hatte, vermutlich auch, weil zu dieser Familie damals nur weibliche Wesen gehörten. Meine Mutter war jedoch davon überzeugt, dass die Ursache seiner Leiden – die Ursache unserer aller Leiden – schlicht und ergreifend ein zufälliger Fehler in der ansonsten unfehlbaren Maschinerie der Bürokratie war. In ihren Augen griff die Regierung manchmal allzu hart durch, doch sie war gerecht, und ihre Autorität und Macht waren stets auf das Beste der Menschen ausgerichtet. Als Kind teilte ich die Meinung meiner Mutter, dass die chinesische Regierung die beste von allen sei, in jeder Hinsicht den Mächten des westlichen Imperialismus überlegen, die danach strebten, ihr Ende herbeizuführen. In jeder Radiosendung wurde verkündet, dass wir, das chinesische Volk, die Fahne der Menschlichkeit schwenkten, wenn wir für eine vom Klassenjoch befreite Gesellschaft kämpften. Derlei sogen wir in jungen Jahren auf wie die Muttermilch, so wie die amerikanischen Kinder jeden Morgen in der Schule strammstanden, um ihrer Flagge die Treue zu schwören.
Dennoch frage ich mich im Rückblick, wie sehr die gutgläubige und begeisterte Ergebenheit, die meine Mutter dem Staat entgegenbrachte, zur Schwächung meines von Erschöpfung gezeichneten Vaters beitrug, dem das Leben und der Staat, dem er dienen wollte, schwer zugesetzt hatten. Gewiss blieb die bedingungslose Begeisterung für den Status quo vonseiten meiner Mutter nicht ohne Wirkung. Vielleicht hatte mein Vater sogar gelegentlich mit Verärgerung darauf reagiert. Ein kurzes Aufblitzen von Gefühlen, die zu unterdrücken er sein Lebtag lang gelernt hatte. Doch grob war er nie geworden.
Auf unserem Flur kam es nämlich durchaus vor, dass Männer ihren Frauen gegenüber handgreiflich wurden. Manchmal hörte man die Streitigkeiten mit an; man nahm den Moment des Verstummens wahr, bevor eine Hand auf dem Gesicht einer Frau landete, und den schrillen Schrei, der darauf folgte. Doch selbst die malträtierten Frauen auf unserem Flur bemühten sich darum, Anstand zu wahren, weil sie das Gefühl hatten, über gewisse Dinge redeten respektable Menschen nicht, und stritten den Nachbarn gegenüber alles ab.
Bei diesen Gelegenheiten übte sich das gesamte Stockwerk in einer ebenso sonderbaren wie surrealen Scharade. Alles sei bestens, wiegelte man ab; nur die Ecken der Türen seien, wie Ungeheuer in einem alten chinesischen Schauspiel, urplötzlich aus den Fugen geraten und hätten überraschend einer Frau, die doch nur ihren alltäglichen Pflichten nachging, einen Schlag versetzt. Die Winkel eines Schrankes oder die Kanten eines Bettes – in all diesen Dingen lag gleichermaßen Gefahr. Die Männer hingegen, mit denen diese Frauen zusammenlebten, waren über jeden Zweifel erhaben.
Ein Kind versteht und verarbeitet solche Dinge, ohne sie in einen bewussten Zusammenhang zu stellen. Ich begriff, dass Frauen gelegentlich verprügelt wurden, und ich wusste auch, dass das nicht gut war. Mir war bekannt, dass die Erwachsenen in meiner Umgebung einem solchen Verhalten stirnrunzelnd begegneten, aber nicht darüber sprachen. Und doch geschah es. Ich erinnere mich, selbst als junges Mädchen gedacht zu haben, es hätte die grelle Umtriebigkeit meiner Mutter vielleicht dämpfen und ihre Zwanghaftigkeit, unser Leben bis ins kleinste Detail mit ihrem ausufernden Sinn für Anstand und Ansehen zu regeln, in gewissem Maße außer Kraft setzen können, wenn mein Vater ihr auch nur einmal eine Ohrfeige gegeben hätte. Wenn er, nur ein einziges Mal, ihren nie enden wollenden Fluss des skandallüsternen Klatsches und des Herumkommandierens unterbrochen hätte.
Doch das tat er zum Glück nie. Was er tat, war in gewisser Weise noch schlimmer: Er entzog sich. Er hatte gelernt, sich aus der Welt um ihn herum zu lösen. Von ihm blieb nur die graue Hülle eines Mannes übrig, der mir uralt vorkam, obwohl er damals kaum älter gewesen sein kann als Anfang dreißig. Ein Mann, dem man die Substanz aus dem Leib geprügelt hatte. Bis zum heutigen Tage weiß ich nicht, was ihm während jener Zeit vor Maos Tod widerfahren war. Er war inhaftiert gewesen. Doch hatte man ihm körperlich etwas angetan? Ihn misshandelt? Alles, was ich weiß, ist, dass er als Mensch irgendwie kleingemacht worden war. Selbst nach all diesen Jahren, und obwohl er nicht mehr da ist, habe ich noch immer großes Mitgefühl mit ihm.
Während mein Vater angesichts des überwältigenden Furors meiner Mutter nur ein schwaches Abbild seiner selbst war, war meine Großmutter ein ganz anderes Kaliber. Anders als die Tochter, der sie das Leben geschenkt hatte. Für mich hatte es den Anschein, als wäre sie – im Gegensatz zu meiner Mutter, deren Kompass immer in Richtung Ehrbarkeit ausschlug – von Natur aus eine Rebellin.
Geboren war sie im Jahre 1921. Ihre Geburt fiel mit einer Periode der Modernisierung in China zusammen, nachdem die letzte Kaiserdynastie geendet hatte, doch meine Großmutter war auf dem Lande aufgewachsen, wo die Vergangenheit noch immer ihre sonderbare und geisterhafte Macht ausübte. Ihre Eltern hielten an den Sitten und Gebräuchen fest, die man ihnen eingetrichtert hatte, und so ließen sie die winzigen Zehen ihrer Tochter brechen, nach innen biegen und mit Bandagen abbinden. Doch meine Großmutter hatte dagegen aufbegehrt, hatte Nacht für Nacht geschrien und sich so lange der Prozedur widersetzt, bis ihre Mutter und ihr Vater irgendwann resignierten und davon abließen. Als meine Großmutter endgültig die Verbände von ihren Füßen löste, taten ihre Eltern so, als bemerkten sie es nicht.
Nun besaß meine Großmutter Füße, die aus der Reihe tanzten. Sie waren größer als die Lotusfüße, die man mit dem Abbinden hatte erreichen wollen, aber kleiner als Füße, die sich normal entwickelt hätten. Deshalb fand sie es schier unmöglich, gut sitzende Schuhe zu bekommen. Das war auch der Grund, warum sie irgendwann begonnen hatte, selbst welche zu nähen. Damals war ihr das nicht bewusst, doch es gab eine ganze Generation von Mädchen, die sich dem Binden ihrer Füße mit genau der gleichen Kühnheit und Entschlossenheit widersetzt hatten, die sie selbst an den Tag gelegt hatte. Eine ganze Generation von Mädchen, die keine Schuhe fanden, die ihnen passten.
