Hinter dem Mond - Cécile Ines Loos - E-Book

Hinter dem Mond E-Book

Cécile Ines Loos

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach dem frühen Tod der Eltern hat Susanna es sich zur Aufgabe gemacht, zu sehen, »ob die Dinge richtig vor sich gehen«. Mit ihren zwei jüngeren Geschwistern lebt sie nun beim Großvater und seiner neuen Frau. Das großzügige Haus am Fluss dient auch als Treffpunkt ihrer religiösen Glaubensgemeinschaft, am Sonntag führt man moralisch erbauende Theaterspiele auf. Die Kinder aber werden stiefmütterlich behandelt, ja – um »die Sünden ihrer Eltern zu sühnen« – sogar um ihr Erbe gebracht. Susanna, die beobachtet, wie das schwangere Dienstmädchen aus dem Haus gejagt, die kleine Schwester abgeschoben, der aufsässige Bruder Filok ins Waisenhaus gesteckt wird, weiß bald, »dass alles ganz anders ist, als es aussieht«. Als sie später gegen ihren Willen mit einem deutschen Pastor verheiratet wird, muss sie die heimliche Liebe im Jura verlassen und an der Seite dieses fremden Manns in Brasilien eine Existenz aufbauen.Cécile Ines Loos erzählt faszinierend unverstellt von einem Leben voller Schicksalsschläge in einer Atmosphäre der Verlogenheit und Bigotterie. Die Protagonistin besitzt die Gabe, jenseits der Alltagswelt, Hinter dem Mond sozusagen, wundersame Dinge zu erblicken und in poetischer Sprache einzufangen. Ein Roman, der in seiner Unmittelbarkeit und seinem Bilderreichtum auch 80 Jahre nach dem ersten Erscheinen ein großes Leseerlebnis verspricht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 283

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cécile Ines Loos

Hinter dem Mond

Roman

atlantis

An Christa Peter

Wann war je der Tag,

da du nicht lebtest

oder ich?

 

BHAGAVADGITA

1

Ich weiß nicht, welcher Umstand meinen Großvater zur Bekanntschaft des Engels geführt hatte. Dieser war ein gewisser Herr Muth, der zu einer Sekte gehörte, deren Begründer in Schottland lebten. Auf jeden Fall wurden wir bald nach dem Tod unserer Eltern auf das kleine Gütchen des Herrn Muth gebracht im Dörfchen Cuny, versteckt in den Wäldern des Berner Jura. Mein Großvater leitete selber die Expedition. Diese bestand aus unserer früheren Kindermagd Eliza, meiner kleinen Schwester Michaela und meinem älteren Bruder Filok. Die junge Frau des Großvaters hatte uns in der Stadt schwarze Filzhüte gekauft, dazu trugen wir weiße Leinenkragen über den Kleidern und große schwarze Schleifen. Auch besaßen Filok und ich bereits Mäntel, während Michaela, in einen blauen Wollumhang gehüllt, beinahe unsichtbar in Elizas Armen schlummerte. Zuerst ging die Fahrt ganz gewöhnlich aus der Stadt hinaus, wo wir aufgewachsen waren, durch Dörfer und Orte, die mir nicht unbekannt vorkamen. Plötzlich sagte der Großvater zu uns:

»So, Kinder, jetzt fahren wir in das Land der Pferde.« Ich erschrak so, als hätte jemand auf mich geschossen, denn ich hatte bisher noch nichts gehört von Tieren, die Länder besitzen; der Gedanke an ein Land der Pferde durchfuhr mich mit einem Schauer, denn ich stellte mir leibhaftig vor, dass Pferde auf eine sonderbare Weise die Besitzer eines Landes sein könnten. Filok war schnell im Bild. Er sagte:

»Ich habe zwar noch nie Pferde wild herumlaufen sehen, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es solche Orte gibt.« Dann erkundigte er sich des Weiteren, wie viel Pferde da etwa herumliefen und ob man zu ihnen auf die Weide gehen dürfe. Filok und ich wissen nie dasselbe. Er weiß immer das, was ich nicht verstehe, und ich bin froh, einen so großen und klugen Bruder zu haben. Er nimmt mir alle Schrecknisse weg. Der Großvater dagegen blieb einsilbig und schaute zum Fenster hinaus. Sein Kinn mit dem weißen Kranzbart lag auf den Händen und diese in Gebetsform auf den Stockgriff gestützt. Was Filok sagt, freut ihn weniger als das, was ich sage. Der Großvater will keine wilde Jugend um sich haben. Er sagt, wir sollen gesittet sein, namentlich nach dem Tod der Eltern. Er hat auch überall den Ehrenplatz. Beim Essen sitzt er oben am Tischende und in der Eisenbahn am Fenster. Ihm gegenüber sitzt Eliza mit dem Kind, ebenfalls am Fenster, weil auch Eliza eine Ehrenperson ist. In der gleichen Reihe neben ihr sitzen Filok und ich, und wir dürfen erst am Fenster sitzen, wenn auch wir Ehrenpersonen geworden sind. Ich verstehe das alles sehr gut, aber Filok versteht es nicht. Zuweilen wirft er dem Großvater Fragen an den Kopf wie Schneebälle. Filok sagt immer zu allem:

