Hinter den Gärten die Welt - Karin Seeber - E-Book

Hinter den Gärten die Welt E-Book

Karin Seeber

0,0
22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Marie Luise Gothein (1863–1931) war eine außergewöhnliche Persönlichkeit und ihrer Zeit in vielerlei Hinsicht voraus. Als Autodidaktin – Frauen waren noch nicht zum Universitätsstudium zugelassen – wurde sie Expertin für Literatur und Kulturgeschichte sowie für Gartenkunst. Als Reisende in ganz Europa, Japan, China und Java sah sie mehr von der Welt, als es für die meisten ihrer (selbst männlichen) Zeitgenossen üblich war. Als Autorin verfasste sie mit ihrer Geschichte der Gartenkunst (1914) ein umfassendes, nie dagewesenes Standardwerk über legendäre Gärten in Deutschland, Italien, Frankreich und Asien, das bis heute gelesen wird. Ihre Leistungen, mit denen sie sich zunehmend von dem kulturwissenschaftlichen Schaffen ihres Mannes emanzipieren konnte, wurden kurz vor ihrem Tod von der Universität Heidelberg mit der Ehrendoktorwürde anerkannt. Noch im Alter erlernte sie Sanskrit und Yoga. In ihrer romanhaften Biografie zeichnet Karin Seeber ein beeindruckendes Porträt dieser Gartenforscherin, Abenteurerin und Pionierin.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 296

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

[Cover]

Titel

Die verborgene Gartenpforte

Hongkong, 1926

Landschaften

Breslau, 1878

Gran Sasso, Italien, 1882

Karlsruhe, 1883

Rom, 1885

Echte Natur

London, 1892

London, 1896

Petworth, 1903

Heidelberg, 1904

Wahre Kunst: Villa d’Este

Tivoli, 118 n. Chr.

Tivoli, 1905

Von Genua nach Rom, 1905

Tivoli, 1905

Heidelberg, 1905

Tivoli, 1550

Wildwuchs: Hortus Palatinus

Heidelberg, 1906

Heidelberg, 1618

Heidelberg, 1906

Heidelberg, 1908

Heidelberg, 1658

Im Schatten der Sonne: Vaux-le-Vicomte

Von Kassel bis Prag, 1909

Heidelberg, Frühsommer 1909

Bonn, 1909

Paris, 1909

Versailles, 1662

Paris, 1909

Versailles, 1661

Paris, 1909

Maincy, 1661

Paris, 1909

Maincy, 1661

Paris, 1909

Heidelberg, 1910

Hinter den Gärten

Heidelberg, 1909

Feldberg, Januar 1911

Heidelberg, Frühsommer 1914

Heidelberg, Herbst 1913

Neu-Langenburg (Tukuyu), Ostafrika, 1914

Tivoli, 1914

Neu-Langenburg (Tukuyu), Ostafrika, 1914

Heidelberg, 1914

Neu-Langenburg (Tukuyu), Ostafrika, 1914

Vaux-le-Vicomte, 1914

Neu-Langenburg (Tukuyu), Ostafrika, 1914

Wörlitz, 1915

Dahlem, 1921

Heidelberg, 1931

Der Garten aus Stein

Batavia, Java, 1925

Banyumas, Java, Juli 1926

Suzhou, China, 1926

Epilog

Hinweis

Abbildungsnachweis

Über die Autorin

Kurzbeschreibung

Impressum

Die verborgene Gartenpforte

Einfahrt in Hongkong vom Schiff aus, 19.9.26

Hongkong, 1926

Die Takelage des Schiffs rahmt eine chinesische Dschunke. Die baumdicken Masten verwurzeln sich vertikal zum Bildrand, dagegen ist die Uferlinie leicht nach links gekippt. Der Horizont kommt ins Wanken. Zwei Bergketten teilen das Meer vom Himmel. »Einfahrt in Hongkong vom Schiff aus 19.9.26«, wird sie später unter das Foto ins Album schreiben.

Land in Sicht! Endlich! Erleichtert und glücklich über die Aussicht, bald chinesischen Boden zu betreten, steigt Marie Luise Gothein auf das Deck des Schiffes. Sie hält den Moment mit ihrer Handkamera fest – auf schwankendem Boden. Es fällt ihr nicht schwer, das Gleichgewicht zu halten. Ihre leichte Gestalt benötigt nicht viel Kraft für die Balance. In der Begeisterung über die Ankunft leuchten ihre Züge auf, sie wirkt viel jünger als die 63 Jahre, die sie zählt, frisch und neugierig.

Für den Bruchteil einer Sekunde schießt ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie ihm die dunkle Bergkette hinter dem Hafen Hongkongs in einem Brief beschreiben muss. Im fast gleichen Augenblick breitet sich der Schauer der Erkenntnis auf ihrer Haut aus, dass er nicht mehr da ist.

Marie Luise Gothein, geborene Schröter, war so oft alleine gereist und angekommen. Sie hatte die Sprachen der Länder gelernt, die sie bereiste, sie hatte Zug- und Schiffsverbindungen über Ländergrenzen und Kontinente hinweg geplant, war von italienischen Männern in Zügen angestarrt worden, weil sie ohne Begleitung war. Kinder waren ihr in kleinen griechischen Dörfern neugierig hinterhergelaufen, auf ihre hellen Haare zeigend. Sie war mit Maultieren auf die Peloponnes geritten, mit Vorortzügen in die Tristesse des Pariser Umlands gereist, hatte in Hotels logiert, sich zum Dinner umgezogen, in Rom, in London, wenn sie bei Adeligen oder Industriellen zu Gast war, hatte in Schweizer Berghütten genächtigt und lange vor dem Morgengrauen Berggipfel bestiegen. Sie hatte sich die Säume ihrer Kleider bei der Suche nach alten Mauern und Pforten an den Dornen überwucherter und verfallener Gärten zerrissen … Dies ist ihre letzte Reise.