Im Laufe der Zeit entwickelte meine Großmutter ein besonderes Geschick im Anfertigen von Schuhen für Frauen mit solchen »Befreiungsfüßen«. Die Fähigkeit meiner Großmutter, mit Nadel und Faden umzugehen und Bekleidung herzustellen – ein Bereich, der als traditionell weiblich angesehen wird –, wurde so zu einem Akt der weiblichen Rebellion. Ihr ganzes Leben war von vielen kleinen Momenten des Aufbegehrens durchzogen, die sich oft in ungehobelter und wenig damenhafter Weise ausdrückten. Brüllendes Gelächter, ein anzügliches Zwinkern oder sogar ein gewaltiges …
»UÄÄRRRP!«
Ich bin gerade dabei, einen Happen gebratenen Reis zwischen Stäbchen in Richtung meines Mundes zu manövrieren, doch der Rülpser meiner Großmutter ist so laut und unüberhörbar, dass ein paar Augenblicke lang alle fünf Menschen am Tisch erstarren. Mein Vater verzieht das Gesicht zu einer Miene, die ich noch nie an ihm gesehen habe, sein Mund steht leicht offen, ein Ausdruck irgendwo zwischen Verwirrung und Bestürzung. Meine Mutter – die sich gerade wortreich über die Tochter von Nachbarn ausgelassen hat, die die Frechheit besitzt, Sandalen ohne Socken zu tragen (was im Regelwerk meiner Mutter als sicheres Zeichen für jugendliche Verfehlung gilt) – ist so perplex angesichts des großmütterlichen Bäuerchens, dass es ihr kurzzeitig die Sprache verschlägt. Ihre Augen blinzeln heftig, während sie versucht, diese ebenso plötzliche wie ungehörige Einmischung bei Tisch mit all ihren Auswirkungen zu verarbeiten.
Mein Bruder Qiao – der damals knapp zwei Jahre alt war – stoppte ebenfalls für einen Moment sein begeistertes Mampfen, und etwas Essen fiel aus seinem Mundwinkel. Auf seinem Gesicht erblühte das Grinsen eines Kindes, das merkt, dass sich etwas in seiner Welt verändert hat –, und auch wenn er nicht recht begriffen hatte, worin diese Veränderung eigentlich bestand, erfüllte sie ihn doch mit Begeisterung. Und dann war da noch zu guter Letzt die Verursacherin selbst, meine Großmutter, deren breiter, stämmiger Leib und ausdrucksstarkes Gesicht sich entspannt hatten, während sich ihr Mund zu einem winzigen Lächeln verzog und sie sich wie eine große Kröte in den Stuhl sinken ließ. Mit Schalk in den Augen betrachtete sie meine Mutter.
Meine Mutter wurde puterrot. Sosehr sie ihre Umgebung unter Kontrolle hatte, wenn es um Zeitpläne, die Bekleidung ihrer Kinder oder die Wortwahl ihrer Familie ging, war sie in ihrem eigenen Mienenspiel schnell überfordert, wenn es eigentlich angebracht gewesen wäre, unvorhergesehene und zutiefst persönliche Gefühlsregungen in Schach zu halten. Sie blinzelte meine Großmutter an, verzweifelt darum bemüht, ihre aufsteigende Empörung in den Griff zu bekommen.
Dann stieß sie ein paar erschrockene Silben hervor: »Das hast du doch absichtlich gemacht, Mutter. Das weiß ich genau!«
Meine Großmutter bedachte sie, offenbar wenig beeindruckt, mit dem undurchdringlichen Blick einer Sphinx, in den sich auch ein Hauch finsterer Belustigung mischte.
»Meine liebe, liebe Tochter! Wenn du erst mal so alt bist wie ich, wirst du merken, dass der Körper etwas von einem Auto hat. Er rostet und gibt manchmal Töne von sich, gegen die man einfach nichts machen kann!« Meine Großmutter zwinkerte kurz und setzte eine Miene gekränkter Würde auf.
»Ach, hör doch auf«, erwiderte meine Mutter. »Was du ›Töne‹ nennst, kommt doch fast immer in genau dem Moment, wenn ich meinen Gedanken Ausdruck verleihe und versuche …«
»Uäärrrp!«
Wieder erstarrte die gesamte Tischgesellschaft wie kurzzeitig gelähmt. Bis auf meinen Bruder, diesmal der Urheber des Rülpsers, auf dessen Gesicht sich ein boshaftes Grinsen breitmachte. Immer noch sabbernd, freute er sich wie ein Schneekönig, seinen Teil zur Unterhaltung beigetragen zu haben.
Meine Mutter bedachte meinen kleinen Bruder mit einem Blick unverhohlenen Entsetzens, bevor sie sich an meine Großmutter wandte. Die Röte in ihrem Gesicht war blitzartig einem erschrockenen Weiß gewichen, das an geronnene Milch erinnerte.
»Siehst du, was du anrichtest! Du … stiftest mein Kind an!«
Zum ersten Mal verschwand die Belustigung aus dem Antlitz meiner Großmutter. »Ach, übertreib’s mal nicht. Er ist noch nicht mal zwei. Der Affe sieht, der Affe macht.«
»Affe … Affe?«, stieß meine Mutter hervor. »Wie … wie kannst du es wagen? Für mich ist die moralische Entwicklung meiner Kinder nichts, worüber man sich lustig macht!«
Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich von ihrem Platz erhoben und ragte vor uns auf, gestikulierte in Richtung eines Publikums, das für uns unsichtbar war.
Auf einmal richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf meinen Vater. »Und du! Du! Warum tust du eigentlich nie etwas, um mich in Schutz zu nehmen!«
Plötzlich wurde mein Vater in den Raum zurückkatapultiert. Worüber auch immer er gerade gegrübelt hatte und welche Gedanken ihn vor den stürmischen Gestaden dieses Familienstreits abgeschirmt hatten – alles war unter dem flammenden und vorwurfsvollen Blick meiner Mutter wie weggeblasen. Der Ärmste versuchte nach Kräften, sich zusammenzureißen und schnell eine entsprechende Antwort zurechtzuzimmern – ich konnte förmlich dabei zusehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten –, doch noch bevor er etwas hervorstoßen konnte, schnappte meine Mutter entnervt nach Luft und stampfte aus der Küche.
Meine Großmutter richtete ihren spöttischen Blick auf meinen verdatterten Vater.
»Mir scheint sie heute ein bisschen angespannt zu sein. Wäre es nicht angebracht, dass du deinen ehelichen Pflichten etwas regelmäßiger nachkommst?«
War mein Vater von der plötzlichen Attacke meiner Mutter schon in größte Beklemmung versetzt worden, war diese nichts im Vergleich zu dem blanken Entsetzen, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete, als meine Großmutter ihm diese Empfehlung gab.
Mit aller Würde, die er noch aufbringen konnte, stand er vom Tisch auf und folgte meiner Mutter hinaus.
Mein Bruder hockte in seinem Hochstuhl, und zum ersten Mal wanderte ein Schatten über die Glattheit seines pummeligen Gesichts, seine großen dunklen Augen weiteten sich in einem Moment unergründlichen Kummers, denn er begriff, dass sich erneut etwas verändert hatte, auch wenn ihm nicht klar war, wie oder warum. Er wusste, dass nur wenige Augenblicke zuvor Menschen um ihn herum gewesen waren, die nun nicht mehr da waren – und ihn durchströmte wohl die Art von erschütternder Einsamkeit, die kleine Kinder manchmal so plötzlich und mit großer Wucht heimsucht. Nur einen Moment später kullerten Tränen über sein Gesicht.