»Weshalb und warum?« Und wenn man ihm etwas erklärt hat, so antwortet er: »Das ist übrigens alles ganz einfach.« Aber das Land der Pferde bleibt mir trotzdem fremd. Ich stelle mir vor, wie das sein müsste, wenn plötzlich ein hohes, langgesichtiges Tier mit übergroßen glänzenden Augen über uns herrschte. Dieses Tier käme dann ganz langsam auf uns zu und sagte: »Von nun an gehört ihr in mein Reich.« Vorsichtig und so gut ich kann, versuche ich von meinem Platz aus nach Pferden Umschau zu halten, um mich ein wenig vertraut zu machen mit dem Tier, das uns künftig beherrscht.

Aber immer wieder sehe ich sie vor Wagen gespannt und dem Menschen untertan, und ich kann mir nicht vorstellen, wie sie frei, ohne Harnisch und Peitsche, auf uns zukommen.

Bei einer größeren Station müssen wir plötzlich aussteigen und den Zug wechseln. Michaela sieht mit halb geschlossenen Lidern gnädig auf mich herunter, während Filok und ich die Koffer schleppen. Der Großvater schreitet am Stock in seinem großen, offenen Mantel voraus und trägt nichts in den Händen. Es wäre auch eine Schande gewesen, wenn Kinder ihren Großvater etwas hätten tragen lassen. Im neuen Zug setzen wir uns wieder in der gleichen Reihenfolge hin. Der Großvater am Fensterplatz und Eliza ihm gegenüber. Wir fahren nun in ein anderes Land, wo es nicht mehr Städte gibt und Dörfer, sondern meist nur Wälder. Ich fühle, dass wir den Pferden näher kommen, aber immer noch weiß ich nicht, wo sie sind. Ich warte auf sie mit einer bangen und herrlichen Furcht. Irgendwie bin ich überzeugt, dass sie dem Großvater gleichen. Filok ist anders als wir alle. Er hat sehr dunkle Augen und glatte, rote Lippen ohne ein Fältchen darauf. Je länger man ihn anschaut, desto dunkler werden die Augen. Sie werden so dunkel wie ein Tor, und dann verlöscht er sie plötzlich. Er kann seine Augen nach innen drehen, und man sieht sie nicht mehr von außen. Er hat das auch schon in der Andacht gemacht, wenn er neben Eliza sitzt und Onkel Gustav Harmonium spielt. Er dreht dann die Augen nach innen, und plötzlich sitzt überhaupt kein Filok mehr da. Aber wenn der Großvater ihn anschaut, so dreht er die Augen wieder zurück. Dennoch kann er nie lange stillsitzen. Da wir nun ein eigenes Wagenabteil haben, findet Filok, wir seien zu Hause. Ich dagegen weiß immer noch, dass wir in der Eisenbahn sitzen, und die Kinder sollen an Ort und Stelle bleiben, solange Ehrenpersonen bei ihnen sind. Filok macht die Tür zum Nebenabteil auf, dann schlägt er sie wieder zu. Er will herausbekommen, wie das Schloss einspringt. Nach einer Weile sagt der Großvater: »Filok, es wird nun bald die Tür zufallen und dir die Hand zerschmettern.« Ich weiß sofort, dass der Großvater unzufrieden ist. Aber Filok weiß es nicht, denn er ist beschäftigt. Er steckt nun ein Papierstück in das Schloss und wirft die Tür abermals zu. Der Großvater sagt: »Filok, es wird nun bald die Tür zufallen und dir den Kopf zerschmettern.« Filok nimmt das Papierstück weg und hält es gegen das Licht. Er weiß jetzt, wo der Hammer getroffen hat, und ist befriedigt. Aus Versehen hat er nichts mehr vor und setzt sich ruhig an seinen Platz. Ich bin immer froh, wenn Filok aus Versehen gehorcht. Früher, wie Papa noch lebte, war es anders. Papa wusste, dass Filok beschäftigt ist, aber der Großvater weiß das nicht, und ich habe immer Angst, dass es einmal ein Unglück gibt zwischen Filok und dem Großvater, weil dann beide nicht mehr ausweichen können. Aber vielleicht weiß ich bis dahin eine Hilfe. Unterdessen warte ich auf das Tier, das uns sagen wird: »Nun gehört ihr in unser Reich.«

