Hinter dem Horizont links - Christopher Many - E-Book

Hinter dem Horizont links E-Book

Christopher Many

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Beschreibung

Reisen kann man planen. Manche tun dies so ausführlich, dass sie darüber das eigentliche Losfahren ganz vergessen. Andere hingegen packen ihr Auto und brechen auf. Einfach so. Zu dieser Gruppe gehört Christopher Many. Ohne große Vorplanung und mit wenig Geld ist er gestartet. Insgesamt mehr als acht Jahre lang ist er in seinem alten umgebauten Land Rover um die Welt gereist, voll Neugier auf Länder, Menschen und Abenteuer. Ein moderner Landstreicher, der nicht ruhen kann, sondern für den Reisen Leben ist. Dieses Buch ist mehr als nur ein spannender Reisebericht, denn die Reise um die Welt ist auch die Reise zu sich selbst und zu den Menschen und Regimen, auf die Christopher Many unterwegs trifft. Es lohnt sich, diesen vagabundierenden Reisephilosophen der besonderen Art auf seinem Weg zu begleiten.

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CHRISTOPHER MANY

Hinter dem HorizontACHT JAHRE MIT DEMLAND ROVER UM DIE WELT links

DELIUS KLASING VERLAG

1. Auflage

© by Delius, Klasing & Co. KG, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-7688-3348-6 (Print)

ISBN 978-3-7688-8140-1 (E-Book)

ISBN 978-3-7688-8333-7 (E-Pub)

Übersetzer: Dr. Karl Darée

Lektorat: Birgit Radebold, Sigrun Künkele

Umschlaggestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger, Hamburg

Karten: Inch3, Bielefeld

Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis

des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,

nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.delius-klasing.de

Wie allgemein üblich, zeichnet nicht der Verlag, sondern allein

der Autor für die Inhaltes dieses Buches verantwortlich.

Inhalt

Vorbemerkung des Verfassers

Europa und Asien

Neugier (Matilda, 1.5.2002)

Einsicht (Russland, 1.8.2002)

Die Geschichte von Kjachta (15.11.2002)

Verwandtschaft (Mongolei, 20.12.2002)

Die Geschichte vom Leben bei tiefen Temperaturen (25.12.2002)

Nord- und Mittelamerika

Ignoranz (USA Teil I, 26.4.2003)

Ruhe (Kanada, 8.7.2003)

Die Geschichte der Longitude-Expedition (20.7.2003)

Seichtigkeit (USA Teil II, 1.11.2003)

Abhängigkeit (Mexiko, 17.3.2004)

Eifersucht (Belize, 13.4.2004)

Intensität (Guatemala, 9.5.2004)

Die Geschichte von Paddy (27.7.2004)

Leichtgläubigkeit (Costa Rica, 2.9.2004)

Erwartung (Panama, 1.10.2004)

Südamerika

Vorurteil (Kolumbien, 5.11.2004)

Verdruss (Peru, 15.4.2005)

Integrität (Bolivien, 24.5.2005)

Verlangen (Chile, 8.8.2005)

Erholung (Argentinien, 6.10.2005)

Melancholie (Patagonien, 15.4.2006)

Die Geschichte der Götter (20.1.2007)

Afrika

Rassismus (Südafrika, 11.4.2007)

Die Geschichte vom Boss (30.8.2007)

Mut (Lesotho und Swasiland, 28.11.2007)

Absurdität (Krüger-Nationalpark, 9.1.2008)

Irrsinn (Simbabwe, 30.3.2008)

Verwirrung (Botswana, 27.4.2008)

Reinheit (Namibia, 6.7.2008)

Vergnügen (Angola, 25.8.2008)

Feindseligkeit (Demokratische Republik Kongo, 10.9.2008)

Dankbarkeit (Sambia, 20.10.2008)

Inkompetenz (Malawi, 28.12.2008)

Liebe (Tansania, 15.1.2009)

Die Geschichte der Generationen (Uganda, 1.5.2009)

Brutalität (Kenia und Uganda, 10.5.2009)

Raserei (Äthiopien, 20.7.2009)

Optimismus (Somaliland, 1.9.2009)

Elend (Dschibuti, 23.9.2009)

Die Geschichte des Was-wenn? (20.10.2009)

Die Arabische Liga

Transzendenz (Sudan, 9.11.2009)

Weisheit (Ägypten, 31.12.2009)

Die Geschichte vom brennenden Busch (15.2.2010)

Ritterlichkeit (Jordanien, 31.3.2010)

Scharfsicht (Syrien, 1.5.2010)

Nach Hause

Die Einfahrt (Türkei, 1.7.2010)

Die Rückkehr nach Europa (10.8.2010)

Die Geschichte vom Zuhause (1.9.2010)

Anhang

Die Geschichte von Utopia

Quellen

Danksagung

Vorbemerkung des Verfassers

Lange dachte ich daran, dieses Buch Der Laotische Rat-Burger zu nennen. Um das zu erklären, muss ich ein Erlebnis in Laos kurz vor der Jahrtausendwende erwähnen.

Nachdem ich wochenlang von wenig anderem als Reis gelebt hatte, kam ich an einem kleinen Restaurant vorbei, das nahe dem Dorf Vang Vien über den Mekongfluss hinwegschaut. Draußen, auf einer Tafel mit den angebotenen Speisen, entzifferte ich »Hamburger«. Beim kulinarisch hart strapazierten Reisenden, der Jahre in den hinteren Winkeln Asiens verbringt, kann die bloße Erwähnung einfacher westlicher Gerichte beispiellose Gelüste wecken – ich bestellte also. Der Burger war delikat.

Als ich das Restaurant verließ, schaute ich zufällig nach oben auf das Blechdach des Lokals. Dort lagen, sauber in Reih und Glied ausgebreitet, Dutzende von großen Rattenfellen, die in der warmen Sonne trockneten. Neugierig geworden, ging ich wieder hinein, um den Kellner zu fragen, welche Bewandtnis es mit diesem seltsamen Dachschmuck habe. Er antwortete mit einem einzigen Wort: »Hamburgers.«

In der Woche darauf besuchte ich das Restaurant täglich, um mir mein Rattenhack im Brötchen zu bestellen.

Die daraus zu ziehende Lehre ist eine bedeutsame:

Hätte ich gewusst, dass im Burger Ratte war, hätte ich ihn bestellt? Hätten Sie ihn bestellt? Höchstwahrscheinlich nicht. Wir sind alle stark durch unsere Erziehung und durch die Medien geprägt. Kolumbien ist gefährlich. Amerika ist das »Land der Freiheit«, Muslime sind Terroristen. »Hilfe für Afrika« ist gut und Rat-Burger können unmöglich schmackhaft sein. Doch wie viel davon – wenn überhaupt – ist wahr? Reisen kann wahrlich oft grundlegendste ethische Werte und Überzeugungen auf den Prüfstand stellen.

Aber es lauern noch andere Gefahren: Reisen wird nicht nur den Blick auf die Welt da draußen verändern, der Reisende wird unterwegs auch einen beträchtlichen Teil seiner Zeit darauf verwenden, das Innere der Seele zu erforschen, seiner eigenen und der seiner irdischen Mitbrüder. Gefühle werden sich verstärken und von berauschter Glückseligkeit bis zur Grenze der Selbstzerstörung schwanken. Bei der Heimkehr wird NICHTS mehr so scheinen wie vorher.

Dieses Buch ist ein Bericht über acht Jahre, die ich unterwegs in fast 100 verschiedenen Ländern verbracht habe. Meine Absicht ist es, Fragen aufzuwerfen, nicht Antworten zu geben. Meine Hoffnung ist, dass Sie diese Antworten selbst suchen, indem Sie die Welt bereisen. Wir wohnen auf einem wunderbaren und merkwürdigen Planeten, und die Tage der Entdeckungen liegen nicht in der Vergangenheit. Sie haben gerade erst begonnen.

Genießen Sie Ihren Laotischen Rat-Burger. Bon appetit!

Hinweis

Sollte der Leser politische Korrektheit der beobachteten Realität vor ziehen, so wird er vielleicht einige Kapitel verstörend finden. Ich nenne die Dinge beim Namen und lasse Dummheit und Ignoranz aufscheinen, wo sie Erwähnung verdienen. So kommen einige Länder und Kulturen, die eigene eingeschlossen, im Folgenden nicht immer gut weg, natürlich ohne damit etwas über einzelne Menschen auszusagen. Es kann sein, dass Ihre Meinung eine andere ist. Die Erfahrungen aus erster Hand, auf die sie sich stützt, stehen aber gleichberechtigt neben den meinen.

Es ist nicht wichtig, wer recht hat oder unrecht, wichtig ist, dass wir unsere persönlich erfahrenen Wahrheiten aussprechen. Sich hinter politischer Korrektheit, patriotischen Dogmen, religiösen Überzeugungen und gesellschaftlichen Konventionen zu verstecken, trübt den Blick des Reisenden und führt letztlich nirgendwohin.

Apropos Rat-Burger – da sich mein deutscher Verleger nicht sonderlich für den Titel Der laotische Rat-Burger erwärmen konnte, heißt mein Buch nun Hinter dem Horizont links. Die Idee dazu entstammt der Geschichte von Peter Pan, der ähnlich ungenaue Hinweise gab, wenn er nach dem Weg nach Nimmerland gefragt wurde. Er deutete mit melancholischem Lächeln gen Himmel und antwortete: »Beim zweiten Stern rechts und dann geradeaus bis zum Morgengrauen.«

Ihr GPS wird sich schwertun, mit solchen Informationen eine Reiseroute zu planen, und genau das ist meine Absicht. Ich möchte, dass Sie sich verirren. Rechts oder links … es spielt keine Rolle. Sie betreten Neuland, und alles, dem Sie begegnen, wird neu und faszinierend sein, gleich, welche Richtung Sie einschlagen … Nun aber wirklich guten Appetit!