Ich ärgerte mich oft über meinen Bruder. Er konnte so laut und anstrengend sein. Wenn er im Raum war, schienen sich auf einmal alle Gespräche nur noch um ihn zu drehen, als wäre er ein kleiner Planet, der allein durch die Schwerkraft seiner Bedürfnisse alle Anwesenden in seine Umlaufbahn lenkte. Doch meine Verärgerung machte mich manchmal blind dafür, wie hilflos er im Grunde war. In jenem Moment empfand ich seine Verletzlichkeit so stark, als wäre es meine eigene, und seine Einsamkeit und Verwirrung fühlten sich an, als wären sie auf mich übertragen worden. Ein paar Augenblicke lang glaubte ich, mich in seinem Kopf zu befinden und blinzelnd auf diejenigen hinausblicken zu können, die zu seiner Welt gehörten, erfüllt von einer Mischung aus Verdutztheit und Furcht. Ich stand auf und schnallte ihn so vorsichtig von seinem Hochstuhl, wie ich konnte. Mittlerweile brüllte er wie am Spieß, vollkommen der Welle an Gefühlen ausgeliefert, die so plötzlich in ihm aufgestiegen waren. Beruhigend versuchte ich auf ihn einzureden, wie ich es meine Mutter oft hatte tun sehen. Ich hob ihn hoch und streifte mit den Lippen seinen weichen Bauch – was ich manchmal tat, um ihn zu kitzeln und zum Kichern zu bringen –, doch seine Verstörung war so groß, dass mein Bemühen erfolglos blieb.
Meine Großmutter winkte mir von ihrem Stuhl aus zu. Wortlos reichte ich Qiao an sie weiter. Er weinte immer noch, doch kaum drückte sie ihn an ihre große Brust, gelang es ihr, ihn mit ihrer schieren Masse, ihrer Ruhe und Wärme ein wenig zu beschwichtigen. Obwohl sein moppeliger Körper immer noch von Schluchzern geschüttelt wurde, begann er sich allmählich zu entspannen. Er schmiegte sich an ihre rundliche Weichheit, während sie ihn sanft zu schaukeln begann – wie ein kleines Schiff, eingelullt vom Wogen der Wellen. Ganz instinktiv und automatisch schob er sich den Daumen in den Mund. Nur wenige Momente später hörte ich ihn leise und sanft schnarchen – die großen Augen fielen ihm zu, lagen wie glatte Murmeln unter den geschlossenen Lidern, nur die kleine Nasenspitze lugte noch hervor. Von einem Moment auf den anderen war er eingeschlummert.
Auf einmal kam ein anderer, nicht ganz so kreuzbraver Gedanke in mir auf. Meine Mutter erlaubte mir nur selten, mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft zu spielen, doch meine Großmutter war in dieser Hinsicht nicht ganz so streng.
»Po Po! Darf ich ein bisschen draußen spielen?«
Meine Großmutter blickte nicht auf, nickte aber kurz mit ihrem großen Schildkrötenkopf. Dabei wiegte sie meinen Bruder weiter in ihren Armen. Mich durchfuhr ein freudiges Gefühl des Verbotenen, als ich leise die Wohnungstür öffnete und auf den Flur hinaustrat. Eine Welle von Hitze schlug mir entgegen. Es war Sommer, und Klimaanlagen gab es noch lange nicht. Die Leute öffneten einfach ihre Balkontür und nicht selten auch ihre Wohnungstür, sodass es stets ein Lüftchen gab, das die stickige Hitze in den engen und übervollen Behausungen ein wenig linderte, besonders am frühen Abend, wenn der Herd eingeschaltet wurde und es in den Bratpfannen zu brutzeln begann. Dann machte sich ein seltsames Gemeinschaftsgefühl auf unserem Flur breit: Die offenen Türen und dünnen Wände bedeuteten, dass das Privatleben der anderen immer in greifbarer Nähe war, und obwohl dadurch ein gewisser Kameradschaftsgeist entstand, bot die Situation auch den Nährboden für Klatsch und Neid.
Meine Mutter knauserte mit keinem von beiden. Eine unserer nächsten Nachbarinnen, die ich immer Tantchen Zhao nannte, obwohl sie gar nicht mit uns verwandt war, kam vom Lande und hatte einen deutlichen Akzent, sodass ich manchmal Mühe hatte, sie zu verstehen. Doch sie hatte einen Pekinger Mann geheiratet – noch dazu den Geschäftsführer einer Fabrik –, sodass sie in den Genuss so mancher Annehmlichkeit kam, die meiner eigenen Familie nicht vergönnt war. Zum Beispiel war Tantchen Zhao die Erste auf unserem Stockwerk gewesen, die über einen Gefrierschrank verfügte. Ich kann mich bis heute an den Tag erinnern, als er geliefert wurde. Er war fast doppelt so hoch wie die Männer, die ihn nur mit größter Mühe die Treppe hoch- und den Flur entlanghievten, ein Spektakel, das sich die Hausbewohner nicht entgehen ließen.
Ich erinnere mich an den Gesichtsausdruck meiner Mutter, als sie damals durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür hinausspähte; wie ihre Mundwinkel verkniffen nach unten zeigten und dumpfe Wut in ihren Augen stand. Tantchen Zhao war eine der engsten Freundinnen unserer Familie; ich kannte sie schon, solange ich mich erinnern konnte, und wusste, dass meine Mutter sie eigentlich mochte. Bei ihrer jetzigen Reaktion schnürte es mir jedoch den Hals zu. Ein Gefühl des Unbehagens machte sich in mir breit, wie in der Schule, wenn man mich an die Tafel rief und ich ein Schriftzeichen oder Symbol entziffern sollte, dessen Bedeutung mir vollkommen schleierhaft war. Nur einen Moment lang sah ich, wie die Miene meiner Mutter sich säuerlich verzerrte, dann machte sie die Tür wieder zu und widmete sich ihrer Hausarbeit. Doch ihre Reaktion war etwas, das ich nie vergaß.
Nun, während die Düfte von Brathähnchen, Fisch, Erdnusssoße und Seegurke auf mich einstürmen, zusammen mit dem Stärkegeruch zum Trocknen aufgehängter Wäsche und dem muffigen Aroma erhitzter Körper, fällt mein Blick in Tantchen Zhaos Wohnung. Ich sehe Leute am Küchentisch sitzen, der Gefrierschrank ist geöffnet und taucht sie in sein kühles blaues Licht, doch ich bleibe nicht stehen. Stattdessen lege ich noch einen Zahn zu; Kinder sollen auf dem Flur eigentlich nicht rennen, doch auf einmal ist dieses überwältigende Gefühl der Vorfreude in mir, während ich zum Treppenhaus komme, die Stufen hinunterpoltere, die Haustür aufstoße und auf die Straße renne. Draußen ist es für diese Uhrzeit immer noch schwülwarm und stickig; ich spüre die Hitze an meinem unteren Rücken, die Schweißperlen, die sich in meinem Nacken bilden, doch jetzt bin ich draußen und habe das Gefühl, endlich wieder atmen zu können.
Ich suche nach ihnen. Und habe sie auf der Stelle entdeckt. Sie haben sich auf einem verlassenen Grundstück direkt an der Hauptstraße getroffen. Als die Sonne untergeht, fängt sich der Staub, der vom sandigen Boden aufgewirbelt wurde, in den langen Strahlen des Abendlichts, sodass sich Streifen aus glitzerndem Gold in der Luft bilden. Durch diesen mit Gelb gesprenkelten Dunst kann ich weit in die Ferne blicken. Ich sehe Form und Umrisse der Gebäude der Innenstadt, und ganz hinten am Horizont, in Richtung der Verbotenen Stadt, erkenne ich die wuchtigen Monumente, die am Eingang des Tian’anmen stehen, am Platz des Himmlischen Friedens. Auf mich wirkt er so weit weg wie irgendein fernes Märchenland, und sein Bild – durchscheinend und verschwommen – schimmert kurz auf und verschwindet dann hinter einer bauschigen Wolke. Jetzt sind meine Gedanken wieder hier, in meinem Viertel. Ich zwinge mich dazu, mich zu konzentrieren, während ich auf die Gruppe von Kindern zugehe, lasse meinen Schritt bewusst lässig und mein Gesicht ausdruckslos werden.