Wer war diese Frau, die sich im für damalige Verhältnisse hohen Alter so weit von der Heimat auf Entdeckungsfahrt begab? Sie war Forschungsreisende, aber keine Akademikerin. Dennoch veröffentlichte sie in ihrem Leben über dreißig Aufsätze und Bücher. Heute würde man sie als Pionierin der Kulturgeschichte bezeichnen. Zu ihrer Zeit war ihr noch kein beruflicher Weg gebahnt. Als sie junge Kinder hatte, setzte sie sich für Frauenbildung ein, ihr selbst blieb der Zugang zum Abitur verwehrt. Erst einige Monate vor ihrem Tod, im Jahr 1931, verlieh ihr die Universität Heidelberg die Ehrendoktorwürde. Bekannt ist sie für ein grundlegendes Buch, das die Geschichte der Gartenkunst erzählt – angefangen von den Gärten der alten Ägypter über die Gartenkunst der Griechen und Römer mit den Höhepunkten der Kunst in Italien und Frankreich bis hin zu den Reformgärten um 1900. Auch Japan und China sind in ihrer großen Erzählung eingeschlossen.

»Heute habe ich in Hongkong zuerst chinesischen Boden betreten«, schrieb sie am Abend in ihr Tagebuch. Noch wenige Jahre zuvor hätte sie diesen Satz, diesen Triumph in einen Brief an ihren Mann Eberhard Gothein, Heidelberger Professor für Nationalökonomie und Kulturgeschichte, geschrieben. Er wäre irgendwann von ihm gelesen worden und hätte ihm ein zufriedenes Lächeln entlockt. Nach langen Tagen des Reisens zu Wasser und Land wäre der Satz in seine Hände gelangt. So oft hatten sie zusammen geplant, dass ihr Fuß auf dieses weite alte Land trifft. Jetzt hatte sie es geschafft, sie war angekommen!

Jeden ihrer weiteren Briefe hätte er erwartet, mit Sorgfalt durchgelesen, hätte jeden ihrer Gedanken und ihre Beobachtungen beantwortet und seine eigene Sicht auf das, was sie sah, mitgeteilt, in sein Weltbild integriert, mit seinem Wissen abgeglichen und angereichert. Dann hätte er, wie immer, die Briefe verwahrt, sortiert nach Datum und Jahren. Und nach ihrer Rückkehr hätte sie sie lesen, ihre eigene Reise nachvollziehen können, den Moment noch einmal durchleben, in dem sie zum ersten Mal in Hongkong das große alte Land betreten hatte.

Es war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Deutschland als Kriegsverlierer hatte, geregelt durch den Versailler Vertrag, alle Kolonien abtreten müssen. Es war eine Schmach, die den Bürgerinnen und Bürgern des Landes in den Knochen steckte, und Marie Luise war keine Ausnahme, als sie in den schwierigen Jahren nach dem Weltkrieg als Deutsche durch die Welt reiste. »Voll Neid und Bewunderung« ließ sie sich in ihrem Tagebuch über die strategische Klugheit der englischen Besatzer aus, die ihre Kronkolonie in Hongkong errichtet hatten, und prophezeite: »noch lange kann sich China daran seine Zähne ausbeißen«.

Bestimmt hätte ihr Briefpartner einige kluge Reflexionen zu erwidern gewusst, hätte von geschichtlicher Höhe aus die Frage von Herrschaft und Besatzung abwägen können. Das Tagebuch war nur ein Teil des postalischen Dialogs, den sie zeit seines Lebens mit ihm geführt hatte, wenn sie getrennt waren. Über vierzig Jahre hinweg, in Tausenden von Briefbögen hatte dieser Dialog ihr gemeinsames Schicksal, ihre Entwicklungen, Ideen, Vorstellungen, ihren Alltag und die Höhe- und Tiefpunkte ihres gemeinsamen Lebens aufbewahrt. Es waren die Briefe, die ihr halfen, Gedanken zu sortieren, Themen zu verknüpfen und eine Verankerung im Leben und in einer gemeinsamen geistigen Gedankenwelt zu fühlen. Er fehlte ihr.

In ihrem Tagebuch nahm sie Zuflucht zur Landschaft, in der sie Vertrautes suchte: »Es ist die letzte, dem Lande am nächsten gelegene und wohl auch am höchsten sich erhebende Insel jener Gruppe die sich meilenweit von hier ins Meer hinaus erstreckt. Die landschaftliche Schönheit, wenn man auf dem Peak steht, ist ganz unbeschreiblich; man blickt wahrlich wie von einem erhabenen Königsthron auf das blaue Meer ringsum mit seinen zahllosen kleinen malerischen Inseln über den Hafen hin auf das Festland.«

Fast ein Jahr zuvor, im Dezember 1925 hatte sie ihre Reise von Italien aus begonnen. Nach dem plötzlichen Tod von Eberhard im November 1923 hatte sie Heidelberg verlassen, war nach Italien geflüchtet. Von dort begann sie ihre Reise nach Asien. Sie hatte sie zunächst nach Südostasien geführt, nach Java, wo ihr Sohn Wolfgang als Tropenarzt arbeitete und mit seiner Familie und den jungen Enkelkindern lebte. Sie hatte sich aufgemacht mit der Neugier auf fremde Kulturen, die sie immer begleitete, doch es war auch der Wunsch einer Großmutter, ihre Enkel kennenzulernen.

Auf dem Berg in Hongkong erinnerte sie sich plötzlich zurück: »Und doch, mitten in all der Herrlichkeit, die mich umgab, wurde mir plötzlich klar, dass ich nicht mehr in den Tropen bin – und mit einem Male wusste ich, dass ich immer Heimweh nach den Tropen, nach Java haben werde, nach den Palmen und dem unendlichen Meer von Grün, den Stränden und den Vulkanen. Ich musste mir ordentlich einen Ruck geben – mir kam alle Vegetation plötzlich so nordisch, fast fremd vor. Ich kam ganz gerne auf das stille Schiff zurück, das war mir noch wie ein Stück Java, das nun schon so lange hinter mir liegt.«

Sie hatte in der feuchten Hitze der Tropen den Dschungel durchstreift, verfallene, überwucherte Tempel skizziert, sie hatte die Geheimnisse des javanischen Schattenspiels ergründet mit ihren feingliedrigen, an Stäben geführten Puppen und sie hatte sich vom wuchernden Grün der Tropennatur überwältigen lassen. Diese war grenzenlos, ungebändigt, übermächtig, ganz anders als alte europäische Gärten mit ihren schnurgeraden Alleen und verschnörkelten Schmuckbeeten.