Christopher Many

Sommer 2011

Europa und Asien

Neugier (Matilda, 1.5.2002)

»Das ist’s …«, rufe ich hinter dem von Spinnweben überzogenen Lenkrad. »Ich kauf ihn.«

Mitten in den schottischen Highlands, in der Nähe des malerischen Dorfes Fort William, steht ein vernachlässigter Land Rover. Das Morgenlicht an einem der seltenen regenlosen Tage kann nicht viel zur Verbesserung seines Aussehens beitragen. Seit drei Jahrzehnten von den Elementen zerbeult, scheint dieses Wunder der englischen Ingenieurskunst nicht gerade das ideale Fahrzeug für eine Weltumrundung zu sein. Und doch, als ich drinnen sitze und durch die staubige Windschutzscheibe starre, höre ich eine bittende Stimme: »Nimm mich mit!«

Eine nähere Prüfung macht klar, dass es sich weniger um Reparatur, sondern eher um eine Wiederauferstehung handelt. Matilda, wie ich sie nannte, nicht im Gedenken an eine frühere Freundin, sondern nach dem australischen Slangausdruck für einen Schlafsack, begann ihr Leben 1975 als Militärbenziner mit langem Radstand, Serie III, 2286 Kubikzentimeter, Vierzylinder. Als Mitglied des UK-Fallschirmregiments war sie in ihren Jugendjahren gelegentlich aus dem Flugzeug geschubst worden, obwohl es sicher eine effizientere Taktik gewesen wäre, feindliche Truppen mit fallschirmlosen Land Rovern zu bombardieren. Mitte der 1980er-Jahre als nicht mehr fit genug befunden, um die Britischen Inseln vor potenziellen Invasoren zu schützen, folgte Matildas zwangsweise Pensionierung. An einen schottischen Bauern versteigert, wurde sie zu einem kleinen Hof verfrachtet, und der Lohn für ihre Jahre von »Ruhm und Ehre« bestand nun darin, Schafe von einer Weide auf die andere zu bringen. Kein Wunder, dass ich da eine bittende Stimme vernommen hatte … meine erste Aufgabe würde es sein, den ganzen Schafmist aus dem hinteren Teil zu beseitigen. Aber für 700 Pfund (1000 Euro), was kann man da schon erwarten?

Zwei Tage später kündigte ich meinen Job bei British Waterways. Es ist ein Märchen, dass eine Weltreise lange und sorgfältig geplant werden muss. Ich kann nicht verstehen, warum viele Reisende Jahre mit Recherchen verbringen, bis sie endlich losfahren. Wenn man einen Skiurlaub in Österreich oder ein Wochenende in Paris vorbereitet, braucht man doch nicht monatelang Informationen zu sammeln … von Europa in die Mongolei zu fahren, ist nichts anderes. Gut, man hat ein paar Grenzen mehr zu überschreiten, aber das Prozedere ist letztlich das gleiche.

»Hab ich genug Geld? Hmm … ja. Meine Ersparnisse sollten für ein paar Jahre reichen. Pass und Kreditkarten? Ja, gecheckt. Nun, ich glaub, das ist’s dann …« Ich stopfe meinen schon gepackten Trekkingrucksack hinten in den Landy, der, trotz meiner Reinigungsbemühungen, immer noch heftig nach Schaf stinkt, und drehe den Zündschlüssel.

Ich stehe in der Einfahrt meiner Eltern, eine Stunde südlich von München. Kaffee kocht auf meinem neu eingebauten Herd, die erste von zahllosen Tassen, die da noch kommen werden. Matildas Aussehen hat sich seit einem Monat erheblich verändert. Mithilfe der örtlichen Schweißerwerkstatt habe ich das Dach weiter nach oben verlegt und einige Einbauten hinzugefügt. Ich mache für meine Eltern die große Führung durch mein aufpoliertes Heim. Matilda ist nicht mehr das vernachlässigte Wrack, das auf einem Acker vergessen wurde, sondern von großer Schönheit. Zumindest in meinen Augen.

»Es ist ein Vierzimmerhaus auf sechs Quadratmetern«, erkläre ich. »Oben Schlafzimmer«, ich klappe die Luke auf, »Kitchenette«, ich zeige auf das fließende Wasser aus meinem 40-Liter-Tank, »Wohnzimmer«, ich drehe den zusammenlegbaren Tisch an seinen Platz, »und Keller«, ich deute auf die zahlreichen Fächer hinten. »Was meint ihr?«

»Wo ist das Bad?«, fragt meine Mutter. Aber an ihrem Augenzwinkern sehe ich, dass sie beeindruckt ist. Matilda ist genehmigt.

Auch mit dem Vorsatz, sich mit einem klaren Schnitt von den gesellschaftlichen Konventionen zu trennen, ist doch eine vollständige Loslösung unmöglich. Es ist klug, eine Krankenversicherung zu behalten, ebenso eine Postadresse. Ein Carnet de Passage ist ein Fahrzeugpass, der weltweit die Zollformalitäten erleichtert, ansonsten aber ist Matilda weder versteuert noch versichert. Hoffentlich habe ich keine Unfälle unterwegs.

Obwohl die Abreise aus Schottland den eigentlichen Reisebeginn darstellte – erst als ich meinen Lieben in Deutschland Lebewohl sagte, wurde mir klar, dass es sich um einen Abschied auf unbestimmte Dauer von allen mir so Nahestehenden handelte. Ich laufe nicht vor Europa davon wie viele andere Reisende. Ich bin nur neugierig auf das, was hinter dem Horizont liegt. Ich werde nach Österreich hinunterfahren, um Rob mitzunehmen, der mich auf meinem Weg begleitet, dann geht es nach Norden, so weit die Straße mich führt.

Auf einem Hügel bei Kirkenes stehend, erhalte ich einen ersten Eindruck von Russland hinter der Grenze. Grauer Rauch steigt von einem dystopischen Industriegebiet auf. Verseuchte Luft strömt zwischen den kubistischen Betonreihen eines Siedlungsprojekts. Ich denke mir graue Leute, die zur Arbeit keuchen, erschlafft aufgrund eines sowjetischen Fünfjahresplans, der schauderbar schiefgegangen ist.

Ich drehe mich um 180° und schaue auf Norwegen hinab. Der Himmel ist blau, und heimelige, rot gestrichene Häuschen tupfen die hübsche Gegend. »Warum gehe ich nach Russland?«, frage ich mich selbst. Im Hinterkopf höre ich den Anfang der alten Raumschiff-Enterprise-Episoden, komplett mit Musik und den leicht geänderten Worten: »Europa – die letzte Grenze. Dies sind die Reisen des Landschiffs Matilda. Seine Fünfjahresmission: fremde, neue Welten zu erforschen. Neue Lebensformen und neue Zivilisationen zu suchen. Kühn zu gehen, wohin ich noch nie ging.«

Darum gehe ich nach Russland. Der Eiserne Vorhang öffnet sich und ich trete ins Scheinwerferlicht einer neuen Bühne. Noch ahne ich nicht, dass meine Mission den Fünfjahresrahmen sprengen wird.

Einsicht (Russland, 1.8.2002)

Russland ist nicht bloß groß, es ist gewaltig. Elf Zeitzonen umfassend, ist es wahrlich ein Land, in dem die Sonne nie untergeht. Es schadet nicht, sich ab und an vor Augen zu führen, dass Deutschland locker ACHTMAL in die russische Provinz Jakutien passt. Wenn auch einige frühere Sowjetrepubliken die Unabhängigkeit erlangt haben, ist Mutter Russland noch immer das bei Weitem größte Land der Erde.

Der Zollbeamte grüßt nicht und sein Ausdruck ist genauso starr wie der des gerahmten Putin an der Wand hinter ihm. Ein paar Dutzend Formulare in kyrillischer Schrift werden unterschrieben, es gibt keine Fragen, und es ist nicht so, dass ich irgendetwas entziffern könnte. Es wäre durchaus möglich, dass ich mich gerade für zehn Jahre Strafarbeit in einem sibirischen Gulag verpflichtet habe. Das von Stacheldraht umrahmte Tor öffnet sich und wir werden durchgewunken.

Ein norwegischer Hügel hatte mir eine erste, trostlose Aussicht auf Murmansk gewährt. Mein zweiter Eindruck ist nicht besser. Alle Farbe ist verschwunden und Grau verschlingt die Stadt. Ein Dokumentarfilm über Murmansk in Schwarz-Weiß würde sich kaum von direkt erfahrener Wirklichkeit unterscheiden. Rob und ich checken im zentralsten Hotel ein, einem gelblich grauen Megalithen. Die 500-und-noch-einige Zimmer sind so quadratisch wie das Gebäude selbst und bieten nicht viel mehr als eine mitgenommene Matratze, nackte Glühbirnen, einen dreckigen Ausguss und einen flimmernden Fernseher. Wir wischen auf einer kreisförmigen Fläche den Schmutz von der Fensterscheibe und schauen hinaus. Der Blick zeigt die gleiche Ansicht wie der vom Hügel. So, das wär’s: willkommen in Russland.

Die ganze Idee einer Sibiriendurchquerung entstand, als ich Rob, einen gebürtigen Engländer, in Neuseeland auf einer Urlaubsreise traf. Wir hatten erfahren, dass Russland die scharfe Kontrolle über den Fremdenverkehr lockerte. Vor 2002 waren Individualreisen schwierig, die Besucher mussten sich auf wenige Wochen beschränken, die Reiserouten waren vorgeplant und die Übernachtungen in staatlich kontrollierten Hotels vorausgebucht. Ein Campingurlaub kam nicht infrage. Mit den Karten auf unseren Laptops hatten wir eine Route von Murmansk nach Wladiwostok entworfen, und wir hatten beschlossen, allgemein bekannte und leicht zu erreichende Städte wie Moskau und St. Petersburg zu meiden und stattdessen der nördlichsten möglichen Route auf der großen West-Ost-Durchquerung zu folgen. Die Wahl der Straße wurde durch die Tat sache erleichtert, dass es in Russland sehr wenige Straßen gibt, sobald der Ural überschritten ist. Die Hauptverkehrsstraße folgt im Allgemeinen der Transsibirischen Eisenbahn, der einzigen Lebensader, welche die abgelegenen Gebiete mit der übrigen Welt verbindet. Mit einem Entdeckergeist wie Afrikas Stanley wollten wir viele erste Begegnungen mit Russlands »Eingeborenen« erleben, die zuvor vom direkten Kontakt mit dem Westen abgeschnitten waren. Wir beantragten und erhielten ein Einjahresvisum für die ehemalige Sowjetunion.