In gut einstudierter Unbekümmertheit schlendere ich auf sie zu. »He, was treibt ihr so?«
Es liegt auf der Hand, was sie treiben, denn Zhen, ein klein gewachsener Junge mit zarten Gesichtszügen und großen Augen, fährt mit der Zunge an der Kante eines unbeschriebenen Blatts Papier entlang. Die anderen lassen ihn dabei keine Sekunde aus den Augen, denn Zhens flinke Hände fabrizieren die schönsten und am weitesten fliegenden Papierflieger, und alle wollen entdecken, was sein Geheimnis ist. Ich weiß, was sie vorhaben, aber ich stelle trotzdem die Frage, weil sich das einfach so gehört.
Jian lässt das Papierblatt, das Zhen faltet, keinen Moment lang aus den Augen, antwortet mir jedoch trotzdem mit einem gut gelaunten Murmeln, als hätte die Gruppe gerade den einzig wahren Zeitvertreib auf der Welt entdeckt. »Heute bauen wir Papierflugzeuge!«
Ich nicke, will noch etwas sagen, doch dann verstumme ich, weiß nicht, wohin mit meinen Händen. Ich sehe, dass Al Lam mich beobachtet. Als ich ihrem Blick begegne, schaut sie verlegen zur Seite. Auch wenn wir Teil derselben Gruppe sind, reden wir nur selten miteinander. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass wir die beiden einzigen Mädchen sind. Wir wissen, dass wir anders sind als die anderen, und vielleicht würde sich dieses Anderssein verstärken, wenn wir mehr Zeit miteinander verbringen würden. Oder so. Jedenfalls sind wir auf der Hut, wenn wir uns begegnen.
Zhen hat sein Papierflugzeug fertig. Mit einer kurzen, schnalzenden Bewegung des Handgelenks schleudert er es in die Luft. Wir sehen ihm hinterher, unsere Gesichter nach oben gerichtet, dem Abendlicht entgegen, bis der Flieger nur noch ein dunkler Umriss ist. Auf einmal gerät er ins Trudeln und fällt in rasantem Sturzflug ein paar Meter von uns entfernt zu Boden. Wie auf Kommando laufen wir auf die Stelle zu.
Jian hebt das zerknickte Flugzeug vorsichtig hoch.
»Ziemlich gut geworden«, sagt er und betastet den Flieger vorsichtig. Seine breiten, klaren Züge leuchten auf, als er den Mund zu einem freundlichen Lächeln verzieht.
Ich glaube nicht, dass unsere Gruppe tatsächlich einen Anführer hatte, doch Jian kam dieser Rolle am nächsten. Er sah gut aus mit seinem dicken schwarzen Haar, das wild abstand; er hatte eine geschmeidige, aber kräftige Stimme, war ein guter Sportler und konnte schneller rennen als alle anderen. Außerdem war er der Größte von uns. Wenn man ein Kind ist, bedeutet es viel, groß zu sein.
»Kommt, wir spielen was anderes!«
Gen schaut uns an und schenkt uns ein seltsames Lächeln. Er ist viel kleiner als Jian, kaum größer als ich. Aber jeder in unserer Gruppe hat eine besondere Eigenheit. Jian ist der Starke. Al Lam ist die Vernünftige. Zhen ist der, der gut Papierflugzeuge bauen kann. Gen … ist der Schlaue. Mir fällt auf, dass ich wohl die Einzige in der Gruppe bin, die sich nicht durch eine besondere Eigenschaft hervorhebt. Vielleicht ist das der Grund, warum mich die meisten Menschen nicht bemerken. Die Lehrer scheinen mich in der Schule gar nicht zu sehen, und seit Qiao auf der Welt ist, bringen mir meine Mutter und mein Vater nicht mehr die gleiche Aufmerksamkeit entgegen wie früher (außer wenn meine Mutter mir vorwirft, ich hätte mal wieder mein Kleid ruiniert, indem ich im Dreck »herumgerollt« sei – etwas, das sie anscheinend für wenig damenhaft hält). Meine Großmutter sieht mich natürlich. Mit ihrem Blick scheint sie zu jedem noch so kleinen Geheimnis in meinem Körper und meinem Geist vorzudringen, es zu durchschauen. Aber das ist nicht das Gleiche. Jedenfalls weiß ich, wenn ich das Haus verlasse und zum Spielen zu meinen Freunden gehe, nehmen sie mich ohne Murren in ihre Ränge auf, auch wenn an mir nichts Besonderes ist. Es ist, als wären wir alle voneinander getrennte Puzzleteile, die gar nicht anders können, als zusammenzugehören.
Bei Gen ist das noch mal anders. Auch wenn er eher klein ist, hört jeder zu, wenn er etwas sagt. Irgendwie ist er selbstbewusst, nicht laut; er sagt Dinge, die keiner von uns anderen weiß. Das macht ihn schlau. An ihm ist etwas, das ihn erwachsener wirken lässt, vielleicht sogar erwachsener als Jian, obwohl Jian älter und größer ist. Außerdem lässt Gen sich niemals auf die Kabbeleien ein, die wir anderen untereinander haben.
Einmal hat Wang Fan – der dick ist und schlecht riecht – behauptet, ich würde mich am Hintern kratzen. Das hat er nur deshalb gesagt, weil jeder weiß, dass er sich selbst ständig am Hintern kratzt. Und er kicherte und sabberte, als er das sagte, als wäre es das Lustigste auf der ganzen Welt. Ich spürte, wie ich knallrot wurde; das alles war sehr seltsam, denn in der Tat würde es mir nicht im Traum einfallen, mich am Hintern zu kratzen. Und doch hatte er es mit einer solchen Häme gesagt, dass ich spürte, wie meine Wangen glühten und mir Tränen in die Augen traten. Aber nicht etwa, weil das, was er gesagt hatte, mich betroffen machte. Sondern weil ich wütend war. Und trotzdem muss es für alle anderen so ausgesehen haben, als wäre ich deshalb sauer, weil es stimmte, was er behauptet hatte.
Und so kam es, dass mir der Kragen platzte. »Du blöder Arsch! Du bist doch zurückgeblieben!«
Ich schlug Fan, so fest ich konnte, mit der Faust auf den Arm. Sofort hatte er selbst Tränen in den Augen und begann zu schreien. Er machte sich, so schnell ihn seine Stummelbeine trugen, auf den Heimweg.
»Das war aber nicht nett«, sagte Jian und bedachte mich mit einem Blick, aus dem Enttäuschung sprach.
Er hatte es ganz leise gesagt, sein Blick war milde, und doch fühlte es sich so an, als hätte er mir so fest ins Gesicht geschlagen, wie er konnte.
Plötzlich bekam ich Panik. »Er lügt. Wang Fan hat gelogen. Er sagte, ich würde mich am Hintern kratzen, aber das stimmt nicht.«
Ich blickte, nach Unterstützung suchend, in die Runde. Ich schaute zu Gen, weil er als intelligent und nüchtern galt. Ich war mir sicher, dass er auf die Stimme der Vernunft hören würde.