Schon von Kindesbeinen an waren es die Landschaften, die sie berührt und geprägt hatten. Und doch sind es die Gärten, denen Marie Luise Gothein ihren Nachruhm verdankt.

Sie war eine außergewöhnliche Frau, die ihre Chancen, die das lange 19. Jahrhundert ihr bot, ergriff und nutzte. Sie war ganz Kind ihrer Zeit und fiel doch völlig aus dem Rahmen, eine Frau voller Ecken und Kanten. Ohne jeglichen formalen Universitätsabschluss leistete sie auf dem Gebiet der Gartengeschichte bahnbrechende Pionierarbeit. Für ihr grundlegendes Werk forschte sie zehn Jahre lang und bereiste halb Europa, immer auf der Suche nach den kunstvollsten, den bedeutendsten Gärten, von denen viele zu ihrer Zeit dem Verfall preisgegeben waren. Sie rettete sie vor dem Verschwinden und Vergessen, indem sie sie beschrieb und dokumentierte. Zugleich begründete sie damit einen neuen Zweig der Kunstgeschichte.

1914 wurde ihre zweibändige Geschichte der Gartenkunst veröffentlicht, im Winter des Jahres, dessen Sommer den Ersten Weltkrieg brachte. Es ist ein Kompendium, ein Nachschlagewerk, in dem die Gärten der Welt von ihren Ursprüngen bis in die Zeit seiner Veröffentlichung versammelt und beschrieben sind. Eng verknüpft mit deren Geschichte sind die Geschichten ihrer Besitzer. In ihrem Vorwort schrieb die Verfasserin: »Alle großen geistigen Strömungen haben auch irgendwie an das Schicksal des Gartens gerührt, und die bedeutendsten Gestalten der Weltgeschichte erscheinen als seine Pfleger und Förderer oft in ganz neuer Beleuchtung.«

Übersetzungen und zahlreiche Nachdrucke bis heute belegen den Wert dieses Werks. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, der als junger Mann Journalist war, schrieb in seiner Rezension: »Der Weg durch die Geschichte des Gartens wird zu einer Wanderung durch den Garten der Geschichte.« Noch 2006 wurde ihre Weltgeschichte der Gärten unverändert ins Italienische übersetzt, als »un omaggio a questa, ancora oggi, fondamentale opera« – eine Hommage an dieses – auch heute noch – fundamentale Werk. Da hatte die Geschichtswissenschaft schon zahlreiche Paradigmenwechsel durchlaufen.

Die Gewissheiten über den Lauf der Weltgeschichte, die Marie Luise als Fundament nutzte, bestehen schon lange nicht mehr. Aber es ist immer noch bestrickend, ihrer Erzählung zu lauschen, Hunderte von Bildern und Fotos alter Gärten zu durchstöbern und mit ihr die großen Verbindungen zwischen der Geschichte, den Mächtigen und ihren Gärten nachzuvollziehen. Ihr Buch ist selbst zu einer wichtigen Quelle geworden für den Zustand historischer Gärten um 1900. Es war das Ergebnis akribischer Quellenforschung und ausgedehnter Reisen, bei denen sie die ursprüngliche Anlage der historischen Gärten zu rekonstruieren versuchte. Sie setzte die einzelnen Kunstwerke in eine lange Reihe der Entwicklung von den Wandgemälden fruchtender Gärten in ägyptischen Grabmälern bis hin zu den Gartenbauausstellungen ihrer Zeit. Ihr eigenes Leben verband sich für viele Jahre auf das Engste mit den Gärten und den Personen, die sie gestaltet hatten.

Dass sie ihr Leben für ein Jahrzehnt mit den historischen Gärten verknüpfte, ihre Disziplin beim Durchforsten von Archiven in ganz Europa, wie sie in völlig verwilderten Parks unermüdlich nach Zeichen, Mauerresten, Säulenstümpfen, von deren Grundanlage suchte – ihre Leidenschaft für diese Arbeit –, all das fasziniert bis heute.

1909 schrieb sie einem Freund: »Jetzt reise ich zu den französischen Gärten und wundervoll fügt sich das Bild dieses Schauplatzes mit den glänzenden Menschen und Festen der grossen französischen Zeit, ich habe mich so ganz mit ihrem Schicksal verflochten, dass ich durch diese Gärten immer mit einem großen Gefolge schreite und erst jetzt durch innere und äussere Anschauung verstehe wie sich das Zeitalter Ludwigs XIV. aus der Renaissance entwickelt hat.«

Es sind die Menschen, die Gärten als Kunstwerke schaffen. Vielleicht ist dies der Schlüssel zum Erfolg der Geschichte der Gartenkunst. Marie Luise Gotheins Gärten bestehen nicht bloß aus Hecken und Skulpturen und Wegeverbindungen, aus Elementen, die man beliebig austauschen und kombinieren kann, um einen bestimmten Stil zu schaffen. Sie erkannte darin vielmehr den Willen der Herrscher und Mächtigen, ein Stück Land so zu unterwerfen und zu gestalten, dass nicht nur Mauer und Paläste von ihrem Anspruch künden, sondern auch die Natur – sei sie in Form geschnitten oder als Vorstellung ihrer wahren Essenz in geschlängelten Wegen und locker verteilten Baumgruppen gebannt.

Gleichzeitig schärfte sie den Blick dafür, dass Gärten vergängliche, bedrohte Kunstwerke sind, weil sie den Naturkräften unterliegen – viel mehr als jede andere Kunst. Mit ihrem Buch eröffnete Marie Luise Gothein den Zugang zur Geschichtlichkeit der Gartenkunstwerke. Sie entwickelte mit ihrer Darstellung die Idee von verschiedenen historischen Schichten, die man gesondert voneinander betrachten kann.