Wir müssen noch einmal umsteigen, in Deroupe. Der Großvater hat gesagt, wir könnten nicht vor dem Abend ankommen. Der neue Zug besteht nur noch aus einem einzigen Wagen mit einer Lokomotive. Eliza hat ihren schwarzen Fransenschal ganz um Michaela gewickelt, sodass sie nur noch aussieht wie ein Stoffbündel ohne Kopf und Fuß. Der Wagen, in den wir einsteigen, ist ganz dunkel, und in der Ecke sitzt bereits der Großvater. Er sieht aus wie ein Prophet, und hinter ihm steht ein hoher Ahne, der das Teufelsland züchtigt. Es ist überall still, und ich weiß nicht, ob wir überhaupt wegfahren. Endlich höre ich in der Maschine ein Geräusch. Die Tür geht auf, und ich sehe, wie ein Mann Kohlen in einen feurigen Kessel hineinwirft. Das gibt einen solchen Schein, dass auch die Fenster im Stationsgebäude brennen. Dann kommt ein anderer Mann in unseren Wagen und zündet mit einem Streichholz die Lampe an. Filok hat seine Hände in die Manteltaschen gesteckt und flüchtet sich fröstelnd in den Schlaf. Nun geht der Zug vorwärts, und neben den Schienen steht ein hoher Berg, auf dem die Pferde warten. Eigenartige, wuchtige und große Bäume steigen langsam mit uns die Treppen hinan. Jedes Mal, wenn die Maschine über die Schwellen fährt, gibt es einen kleinen, zögernden Ruck. Die Bäume tragen graue, schwere Wolkensäcke auf ihren Schultern, die gefüllt scheinen mit Rosshaar. Ich bin froh, dass Filok schläft und ich ungestört an die Engel und an die Pferde denken kann. Auch Eliza ist eingeschlafen, und nur der Großvater und ich wachen im Zug. Vielleicht, wenn Papa oder Mama noch da wären, würde auch ich einschlafen und könnte unbesorgt sein. Aber nun bin ich die Älteste von allen, die wach ist, und muss sehen, dass die Dinge richtig vor sich gehen. Auch den Propheten kann man nicht ganz trauen, denn sie züchtigen uns, und ich muss mit meinen Augen über sie wachen, damit kein Unheil geschieht. Bis jetzt geht alles recht zu, und wenn ich nicht nachlasse mit Aufpassen, so können wir die ganze Reise gut bestehen. Langsam, mit dem Zug, steigen die Bäume in die Nacht, und ich sehe ihre Wipfel nicht mehr. Endlich schläft sogar der Großvater. Ich glaube, die Gefahr ist vorüber. Ein Wind kommt und ein Wind geht und singt leise in den Blättern. Plötzlich sehe ich sogar den Mond. Er steht auf einer Bergzacke und begleitet uns Schritt für Schritt in den Himmel.

Es wäre alles gut gegangen, und ich wäre fast in den Himmel gekommen, wenn nicht dennoch ein Unglück losgebrochen wäre. Auf einmal merke ich, dass der Zug gar nicht mehr vorwärtsfährt, sondern mit entsetzlicher Schnelle abwärtssaust. Die Mäuerchen, die uns bisher begleiteten, fliehen an den Fenstern vorbei, und die Bäume mit den Wolkensäcken rasen herunter. Entsetzt schaue ich mich um, und ich weiß nicht, ob ich Eliza zuerst wecken soll oder den Großvater oder Filok. Allein, wenn ich jemand wecke, gibt es ein noch viel größeres Unglück, sodass wir alle untergehen. Der Zug indessen saust weiter wie ein Ball über die Treppen, unaufhörlich, und ich weiß gar nicht, wo wir noch landen werden. Durch das Fenster sehe ich jetzt eine Brücke, und ich entsinne mich zugleich, dass sie vorher auf der anderen Seite war, als wir noch vorwärts reisten. Aber nun geht es so rasend bergab, dass ich keine Zeit mehr finde, etwas anderes zu denken, denn wenn ich nicht alle meine Sinne zusammennehme, so liegen wir im See. Und ich verstehe, dass ich der einzige Mensch im Zug bin, der das weiß. Plötzlich geht das Licht im Wagen aus. Das ist so ein winziges, kleines Laternchen, und es kann dem Luftzug nicht mehr standhalten. Mit seinem ganzen Gewicht presst sich der Regen gegen die Fenster, aber es wacht niemand auf. Alle denken, es sei gut so. Es sei gut, dass wir im Abgrund landen. Wir landen im Fluss unter der Brücke, und von dort werden wir in einen See geworfen. Das einzige, was mich noch wundert, ist das, dass die Räder schließlich doch auf den Schienen bleiben, denn man müsste doch annehmen, dass der Zug das Gleichgewicht schon lange verloren habe. Er tut es aber nicht, und er fährt sogar langsamer. Er fährt langsamer und hält mit einem freundlichen Rücklein an. So vernünftig ist das alles, und wir landen nicht im Fluss. Wir sind in Wolle verpackt, ganz weich, wie Porzellan; zwar regnet es immer noch, aber das Licht brennt. Der Großvater sagt: »Wir sind in La Joux.« Das ist also ganz einfach La Joux, und eine Frau steigt zu uns ein, mit einem Mädchen an der Hand, das weint.