Erst aber … eine Tasse Tee. Ich drehe den Hahn über dem verfärbten Ausguss und sehe nichts als eine rostbraune Brühe, die herauströpfelt. Sicher haben die Russen in Murmansk eine Lösung für das Teeproblem gefunden. Ich bezweifle, dass eine Verdünnung des Leitungswassers mit Wodka dieses trinkbar gemacht hätte.

Die Antwort auf all unser Verlangen sitzt in einer Flurecke gegenüber dem Aufzug. Sie ist massig, alt und sehr hässlich … aber sie hat ein Herz aus Gold, sie ist das Bild von Mutter Russland selbst, sie ist der Maître d’Hôtel, die Babuschka, die für den siebten Stock unseres Hotels zuständig ist. Allein in ihrer Macht steht es, dich mit Tee zu versorgen, mit Brot oder sauberen Hand tüchern. Sie bringt das Essen oder erlaubt Prostituierten den Zutritt. Es hängt alles nur davon ab, wie sehr sie dich mag. Meine erste Lektion in Russland: Sei lieb zu deiner Babuschka! Babuschkas sind leicht zu erkennen. Sie haben alle das gleiche, schwergewichtige Aussehen mit Armen wie Baumstämmen. Manchmal ziert ein feiner Schnurrbart ihre Oberlippen. Aus einem großen Samowar, über den sie gebietet, bekommen wir unseren Tee in Tassen mit vielen Sprüngen.

Spät nachts klopft es ausdauernd an unserer Tür. Ich öffne und sehe draußen zwei recht hübsche, verräterisch gekleidete Mädchen. Ich danke, lehne aber ihr Angebot intimer Zweisamkeit ab. Schmunzelnd gehe ich wieder zu Bett. Unsere Babuschka vom siebten Stock mag uns.

Murmansk selbst ist rasch erkundet. Die untergehende russische Flotte verharrt im Hafen, nicht versenkt von kapitalistischen Kriegsschiffen, sondern aufgrund von Vernachlässigung durch einen inneren Feind … eine pleitegegangene und korrupte Regierung. Der Realität spottend, verkündet eine 40 Meter hohe Stahlbetonstatue namens Alyosha Unsterblichkeit, oben auf einem Hügel still den Tag erwartend, an dem das Reich wiederkommt. Ein ständig geöffneter Freizeitpark amüsiert niemand. Die wenigen in Betrieb befindlichen Fahrgeschäfte knarren bedenklich. Für Kinder ist es wohl zu gefährlich, sich da zu vergnügen. Farbe blättert von den Karussellpferden. Ich fühle, wie Melancholie und Tristesse mich durchziehen.

Das ändert sich alles, als ich mein erstes Päckchen russischer Belamorkanal-Zigaretten erstehe. Es kostet bloß 7 Cent.

Wir starten den Landy und fahren nach Südwest, auf das Weiße Meer zu. Jede Stadt, gleich welcher Größe, hat einen Polizeikontrollpunkt an ihrer Grenze. Manchmal werden wir durchgewunken, aber meist werden wir angehalten und müssen Pass und Führerschein vorweisen.

»Wohin fahren Sie?«, wird jedes Mal gefragt. »Wladiwostok«, ist jedes Mal die Antwort. Ein anerkennendes Kopfnicken ist wiederum jedes Mal die Reaktion darauf. Sie kennen die Entfernungen, die wir zurücklegen müssen, und verstehen, welche Strapazen wir vielleicht zu erdulden haben werden. »Seid vorsichtig«, warnt man uns, »hier seid ihr sicher. Hinter dem Ural aber wird’s gefährlich. Die Leute dort sind nicht wie wir …«

Die Insel Solovetski im Weißen Meer wurde durch Alexander Solschenizyns Buch Archipel Gulag berühmt. Er war acht Jahre lang in verschiedenen Arbeitslagern eingesperrt und konnte als Überlebender die Geschichte erzählen. Wir planen einen Besuch.

Im Hafen von Kjem vertäut liegt ein Nachbau des Segelschiffs NIKOLAI von Peter dem Großen mit einer Kanone an Bord. Ein älterer Norweger hat das Schiff gechartert und bietet uns freie Hinfahrt an. Wie wir wieder aufs Festland zurückkommen, ist unser Problem.

Allmählich kommt Solovetski in Sicht und zum ersten Mal erblicke ich das Russland meiner Träume. Die Zwiebelhauben der Türme orthodoxer Kirchen glitzern golden in der Sonne. Da ist ein Dorf aus rustikalen Blockhäusern, dort arbeiten Leute in ihren Gärten, graben Kartoffeln aus und ernten Kohl. Frische Landluft weht vom Ufer der Insel über die letzte Meile Wasser herüber. Bald darauf sitzen wir vor den Mauern des Klosters und beobachten Leute. Die starren Putinporträts von Murmansk sind verschwunden, stattdessen wird uns zugelächelt und zur Begrüßung gewunken. Es stimmt, dass die Leute der Umgebung gleichen, in der sie leben.

Ein junger Steinmetz ist zur Restaurierung des Klosters angestellt. Er lädt uns zu sich ein auf ein Abendessen und eine Flasche Wodka. Oder Wodka mit Essen? In Russland ist Wodka nämlich das Lebenselixier; billiger als Wasser ist er das Allheilmittel für alle Leiden, ohne ihn wäre das Leben nicht zu ertragen. Wir essen Pasta und trinken. Die Konversation in einem Russisch-Deutsch-Englisch-Gemisch wird proportional zum schwindenden Inhalt der Flasche leichter, auch wenn ich merke, wie meine Zunge von dem ungewohnten Getränk schwerer wird. Vor die Aussicht gestellt, ein Jahr in diesem Land zu verbringen, hätte ich besser meinen Stoffwechsel darauf vorbereitet, mit den örtlichen Gebräuchen klarzukommen. Es gibt da keine Alternative.

Einige wenige Reisende sind russischen Saufgelagen mit dem Hinweis darauf, sie seien Alkoholiker, entkommen. Das klappt, baut aber eine Schranke zwischen den Kulturen auf. Du wirst dann als Krüppel bedauert und niemals ganz ins innere Heiligtum der russischen Freundschaft eingelassen. Leide und gewöhne dich daran. Schon bald wird sich dein Körper anpassen. Mehr noch, deine Sinne werden die Realität Lügen strafen und die russischen Städte für kurze Zeit in einem farbenprächtigen Frühling erblühen lassen.

Ich werde in einem sowjetischen Keller von nackten, schweißgebadeten Mönchen mit Birkenreisern ausgepeitscht.

Aber nein, das ist kein perverser russischer Fetischismus. Auch ist es keine unorthodoxe orthodoxe Fegefeuermethode zur Strafe für exzessiven Wodkagenuss. Es ist alles, wie es sein soll. Ich bin in einer russischen Banya, dem Gegenstück einer Sauna. Die Tatsache, dass es nackte Mönche sind, die ihr Bestes für die Austreibung der Dämonen aus meinem Körper geben, indem sie meinen Rücken mit jungen Birkenzweigen peitschen, erklärt sich dadurch, dass wir unser Lager beim Syktyvkar-Kloster aufgeschlagen haben. Aber schon bald kommt meine süße Rache, dann darf ich den Mönch peitschen.

Eine Banya regelmäßig zu besuchen, ist russische Tradition. Rob und ich nehmen bei jeder Gelegenheit an der Zeremonie teil. Nach einigem anfänglichen Zögern finden wir diese Besuche nun sehr reinigend. Birkenblätter haben ein beruhigendes Aroma und das Peitschen regt den Blutkreislauf an. Heißt es wenigstens. Und zweifelsfrei hilft es, einen Wodkakater auszukurieren.

Bei der Fahrt über die Landstraßen hatten wir uns zunächst über die Frauen an den Waldrändern gewundert, die Zweigbündel in den Händen hielten. Die Zweige sind zu kaufen. Die richtige Art Zweige für die private Banya zu wählen, ist eine Kunst, die auf gleicher Höhe mit der Musterung eines Zuchthengstes steht. Sie sollten weder zu alt sein, noch sollten die Ruten zu dick sein … sonst könnte das Peitschen in Sadismus ausarten.

Bald lerne ich auch eine weitere wichtige Rolle der Banya kennen. Sie ist der Versammlungsort der Nachbarschaft. Eines von einem Dutzend Häusern hat eine und alle benutzen sie. Auf hölzernen Bänken sitzend, werden Geschichten erzählt, politische Ereignisse diskutiert und Gedichte rezitiert. Ich nehme an, auch wenn mir der Beweis fehlt, dass eventuelle Aggressionen gegenüber lästigen Nachbarn hier abgebaut werden. Man schlägt sie nur ein bisschen heftiger, als man das bei anderen tun würde. Könnte diese Banya-Tradition in Deutschland funktionieren? Würden wir dann zuletzt gar unsere Feindseligkeiten begraben, die solchen Kleinkram betreffen wie »Wessen Zweige hängen über wessen Zaun?« oder »Zu welcher Zeit darf unser lieber Nachbar seinen Rasen mähen?«.

Seit einigen Monaten auf der Reise, folgen wir bis jetzt den Gleisen der Transsibirischen Eisenbahn. Jede Abweichung nach Norden endete entweder in einer Sackgasse oder im Desaster. Manchmal folgen wir einer unbefestigten Straße, nur um zu sehen, wie sie in einen Waldweg für die Arbeiter eines Sägewerks ausläuft. Doch wie ursprünglich beabsichtigt, treffen wir auf diese Weise Russen, die noch nie zuvor einen von außerhalb Kommenden gesehen haben.