Heute erinnert ihr Buch mit Eindringlichkeit daran, dass historische Gärten wieder – mehr denn je – von Zerstörung bedroht sind, trotz sorgfältiger Pflege nach den aktuellen Richtlinien der Gartendenkmalpflege, die zu ihrer Zeit noch gar nicht entwickelt war.

In der Geschichte der Gartenkunst sind die Gartenkunstwerke gut geschützt durch das Papier. Text und Bild konservieren ein Ideal, eine paradiesische Fantasiewelt, in der Wind, Wetter, Sonne – und die Menschen – jenen fragilen Kunstwerken wohlgesonnen sind und sich an ihrer Harmonie von Kunst und Natur erfreuen. Wer Marie Luise auf ihren Reisen zu den Gärten folgt, erlebt diese in ihrer ganzen wandelbaren Schönheit.

Geplant hatte sie das nicht. Durch Zufall öffnete sich ihr eine verborgene Pforte zum Garten. Sie wurde das Eintrittstor zur ganzen Welt. In Hongkong, im September 1926, neigt sich der Pfad, der dahinter liegt, seinem Ende entgegen.

Landschaften

Breslau, 1878

Marie Luise Gothein wurde am 12. September 1863 in Passenheim geboren, ihr Mädchenname war Schröter. Das heutige polnische Pasym liegt eingebettet in die grünen Weiten der masurischen Seenlandschaft, im ehemaligen Ostpreußen. In ihren Kindheitserinnerungen bezeugte sie ihre »enge Verbundenheit mit der Landschaft, besonders Masurens«. Ihr Leben verbrachte sie weit davon entfernt.

Ihr Vater war Amtsrichter, ihre Mutter prinzipientreu – die Stütze der Familie – und darauf bedacht, dass ihre Kinder den Möglichkeiten und dem Status der Familie entsprechend ausgebildet wurden. Sie war die Erste, die die junge Marie Luise in den engen Grenzen des ihr Möglichen förderte.

Erst 1896 durften in Berlin die ersten Mädchen ihr Abitur ablegen, ein vorbereitendes Gymnasium hatte es da noch nicht gegeben. Im Mai desselben Jahres bekam Marie Luise, die sich mit Privatunterricht an einer Mädchenschule hatte begnügen müssen, ihr viertes Kind. Damit hätte sich »Frau Professor Gothein« als Vorstand eines professoralen Haushalts zufriedengeben können. Sie aber wollte mehr – und dies schon von Kindesbeiden an. Sie beneidete ihren vier Jahre älteren Bruder Arthur, der später Ministerialbeamter im Preußischen Landwirtschaftsministerium wurde, nicht nur um seine Bildungschancen. »Ach wer doch ein Junge sein könnte, warum musste ich auch ein Mädel sein, ich konnte doch das meiste wie die Jungen, klettern laufen«, schrieb sie in ihren Kindheitserinnerungen, die sie sieben Monate vor ihrem Tod anfing und unfertig ließ. Sie sind – wie die meisten ihrer Briefe, Tagebücher und Notizen – im Handschriftenarchiv der Universitätsbibliothek Heidelberg verwahrt, ein Heft aus einigen DIN A4-Seiten, die mit der Frage beginnen, warum sie diese Lebenserinnerungen überhaupt aufschreibt. »Für die Kinder«, überlegte sie, aber vielleicht steckte mehr dahinter.

Marie Luise war 1931 vor allem als Witwe des berühmten Heidelberger Professors und badischen Landtagsmitglieds Eberhard Gothein bekannt. Sie hatte in diesem Jahr von der Heidelberger Universität die Ehrendoktorwürde verliehen bekommen. Die Urkunde begründet diese Auszeichnung mit ihren Übersetzungen und ihrer Vielseitigkeit als »Schriftstellerin«, explizit wird jedoch nur die »Lebensbeschreibung ihres Mannes« genannt als »ein Stück deutscher Kultur- und Geistesgeschichte«. Ebenfalls im Jahr 1931 hatte Marie Luise diese Biographie veröffentlicht, die sich aus den Briefen ihres Mannes und ihren eigenen Erinnerungen speist. Der Untertitel heißt »ein Lebensbild« – davon gab es in dieser Zeit etliche. Die Rechtshistorikerin und Frauenrechtlerin Marianne Weber hatte fünf Jahre zuvor ein »Lebensbild« ihres Mannes, des Soziologen Max Weber, gegeben. Die Pianistin Eugenie Schumann malte 1931 ein »Lebensbild« ihres Vaters Robert, des berühmten Komponisten, in Buchform. Die Pietistin Hedwig von Redern schrieb ein »Lebensbild« über den Gründer der Heilsarmee, William Booth.

Lebensbilder waren für die Frauen der Zeit eine Möglichkeit, teilzuhaben an der Leistung der Männer. Es war eine angemessene weibliche Beschäftigung mit dem Leben großer Patriarchen: einfühlsam, zurückgenommen. Für Marie Luise stellte sich der Erfolg dieser Tätigkeit unmittelbar ein. Ihr Buch war für die Verantwortlichen der Universität Heidelberg der Anlass, ihr die Ehrendoktorwürde zu verleihen – nach 40 Jahren eigener Publikationstätigkeit und knapp 30 Veröffentlichungen.

Natürlich ist ihr eigener Beitrag zu diesem akademischen Leben, das sie anhand der Briefe ihres Mannes erzählt, in diesem Buch unverkennbar, aber ihre Prägung ist kein Teil davon. Und so musste sie am Ende ihres Lebens wohl das Bedürfnis gehabt haben, ihre frühesten Erinnerungen »als Ergänzung zu Eberhards Biographie« aufzuschreiben.

Nirgendwo kommt in ihren Erinnerungen ein Garten der Kindheit vor. Kein Gartenzaun, über den die Stockrosen schießen und sich unter der Last der großen pergamentpapiernen Blüten biegen, kein Nutzgarten des Lieblingsonkels, untrennbar verbunden mit dem Duft der Kartoffelfeuer im Herbst.