»Ich habe es nicht getan, Gen!«
Er blickte ein paar Momente auf seine Füße hinab und hob dann den Blick. Seine braunen, schimmernden Augen sahen mich an. »Ja, ich weiß, aber darum geht es nicht.«
»Was dann? Worum geht es dann?«
Ich schrie ihnen die Frage fast zu, doch sie waren wieder mit dem beschäftigt, was sie vorher gemacht hatten. Niemand sagte mir, ich solle gehen, doch ich wusste, dass man mich entlassen hatte. Am nächsten Tag kam ich zurück. Wang Fan war da, sabberte und lachte, während sie spielten. Ich schloss mich ihnen an, als wäre nichts geschehen. Doch von jenem Moment an begriff ich, was Gen gemeint hatte. In der Schule nannten alle Wang Fan »zurückgeblieben«. Denn beim Mittagessen sabberte er viel von seinem Essen auf sein Shirt, und manchmal fing er zu kichern an, ohne dass irgendjemand verstand, warum. Aber darum ging es. So wie die Gruppe mich akzeptierte, obwohl ich nicht viel zu bieten hatte, so akzeptierte sie auch Wang Fan, einfach weil er da war und gerne spielen wollte. Für uns Kinder war es damals, in jener Zeit, das Allerbeste auf der Welt, mit anderen zu spielen, auch wenn man ein bisschen zurückgeblieben oder anders war, wenn man schielte oder einen komischen Bauch hatte. Darum ging es.
»Kommt, spielen wir was anderes!«, verkündete Gen.
Als er das sagte, hörten alle auf ihn. Gen und ich gingen auf dieselbe Schule, aber in verschiedene Klassen. Dennoch war ich dabei gewesen, als er bei der Schulversammlung die Treppe hochgestiegen war und einen Preis für seine guten Leistungen in Kalligrafie entgegengenommen hatte. Außerdem wussten wir, dass sein Vater ein hohes Tier war; wie wir das erfahren hatten, könnte ich allerdings nicht sagen, denn Gen sprach nur selten über seine Eltern.
»Was sollen wir denn spielen?«, fragte Jian ernst.
»Katz und Maus!«, antwortete Gen wie aus der Pistole geschossen.
Jian nickte. »Okay«, sagte er. »Fangen wir an.«
Er sah mich an.
»Maus!«, rief er.
Ich kicherte, ohne es zu wollen. Alle schauten mich an, aber es freute mich ganz besonders, dass Jian mich auserwählt hatte.
Dann kam die Ernüchterung.
»Wang Fan – Katze!«
Wie auf Kommando rief die Gruppe im Chor:
»Wie spät ist es? Ach, sag doch nur!Erst neun, so steht es auf der Uhr.Und ist die Katze schon zu Haus?Sie sitzt am Tisch und frisst ’ne Maus.«
Ziel des Spieles war, dass die Katze hinter der Maus herrannte, sobald der Chor endete, doch unglücklicherweise hatte Wang Fan das nicht richtig verstanden und stürzte sich auf mich, noch bevor die anderen zu singen aufgehört hatten. Ich spürte, wie mir der Boden entgegenkam, fast wie in Zeitlupe, und dann schien sich alles zu beschleunigen, und ich lag verwirrt auf der staubigen Erde, Geräusche stürmten auf mich ein, und ich hörte das Rauschen von Wang Fans begeistertem Atem direkt an meinem Ohr. Ein Tropfen Spucke landete auf meiner Wange.
Ich schaute in sein großes, pummeliges Gesicht, das über mir kicherte, und auf einmal durchzuckte mich Wut; am liebsten hätte ich ihm die Augen ausgekratzt, ihm eine auf die sabbernden Lippen gegeben. Er war ein Kind, wahrscheinlich der Kindlichste von uns allen, und doch fühlte sich sein Körper auf meinem irgendwie anders an; ich spürte die Hitze, die seine schwabbeligen Hautschichten abgaben. Und ich roch den säuerlichen Geruch, der aus den Falten und Ritzen seines Körpers kam, seinen Achselhöhlen, der Erhebung zwischen seinen schlaffen Schenkeln.
Er kicherte und kicherte, sein ganzer Körper bebte, doch diesmal schrie ich ihn nicht an, ich nannte ihn auch nicht »zurückgeblieben«, und ich spuckte ihn nicht an (was das Schlimmste war, was ein Kind einem anderen antun konnte). Stattdessen schaffte ich es, meinen Ekel hinunterzuschlucken, mich zu konzentrieren und Wang Fan mit einer raschen Drehung von mir abzuschütteln, sodass er herunterfiel und ich mich frei machen konnte.
Ich rappelte mich hoch und schaute die anderen an. Alle lachten. Einen Moment lang war ich erschrocken. Ich hatte Wang Fans Geruch immer noch in der Nase. Glucksend rollte er auf dem Boden hin und her, als hätte er gerade den lustigsten Witz der Welt gehört, als würde ihn jemand kitzeln, den wir anderen nicht sehen konnten. Ich spürte ihre Blicke. Und dann hörte ich mich selbst lachen. Gezwungen. Fremd. Ein Geräusch, das außerhalb von mir stattfand. Alle anderen machten mit dem Spiel weiter. Bis auf Gen. Der stand noch ein paar Augenblicke da und betrachtete mich mit fragender, abschätzender Miene.
Die Sonne war untergegangen. Am Boden sammelten sich die Schatten. Irgendwann trennten wir uns, machten uns, jeder in eine andere Richtung, auf den Heimweg. Plötzlich hatte es zu regnen begonnen. Doch ich blieb noch. Und wieder spürte ich Gens Blick auf mir. Neugierig, durchdringend.
»Möchtest du dir was anschauen?«, fragte er.
»Klar.«
Langsam wurde es finster, und ich wusste, dass ich vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein musste. Das war die Regel. Manchmal lehnte ich mich dagegen auf, doch eigentlich wollte ich selbst nicht mehr auf der Straße sein, wenn es dunkel wurde. Aber in jenem Moment hielt mich etwas dort und verhinderte, dass ich mich gleich auf den Heimweg machte. Gen sprach leise, zugleich war da eine Unbekümmertheit in seiner Stimme, und seine Augen schimmerten amüsiert, als fände er mich irgendwie lächerlich. Hätte ich mich geweigert, mit ihm zu gehen, wäre es gewesen, als hätte ich mich einer Herausforderung nicht gestellt. Das Eingeständnis, dass ich Angst hatte.
Stattdessen holte ich tief Luft und folgte ihm. Der Regen fiel wie ein weicher grauer Teppich, und von den Straßen stieg Dunst auf, ein dampfiger Nebel, der die Umrisse der Gebäude verschwimmen ließ. Bald hörte man nur noch das leise Klopfen der Tropfen, während die Schatten größer wurden und Dunkelheit sich über uns senkte. Ich spürte, wie der Regen sich auf das Gewebe meiner Schuhe legte, sich hineinstahl, meine Socken durchweichte, wie seine Tropfen an meinen Augenbrauen hingen und von meiner Nasenspitze fielen. Auf einmal fühlte ich mich sehr müde, als hätte die graue Feuchtigkeit mein Gehirn lahmgelegt.
»Wo gehen wir denn hin? Ist es noch weit?«
»Nicht mehr weit«, sagte Gen. Um seine Lippen spielte immer noch ein Lächeln.
Kurz flammte Ärger in mir auf. Meine Beine begannen wehzutun. Gerade wollte ich zu Gen sagen, dass ich Besseres zu tun hätte. Doch dann blieb er stehen.
»Da sind wir«, sagte er.