Der Zug fährt weiter, und es regnet in einem fort. Es regnet ganz tief in die Nacht hinein, in die Bäume, und macht alles kalt. Ich begreife nun, dass es kein Abgrund ist, in dem wir landen. Wir reisen einfach vorwärts, hinauf und hinunter. Jemand muss unsere Bahn umgestellt haben, und wir landen trotzdem auf dem Berg. Es ist nun zwar so stockfinster, dass ich nichts mehr sehe. Aber ich fühle den Berg. Der Berg schritt mit uns hinauf wie der Mond. Und wenn wir oben sind, kommen die Tiere, die langgesichtigen Tiere mit den übergroßen und glänzenden Augen. Das sind eigentlich Engel. Engel oder Pferde, und ich entsinne mich, dass ich einmal in einem heiligen Buch ein Pferd gesehen habe mit Flügeln. Wo ist nun der Schrecken, wo ist nun der Sturz? – Der ist nicht da, der ist nur im Menschen selbst. Im Menschen ist das Teufelsland, und zuweilen stürzt man da hinein. Ich freue mich unsäglich, dass wir im Lande der Pferde ankommen.

Das Kind hat aufgehört zu weinen. Die Frau sagt zu ihm: »Wir gehen zur Tante.« Und das ist gar nicht so schlimm. Die Frau hat hübsche dunkle Locken an den Schläfen; sie streicht sie mit der Hand hinters Ohr, und das Kind muss lachen. Da steigen wir alle aus, auch die Frau mit dem Kind, und da sind wir wieder froh. Nur Eliza ist noch verschlafen. Sie weiß nichts von einem Land der Pferde. Filok trägt bereits den größten Koffer auf die Station hinaus. Der Großvater begrüßt einen kleinen alten Herrn, der ein rotes Halstuch über den Mund gebunden hat. Er sagt zu ihm: »Guten Abend, Herr Muth.« Das ist nun der Engel, und ich bin froh, denn er hat warme wollige Handschuhe an und hebt mich vom Trittbrett herunter, dann hilft er auch Eliza und stützt sie am Ellbogen. Wir stehen auf dem Bahnsteig, und der Zug poltert weiter. Er ist nun in einem flachen Land, und da kann er schneller vorwärtsfahren. Mein Großvater sagt: »Das ist nun Susanna, Filok und Michaela, wissen Sie, das sind die Flämen.« Zum ersten Mal höre ich, dass auch wir etwas anderes sind. An der Bahnhofecke kommt uns ein furchtbarer Wind entgegen, und der Regen schlägt uns wie Ruten ins Gesicht. Ich sehe, wie das Kind zwischen zwei großen dicken Frauen nach der Landstraße abbiegt. Die Frauen schützen es vor dem Regen, und jede gibt ihm einen Arm. Herr Muth sagt zu uns: »Es ist nur fünf Minuten weit, und nach jener Hecke haben wir den Wind im Rücken.«

Es ist jetzt neblig und still. Nur am Bahnhof schlug uns der Wind. Auf dem kleinen Weglein treibt er uns vor sich her wie ein Segelboot. Der Regen sinkt in die Schuhe, und wir gehen zu zweit. Voraus geht mein Großvater wie eine Maschine; dann folgt Herr Muth mit Eliza, und zuletzt kommen Filok und ich. Filok sagt: »Er hat aber keine Flügel« und meint den Engel. Wir steigen langsam höher, wie vorher das Bähnchen. Dann ist es weit, breit, flach und finster. In der Ferne ist ein niedriges Licht, und unsichtbare Tiere springen über weiches Land. Ich sage zu Filok: »Das sind jetzt die Pferde, weißt du, die Pferde.«

»Und?«, meint Filok stolz.

»Die mit den großen Augen …«

»Das haben alle«, sagt er.

In der Nacht geht eine Tür auf, und ein Licht holt uns herein. Eine große, dunkle Frau begrüßt uns, und ein Fräulein mit einem grünen Kleid und einem Pelz. In der Küche ziehen wir Schuhe und Mäntel aus. Es riecht wunderbar nach Würsten. In der Ecke bellt ein großer Hund und gähnt. Er findet, es sei alles in Ordnung, weil wir jetzt da sind. Über uns wölbt sich ein breites, niedriges Dach.