Auf einer dieser Roads to nowhere überqueren wir einen Fluss auf einer Fähre. Stolz zeigt uns der Fährmann sein Schiff. Wir steigen hinunter in die Eingeweide des Maschinenraums, wo die Kolben laut stampfen, ohne das ungesund knirschende Geräusch ausgeleierter Kugellager überdecken zu können.

»An allem ist Gorbatschow schuld.« Er erklärt: »Er war das Schlimmste, was Russland passieren konnte. Wir haben ihn alle gehasst.«

Das ist mir neu. Im Westen denkt man an Gorbatschow als einen Botschafter des Friedens, einen Helden und Nobelpreisträger. Vermutlich, weil seine Handlungen für uns gut waren, nicht aber für Russland.

»Perestroika, ich weiß, ich weiß. Was haben wir denn von der Perestroika? Mafia, Kriminalität, Korruption und keine Kugellager für meine Fähre!« Am anderen Flussufer ziehe ich einige Rubel heraus, um für die Überfahrt zu bezahlen. »Nein, nein. Für euch kostet es nichts. Ihr seid Gäste in Russland, ihr braucht nicht zu zahlen.« Der Fährmann lächelt. »Wartet«, sagt er, verschwindet in seiner Kabine und kommt mit einem hart gekochten Ei wieder, seinem Mittagessen. »Für euch.«

Wo auch immer wir reisen, überschütten uns die Leute mit Geschenken, ohne irgendeine Gegengabe zu erwarten. An einer kaputten Ampel klopft ein Teenager an unsere Scheibe und gibt uns eine Kassette der neuesten russischen Rockband. »Damit ihr euch an uns erinnert«, sagt er lächelnd, bevor er weggeht; ein Fischer schenkt uns seinen kompletten Tagesfang; ein Geschäftsmann aus St. Petersburg reicht uns eine russische Straßenkarte auf CD-ROM. T-Shirts, Aufkleber und Anstecknadeln häufen sich in unseren Kisten. Wenn ich jemanden in seiner Wohnung besuche, muss ich aufpassen, dass ich nichts zu sehr bewundere … es könnte mir sonst später als Geschenk überreicht werden.

Wir geben im Gegenzug, so gut wir können, aber wir wissen, dass es in keinem Verhältnis steht. Viele Russen haben nämlich so gut wie nichts. Das T-Shirt kostet vielleicht einen Wochenlohn und das Ei ist wertvoller als eine Einladung zum Dinner im Pariser Savoy.

Das ländliche Russland funktioniert heute nur, weil sich die Leute an eine Lebensweise gewöhnt haben, in der der Tauschhandel eine große Rolle spielt. Es ist im Wesentlichen eine Gesellschaft ohne Geld. Lehrer werden mit landwirtschaftlichen Produkten von den Familien der Schüler bezahlt; dem Dorfmechaniker wird das undichte Dach durch einen früheren Kunden geflickt; der Arzt findet vielleicht einen Stapel Feuerholz vor seiner Banya.

Ausgestoßene sind die Polizisten, keiner mag sie. Gut möglich, dass sie seit Monaten kein Gehalt von der Regierung bekommen haben. Mit nichts zum Tauschen müssen sie sich auf Strafgelder und Korruption verlegen, um ein Einkommen für ihre Familien zu haben.

Eine fast unmerkliche Steigung führt durch die bewaldeten Berge des Ural. Ohne genaue Karte hätten wir sie vielleicht ganz übersehen. Nur die leichte Geschwindigkeitszunahme meines Landys deutet an, dass wir den höchsten Punkt des flachen Hanges erreicht haben. Oben ist eine Steinsäule, auf der »Asien« steht. Und auf der anderen Seite »Europa«. Wir stellen für einen Augenblick feierlicher Andacht den Motor ab. Es scheint, als seien wir schon weit gekommen, aber die Entfernungen täuschen … wir sind immer noch neun Zeitzonen von Wladiwostok entfernt. Lieber wieder aufbrechen … eine Drehung des Zündschlüssels, und wir rollen weiter, immer in Richtung der aufgehenden Sonne.

Die Landschaft ist nun zu einem endlosen Birkenwald geworden, und die Ent fernungen zwischen den Ortschaften nehmen zu, während wir weiter nach Osten fahren. Zeitzonen werden überquert, ohne dass wir sie bemerken. Was ist Zeit? Das Leben wird bestimmt durch Licht, Dunkelheit und den Wechsel der Jahreszeiten. Würde ich unsinnigerweise diese Straße verlassen, könnte ich 3000 Kilometer durch unbewohnte Tundra wandern, bevor ich mich an den ebenso leeren Ufern der Nordostpassage wiederfände. Warum umweltbewusste Europäer so ein Geschrei wegen der Abholzung des amazonischen Regenwalds machen, geht über meinen Begriff. Verglichen mit dem, was wir hier haben, ist eine Amazonasexpedition nur ein kleiner Waldspaziergang, und doch wird der sibirische Birkenwald nie in Klimaschutzkonventionen erwähnt.

Seit Tagen haben wir nahe den Gleisen übernachtet, die hier vor mehr als einem Jahrhundert gelegt wurden. Es dauerte 25 Jahre, bis Sträflinge und Soldaten die 10 267 Kilometer lange Strecke fertiggestellt hatten, und ihre Tagebücher erzählen grausige Geschichten von den erduldeten Leiden:

»Ja, die Winter waren übel. Minus 50 °C, manchmal darunter, wir froren beständig. Selbstmord schien dem Warten auf das Ende des Winters vorzuziehen. So glaubten wir. Der Sommer kam und die Schneeschmelze weichte den Boden zu einem brodelnden Morast auf, der Millionen Moskitos anzog. Wir konnten ihnen nicht entfliehen. Tag und Nacht atmeten wir Insekten ein und unsere Körper waren wund und angeschwollen von Hunderten Stichen. Einige wurden in den Wahnsinn getrieben und setzten in die Tat um, was wir in den Winternächten beredet hatten. Ja, im Sommer war es, dass einige Selbstmord begingen …«

Solche Geschichten verdeutlichen unser eigenes Elend, wenn wir in den Wäldern nach draußen müssen. Es ist Hochsommer und die Temperaturen in Sibirien können plus 40 °C erreichen. Die Mücken schaffen es sogar, uns in die Hauptstadt Sibiriens, Nowosibirsk, zu folgen. Als Rob wegen der Hitzewelle auf dem Landy-Dach vor dem Hotel Sibir schläft, kommt er morgens mit einer Menge juckender Stiche herunter. Wie die Erbauer der Transsib sehnen wir uns nach dem Winterbeginn.

Wir suchen nach ein wenig Unterhaltung und sind erstaunt, wie wenig diese riesige Stadt zu bieten hat. Den tourenden Russischen Staatszirkus zu besuchen, erscheint uns als die beste Option. Mit wieder erwachten Kindheitserinnerungen sitzen wir in stiller Erwartung, denn es ist ja bekannt, dass die russischen Artisten zu den besten der Welt gehören.

Und dann der große Moment. Der Zirkusdirektor erscheint, das Publikum klatscht Applaus, und was bringt er mit … einen Papagei. Papagei? Keine Tiger, Löwen, Elefanten? Aber ist es nicht so, dass erste Eindrücke oft täuschen? Vielleicht spricht der Papagei Latein? Erst als der Vogel die Flügel ausbreitet, die Manege umrundet und gelegentlich auf Zuschauer scheißt, fühle ich eine Spur von Enttäuschung. Ein paar peinliche Minuten später entschwindet Polly in den hintersten Winkeln des Zelts, ohne das Rufen des Zirkusdirektors zu beachten und um vielleicht auf immer zu verschwinden. Der zweite Akt beginnt mit einem weißen Pudel, der an einer Leine in Kreisen um das innere Rund geführt wird. Widerstrebend springt er über Hindernisse, die gerade halb so groß sind wie er selbst. Das Kamel im Hintergrund tut glücklicherweise nicht viel, während die Ponys munter äpfeln und die rücklings aufgesessenen Reiter das Malheur teilnahmslos betrachten.

Dann betritt der »letzte« große russische Bär, seit ewigen Zeiten das Maskottchen der Sowjetunion, die Mitte der Manege. Er hat schon bessere Tage gesehen, ebenso wie sein Land. Mit einem Zug an der Kette schafft er es schließlich, sich auf die Hinterbeine zu stellen.

Ein Umweg führt uns nach Tobolsk, wo uns ein Anfall von Spontaneität in das örtliche Hauptquartier der Kommunistischen Partei führt. Statt einen verräucherten Raum voll Sowjets mit kantigen Bärten vorzufinden, werden wir von einem Dutzend pickeliger Teenager begrüßt. Jeder unserer Versuche, über Politik zu sprechen, wird durchkreuzt. Ja, Stalin war ein Genie, und Gorbatschow hat unser Land ruiniert, aber möchten wir nicht lieber Tee und Gebäck?

Zusammen besuchen wir den Friedhof von Tobolsk, wo anonyme Armengräber neben den grandiosen Katakomben der Mafia liegen, und wir posieren für ein Foto vor einer Leninbüste. Mit Pionierparteiabzeichen an unseren T-Shirts und einem roten Buch mit dem Kommunistischen Manifest in der Hand nehmen wir Abschied, nicht klüger als zuvor, was den Kommunismus betrifft, aber wenigstens haben wir die Bäuche voll. Ich bin froh, die Leute getroffen zu haben, die McCarthy so gefürchtet hat.

Man weiß nie genau, was einen erwartet, wenn man eine neue Oblast, eine neue Provinz, betritt. Russland ist keine homogene Gesellschaft, sondern eine bunte Mischung von Völkern mit verschiedenem kulturellem Hintergrund. Stalin entschied, jeder der 83 ethnischen Gruppen in Russland ein eigenes Gebiet zuzuweisen, wo sie ihre kulturellen Eigenarten beibehalten konnten. Gut. Fast. Natürlich mussten diese in einen sozialistischen Rahmen passen.