Ich folgte seinem Blick. Vor uns stand ein großes, vielstöckiges Gebäude. Seine Betonwände lagen bereits im Schatten, doch auf jeder Etage gab es eine Reihe von Bogenfenstern, hinter denen es blassorangerot schimmerte. Schwungvoll erhob sich ganz weit oben das Dach zu einem metallischen Bogen, mit jeder Menge Rohren und Kabeln. Selbst von unten konnten wir das leise Summen hören, das von dem Gebäude ausging – als stünde eine riesige Maschine darin. Dort in der Dunkelheit schien es ein ganz gewöhnliches und zugleich unheimliches Gebäude zu sein, und doch war mir klar, dass keine Gefahr davon ausging. Ich wusste, wo wir waren. Das Gebäude hatte einen großen Schornstein, der nach oben zeigte wie ein gewaltiger Finger. Diesen Schornstein kannte ich, weil ich ihn bei Nacht von meinem Zimmer aus sehen konnte. Doch als ich jetzt daran hochblickte und den scharfen schwarzen Umriss sah, der so weit in das dunkle Gewölbe des Himmels ragte, fühlte ich mich klein und unbedeutend diesem Giganten gegenüber, der seinen geisterhaften Rauch in das schwarze Firmament hochpustete.
Ich schaute zu Gen. Er betrachtete das Gebäude mit sonderbar feierlichem Ernst.
»Weißt du, was … was das da ist?«, fragte er, und seine Stimme war so leise, dass ich die Frage fast nicht verstand.
»Natürlich weiß ich das«, sagte ich. »Das ist das Kinderkrankenhaus von Peking.«
Ich hatte versucht, meine Stimme herablassend klingen zu lassen. Doch sie verhallte in der Finsternis, wie erstickt durch die Nacht.
Langsam drehte Gen sich zu mir. »Das denken alle.«
»Was meinst du?«
Seine Miene wurde ernst. »Mein Vater. Er arbeitet für die Regierung. Deshalb weiß er Dinge, die nicht viele Leute wissen.«
»Zum Beispiel?«, fragte ich kurz angebunden.
»Zum Beispiel, dass Kinder in diesem Gebäude sind. Aber sie sind nicht dort, um wieder gesund zu werden. Denn … sie werden nie wieder gesund.«
Seine Stimme war fast nur noch ein Flüstern.
»Was soll das bedeuten?«
Gegen meinen Willen hatte mich der leise, entschlossene Ton seiner Stimme in seinen Bann gezogen. Ich spürte, wie sich die Härchen an meinem Nacken aufstellten, wie sich die Hitze des Tages unter den ersten kühlen Berührungen der Nacht in Luft auflöste.
»Es bedeutet, dass dieses Gebäude … kein Krankenhaus ist. Es ist ein Krematorium.«
»Ein Krema… was?«
Er lächelte traurig.
»Du weißt wirklich gar nichts, oder?«
»Ich weiß genug«, sagte ich, bereit, für meine Ehre zu kämpfen.
»Na gut. Hör zu«, sagte er. »Ein Krematorium ist kein Ort, an dem Kinder wieder gesund werden. Es ist ein Ort, an dem die Leichen all der Kinder, die gestorben sind, verbrannt werden.«
Ich schaute ihn ungläubig an. »Du lügst!«, fauchte ich. »Warum sollten die das tun? Warum sollte das überhaupt jemand tun?«
Gen schaute mich ausdruckslos an. Als er wieder sprach, war es tonlos, beiläufig, als wäre er ein Mensch, dem man alle Geheimnisse der Welt aufgebürdet hatte.
»Weil … es das ist, was sie tun.«
»Ich glaube dir nicht. Das denkst du dir doch nur aus.«
Er schaute mich an. Aber er stritt es nicht ab. Er sagte einfach nichts. Und schaute mich wieder mit dieser seltsamen Feierlichkeit an. Für ein Kind war es ein sonderbarer Blick; ich erinnere mich, das selbst damals gedacht zu haben. Und die Wahrheit war, dass ich ihm tatsächlich glaubte. Ich wollte es nicht, aber ich glaubte ihm. Mein Herz klopfte laut, und Angst pochte wie feiner elektrischer Strom unter der papierdünnen Hülle meiner Haut.
Doch ich hatte trotzdem das Gefühl, dass er mich an der Nase herumführen wollte. Deshalb wehrte ich mich. »Wenn das so ist, dann versuch es mir doch zu beweisen. Aber das kannst du nicht, oder? Weil du einfach nur ein großer Lügner bist!«
Wieder gelang es mir mit meiner Anschuldigung nicht, ihn zu provozieren. Er blieb aufreizend ruhig.
»Ich kann es beweisen«, sagte er leise.
Mit welcher Reaktion ich auch immer gerechnet hatte – das war sie ganz bestimmt nicht. Ich erschrak. Und ich spürte, wie hinter meinem Schrecken Angst lauerte.
»Na los, rede«, stieß ich schwach hervor.
Er richtete seinen Blick nach oben, schaute in die Dunkelheit. »Der Schornstein, der Rauch!«
»Ja, und?«
Er senkte die Stimme wieder und machte sich daran, mir das unheimlichste aller Geheimnisse zu verraten.
»Jedes Mal, wenn sie ein totes Kind verbrennen, öffnet sich der Schornstein und lässt den Rauch heraus. Aber die Sache ist …«
»Ja?«, fragte ich und schaute ebenfalls nach oben. Eine klamme, feuchte Furcht stieg in mir auf.
»Die Sache ist, dass eine Seele niemals wirklich stirbt. Das weißt du, oder?«
Das wusste ich. Meine Großmutter redete oft über solche Dinge. Ich nickte.
»Wenn du in den Rauch schaust, wie er langsam in die Höhe steigt, kannst du es sehen …«
»Was sehen?«
»Du siehst den Geist des toten Kindes … oder manchmal des toten Säuglings … wie er in die Nacht hochsteigt!«
Durch meine Adern strömte eine Mischung aus Adrenalin und Furcht. Die Dunkelheit schien sich langsam um uns zuzuziehen wie eine Schlinge, beklemmend, erstickend.
»Nein, das kann man nicht. Das stimmt nicht. Ich glaube dir nicht.«
»Na gut. Warum schaust du nicht einfach hin?«
Ich wollte es eigentlich nicht, doch mein Kopf hob sich, wie von einer unsichtbaren Macht angezogen. Während ich zuschaute, wie sich die geisterhaften Dampfschwaden in der weiten Schwärze über unseren Köpfen kräuselten, schienen sich die silbrigen Wirbel tatsächlich miteinander zu verschränken – Rauch gerann um die Schwärze blind gewordener Augen, Dampf umriss die klaffende Form eines Mundes, der im Schrei erstarrt war. Ich blinzelte heftig, während die Anspannung in meinem Körper und mein Herzschlag auf ihren Höhepunkt zurasten. Ich riss mich los. Tränen der Angst und des Schreckens brannten in meinen Augen.
Ich spürte Gens Hand auf meiner Schulter. Ich machte mich von ihm los, begann zu rennen.
Das Klappern meiner Schritte war laut. Ich bog in eine Straße ab, dann in die nächste. Keuchend blieb ich stehen. Mein Haar war strähnig und nass vom Regen, und ich war so schnell gelaufen, dass jeder Atemzug in meinem Brustkorb schmerzte. Für einen Moment rang ich nach Luft. Wieder brannten Tränen in meinen Augen. Doch diesmal waren es Tränen der Demütigung. Ich hatte mich von meiner Fantasie in die Irre führen lassen.