2

Wir wohnen auf einem Berg. Vor unserem Haus fängt der Berg an, schön rund und glatt geformt wie mit der Hand. Auf dem Berg wächst kurzes, dichtes Gras wie Moos, und viele Pferde spazieren umher. Den ganzen Tag spazieren die Pferde auf dem Berg. Sie gehen lautlos, und manche tragen eine Schelle um den Hals. Dann wieder gehen sie zur Tränke hinunter, die in einer Mulde liegt. Dort stehen drei und vier Pferde beisammen. Manchmal kommt noch ein Stier dazu, der wartet unter dem Baum. Er wartet zwei Stunden lang, aber wenn niemand kommt, kehrt er wieder zur Herde zurück. Die Pferde sind nicht so geduldig, sie bewegen sich andauernd hin und her, weil sie gerne etwas hören und etwas sehen. Einmal ist ein Karussell auf den Berg gekommen, ein Karussell mit einer kleinen Menagerie. Zur Menagerie gehörten zwei Affen und zwei Kamele. Aber den Pferden gefiel das Kamel nicht, weil es fremd war, und da berieten sie miteinander, dass sie diese fremden Tiere fortjagen wollten. In der Nacht zerstörten sie mit ihren Hufen den Menagerieverschlag, und am Morgen mussten die Besitzer ihre fremden Tiere in den Wäldern suchen. Die Pferde gehen auch ins Dorf und stehen vor den Läden, als ob sie etwas kaufen wollten. Manchmal schlafen zwei zusammen mitten auf der Weide, sie legen eines dem andern den Kopf auf den Rücken, und da sind sie ganz eng umschlungen. Des Nachts wohnen die Pferde in den Wäldern. Dort treffen sie auch die Kühe an, die im Walde schlafen, unter großen, breiten Tannen. Diese Tiere haben keine Sorgen, sie sind gut, und über ihnen scheinen tausend Sterne. Am Morgen kehren die Kühe wieder zurück zu ihren Ställen, dort werden sie gemolken. In einem langen Zug kommen sie über den Berg, wie Menschen, die zur Kirche gehen, dann warten sie kniend vor ihren Toren.

Auf dem Berg steht ein Haus mit zwei Türmen wie ein Palast, und inwendig sind weite Hallen. Das ist das Haus der Pferde, und an Festtagen dürfen sie dorthin gehen. Dann werden sie gebürstet und an Stangen gebunden. Es kommen viele Leute aus der Stadt und auch Offiziere und schöne Frauen mit Schleiern vor den Gesichtern. Die Pferde dürfen dann springen. Sie springen über Stangen und Gebüsche und Gitter, und ein Diener begleitet sie. Das Pferd, das am besten springen kann, wird am teuersten verkauft. Da haben sie einen Stolz, und ich könnte den ganzen Tag zusehen, wie diese Pferde springen. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass es Länder gibt, in denen keine Pferde wohnen. In der Freiheit der Pferde sieht man das Glück leibhaftig vor sich. Wo man keine Tiere frei auf den Wiesen sieht, wohnen auch die Menschen arm und kläglich in ihren Steinhäusern. Es gibt dort keine weite Luft mehr, die nach Nebel riecht, nach Gras und nach Thymian, der in der Sonne dörrt. Aber hier wohnen Pferde in Palästen.

Eliza wird von Tag zu Tag schöner. Seit der Großvater verreist ist, trägt sie eine andere Frisur. Früher flocht sie ihre Haare in Zöpfe und legte sie rund um den Kopf. Aber nun hat sie aus dem Haar eine große Falte gemacht, die in die Stirne hängt. Sie sieht nun fast gleich aus wie das Fräulein im grünen Kleid und dem Pelz. Eigentlich habe ich Eliza lieber gesehen mit den Zöpfen, und ich glaube, es würde auch Nini nicht gefallen. Ich nannte zuweilen meine Mama Nini, weil mein Papa es so tat. Trotzdem ist Eliza nun eine schöne Dame mit rotem Haar und blauen Augen, und sie gefällt den Leuten. Sie sagen von ihr: »Une allemande …« Seitdem der Großvater fort ist, tanzen wir auch manchmal am Abend. Eliza sagt, das mache nichts, denn das seien ganz fromme Leute, bei denen wir tanzten. Und fromme Leute machen nie etwas Unrechtes. Eliza sagt, meine Mama hätte auch getanzt mit Papa, und das täten eigentlich alle, nur mein Großvater kenne eben die Welt nicht. Auch Herr Muth, der Engel, kenne sie nicht recht, aber es mache ihm nichts aus, wenn Leute tanzten, weil er daneben noch einen Gasthof habe. Wenn man tanze, müsse man nur hernach beten, damit der Teufel nicht dazwischen komme. Im Übrigen könne einen Gott überall behüten, und fromme Leute trauten eben auf ihn.