Einige Gruppen wurden eher willkommen geheißen als andere. Die Tuvan und Altai erhielten zum Beispiel jeweils autonome Republiken nahe der mongolisch-kasachischen Grenze, wo sich ihre angestammte Heimat befindet. Wir verbringen dort einige Wochen beim Trekken in der Bergregion des Bjelucha, eines über 4500 Meter hohen Postkartengipfels.

Die Tuvan von nebenan haben durch die Kunst des Kehlgesangs internationalen Ruhm erlangt, eine Technik, bei der die Kehle eingeschnürt ist, während die Mundhöhle so geformt wird, dass sie Obertöne hervorbringt. Das Ergebnis scheint menschenunmöglich: Ein einzelner Sänger kann gleichzeitig verschieden hohe Töne erzeugen. Tuva ist auch das einzige Land der Welt, in dem der Schamanismus offizielle Staatsreligion ist.

Die Juden waren nicht so glücklich. 1934 errichtete Stalin ihnen eine Enklave in einer der rauesten Gegenden Russlands, einer Region, die einerseits niemand haben mochte und die andererseits so weit wie möglich von Moskau entfernt war. Man darf wohl annehmen, dass Stalin hoffte, die Juden würden in Sibiriens ungastlichem Klima zugrunde gehen. Es wäre fast so gekommen. Heute sind weniger als 2 % der Bewohner der Jüdischen Autonomen Republik Juden.

Die Geschichte von Kjachta (15.11.2002)

Bei Kjachta gibt es einen neuen internationalen Grenzposten zur Mongolei. Bis vor Kurzem mussten Ausländer, die aus Russland ausreisen wollten, die Pekinger Abzweigung der Transsibirischen Eisenbahn benutzen, gleich, ob sie mit dem Auto über Land fuhren oder nicht. Die unselige Prozedur bedeutete, dass man sein Auto in Kjachta zurücklassen musste, damit es von einem mongolischen Fahrer – gegen Gebühr versteht sich – über die Grenze gebracht wurde. Man selbst fuhr ein paar Kilometer mit der Bahn ins Land Dschingis Khans, um das Fahrzeug auf der anderen Seite wieder zu übernehmen ... gesetzt den Fall, dass der Mongole nicht kurz entschlossen seine eigene Überlandexpedition gestartet hatte.

Rob und ich erreichen die Grenze am 2. Oktober. In den vergangenen Monaten haben wir uns an humorlose Regierungsbeamte gewöhnt, aber der Grenzbeamte von Kjachta hat die Kunst der Unfreundlichkeit perfektioniert. Mit versteinertem Gesicht prüft er unsere Fahrzeugpapiere ein wenig zu gründlich. »Wartet«, brummt er, seine Augen verengen sich zu Schlitzen und er verschwindet mit unseren Papieren im Hauptgebäude. Irgendetwas ist faul. Rob und ich üben uns in wechselseitigem, unschuldigem Achselzucken. Zehn Minuten später kommt Boris – unser Grenzbeamter sieht einfach aus wie ein Boris – mit Swjetlana zurück, einer Buryatifrau, die als Übersetzerin fungiert.

»Euer Fahrzeug ist illegal in Russland und wird beschlagnahmt.«

Weiteres Nachfragen enthüllt, dass Matilda unerklärlicherweise nur ein Visum für 30 Tage bekommen hatte, während unseres ein Jahr gültig ist. Eines unserer unterzeichneten Zollformulare aus Murmansk scheint das zu bestätigen, wenn auch in unleserlicher, kyrillischer Schrift. Appelle an den gesunden Menschenverstand nützen nichts, die schwere Maschinerie der russischen Bürokratie hat sich schon vor einer Weile in Bewegung gesetzt, mahlend, umwühlend und absolut nicht zu stoppen. Denn der Beamte Pavlov aus Murmansk hat eine Vollmacht ausgestellt, die die Konfiszierung von Matilda, die Zahlung einer Strafe von 9000 US-Dollar und unsere Ausweisung aus Mutter Russland vorsieht. Nicht hier, sondern zurück in Murmansk.

Unsere Gesichter werden lang. Sicher erwarten nicht einmal die Beamten in Kjachta, dass wir einer solch absurden Forderung nachkommen. Es stimmt, dass wir unwissentlich Zollvorschriften missachtet haben, aber sollen wir vielleicht sagen: »Tut uns leid, hier sind die Schlüssel, und zufällig haben wir gerade neun Tausender in der Tasche?«

»Swjetlana«, schlägt Rob in aller Ruhe vor, »versuchen Sie, Herrn Pavlov anzurufen. Ich glaube sicher, dass diese Verwirrung per Telefon geklärt werden kann.«

Wir haben vergessen, dass Murmansk in einer anderen Zeitzone liegt, nicht nur eine, sondern acht Stunden trennen die beiden Bezirke. Herr Pavlov schläft tief in dicke Daunendecken eingewickelt. Murmansk und sogar Moskau können nicht direkt mit Kjachta sprechen, weil die Beamten nie gleichzeitig arbeiten. Die Unfähigkeit großer Länder, intern zu kommunizieren, muss ein Grund dafür sein, dass kleine Imperien überleben und ganz allgemein besser geführt werden.

»Wir schicken ein Fax«, erklärt Swjetlana. »In der Zwischenzeit müsst ihr euren Wagen hierlassen und ins Hotel gehen.« Wir lassen uns leicht dazu überreden, tauchen doch weitere Borisse im Hintergrund auf. »Morgen werden wir eine Antwort haben«, verspricht sie.

Das Hotel zu finden, war einfach. Es gibt nur eines. Wir sind jetzt schon so lange hier, dass die Schaben in unserem Zimmer Namen bekommen haben. Es ist der 16. Oktober, und Herr Pavlov hat immer noch nicht auf das Fax geantwortet. Wir fühlen uns hilflos, hoffnungslos, als Geiseln der russischen Regierung. Es kann nur wenig getan werden, um unsere Langeweile zu vertreiben. Kjachta ist in zehn Minuten erkundet. Nach zwei Wochen haben unsere Schritte schon tiefe Furchen ins Pflaster gegraben.

Die Nachricht von unserem Dilemma hat sich in der Stadt verbreitet. »Zu Zeiten der Sowjetunion wäre so etwas nicht vorgekommen«, heißt es aus Mitleid mit unserer Lage. Wiederum aber, zu Zeiten der Sowjetunion hätten wir Kjachta niemals erreicht. Die Grenzgebiete waren für Ausländer gesperrt.

Rob beginnt, Englischkurse an der örtlichen Schule zu geben, im Gegenzug verspricht die Lehrerin, uns bei der Übersetzung des Fax aus Murmansk zu helfen, sollte es denn je ankommen. Wir trauen ihr eher als Swjetlana. Es hat zu schneien begonnen und die Temperaturen liegen unter dem Gefrierpunkt. Ein sibirischer Winter steht uns bevor.

Spät in der Nacht klopft es an unsere Tür. Der Hotelmanager sagt, dass Gäste angekommen seien, die mit uns zusammentreffen möchten, und fragt, ob wir nicht ins Restaurant kommen könnten.

Jeder Grund, unseren monotonen Alltag zu durchbrechen, kommt gelegen, und so machen wir uns auf den Weg, die Treppe hinunter. Die Gäste sind ein Englisch sprechendes Paar aus St. Petersburg. Angenehme Gesprächspartner, wir erzählen unsere Geschichte bei Abendessen und Wodka. Erst danach bemerken wir, dass wir den größten Teil des Gesprächs selbst geführt haben. Am Morgen ist das Pärchen bereits abgereist.

»Habt ihr mitbekommen, wer sie waren?«, flüstert der Hotelmanager hinter der Rezeption. »Hm, zwei Touristen aus St. Petersburg?« Das Flüstern ist nun kaum noch hörbar: »KGB. Undercover.«

Es scheint, dass wir die Aufmerksamkeit von Russlands gefürchtetem Geheimdienst auf uns gezogen haben. Höchstwahrscheinlich sind wir in Russlands Grenzgebiet nicht länger willkommen.

20. Oktober und das Fax ist da. Swjetlana erscheint im Hotel. Wir sollen unsere Habseligkeiten packen und dann zum Grenzposten kommen. Darf das wahr sein? Ist der Albtraum endlich vorüber? »Ja«, versichert uns Swjetlana. »Der oberste Zollinspektor des Bezirks ist da und ihr könnt in die Mongolei weiterreisen.«

Wir brauchen kaum fünf Minuten, um unsere Rucksäcke vollzustopfen und uns von Alfred, unserer Lieblingsschabe, zu verabschieden.

Unsere freudige Stimmung fällt in sich zusammen, als wir uns eingesperrt in einem Hinterzimmer des Zollhauses voll furchterregender Borisse wiederfinden. »Unterschreibt unten«, befiehlt Swjetlana und reicht uns ein umfangreiches Dokument über den Tisch.

»Aber was bedeutet das? Und wo ist der Oberinspektor?«, frage ich. Wir sind in die Falle gegangen.

»Ihr seid einverstanden, den Land Rover vollständig zu entladen, damit der gesamte Inhalt zur Bahnstation gebracht werden kann. Dann könnt ihr in die Mongolei weiterfahren.«

»Ohne unser Auto?«

»Ohne Auto. Das ist jetzt russisches Staatseigentum.« Ich fühle den Atem eines Boris an meinem Hals. Wir müssen so ruhig wie möglich bleiben. »Abgesehen davon, dass es unmöglich ist, 300 Kilo privater Dinge aus unserem Auto zu laden … wir werden das nicht tun!« Rob versucht seinen drohendsten Blick. Ich würde lachen, wenn die Situation nicht so ernst wäre.

»Dann werdet ihr inhaftiert.« Mit einem Timing, besser als bei olympischen Synchronschwimmern, kreuzen wir die Handgelenke: »Dann inhaftiert uns.« Stille erfüllt den Raum.

Bis zu diesem Augenblick waren die Beamten in Kjachta passiv, beschränkten sich auf Lügen und grimmige Blicke als Mittel der Überredung. Uns aber tatsächlich zu verhaften, wäre eine ernste Angelegenheit mit nicht vorhersehbaren Folgen. Dürfen Zollbeamte zwei Ausländer wegen eines unbeabsichtigten Fehlverhaltens ins Gefängnis stecken? Sie müssen die schreiende Ungerechtigkeit spüren, liegt doch der Fehler so klar bei den Kollegen aus Murmansk. Wir möchten allerdings nicht so lange warten, bis wir das herausfinden.