Doch sie berichtete von den Sommern in Masuren, von den Ferien bei Verwandten auf dem Land. Landschaft in ihrer Gesamtheit, das Landleben prägten ihre Kindheit und Jugend. Die Weite des Himmels, das Blau der Seen und der Wind, der durch die Ähren der Felder streift, waren ihre erste Natur. Der Garten in seiner Gestaltung, in seiner menschlichen Überformung von Natur war eine Kunstform, der sie sich erst von einer gebildeten intellektuellen Warte aus näherte. Und das erst viel später.

Assoziativ und spontan wirken ihre Kindheitserinnerungen und doch enthalten sie Hinweise auf ihre wichtigsten Lebensthemen: ihre Naturverbundenheit, ihren Bildungshunger und ihre Sehnsucht nach der Ferne. Die wollte sie ihren Kindern offenbar vermitteln. Percy, der die Liebe der Eltern zur italienischen Renaissance geerbt hatte und wie ein kostbares Erbe weitertrug, wenn auch ohne jedes Ziel. Wolfgang, der Schweigsame, der als Tropenarzt auf Java lebte und seinen Dante wie einen Leitstern durch die Landschaften Ostafrikas getragen hatte. Sollte er lesend verstehen, was er im Gespräch immer verweigert hatte? Oder Werner, der sich in seiner abstrakten Kunst am weitesten von seinem Elternhaus entfernt hatte. Was wollte sie ihnen sagen?

»Für die Kinder«, schrieb sie auf die erste Seite und dachte vielleicht am meisten an den Jüngsten, der so jung in Kontakt gekommen war mit der Kunst als Lebenshaltung. Percy war gerade in Italien unterwegs oder irgendwo sonst in Europa, reisend, immer rastlos. Ihm erzählte sie: »Ich muss noch sehr klein gewesen sein, als ich mich auf mein erstes Abenteuer begab. Irgendwo in der Nähe unserer Wohnung floss ein Bach, ich schaute die fliessenden Wasser nach, es zog und lockte, wohin mag er fliessen? […] Ich konnte nicht wiederstehen, so lief ich ihm nach immer weiter soweit die kleinen Beine mich tragen konnten, bis ich endlich ohne mein Ziel erreicht zu haben einschlief.«

Eltern und Verwandte suchten die kleine Marie Luise und waren nur erleichtert, als sie sie fanden, das schrieb sie weiter. »Mir aber ist geblieben, dass es mich heute noch in eine eigentümliche Erregung bringt, wenn ich sehe wie die Wasser sich in andere ergiessen, noch eine kurze Zeit um ihre Selbständigkeit kämpfen und dann mit den gewaltigeren Wassermassen sich mischend als neues Gebilde weiterströmen.«

Wie die Wasser in Wirbeln strömen und rauschen, so liest sich Marie Luises Schreibstil: ein Gedankenfluss, hin und wieder unterbrochen durch Satzzeichen, Orthographie und Grammatik hüpfen nicht selten über Stromschnellen, doch das Schreiben drängt sie weiter und weiter – ohne ein endgültiges Ende zu finden. Sie räumte es selbst in ihren Kindheitserinnerungen ein: »Ich lernte leicht, begriff schnell, war nur sehr flüchtig in meinen schriftlichen Arbeiten.«

Dies war eine Stelle, bei der Percy beim Lesen sicher laut aufgelacht hätte. Aber nicht nur er, auch Wolfgang, Wilhelm und Werner hätten sich bei dieser Passage an die strenge Mutter ihrer Kindheit erinnert, der Pünktlichkeit und Ordnung vor allem in Bezug auf das Lernen und die Bildung über alles gingen. Jeden Morgen hatte sie an der Treppe des Bonner Hauses ihre Ranzen kontrolliert und sie hoch in ihre Zimmer geschickt, wenn sie entdeckt hatte, dass ein Griffel fehlte. Sie hatte sie alle gekannt. Sie hatte genau gewusst, mit welchen Büchern sie gerade arbeiteten. So lange war das her! Und nun endlich gab ihre Mutter zu, dass auch sie nicht besonders ordentlich gewesen war in ihren schriftlichen Arbeiten. Welche Konflikte hätte sie ihnen erspart, wenn sie sich früher wieder daran erinnert hätte.

Doch das war wahrscheinlich nicht das, was Marie Luise an der Geschichte aus ihrer frühen Kindheit wichtig gewesen war. Sie hatte sie sich immer wieder von ihren eigenen Eltern erzählen lassen. Die Suche nach dem Lauf der Wasser hatte sie interessiert, lange bevor sie denken konnte. Es muss ein ihr innewohnendes Verlangen gewesen sein, der Grund für die Frage nach der Entwicklung der Erscheinungen. Die kleine Marie Luise auf der Suche nach dem Ende des Bachs war ihr Lieblingsbild, um den Wissensdrang eines jungen Mädchens zu beschreiben: Wohin führt der Strom der Erscheinungen? Welche Bäche und Flüsse speisen ihn? Sie hätte und hat es sich nicht besser ausdenken können, um zu dokumentieren, wie sie immer schon den Drang verspürte, der Bewegung zu folgen, die Gefahr zu ignorieren, um zu erfahren, wie die Welt aussah außerhalb ihres kleinen Radius.

Der Kreis der Aufgaben und Möglichkeiten war für ein Mädchen ihrer Generation eingeschränkt: »tief hat sich mir der Zwang der täglichen häuslichen Handarbeit eingeprägt, ein Mädchen muss stricken lernen daran hielt auch die Mutter fest und wenn ich mich noch so sehr mit den Schularbeiten beeilte um gleich mit den Jungens zum Spiel hinaus zu kommen – nach einiger Zeit ertönte doch die Stimme vom Hause: ›Kindchen hast du deine Strickerei schon fertig.‹ Natürlich hatte ich sie nicht, und mit manch heimlichen Tränen musste ich mich an den verhassten Strumpf setzen […]«

Ihre Kinder hätten sich beim Lesen daran erinnert, dass die Mutter früher doch auch Strümpfe gestopft hatte. Natürlich musste sie es lernen und sie tat es auch – nur nie gerne. Sie wollte hinaus, Dinge selbst entdecken oder darüber lesen – eine zweite wichtige Neigung, wenn es darum ging, der vorgefassten Schablone des weiblichen Lebensentwurfs der damaligen Zeit zu entkommen. Im masurischen Nikolaiken, während der Sommerferien, die die Kinder der Familie Schröter viele Jahre lang bei Verwandten auf dem Land verbrachten, »begegnete mir auch ein kleines Abenteuer«, schrieb die fast 64 Jahre alte Marie Luise in ihren Kindheitserinnerungen.