Am Abend kommt manchmal ein schöner junger Herr zu uns, und ich glaube fast, er schläft auch hier. Er trägt hohe Lederstiefel und eine dunkelblaue Weste mit Ärmeln. Er hat auch eine kleine dunkelblaue Mütze, die wirft er in die Luft und fängt sie mit der Hand wieder. Wenn der Herr da ist, dann lachen alle Leute. Er weiß immer etwas Lustiges, selbst wenn er in einer fremden Sprache redet. Wenn er lacht, sieht man alle seine Zähne bis zuhinterst in dem Mund, und es fehlt keiner. Meistens tanzt er mit der schönen Dame mit dem grünen Kleid und dem Pelz. Er legt ihr eine Hand auf die Hüfte und die andere auf die Schulter. Manchmal auch nimmt er ihre Hand und legt sie an seine Wange. Ich finde das lieb, und ich sage zu Eliza: »Ist die Dame im grünen Kleid die Frau des Engels?« Aber Eliza antwortet: »Was für eine Dummheit, Sassichen, das ist doch eine Dienstmagd, gleich wie ich.« Ich begreife, dass Eliza ein wenig böse ist, weil niemand sie abholt zum Tanzen, denn es ist nicht angenehm zu warten. Aber vielleicht kommt es auch anders. Ich sage: »Eliza, du musst auch Französisch lernen.« Filok, Michaela und ich sitzen auf einer Bank, und hinter uns ist ein breites, niedriges Fenster mit roten Blumen an stachligen Blättern. Das sieht fast aus wie eine Landschaft, diese stachligen Blätterzacken mit den roten Flächen dazwischen, und ich weiß nicht recht, an was mich das erinnert. Es erinnert mich an etwas, das einmal irgendwo gewesen oder auch vielleicht erst sein wird. Und ich könnte ihm keinen Namen geben. Neben uns sitzt noch ein Junge, der spielt auf einer Mundharmonika, wiewohl ich glaube, es sollte heißen: auf einer Mondharmonika. Er spielt eine sehr schöne kleine Melodie wie von einem Stern, und man kann gut darnach tanzen. Seine Mutter hat ihm einen Namen gegeben, etwa wie Françinois, aber ich habe es nicht ganz verstanden und ich nenne ihn in meinem Herzen Petitmoi. Petitmoi ist dunkel, hat ein breites Gesicht und graue Augen. Wenn er lacht, geht ganz langsam der Vollmond auf unter seinen Haaren. Dann fällt er über die Stirn und die Wangen, und zuletzt leuchtet er auf dem Mund. Ich sage zu Filok: »Glaubst du, dass Gott will, dass man tanzt?« Filok sagt: »Das ist ihm doch egal. Ich baue später Häuser, vielleicht Brücken und Paläste, was kann er dagegen tun, wenn ich das baue? Das macht jeder Mensch so, wie er will, dafür ist er eben ein Mensch.« Der Knabe neben mir spielt wieder Mundharmonika. Ich schaue durchs Fenster, wo die Kakteen blühen. Ich sage: »Natürlich ist ein Mensch ein Mensch, was soll er sonst sein?« Und dennoch erinnern mich die Blumen an etwas, das ich einmal gehört oder gesehen habe. Wenn ich älter bin, kann ich es vielleicht sagen.

Der Herr mit den hohen Stiefeln und dem Wams hat Eliza zum Tanz abgeholt. Ich sehe, dass es ihr Freude macht und sie denkt: ›Endlich hab ich’s erreicht.‹ Sie ist ganz nahe bei ihm, und er legt ihr die Hand um die Hüften, der schwarze Fransenschal deckt sie zu. Ich fühle ganz deutlich, dass etwas geschieht mit der Hand unter den Fransen, aber ich kann nicht sagen, was. Eliza kann noch nicht sehr gut tanzen, sie kommt mit den Füßen aus dem Takt. Wenn der Mann ihr mit den Knien an den Rock stößt, so verwirrt sie sich mit den Füßen. Aber er sagt: »Es kommt schon, Mademoiselle …«

Darauf sagt sie ihm etwas ins Ohr, und er führt sie zu der Bank, auf der wir sitzen. Alle lachen, und auch Filok lacht. Ich glaube, es ist Eliza schwindlig geworden vom Tanzen.

Der Mann mit der blauen Mütze sitzt nun neben uns. Er hat mich auf seine Knie genommen und sagt etwas auf französisch zu mir. Er sagt: »Cela va ma petite?« Aber ich verstehe nicht alles und antworte: »Nein.« Darauf stellt er mich wieder auf den Boden. Nun steht Petitmoi auf, um mir seinen Platz anzubieten, und ich sage »oui«. Ich verstehe nicht viel Französisch, aber ich glaube, wenn sie noch lange mit mir reden, erinnere ich mich wieder daran. Vorderhand verstehe ich Petitmoi am besten.

Es ist nun dunkel geworden, und wir zünden ein Licht an; das hängt an einer Kette von der Decke herunter und gibt nicht sehr hell. Es kommen noch mehr Leute in den Raum. Ein alter Mann kommt ins Zimmer und setzt sich in eine Ecke. Er bestellt eine Flasche Wein, und das Fräulein mit dem grünen Pelz muss sie ihm bringen. Der alte Mann bestellt auch Gläser, und dann sagt er: »Voilà, mes fils …« Der Mann mit den Stiefeln stößt mit ihm an, und auch Eliza trinkt ein Glas Wein. Dann zieht der alte Mann seine Jacke in der Mitte zusammen und singt: »Ein Jüngferlein ging an den Bach, an den Bach …« Plötzlich wird es draußen mit einem Ruck dunkler, und wir schließen die Fensterläden.