»Chris«, flüstert Rob, während der Boris mit den meisten Sternen auf der Schulter abgelenkt ist und mit Swjetlana diskutiert, »sei krank.« Ich durchschaue seinen Plan. Irgendwie müssen wir diesem Zollgelände entfliehen und zum Hotel zurückkehren. Sind wir erst einmal aus diesem stacheldrahtumzäunten Quadratkilometer heraus, liegt der Rechtsvollzug bei der Polizei und nicht beim Zoll. Wir könnten einige Zeit gewinnen. Die Hauptschwierigkeit würde sein, das Niemandsland bis zum Haupttor zu durchqueren. »Kannst du beide Rucksäcke tragen?«, frage ich leise. Rob nickt. »Dann mach dich fertig.«

Was folgt, muss so ungefähr die schlechteste Schauspielerei sein, seit Ronald Reagan in Höllenhunde des Pazifik auftrat. Ich greife an meinen Magen und stöhne laut.

»Ist alles okay?«, fragt Rob und blickt bekümmert. Nur ich kann einen Funken von Humor in seinen Augen blitzen sehen. »Brauchst du einen Arzt?«

»Krämpfe«, keuche ich, »es wird schlimmer.«

Rob schultert unsere beiden Rucksäcke und hilft mir auf die Beine.

»Wir brauchen einen Arzt!«, ruft er und strebt der Tür zu. Ich stütze mich auf ihn, so stark ich mich traue, gekrümmt und ein Hinken spielend.

»Njet!«, schreit ein Boris. »Ihr bleibt hier!« Swjetlana hält ihn zurück, als er versucht, uns zu stoppen. Ob sie das tut, weil sie uns glaubt, oder ob sie einfach körperliche Gewalt vermeiden will, wissen wir nicht. Diesen Augenblick nützend, humpeln wir nach draußen. »Schneller«, fleht Rob, »und schau nicht zurück.«

Ein Milizionär bewacht das Tor. Boris und Swjetlana laufen jetzt und versuchen, uns einzuholen.

»Lassen Sie uns durch! Wir brauchen einen Arzt!«

Ich krieche unter der Schranke durch und breche im Schnee zusammen, wälze mich zur Schau vor Schmerz, während Rob den Wächter ablenkt. Ich höre, wie Swjetlana atemlos herbeikommt. »Okay, er kann ins Hotel gehen. Und Sie bleiben hier!«, sagt sie.

»Ja, Scheiße! Sie brauchen die Unterschrift von Chris, das Fahrzeug gehört ihm! Und seht doch! Er braucht Hilfe!«

Auf diesen Wink hin wälze ich mich noch ein wenig mehr. Aber verdammt, der Boden ist kalt! Rob schlüpft durch das Tor und ruft ein Taxi.

Wir sind zurück in unserem Hotelzimmer und erwarten jeden Moment, dass die Polizei kommt. »Deine Schauspielerei war entsetzlich«, lacht Rob, »aber wenn sie glaubwürdig sein soll, müssen wir einen Arzt rufen.«

Während ich einen Eimer neben das Bett stelle und mich frage, was ich mir in die Kehle stecken und wie ich die Toilettenspülung manipulieren könnte, dass sie dauernd spült, telefoniert Rob von der Rezeption aus.

Kaum 20 Minuten später steht eine Babuschka mit Gummistiefeln und einem riesigen schwarzen Arztkoffer vor unserer Tür. Ja, sie ist Kjachtas Ärztin. »Und wo ist das Problem?«, fragt sie und setzt sich schwer neben mich aufs Bett. »Aha, Magenkrämpfe und Benommenheit? Vielleicht eine Lebensmittelvergiftung?« Das wäre gar keine sehr weit hergeholte Annahme, wenn man die Küche in unserem Hotel bedenkt.

Dr. Babuschka öffnet ihren Koffer und holt ein Sortiment von Spritzen nadeln heraus. Die, mit der üblicherweise Elefanten ruhiggestellt werden, ist für mich. Ich kremple meinen Ärmel hinauf. »Njet«, sagt sie und deutet auf meinen Hintern. Bisher war ich nie krank, aber jetzt könnte sich das bald ändern. Rob ist im Bad und platzt fast vor Lachreiz. Dr. Babuschka nimmt keinen Rubel für die Behandlung an. Vielleicht war das sadistische Vergnügen, eine Nadel in den Hintern eines Deutschen zu rammen, Belohnung genug.

Es ist der 23. Oktober und ich habe Hunger. Normalerweise bestellt man keine Mahlzeiten aufs Zimmer, wenn man sich von einer Lebensmittelvergiftung erholt, und so bin ich auf halbe Ration gesetzt worden und teile mir mein Dinner mit Rob. Aber wir waren nicht untätig die letzten Tage. Sowohl die britische als auch die deutsche Botschaft wurden verständigt, etwas, was wir schon vor Wochen hätten tun sollen.

Der britische Konsul tobt, verwendet starke Worte wie Einschüchterung, Erpressung und Geiselnahme, um unsere Behandlung in Kjachta zu beschreiben. Er verspricht, das Komitee für internationale Zollzusammenarbeit zu kontaktieren, während wir einen Rechtsanwalt suchen.

In Kjachta gibt es eine Rechtsanwältin, jedenfalls so etwas Ähnliches. Als wir das schäbige Büro betreten, kommen uns Zweifel. Außer einer elektrischen Brennschere und einer Schreibmaschine ist der Schreibtisch leer. Aber erste Eindrücke täuschen, die junge Frau versteht ihr Metier:

»Nein, der Zoll darf weder in Ihr Fahrzeug einsteigen noch es ohne Ihre schriftliche Zustimmung irgendwohin fahren.«

»Nein, gehen Sie auf keinen Fall mehr zur Grenze, bevor die Sache geregelt ist.«

»Ja, ich werde ein ausführliches Rechtsgutachten verfassen und es an die britische Botschaft faxen. Das macht sechs Dollar, bitte.«

Für sechs US-Dollar würde man einen amerikanischen Anwalt nicht einmal dazu bringen, einem die Hand zu geben. Ich liebe Russland.

Im bürokratischen Getriebe ist der Overdrive eingelegt worden, die Zahnräder rotieren mit Höchstgeschwindigkeit. Jemand von hoch oben in der Hierarchie hat sich überaus verärgert an den Zoll von Kjachta und Murmansk gewandt und Matildas sofortige Herausgabe angeordnet. »Pavlov wird den Gang kehren«, sagt man uns. Endlich, nach fast einem Monat in diesem gottvergessenen Kaff, können wir unsere Reise ungehindert fortsetzen, ohne eine Strafe bezahlt zu haben.

Die Borisse sind fort, als wir Matilda aus dem Zollgelände herausfahren. Nur Swjetlana ist da, um uns Lebewohl zu sagen. »Entschuldigt bitte«, sagt sie, »aber ich habe nur die Befehle befolgt.« Wir glauben ihr wirklich. »Hier, ein Glücksbringer.« Ich bekomme einen Miniaturmongolenstiefel, der an einer Kette baumelt. »Zur Erinnerung an uns.«

Im Moment möchte ich Kjachta bloß noch vergessen, aber es wird auch eine Zeit kommen, mit einem Lächeln zurückzublicken, dann, wenn diese Erfahrung ein Teil der verwickelten Reisegeschichte geworden ist.

Ich trete ein wenig fester aufs Gaspedal, bis die Grenze nicht mehr im Rückspiegel zu sehen ist. Nur vorsichtshalber, falls jemand da capo ruft.

Verwandtschaft (Mongolei, 20.12.2002)

Wenn ich eine Dinnerparty veranstalten würde und fünf historische Persönlichkeiten einladen dürfte, wäre eine davon sicher Temudschin, also Dschingis Khan. Um ihn herum säßen Albert Einstein, Laotse, Walt Whitman und Richard Branson. Vielleicht könnte Mr. Bean den Kellner spielen.

Wenn ich daran denke, so werde ich wohl ein ganzes Bataillon russischer Borisse als Sicherheitsleute brauchen, falls die Argumente in unserer Tafelrunde schlagend werden sollten. Vom mongolischen Kriegsherrn Dschingis Khan heißt es, er habe feindliche Adlige unter seiner schweren steinernen Tisch platte zermalmen lassen, während er oben tafelte.

Trotz seiner seltsamen Art von Humor muss man anerkennen, was er erreicht hat. Dschingis Khan und seinen Nachfolgern gelang es, 22 % der Welt von einer abgelegenen, asiatischen Steppe aus zu erobern und so das größte Reich zu schaffen, das die Geschichte je gesehen hatte. Seine Horden, später von seinen Söhnen und Enkeln geführt, ritten bis Polen, Ungarn und Bulgarien und bahnten sich ihren Weg durch einige der mächtigsten Königreiche Europas wie ein Messer durch weiche Butter.

In diesem riesigen Land gibt es eine einzige Teerstraße, die von der russischen Grenze im Norden zur chinesischen im Süden führt. Diese 1724 Kilometer sind nur wenig mehr als eine Routenempfehlung. Nichts hindert einen daran, nach links oder rechts abzuweichen, um zu einem fernen Berg am Horizont zu fahren. Sobald dieser erreicht ist, kann der nächste markante Punkt angesteuert werden und dann wieder der nächste. Die Mongolei kennt weder Zäune noch einen deutlichen Begriff von Landeigentum. 30 % der Bevölkerung sind Nomaden und leben davon, Kamele und Pferde für den Eigenbedarf zu halten. Frei können alle gehen, wohin sie wollen, und ein Glück suchen, das den meisten im Westen längst verloren gegangen ist.