»Ich hatte mich auf einem Floss häuslich mit einem Buch niedergelassen mit dem Rücken nach dem See, und war tief in die Geschichte versenkt. Als ich später aufsah, bemerkte ich zu meinem Schrecken, dass ich ein ziemliches Stück im See trieb, das Floss mochte wohl schlecht befestigt gewesen sein und hatte sich losgerissen […]« Als Marie Luise ein junges Mädchen war, war die Lektüre von Mädchen und Frauen reglementiert und wurde kontrolliert. Frauen durften weder zu viel noch das Falsche lesen. Und sie konnten – egal, wie viel sie lasen – niemals in bestimmte Kreise aufgenommen werden. Bücher konnten eine Frau nicht allein auf ihre zukünftige Rolle vorbereiten, sie konnten sie sogar verderben oder auf unangemessene Gedanken bringen. Aber wer sich – wie die kleine Marie Luise – so in ein Buch vertiefen konnte, dass er die Welt um sich herum ausblendete, der ließ sich von niemandem vorschreiben, nicht zu lesen.

Die Söhne hätten beim Lesen ihrer Erinnerungen daran gedacht, dass die Mutter schon immer eine gute Vorleserin gewesen war und eine fantasiereiche Nacherzählerin, etwa von griechischer Mythologie oder geschichtlichen Ereignissen. Natürlich! Was auch sonst, wenn sie in ihren Kindheitserinnerungen schrieb, dass sie die Geschichten, die sie las, mit ihrer eigenen Fantasie umspann und Abend für Abend »wie Alice im Wunderland« ihrer Puppe davon erzählte.

Nach mehreren Umzügen, dem Beruf des Vaters hinterher, landete Familie Schröter schließlich in Breslau, wo die jugendliche Marie Luise ihr »grösstes Erlebnis« an einer Privatschule für Mädchen hatte: »Mathematik war durchaus noch kein Fach, das in allen Mädchenschulen damals eingeführt war, Tante Alma aber, so wurde sie von uns allen genannt, wollte wenigstens probeweise dieses Fach bei ihren Mädchen einführen.«

So lapidar Marie Luise von der Experimentierfreude der Schulvorsteherin schrieb, so lebensentscheidend sollte dieser Mathematikunterricht für das Mädchen werden. »Wir hörten bald, dass ein junger Dr. bei uns als Mathematiklehrer auftauchen würde.« Und Marie Luise Schröter konnte dem Unterricht des Privatdozenten hervorragend folgen: »Es zeigte sich bald, dass die Familienbegabung für Mathematik auch auf mich übergegangen war, ich war die einzige von etwa 19 Mädel, die in unserer Klasse waren, die sofort begriff und mit Lust am Lernen, die mich immer beseelt hat, schnell das mathematische Abc überwinden liess. Das mochte den jungen Lehrer wohl zuerst auf das blonde Mädel, dem ein Zopf über den Rücken herabhing, das während der Stunden so mäuschenstill zuhören konnte und in den Pausen die wildeste die hohen Treppen herabsprang, aufmerksam gemacht haben […] Dass sich sämtliche Mädel der Klasse in den jungen Lehrer verliebten, ist vielleicht nicht so sehr verwunderlich, mehr wohl dass sich der junge Lehrer in seine beste Schülerin so verliebte, dass er wenigstens später immer behauptete, schon in dem 14-jährigen Kinde seine künftige Gattin gesehen zu haben. Natürlich hatten die Mädel bald heraus, dass er mich mit andern Augen ansah als die andern: Ich wurde fortwährend geneckt, was mich natürlich aufbrachte, denn ausser im Lernen, war ich eigentlich ein spät und langsam reifender Mensch, noch völlig und mit Leidenschaft Kind, das mit Grauen daran dachte, das es auch einmal erwachsen sein müsste.«

Im Jahr 1878 dachte die Schülerin Marie Luise Schröter nicht daran, ihr Lebensglück von einem zehn Jahre älteren Mann abhängig zu machen. Sie mochte ihn als Lehrer, sie wollte von ihm lernen und sie machte sich wenig Gedanken um ihre Zukunft – so jedenfalls berichtete sie es später. Mit immer noch kindlichem Trotz lehnte sie traditionell weibliche Tätigkeiten ab. Noch in ihren Erinnerungen, die sie mit 64 Jahren aufzeichnete, betonte sie, wie wild sie als Kind war, wie ungestüm und ungezähmt beim Herunterspringen der Schultreppen. Doch wenn sie ein Lehrinhalt fesselte, konnte sie sich voll und ganz konzentrieren. Marie Luise zeichnete von sich als Kind das Ideal des genuin wissbegierigen Menschen. Offenbar fand sie damit die resignierte Unterstützung ihrer Mutter. Denn als sie mit fünfzehneinhalb die Mädchenschule beendete, war sie noch zu jung für das Lehrerinnenseminar, das ihr nächster Bildungshorizont werden sollte. Ihre Mutter versuchte ihr Kochen und Haushalten beizubringen, aber Marie Luise boykottierte deren Bemühungen. »So fasst die Mutter denn den Entschluss […] ging zur Schulvorsteherin, sagte ihr ›Ich kann mit dem Mädel zu Hause nichts anfangen, darf ich sie wieder in die Schule schicken, damit sie an einigen Stunden wenigstens hospitieren darf.‹ Ich war selig, fiel der Mutter um den Hals […] Den verliebten Lehrer aber setzte die Rückkehr dieser Schülerin in einen Freudenrausch, er konnte es sich in seinem Zustand gar nicht anders denken, als dass ich zu ihm und für ihn in die Schule zurückgekehrt sei, in stürmisch glücklichen Liebesgedichten sprach sich sein Glück aus. Dem jungen Kinde aber lagen alle Liebesgedanken weltenferne. –«

Heutige Leser würden diese Passage besorgt lesen: Der Lehrer bedrängte seine beste Schülerin mit Liebesgedichten, von denen sie nichts wissen wollte. Als Frau ihrer Zeit in vielen Belangen abhängig, bewahrte sie sich aber offenbar auch in dieser Situation schon ihre Unabhängigkeit.