Michaela hat bis jetzt stumm auf dem Bänklein gesessen. Immer noch trägt sie das Filzhütchen und ein weißes Pelzjäckchen. Plötzlich tritt sie in die Mitte des Zimmers, nimmt mit einer eleganten Bewegung den Hut ab, macht eine Verbeugung, sodass die Bänder den Boden streifen, und tanzt nun im Takt zur Musik für sich allein. Der Mann mit den Stiefeln nimmt Michaela auf den Arm, und sie tanzen zusammen. Michaela lächelt herunter wie eine Königin. Mit einem Mal weiß ich: Das ist jetzt das Rätsel mit den Blumen, alles ist gut und schön. Der Mann mit den Stiefeln stampft, und alle klatschen, sodass es ein ganzes Konzert gibt. Petitmoi sitzt auf dem Tisch und spielt eine Melodie nach der andern, bis Michaela plötzlich vom Arme herunterklettert, ihr Röckchen in der Mitte zusammenzieht und auf französisch singt: »Ein Jüngferlein ging an den Bach, an den Bach …« Dann sind wir alle still und wie verwandelt. Wir wissen nicht mehr, wer von uns die Kinder sind und wer die Erwachsenen.

Draußen hören wir jemand die Schuhe reinigen am Scharreisen. Das ist Herr Muth, der die Welt nicht ganz versteht. Schnell löschen wir die Lichter und eilen die Treppen hinauf im Dunkeln. Ich höre, wie Eliza zu jemand sagt: »… vielleicht, wenn die Kinder schlafen.« Filok sagt zu mir: »Der Mann mit den Stiefeln, das ist doch der Sohn des Engels.« In der Nacht wache ich auf. Ich höre ein Käuzchen schreien. Ich höre zum ersten Mal einen Vogel in der Nacht. Der Ruf kommt vom Wald her und tönt ungefähr wie ein helles Trompetchen. Das Käuzchen ruft aus dem Wald der Tiere und weckt mich. Nun weiß ich wieder, an was mich die Blumen erinnern. Sie erinnern mich an Gott, wo alles schön ist und gut. Plötzlich befällt mich eine Angst, dass Eliza nicht im Bett sein könnte. Jemand hätte sie geraubt. Ich stehe auf und gehe zu ihrem Bett. Das ist ganz zuhinterst in der Ecke des Zimmers. Ich fahre mit der Hand über die Decke und rufe: »Eliza?« Aber die Decke ist weich und flach, und ich rufe noch lauter: »Eliza …?« Da richtet sie sich auf und sagt: »Was tust du denn hier, Sassichen?« Ich sage: »Eliza, ich dachte, sie wollen dich stehlen …« Eliza streicht sich die Haare aus dem Gesicht und sucht ihr Haarband, mit dem sie nachts ihre Zöpfe zusammenbindet. Sie sagt: »Du träumst ja, Sassi, geh schön schlafen.« Nach einer Weile fügt sie hinzu: »Oder willst du ein wenig zu mir ins Bett kommen?« Eliza hebt mich in ihrem Arm vom Boden auf und schlingt die Wolldecke rund um mich. »Du frierst, Sassi«, sagt sie. Ich sage: »Eliza, tanzest du aus Liebe mit Martin Muth?« Ich fühle, wie plötzlich ihr Herz stillsteht, und dann tut es wieder einen lauten Schlag. Eliza hält den Atem an. Leise sagt sie: »Weshalb fragst du das?« Ich sage: »Weil es das Geheimnis ist der Blumen und der Tiere und vom lieben Gott.« Eliza atmet auf. Ich fühle ihren Pulsschlag in meinen Händen. Sie sagt: »Schlaf, Sassichen, du denkst zu viel. Es ist alles gut.« Sie hält mich fest umschlungen. Nach einer Weile sagt sie: »Du musst das niemand sagen, Sassi, auch nicht der Frau Großmutter.« Ich verstehe, dass Eliza erwachsen ist. ›Das sind eben Frauen‹, denke ich, ›und ich bin ein Kind. Auch meine Mama war eine Frau, und Frauen können zu ihren Müttern nicht immer reden, wie sie wollen, da sagen sie es eben den Kindern.‹ »Ich bin da«, sage ich zu Eliza. Ich gebe ihr einen Kuss und schlafe ein. Nun höre ich nichts mehr von einem Käuzchen.