So, wie die Mongolei nur eine Straße hat, hat dieses Land auch nur eine Stadt: Ulan-Bator. Der Rest sind nur zeitweise feste Siedlungen an Orten, an denen einst die Russen Verwaltungszentren aufgebaut hatten. Für die Bevölkerung in der Gegend sind sie Handelsplätze, wo ein paarmal im Jahr Waren getauscht werden. Banken, Supermärkte, Karstadt oder Kentucky Fried Chicken gibt es nicht. Alles, womit man rechnen kann, sind einige bröselige Ziegelsteingebäude, eine handbetriebene und meist leere Benzinpumpe sowie ein paar rasch zusammengezimmerte Marktstände. Es empfiehlt sich, die Vorräte gut aufzufüllen, denn der nächste Ort kann Hunderte von Kilometern entfernt sein. Die Mongolei ist das am dünnsten besiedelte Land der Welt; nur 2,9 Millionen Menschen leben hier, fast die Hälfte davon allein in Ulan-Bator.

Unsere Mägen knurren. Nach einer friedlichen Nacht in der Steppe kehren Rob und ich auf die geteerte Straße zurück, um nach etwas Essbarem zu suchen. In den vergangenen Tagen hatten wir bemerkt, dass manchmal Gers am Straßenrand stehen – »Truckstop-Zelte« für müde Reisende. Ein Ger bzw. eine Jurte ist die traditionelle Unterkunft der Nomaden. Sie besteht aus einer runden Konstruktion aus langen Holzstangen, die mit Häuten, Teppichen oder Leinwand abgedeckt wird. Sie kann rasch abgebaut und von einem Pferd transportiert werden, wenn Bedürfnis oder Wanderlust den Besitzer zum Umzug verlocken. Bald ist eine Jurte ausgemacht, und wir halten daneben an. Eine untersetzte Frau bittet uns, einzutreten.

Es gibt einige Regeln, denen in einer Jurte zu folgen ist, alte Bräuche, seit den Tagen von Temudschin überliefert: nicht auf die Türschwelle treten; nicht am Tischeck sitzen (man glaubt, das würde ein einsames Leben mit sich bringen); niemand am Fuß berühren; nicht pfeifen; Hüte mit der offenen Seite nach unten abgelegen; Ärmel herunterrollen, bevor man etwas nimmt oder gibt; eine Tasse unten und nicht am oberen Rand fassen; beim Trinken nicht aufstehen und keinen Abfall ins Feuer werfen. Wenn Wodka oder Airag (vergorene Stutenmilch) angeboten werden, den Ringfinger in das Getränk tauchen, die Hand über den Kopf heben und den Finger in die vier Windrichtungen schnippen. Sollte etwas auf den Boden verschüttet werden, so muss ein Finger hineingetaucht und damit leicht die Stirn berührt werden. Ach so ... beim Anbieten einer Zigarette auch das Anzünden anbieten. Zwei Personen dürfen ihre Zigaretten an einem Streichholz anzünden, dreien ist das nicht gestattet.

Ich habe mir dieses Prozedere schon Tage vorher eingeprägt. Das Schwierigste ist, nicht auf andere zu treten, da der Truckstop ein Privathaushalt ist und kein Autobahnrestaurant. Die Familie ruht, manche noch schlafend, auf warmen Fellen im ganzen Zelt. Es ist gemütlich; die Glut des Feuers begrüßt uns und spendet die höchst erwünschte Wärme an diesem kalten Morgen. Wir reden über das Wetter auf Russisch, Englisch und überraschenderweise auch auf Deutsch! In den Tagen der Sowjetunion profitierten viele Mongolen von den billigen Eisenbahnverbindungen in Russland, und die etwas begüteteren erhielten eine solide Ausbildung in Ostdeutschland.

Auf dem Boden sitzend, bekommen wir unser Frühstück, ohne etwas bestellt zu haben. Eine Speisekarte gibt es nicht. Die mongolischen Verpflegungsstellen am Straßenrand servieren, was gerade zur Verfügung steht. Und das ist stets ein zerstückeltes Tier in Brühe. Danach trinken wir Buttertee, ein Getränk, das ich Jahre zuvor schätzen gelernt habe, als ich in Nordindien einige Wochen unter tibetischen Händlern gelebt habe. Er hat, zugegeben, einen gewöhnungsbedürftigen Geschmack, denn er besteht aus Schwarztee, der mit geschmolzener Butter sowie einer reichlichen Prise Salz statt Zucker vermischt wird. Nebenbei, wenn Sie hier Vegetarier sind, können Sie sich gleich die Kugel geben: Mongolen essen kein Grünzeug. Der obigen Liste des »Tut-man-nicht« hätte ich den Abscheu vor allem Grünen hinzufügen sollen. Ziehen Sie in einer Jurte einen lange gehüteten Apfel aus dem Rucksack, und Ihre Gastgeber schicken Sie nach draußen, damit Sie zusammen mit den Pferden futtern. Gemüse ist fürs Vieh und als menschliche Nahrung ungeeignet. So ähnlich heißt es. Macht nichts, ich esse Fleisch.

Hätte ich jemals auf westliche Ernährungsvorschriften geachtet, so wäre es jetzt an der Zeit, erste Zweifel zu hegen. Das älteste Familienmitglied in der Jurte ist ein kettenrauchender, vielfacher Urgroßvater. Er ist 85 und reitet noch wie ein Verrückter.

Manchmal frage ich mich, ob die meisten Leiden der Europäer nicht viel eher durch gesellschaftlichen Stress als durch die vergleichsweise unwichtigen Essgewohnheiten hervorgerufen werden. Ich bin jetzt in einem Land, wo die Lebenserwartung bei 69 Jahren liegt. Ich weiß, dass die Senioren in Europa durchschnittlich zehn Jahre länger leben, doch ist zu bedenken, dass die Mehrzahl der Mongolen keinen Zugang zu Krankenhäusern oder auch nur Apotheken hat! Ich bezweifle, dass wir auch nur halb so alt würden wie dieser Urgroßvater, wenn Deutschland sein Gesundheitssystem abschaffte und alle gezwungen wären, zu »Do-it-yourself-Ärzten« zu werden, die sich mit wenig mehr als Buttertee kurieren.

Erscheinen die Mongolen so gesund, weil sie das Reiten lernen, bevor sie gehen können? Oder sind es die reine Luft einer Hochebene und Jahrzehnte eines Lebens unter freiem Himmel? Ist es die völlige Abwesenheit von Stress? Vielleicht ein krummer Gedanke, aber könnte es sein, dass unsere Sorgen um die Pension, die soziale Absicherung, die Krankenkasse etc. in Wahrheit deren Wohltaten entgegenwirken? Meine mongolischen Nomadenfreunde sagen, das Geheimnis eines langen Lebens liege darin, jeden Tag ein Kilo totes Pferd zu essen, es mit reichlich Airag hinunterzuspülen und den Rest Buddha zu überlassen. Die nächsten Monate werde ich genau das tun.

Zuerst brauchen wir warme Kleidung. Die Temperatur ist bereits auf minus 12 °C gefallen und kündigt den nahen Winter an. Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Wenn bei unserer Erkundung der Steppe starker Schneefall einsetzt, sitzen wir dort bis in den Frühling hinein fest. Der Ärger in Kjachta hat unsere Ankunft um drei Wochen verzögert.

Einheimische in Ulan-Bator zeigen uns den Schwarzen Markt, ein ausgedehntes Handelszentrum, wo alles von chinesischen Importwaren bis zu Reitsätteln angeboten wird. Rob und ich suchen nach mongolischen Dells, der traditionellen mit Schaffell gefütterten Kleidung, die etwa eine Tonne wiegt. Rob passt beim ersten Versuch hinein, aber mit meinen 1,94 Metern ist die Sache schwieriger. Die Mongolen, auch wenn sie fest wie ein Fels sind, sind recht klein von Statur. Die Marktfrauen lachen, als ich eine Dell nach der anderen probiere und die Ärmel immer am Ellbogen aufhören. Humor ist heute ebenso wichtig wie damals, als Temudschin die Welt eroberte, auch wenn sich die Scherze geändert haben. Bislang hat noch niemand versucht, mich unter einer Tischplatte zu zerquetschen. Endlich ist eine schöne Dell gefunden, die einst speziell für einen Ausländer angefertigt wurde, der sie nie abholte.

Als ich frage, ob sie Fellstiefel für mich hätten, senken sie die Köpfe, sehen meine Füße an … und drehen dann vollständig durch. Ich habe Größe 46. Mongolische Schuhgrößen enden bei Mitte 30! Aber auch hier findet sich eine Lösung: Ein Stand verkauft russische Waren, die sich besser für Großgewachsene eignen. Wir werden herumgedreht und von allen Seiten von den Einheimischen inspiziert. Noch einen breiten Gürtel um die Hüfte, und sie nicken zustimmend.

»Jetzt bist du ein Mongole!«, lachen die Frauen. Ich komme mir in der Tracht blöd vor und bin mir sicher, dass sie in Wahrheit ähnlicher Meinung sind, aber verdammt, diese Dells sind warm!

Unsere zweite Aufgabe wird es sein, Paraffin für den tragbaren Heizofen unseres Landys zu besorgen. Ohne ihn wird uns auch unsere warme Kleidung nicht vor dem rauen Klima schützen. Ein Dutzend Eisenwarenläden wird besucht und die Inhaber schütteln alle bedauernd die Köpfe. »Nein, Paraffin gibt es nicht in Ulan-Bator«, sagen sie uns.

Im letzten Laden bekommt ein deutscher Kunde unsere Schwierigkeiten mit. »Nehmt Flugbenzin. Das tut’s auch. Ich bin Techniker am Flughafen und kann euch etwas davon verkaufen.«

Wir folgen ihm zum Eingang des Wartungsbereichs am Flughafen. Er verschwindet mit unserem 20-Liter-Kanister und kommt einige Minuten später zurück. »Hey! Fantastisch! Vielen Dank!« »Ja, gut … wenn ihr morgen hört, dass ein Airbus kurz vor dem Pekinger Flughafen aus Spritmangel abgestürzt ist, dann haltet bitte den Mund«, sagt er grinsend.