Wann und warum sich Marie Luise Schröter schließlich doch in den zehn Jahre älteren Eberhard Gothein verliebte und sein Werben erhörte, erfahren ihre Söhne und alle anderen Leser ihrer Kindheitserinnerungen nicht. Und auch die ersten Briefe der beiden Verlobten stammen erst aus dem Jahr 1883. Sechs Jahre lang hielt Gothein offensichtlich seine Werbung um seine Schülerin aufrecht. Und wenn man den Kindheitserinnerungen Glauben schenkt, dann sah Marie Luise nicht gleich von vornherein darin ihre Chance auf Bildung und Förderung ihres Wissensdrangs. Sie beschrieb sich als genuin intelligent, lerneifrig und entdeckungsfreudig, und ihre Mutter unterstützte sie in diesen Eigenschaften, indem sie ihrer Tochter keine Steine in den Weg legte oder sie mit Gewalt zu etwas zwang, das ihr nicht lag.

Hätte Marie Luise Schröter ihren Weg also auch alleine gehen können? Ohne die Unterstützung von Professor Eberhard Gothein? Ihre Schwester Eva Schröter blieb unverheiratet und wählte einen der wenigen Berufe, die bürgerlichen Frauen offenstanden: Lehrerin. In diesem erreichte sie mehr als andere Frauen ihrer Generation: Nach einem längeren Aufenthalt an einer Mädchenschule in England war sie in den 1920er Jahren Rektorin eines Mädchengymnasiums in Berlin-Dahlem. Wäre es ihr, genauso wie ihrer Schwester Marie Luise, möglich gewesen, wochenlange Bibliotheksstudien in England zu machen, Aufsätze und Bücher zu veröffentlichen und halb Europa auf der Suche nach vergessenen Gärten zu bereisen und am Ende ihres Lebens eine Reise nach Südostasien, Japan und China anzuschließen, um die Kulturerkenntnisse aus dem alten Europa auf einen exotischeren Kreis anzuwenden? Die Antwort fällt eindeutig aus: Nein. Eberhard Gothein ermöglichte seiner Frau die Bildung und den Horizont, denen sie ihrer Auskunft nach schon als kleines Kind zugestrebt hatte. Doch es war ihr wichtig zu betonen, dass sie sich bereits eigenständig auf den Weg gemacht hatte – obwohl sie noch so jung war, als sie ihren späteren Mann kennenlernte.

Im ersten Jahr ihrer Verlobung schrieb ihr Eberhard Gothein aus Berlin: »Es kommt mir freilich immer vor, als ob ich erst recht mit frischer Lust werde arbeiten können, wenn einmal Dein Nähtisch neben meinem Schreibtisch steht, Du meine Manuskripte ordnest und den Staub von meinen Büchern wischst.« Das war seine, für die Zeit völlig berechtigte, Vorstellung ihres künftigen Zusammenlebens. Aber nicht ihre.

Ein paar Monate später ergab sich in den Briefen eine kurze Diskussion über die Arbeitsverteilung der Geschlechter. Sie antwortete ihm: »Du schreibst in Deinem letzten Briefe wir Frauen wären in Allem besser als ihr Männer nur nicht – in der Arbeit, das klingt so stolz bescheiden und ist es doch eigentlich nur das erstere, was verstehst du denn unter diesem ›Allen‹. Höchstens doch im Ertragen und Leiden, ich weiß schon, das laßt ihr Männer uns gerne, ich schrieb Dir aber schon einmal, daß mir dieser Ruhm unsers Geschlechtes nicht zu kommt, was bleibt denn übrig? garnichts, das weiß ich sehr wohl; darum wäre ich ja so viel lieber ein Mann, ich wollte schon gerne die andren ›in Allem‹ überlegen, besser sein lassen nur nicht in der Arbeit.«

Der Verlobte stieg in diese Diskussion nicht ein, er versuchte sich durch eine lockere Bemerkung herauszuwinden: »[…] und über Frauen- und Männer-Aufgaben würden wir uns gewiß in einem herzlichen Kuß rasch vereinigen.« An die Grundkonstanten der gesellschaftlichen Konventionen wollte Eberhard Gothein nicht rühren. Doch er war lernwillig.

Marie Luise Gothein am Schreibtisch ihres Bonner Hauses, 1898

Es blieb nicht beim Nähtisch, es wurden ein eigener Schreibtisch, ein eigenes Arbeitszimmer, ein eigenes Forschungsprojekt, eigene Reisen. Das Bemerkenswerte ist, dass Eberhard Gothein die Entwicklung seiner Frau immer unterstützte. Er begleitete sie an die Mündung des Flusses, er winkte ihrem Boot hinterher und wartete auf sie am Ufer. In einem Brief aus ihrem vierzigsten Lebensjahr und seinem fünfzigsten, der auf »26/9 03. Freitag. Mitternacht« datiert und mit der Anrede »Mein einzig geliebter Schatz« beginnt, schrieb er: »[…] ich fühle es heute wie damals, daß ich ohne Deine Liebe nichts wäre und daß es eigentlich mein Lebensziel sein muß, an jedem Tage mich Deiner Liebe würdig zu machen. Der geistige Einfluß, den ich auf Dich ausgeübt, ist gewiß der grössere; denn in meinem Denken und Lernen war ich ziemlich fertig, aber wie wenig ist das! Daß ich Dich vom ersten Augenblick an erkannt habe und gewußt, was Du bist, das ist doch eigentlich der Stolz meines Lebens.«