3

Wie mein Großvater noch auf dem Berg war, sind wir an einem Morgen alle miteinander zu einem Teich spaziert. Dieser Teich heißt L’étang des Reines, und wenn man von dort weitergeht, so kommt man bis nach Jaune-Terre. Der Engel sagt: »Sechs Tage sollst du arbeiten, und am siebenten sollst du ruhen.« Da, wo jetzt der Teich ist, war früher eine Ziegelei. Da buken sie Ziegel für alle Häuser, die hier im Land gebaut werden. Mit der kleinen Bahn sandten sie die Ziegel noch hinunter ins Flachland. Es kamen viele Arbeiter herauf, und wer zwei Hände hatte zu schaffen, der ging nach Jaune-Terre und buk Ziegel, denn es war ein ganzer Berg voll Lehm da, und sie konnten immer weiter arbeiten. Das ging so hin, bis der Alte starb, und da waren sie sehr reich geworden, aber außerdem blieben sie fromm und treu. Wenn am Sonntag die Kirche sie herbeirief mit ihren Glocken, so gingen sie zur Kirche und waren dankbar über den Segen. Nachdem aber der Alte gestorben war, da kamen die Jüngeren daran; und diese wussten nichts mehr vom Segen, sondern nur noch vom Reichtum. Und sie dachten, das müsse so sein. Einer kam dann darauf, man könne noch tiefer graben und dreimal mehr Ziegel herausholen. Da kamen nun mit der Bahn die Maschinen herauf, und man bohrte im Boden. Sie sagten: »Der Berg ist unser, wir brauchen niemand zu danken, denn wir sind die Besitzer.« Von nun an achteten sie nicht mehr auf die Glocken, sondern nur noch auf das Surren der Räder, denn das alles bedeutete Gold, und die Dankbarkeit und auch die Güte war fern von ihnen. Aber einmal, mitten in der Nacht, da hört man ein Gurgeln im Boden bei der Ziegelei, und das Wasser steigt wie durch Röhren herauf. Zuerst ist das alles nur wenig, es sickert nur durch und bedeckt den Boden. Die Leute denken: ›Da, wo das Wasser hergekommen ist, da kehrt es auch wieder zurück.‹ Aber zuletzt kommt das Wasser mehr und mehr aus dem Boden, und man kann sich nicht mehr retten vor der Überschwemmung. Da ist denn die Ziegelei und das Wohnhaus und alles miteinander zusammengestürzt in den Teich, der jetzt L’étang des Reines heißt, wie der Name der Besitzer. Der Engel sagt: »Das ist so, weil die Menschen sich mächtig dünken, alles zu können, und nicht auf die Gesetze des Lebens horchen. Das ist das Ende der Welt und die Sündflut, die wir alle noch erleben. Die Sünder, die sich um die Gesetze Gottes nicht kümmern, werden es im Tod erleben, aber die Frommen werden gerettet.« Und mein Großvater antwortet: »Ja, die Gottlosen werden einst alle ausgerottet.« Auf der Straße ist es still und einsam, schöne breite Sonnenstreifen liegen darüber. Man merkt nichts von der Ausrottung. Ich liebe das Fürchterliche nicht, und ich hoffe, dass es nicht zustande kommt. Alles riecht nach frischem Morgen, mein Kopf ist leer und froh. Zwei blaue Schmetterlinge spielen in der Luft. Die Gottlosen ruhen im See. Sie ruhen im See wie auf Moos. Mein Großvater und der Engel gehen je auf einer Seite der Straße, und Filok und Michaela springen voraus. Rechts und links des Weges ist ein Wald und hauptsächlich viel Moos; da liegt alles voll von Tannzapfen. Eliza und ich gehen Arm in Arm, sie trägt den schwarzen Fransenschal und Pelzfinken. Auf der Straße begegnen wir einem Mann, das ist einer von der Taufgemeinde in Cuny. Er grüßt zuerst den Engel und hernach meinen Großvater. Mein Großvater ist jetzt noch kein Engel, aber das nächste Jahr wird er nach Schottland verreisen, und dann wird er auch ein Engel werden. In der Taufgemeinde von Cuny werden die Leute in ein Buch eingetragen. Eliza sagt, man taufe Erwachsene und nicht kleine Kinder, denn ein kleines Kind könne noch nicht wissen, dass es getauft werde, und das sei etwas Heiliges. Eliza hält das für Ernst. Aber plötzlich ist ein Licht über mir. Ich sage: »Oh, Eliza, das ist ganz gleichgültig, ob man groß ist oder klein, wenn man getauft wird. Getauft ist getauft, und es ist nicht mehr und nicht weniger.« Eliza sagt: »Ich glaube, Sassichen, du wirst einmal sehr gescheit.« Aber ich habe keine Lust, gescheit zu werden, ich will lieber springen. Ich verlasse Eliza und springe mit Michaela. Filok und ich fassen sie bei den Händen und rennen mit ihr über die weiße Straße. Wir springen so weit, bis wir in den Schatten kommen.

Am Abend sitzen wir am viereckigen Tisch bei der Petrollampe. Eliza liest uns vor. In unserm Zimmer sind vier Betten. In einer Ecke schläft Eliza, in der andern steht mein Bett und in der dritten das Bett von Filok. Michaela schläft in einem Bett zu Elizas Füßen. Das ist ein sehr kleines Bett, Herr Martin Muth hat darin geschlafen. Durch unser Zimmer geht der Kamin des Hauses, es ist schön warm; von einem kleinen Fenster aus sehen wir