Wir fahren los, verlassen die geteerten Straßen, um nach Mandal Govi, der Hauptstadt des benachbarten Distrikts, zu gelangen, die ein paar Tagesreisen entfernt ist. Schnee liegt auf beiden Seiten der Piste, aber das macht uns keine Sorge, hat man uns doch gesagt, dass der weniger wird, je weiter wir nach Süden reisen. Die Wüste Gobi rühmt sich damit, eine der trockensten Zonen unserer Erde zu sein. Als die Silhouette der Stadt hinter uns verschwunden ist, beschließe ich, eine feierliche Kaffeepause auszurufen, um den Anfang unseres mongolischen Abenteuers zu markieren. Die Schneefläche zur Rechten scheint bestens geeignet, um dort zu halten, und so verlasse ich die Fahrspur. Kaum ein paar Meter im Gelände, und Matilda beginnt, sich bedenklich zu neigen … unter dem Schnee versteckt ist ein tiefer Graben! Es gibt kein rechtzeitiges Zurück oder Bremsen mehr, Matilda kippt seitwärts wie ein leckgeschlagenes Schiff, das dabei ist, zu kentern. Einen Augenblick später hängen wir in einer auf den Kopf gestellten Welt in unseren Gurten. Aus dem Fenster auf Robs Seite sehe ich nur den Himmel. Rob selbst baumelt über mir. »Scheiße. Bist du okay?«, fragt er.

Ich habe zu viele Hollywoodfilme gesehen, in denen Autos bei solcher Gelegenheit in Flammen aufgingen und dann atombombenartig explodierten. Ich meine, wir sollten schleunigst rausklettern.

Der Landy liegt ohne sichtbaren Schaden auf einem weißen Kissen, aber kein Buschmanntrick, den ich kenne, kann ihn wieder aufrichten. Ich mache, was ich immer mache, wenn ich mit meinem Latein am Ende bin: Ich zünde mir eine Zigarette an.

»Vor ein paar Kilometern war ein Polizeiposten«, meint Rob. »Da gehe ich hin, um Hilfe zu holen.« Er beginnt, unseren Weg Richtung Ulan-Bator zurückzugehen.

Die Sonne geht unter und ich blase Rauchwolken ins Dämmerlicht. Die Minuten tröpfeln dahin und ich suhle mich in Selbstmitleid, hinreichend weit von unserem auf den Kopf gestellten Heim entfernt. Ich bemerke kaum, dass ein UAZ-Jeep anhält, der aus Richtung Mandal Govi kommt. Sieben Mongolen quetschen sich heraus und begutachten den Unfall. »Los«, rufen sie fröhlich, »den heben wir!«

Mongolen sind weit stärker, als ihre geringe Größe vermuten lässt, und es schadet nichts, wenn wir es versuchen. Nachdem wir uns nebeneinander an einer Seite aufgestellt haben, rufe ich: »Hebt an!« Lautes Stöhnen wird hörbar und ein erster Mongolenkraftfurz folgt. Übel, sag ich Ihnen. Stinkt wie totes Pferd. Zu meiner Überraschung schaffen wir es, den Landy einige Zentimeter anzuheben.

»Mehr Leute!«, sind wir uns einig.

Buddha ist heute mit mir; es liegt tiefe Weisheit darin, ihm alles zu überlassen: Ein Paar Scheinwerfer nähert sich. Ein russischer Offroad-Kombi mit 13 wie Sardinen in eine Dose gequetschten Passagieren kommt zu Hilfe. 20 Mongolen und ich stellen sich Schulter an Schulter auf und suchen nach Griffmöglichkeiten an Matildas Dach. »Hebt an!« Langsam hebt sich das Fahrzeug; aufmunternde Rufe erfüllen zusammen mit sehr menschlichen Gerüchen die mongolische Steppe. »Hurra!«, schreien wir alle, als der Landy wieder auf seine Räder kippt. Wie wäre das für »Wer wird Millionär« als die Millionenfrage: »Wie viele Mongolen braucht man, um einen Land Rover zu heben?«?

Ich verteile schachtelweise Zigaretten an alle, schüttle Hände und wechsle bärenhafte Umarmungen. Ich weiß nicht, wer sich mehr über unseren Erfolg freut, sie oder ich. Mit Winken und besten Wünschen fahren sie in ihren Autos ab. Ich grinse von einem Ohr zum anderen. Ein bisschen ankurbeln, und der Motor springt an. Bremsen und Kupplung müssen wohl entlüftet werden und an das wahrscheinliche Durcheinander in unserem Wohnbereich mag ich gar nicht denken, aber sonst ist alles in Ordnung. Ein höchst erstaunter Rob in einem Polizeiauto stoppt, kaum 30 Minuten nach unserer »Rolle«.

»Hab heute meinen starken Tag gehabt«, erkläre ich ihm.

Eine Woche später kommen wir nach Dalanzadgad, der Hauptstadt der Gobi-Region. Wir brauchen Benzin. Um hierher zu gelangen, waren wir keiner bestimmten Straße gefolgt und hatten auch nicht zu einem GPS gegriffen, um unsere Position zu bestimmen. Es reichte, die Sonne hinter uns zu haben und die Telegrafenstangen mit dem einzelnen Draht irgendwo, gerade noch in Sichtweite, auf der Linken.

Wir begeben uns zur Zapfsäule. Leer. Benzin kommt aus Ulan-Bator, heißt es. Nicht heute. Nicht morgen. Irgendwann. Mit viel verfügbarer Zeit fahren wir ein kurzes Stück nach Osten und campen in einem Flussbett, das vor Jahrhunderten das letzte Wasser gesehen hat. Ich streife umher und suche Steine; es heißt, dass es hier in den Hügeln Gold gäbe. Ein junger Mongole scheint das Gleiche zu machen. Wir winken uns zu und er klettert herüber, um mich zu begrüßen. Nach der üblichen, förmlichen Einleitung fragt er, was ich hier mache.

»Wir warten auf Benzin.«

»Ah. Ich auch!«, erklärt er. »Ich muss nach Ulan-Bator fahren.«

Seine Familie lebt gerade um die Ecke im nächsten Canyon. Er sagt das, wie unsereiner von Freunden spricht, die im Wohnblock nebenan leben. Wir sind zum Abendessen eingeladen.

Der junge Mann ist ein wenig mit der Welt des Kapitalismus in Berührung gekommen. Er arbeitet gelegentlich für eine Bergbaugesellschaft und fährt seinen eigenen Toyota. Seine Brüder, Eltern und Großeltern leben in einer Ansammlung von Jurten, die sich zwischen die steilen Wände ducken, welche das Flussbett bilden. Rob und ich werden drinnen begrüßt.

»Das ist mein Bruder«, sagt er uns, »er ist Meisterringer im Nadaam!«

Nadaam ist so etwas wie der Worldcup der Mongolei, aber viel unterhaltsamer, als einer Gruppe Männer zuzusehen, die Bälle herumkickt. In Ulan-Bator wird jedes Jahr ein Triathlon mit den Disziplinen Pferderennen, Bogenschießen und Ringen veranstaltet. Es heißt, die besten Reiter könnten in vollem Galopp Münzen vom Boden auflesen! Einst, vor langer Zeit, gab es eine landesweite Aufregung beim Nadaam-Fest. Der Meister im Ringen entpuppte sich, nachdem er den letzten Gegner besiegt hatte, als eine verkleidete Frau! Für das stolze Mannsvolk war das extrem unerhört und erniedrigend. Seit dieser Zeit müssen die Ringer oben ohne kämpfen, um ihr Geschlecht zu beweisen. Ich will nicht behaupten, mongolische Frauen seien unattraktiv, aber sie sind durchwegs nicht die lippenstiftbemalten Dämchen auf High Heels, die man in deutschen Nachtklubs antreffen kann. Gelegentlich können mongolische Frauen mit einem Leopard-II-Panzer verwechselt werden ... das muss wohl wieder etwas mit den toten Pferden zu tun haben.

Ich bin neugierig auf das Ringen und bitte den Bruder unseres Bekannten, es mir zu zeigen. Wenn er sich hinstellt, ist er ebenso breit wie groß, aber er hat ein gewinnendes Lächeln. Wir gehen nach draußen. Die Regeln sind einfach: Mach nichts Unfaires, keine Faustschläge, und wenn dein Knie oder der Ellbogen den Boden berührt, hast du verloren. Es gibt im mongolischen Ringen keine Gewichtsklassen, und ich bekomme schnell heraus, warum: Es hat nur am Rande mit reiner Kraft zu tun. Obwohl ich ihn um einen halben Kopf überrage, werde ich dreimal hintereinander besiegt. Zum allgemeinen Vergnügen mache ich einen »Adlertanz« um den Sieger herum, die traditionelle Weise, um in dieser Disziplin den Meister zu feiern.

»Nein, nein«, sagt er, »zu viel der Ehre!«

Der Großvater spricht keine der Sprachen, die ich verstehe, aber er ist ebenso Teil unseres Gesellschaftsabends. Er wischt den Staub von einem kunstvoll geschnitzten Kästchen hinter ihm und deutet darauf; es ist ein Schachbrett. Ich nicke lächelnd. Ja, ich spiele das Spiel der Könige. Am Ende kommen wir zu jedermanns Freude zu einem Patt. Keine Ehre ist verloren. Ich erfahre, dass viele Mongolen von jungen Jahren an Schach spielen und so dem gesunden Körper einen scharfen Verstand als Gegengewicht geben.

In vielerlei Hinsicht passt die Mongolei nicht in ein allgemeines Schema. Man kann die Leute nicht so in Kategorien teilen, wie es die Europäer mit vielen Nationen der Dritten Welt versuchen. Eines der Kriterien, um Armut zu definieren, ist das Einkommen. In dieser Beziehung müsste man meinen, mongolische Landbewohner seien schlechter dran als, sagen wir, die der Zentral afrikanischen Republik. Etliche Nomaden haben weit weniger als einen Euro am Tag. Aber kaum jemand scheint zu hungern. Außerhalb der Hauptstadt ist Geld wenig wert. Man tauscht, was man braucht, und züchtet Tiere als Nahrung.