Er blieb lange ihr Lehrer – schon wegen des Altersunterschieds und des Bildungsgefälles. Sie war ein Kind, als sie ihn kennenlernte, Schülerin einer Mädchenschule, an der als Zeichen der Progressivität Mathematik unterrichtet wurde. Er war habilitierter Privatdozent an der Universität Breslau. Marie Luise brauchte viele Jahre, ihr halbes Eheleben, um sich aus dem Schatten des enzyklopädisch gebildeten Kulturhistorikers hinaufzuarbeiten zu einer intellektuellen Beziehung auf Augenhöhe. Dabei half ihr niemand anderer als ihr Bräutigam und Mann selbst, der das Ziel verfolgte, sie zu seiner gebildeten Begleiterin zu machen: »Geliebter Schatz, wie schön wird es sein, wenn Du als meine kleine kluge Hausfrau einen Kreis von gescheiten Männern unsichtbar leitest«, schrieb er ihr im Februar 1885, kurz vor ihrer Hochzeit. Er ahnte damals nicht, dass sie sich nicht damit begnügen würde, außerhalb dieses Männerkreises zu stehen. Sie strebte danach, ein Teil davon zu sein, vielleicht sogar der Mittelpunkt. Und er? Er ließ sie strahlen.

Eberhard Gothein, undatiert

Gran Sasso, Italien, 1882

Es war noch vor Sonnenaufgang. Über dem Hochplateau lagerten dünne Wolkenstreifen. Ein Steinadler schwebte auf den hohen Ausläufern des Tramontana-Windes. Seine Schreie kündigten eine sich langsam aufwärts arbeitende Seilschaft an. Noch vor der Hauptsteigung am Berg waren zwei der italienischen Begleiter zurückgeblieben und hatten sich bekreuzigt. Die zwei jungen Männer, die sie von diesem Himmelfahrtskommando überzeugt hatten, waren zusammen mit dem Führer, einem wind- und wettergegerbten Hirten aus der Nähe von L’Aquila, unbeirrt weitergeklettert. Jetzt näherten sie sich langsam, aber stetig der Bergkante. Mit zwei, drei wütenden Schreien löste sich der Adler aus seinem Windkanal und stieß in die Tiefe hinab. Sonst war alles still.

»Das Herrlichste war die halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Wie da das adriatische Meer dalag, indigoblau und darüber die Morgenröte, und um uns herum die wildflimmerten zerrissenen Kegel in fahlem Grau, das vergesse ich nicht.« So beschrieb der junge Privatdozent Eberhard Gothein später den Eindruck seiner Besteigung des italienischen Bergmassivs Gran Sasso auf fast 3000 Meter: »Es ist wohl überhaupt der herrlichste Blick in Europa, die Nähe unvergleichlich wild und erhaben und dann, wo sieht man zugleich zwei solche Meere! Denn auch das Tyrrhenische Meer dehnt sich unermeßlich vor den Augen und Italien sieht merkwürdig schmal aus.« Auf dem Höhepunkt seiner Kraft fühlte sich Eberhard auf dem Gipfel des Gebirgsmassivs. Er hatte nicht nur die Muskeln in Beinen und Armen, um die Felsen in der diesigen Atmosphäre der letzten Minuten der Nacht zu ertasten, zu ergreifen und zu betreten. Er hatte auch das Wissen um die Zeitalter, die diese Landschaften, diese beiden Landteile an den Meeren, durchlebt und wie sie die europäische Kultur geprägt hatten. Er fühlte sich wie ein Adler auf seinem Flug durch die dünnen Luftschichten, dem nicht die kleinste Bewegung an den kahlen Hängen der Berge entging.

Eberhard profitierte sein ganzes Leben lang von dieser Studienreise. Seine Liebe zur Kunst und Kultur Italiens vermittelte er freigebig an seine Frau. Mit einem Stipendium des preußischen Kultusministeriums war er im Jahr 1882 nach Italien gereist. Ganz klar war sein Augenmerk auf Süditalien gerichtet als Ergänzung zu Jacob Burckhardts Hauptwerk Die Kultur der Renaissance in Italien aus dem Jahr 1860. Dieses Buch interpretierte die italienischen Staaten zur Zeit der Renaissance als Kunst. Es verband den Humanismus der Zeit mit Festkultur und Kunstbezug – kurz: Es war ein weitgespannter Bogen Kulturgeschichte, der Geisteswissenschaftler bis weit ins 20. Jahrhundert hinein herausforderte.

Da Burckhardt wenig Augenmerk auf Süditalien gerichtet hatte, sah der junge Akademiker Eberhard Gothein hier eine Lücke klaffen, die dringend gefüllt werden musste – und zwar von ihm.

Er war ein Mensch des 19. Jahrhunderts und blieb dies auch in den ersten zwei Jahrzehnten seines Lebens im 20. Jahrhundert. Zeitgenossen sprachen achtungsvoll von seinem enzyklopädischen Wissen und seiner Fähigkeit, sich in jeder Diskussion fruchtbar einzubringen. Sein Ideal war Goethes Universalgelehrtheit. Damit einher ging für ihn auch der Auftrag, andere zu bilden.

Als Historiker war er geprägt vom Historismus, einer Zeit »großer Erzählungen«. Ausgehend von historischen Persönlichkeiten als Kristallisationspunkten, wurde Geschichte als stete Entwicklung begriffen. Eberhard Gothein hatte sich von der Generation seiner Lehrer dadurch emanzipiert, dass er sich nicht auf die herrschenden Persönlichkeiten beschränkte, um Geschichte zu beschreiben, sondern die Kultur und die Landschaft einer Region mit in Betracht zog. Die Kulturgeschichte war ihm wichtiger als die politische Geschichte, Landschaft und Wirtschaft zeigten für ihn besser auf, welche Ideen in einer Zeit vorherrschten.

Um diese Aspekte zu verstehen, wählte er zwei Methoden: wandern und studieren. So durchwanderte er im Sommer und Herbst des Jahres 1882 Süditalien, unterbrochen von längeren Studienaufenthalten in Bibliotheken und Archiven vor Ort. So hielt er es auch während der folgenden Jahre – bis ihn das Familien- und Universitätsleben zwang, kürzerzutreten.