Nachdem meine Mutter mich gefühlt stundenlang ausgeschimpft hatte, schickte man mich früh zu Bett. Ich saß in meinem Zimmer und starrte mit einem grimmigen Lächeln in die Dunkelheit. Gen war es gelungen, mir mit einem Ammenmärchen Angst und Schrecken einzujagen, und ich hatte angebissen wie ein Fisch, der den Haken mitsamt der Angel verschluckt. Ich nahm mir vor, mich dafür zu rächen, irgendetwas würde ich mir einfallen lassen, doch hinter dieser Lust auf Rache steckte ein tieferes und elementareres Gefühl des Unbehagens. Während ich dort in meinem Bett lag, schienen sich die Dinge in meinem Zimmer zu verändern. Sie kamen mir flüchtig vor, wie fremde Schatten vor einer dunklen Fläche – plötzlich nahm der Umriss eines Teddys unheimliche, schärfere Formen an, und die Dunkelheit ergoss sich wie ein Teich aus Finsternis unter dem Schrank hervor.
Ich lag dort im Dunkeln, lauschte dem Rauschen meines Atems und dem weicheren, tieferen Pochen meines Herzens. Die Spuren einer Erinnerung, die Jahre zurücklag, kehrten zu mir zurück, während ich dort lag. Der Tod meines Großvaters. Damals konnte ich nicht viel älter gewesen sein, als Qiao, mein kleiner Bruder, es jetzt war. Alles ist ein wenig wirr; die Bilder kommen eher in Bruchstücken als in einer glatten Abfolge von Ereignissen. Hier ein Anblick, dort ein Eindruck: der Geruch von brennenden Kerzen, die Ahnung vieler Menschen, die in einen Raum gezwängt sind, der vage Gesichtsausdruck eines Fremden, der auf mich herabblickt. Ich weiß, dies alles sind Erinnerungsfetzen an die Beerdigung meines Großvaters. Erst Jahre später erfuhr ich, dass sich meine beiden Eltern eine weltlichere Trauerfeier gewünscht hatten, doch meine Großmutter wollte nichts davon wissen.
Mein Großvater war in einem offenen Sarg im Hauptzimmer aufgebahrt worden, so wie es bei einer traditionellen Bestattung üblich war, um ihn auf den Weg zu seinen Vorfahren zu bringen. Nachbarn kamen vorbei, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, während der Abend zur Nacht wurde. Es war laut, es wurde geredet. Wahrscheinlich war es eine eher heitere Veranstaltung – bei traditionell abgehaltenen Trauerfeiern ging es oft auch fröhlich zu –, doch obwohl ich mich nur an wenig erinnere, war nichts daran unbeschwert.
Ich erinnere mich an die Sprechgesänge. Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte. Ich erinnere mich, wie ich mich an meine Decke klammerte, meine hübsche kleine Decke, wie ich auf ihren ausgefransten Kanten herumkaute, so verängstigt war ich. Wie ich in jenen Raum mit all den Menschen trat und mich langsam durch einen Wald von Beinen auf jenen einen Punkt zukämpfte – den Punkt in der Mitte des Raumes, wo das Kerzenlicht weich auf Holz schien. Die Stelle, wo mein Großvater lag. Ich ahnte, dass er irgendwo dort war – so viel war mir klar –, deshalb wusste ich auch, wenn ich mich weiterbewegte, würde ich ihn sehen, obwohl ich es gar nicht wollte. Eine tiefe Furcht war in mir aufgestiegen, doch ich musste mich bewegen, musste mit der Unvermeidlichkeit, die Träumen eigen ist, näher und näher dorthin gehen, bis …
Bis was? Ich erinnere mich, wie meine Furcht immer größer wurde, so lange, bis mir der Atem stockte. Ich erinnere mich, wie ich schließlich nahe genug war, um einen seitlichen Blick auf sein Profil zu werfen, auf die wächserne, bleiche Haut, auf den Umriss einer Nase – mittlerweile weiß ich, dass dies Elemente sind, die ich vielleicht im Nachhinein hinzugefügt habe, um die Lücken in meiner Erinnerung zu füllen. Hatte ich ihn denn wirklich gesehen? Während ich Jahre später dort in meinem Bett lag und mich in den seltsamen Dunst meiner frühesten Jahre zurückzog, stellte ich fest, dass ich keinerlei Erinnerung mehr an das Gesicht meines Großvaters hatte, weder lebendig noch tot. Woran ich mich erinnerte, war eine Zahl: Seinen Abschied von der Welt hatte er mit dreiundsiebzig genommen. Das war ein Alter, das ich mir nicht vorstellen konnte, ein unendlich hohes Alter, das sich wie ein Berg in die nebligen Anhöhen der Wolken reckte.
Doch Gen hatte von Kindern gesprochen. Kinder, die gestorben waren. Kinder, die dann verbrannt worden waren und zu Rauch wurden. Sogar Säuglinge hatte er erwähnt. Kinder, die nicht einmal ein Lebensjahr erreicht hatten. Dieser Gedanke ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich wälzte ihn hin und her, konnte nicht mehr damit aufhören. Warum waren sie gestorben? Wer oder was hatte ihren Tod verursacht? Mein Herz begann zu rasen, obwohl ich ganz still in meinem Bett lag. Konnte das auch mir passieren? Konnte es sein, dass ich einfach starb, hier und jetzt? Ich schloss fest die Augen, sofort senkte sich die Dunkelheit über mich herab. War es das, was mein Großvater empfunden hatte?
Ich machte die Augen wieder auf. Schaute mich im Zimmer um. Gen war ein Schlitzohr, bestimmt hatte er sich das alles nur ausgedacht, sagte ich mir. Und ich war so blöd, dass ich darauf hereingefallen war. Dennoch konnte nichts die Unruhe in mir vertreiben. Ich hob die Füße aus dem Bett. Der Boden meines Zimmers fühlte sich kalt an. Leise schlich ich zum Fenster und schaute hinaus. In der Ferne konnte ich gerade noch die schmale Rauchfahne sehen, die sich aus dem Schornstein des Krankenhauses erhob, geisterhaft und weiß verschmolz sie mit der Dunkelheit. Ich kehrte in mein Bett zurück, kroch unter die Decke. Irgendwann schlief ich ein.
Am Morgen war das Gefühl immer noch da. Wie eine Übelkeit, die immer schlimmer wurde. Ich ging zum Frühstück und beobachtete Qiao, der gut gelaunt futterte. Nicht, dass es für ihn etwas zum Lachen gegeben hätte, doch allein die beliebige Tätigkeit des Essens trieb ihm ein Lächeln ins Gesicht; dabei war er von uns allen der unordentlichste Esser (meine Großmutter folgte knapp auf Platz zwei). Er stopfte sich süßen Klebreis in den Mund, der Honig tropfte von seinen Fingern, und dabei lächelte er fröhlich, vielleicht, weil wir anderen ihm ein wenig lächerlich vorkamen oder weil das Essen so süß und warm schmeckte. Meine Mutter gab ihm einen Klaps auf die Hände, wobei sie versuchte, nicht von den Essensresten getroffen zu werden, die unweigerlich von seinen Stäbchen fielen und auf seinem schmuddeligen Hemd landeten, aber das brachte ihn nur noch mehr zum Lachen, als diente die ganze Mahlzeit eigentlich nur seiner Unterhaltung.
»Mama … Qiao macht happi-happi«, verkündete er vergnügt, während winzige Essensbrocken aus seinem Mund regneten. Dann wandte er sich mir zu und grinste, winkte mir triumphierend mit seinen pummeligen Fingerchen zu.
Ich schaute in sein Gesicht – so munter und jung, dass es glänzte –, und obwohl ich mich normalerweise über meinen Bruder eher ärgerte, weil er mir mit seiner übermütigen Art auf die Nerven ging, empfand ich auf einmal eine verzweifelte und ängstliche Liebe zu ihm. Ich schaute in sein Gesicht, auf den großen, offenen Kindermund, und seine Unschuld kam mir auf einmal ahnungslos und verletzlich vor. Was Gen über die toten Kinder gesagt hatte, war lächerlich – alles ausgedacht, um mich an der Nase herumzuführen –, doch mir fiel wieder ein, dass ich tatsächlich schon von Kindern gehört hatte, die zu Tode gekommen waren. Ein Mädchen in der Klasse unter mir war von einem Auto überfahren worden. Ein Junge in der Klasse über mir war an einer Krankheit gestorben. Ihre Namen kannte ich nicht, und auch die genaue Krankheitsursache und die Umstände des Unfalls waren mir nicht geläufig.
Über die Ereignisse hatte ich damals gehört, möglicherweise aus zweiter Hand oder bei der Schulversammlung, aber Einzelheiten kannte ich nicht. Nun jedoch war das alles realer geworden. Ich schaute meinen Bruder mit seinen glänzenden dunklen Augen und den vollgestopften kauenden Backen an und spürte, wie mir der Atem stockte. Es würde genügen, wenn etwas von diesem Essen ihm im Hals stecken bliebe oder wenn meine Mutter ihm aus dem Hochstuhl herunterhalf und er mit seinem vollgefressenen Bauch stolperte und sich den Kopf an einer Türkante stieß. Oder er könnte …
Die unendliche Vielfalt von Möglichkeiten, wie mein Bruder sich urplötzlich von der Welt verabschieden könnte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf, und auf einmal schien es mir, als hätte er nicht die geringste Chance, den Tag zu überleben. Ich streckte instinktiv die Hand nach ihm aus; ich kniff ihn in die Nase, er blinzelte und lachte, und ich musste mit den Tränen kämpfen. Niemand bemerkte die plötzliche Veränderung in meinem Verhalten (bis zu diesem Tag hätte ich meinen Bruder wahrscheinlich eher gezwickt, um ihn zum Weinen zu bringen). Oder vielleicht sah meine Großmutter mir etwas an, denn ich spürte, wie ihr verwitterter, dunkler Blick auf mir ruhte, neugierig und mit einem Hauch amüsierter Verwunderung.
Doch für mich war die Situation alles andere als lustig. Als mich meine Mutter an jenem Morgen aus der Wohnung bugsierte und ich spürte, wie die Tür hinter mir ins Schloss fiel, war ich überzeugt davon, meinen Bruder nie wiederzusehen. Dass ihm etwas geschehen würde, während ich weg war. Ich sah sein Gesicht vor mir, in dem seine Augen nicht mehr leuchteten – er hatte die Augen geschlossen, die Haut war fahl, und auf seinem Körper lag der seltsame orangerote Schimmer, der aus jenem großen Gebäude kam; und ich stellte mir vor, wie er als Rauch aus jenem spitz zulaufenden Schornstein ausgestoßen wurde, wie sich sein düsteres Totengesicht in einem dunsterfüllten Schrei abzeichnete. Mehr als alles auf der Welt wünschte ich mir, ich könnte meine Mutter bitten, mich nicht in die Schule zu schicken – mich zu Hause zu lassen –, aber die Worte kamen nicht aus meinem Mund. In dem Alter, in dem ich damals war, herrschte eine riesige Kluft zwischen den Gewissheiten meiner Kindheit und der Erwachsenenwelt, die meine Eltern bewohnten. Obwohl ich mir ganz sicher war, dass mein Bruder in großer Gefahr schwebte (ohne zu wissen, welcher Art diese Gefahr sein könnte), war ich trotzdem nicht dazu in der Lage, meinen Tagesablauf zu ändern, noch konnte ich meinen Ängsten Ausdruck verleihen, denn ich wusste, ich würde meiner Mutter oder meinem Vater niemals begreiflich machen können, was ich empfand.
Ich fühlte mich erbärmlich. In der Klasse saß ich in meiner Bank und spürte, wie die Angst in meinem Bauch wütete. Jede Minute wurde zu unergründlichem Schmerz. In der Mittagspause suchte ich den Kontakt zu einem der anderen Mädchen – Fulin –, das immer herzlich und nett zu mir war.
»Hey, Fulin!«
Sie schaute mich freundlich an, doch ich wusste, dass ich die Sache mit großer Vorsicht und Taktgefühl angehen musste.
»Fulin?«
»Ja?«
»Glaubst du, es ist möglich, dass uns jederzeit etwas ganz Furchtbares zustoßen könnte, dass wir … sterben, und wenn das geschieht, dann nehmen sie unseren Körper und verbrennen ihn … und am Ende steigt unsere Seele als Rauch auf?«
Sie schaute mich an und blinzelte, genau wie mein Bruder, als ich ihn in die Nase gekniffen hatte.
»Ich kann jetzt nicht reden. Ich muss … ich muss mit meinen Hausaufgaben anfangen.«
Der Rest des Nachmittags ging genauso quälend weiter. Bis ich schließlich nach Hause kam, hatte ich meine finsteren Gedanken wieder und wieder in meinem Kopf herumgewälzt und war mir sicher, dass mein Bruder nicht mehr da sein würde. Als ich ins Wohnzimmer trat und ihn sah, wie er auf dem Schoß meiner Großmutter hüpfte, war es bereits das zweite Mal an diesem Tag, dass mir der Atem stockte. Er blickte zu mir hoch und gluckste frech, kehrte dann wieder zu der faszinierenden Topografie des Gesichts meiner Großmutter zurück, erkundete es mit den Händen, so wie ich es früher gemacht hatte. Der Blick meiner Großmutter ruhte auf mir.
Ich ging auf mein Zimmer. Qiao ging es gut, das war das Wichtigste. Erst dann kam mir ein anderer Gedanke. Es war eine Woche her, dass ich mit meinen Freunden draußen herumgerannt war und mein Knie aufgeschürft hatte, als ich über ein Holztor kletterte. Damals hatte ich nicht weiter darüber nachgedacht, auch wenn ich bemerkte, dass der Rand der Wunde ein wenig gelb wurde. Die Haut brannte. Bestimmt war sie entzündet – meine Mutter warnte oft vor Entzündungen. Möglicherweise war ja nicht Qiao in Gefahr, sondern ich selbst.
Und dann fiel mir noch etwas anderes ein. Vielleicht waren wir alle in Gefahr, und jeder von uns konnte jederzeit sterben. Wie konnten die Menschen mit einem solchen Gedanken leben? Meine Lider wurden schwer, doch die Tränen wollten nicht kommen.
Ich verspürte eine große Traurigkeit. Es war ein Gefühl, das mich von meiner Familie, von der Welt abzutrennen schien. Ich sah zu, wie meine Mutter mit meinem kleinen Bruder spielte. Ich sah, wie mein Vater sich, tief in Gedanken versunken, in sein Arbeitszimmer zurückzog. Alle verhielten sich so wie sonst. Waren ihnen nie solche Gedanken gekommen? Würden wir alle an dem Ort enden, den Gen mir gezeigt hatte? Würden wir alle zu dunklem Rauch werden, der aus einem sonderbaren Schornstein aufstieg?
Wie ferngesteuert machte ich mich auf den Weg ins Zimmer meiner Großmutter.
Ihre großen Schildkrötenaugen richteten sich auf mich. »Lässt du jetzt endlich die Katze aus dem Sack?«
»Was für eine Katze?«
»Du sollst das rauslassen, was du schon die ganze Zeit mit dir herumschleppst. Es ist wie bei einem Vulkan, weißt du. Irgendwann müssen alle Vulkane ausbrechen.«
Es war, als wäre eine Schleuse in mir geöffnet worden. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten.
»Da ist dieser Junge.«