Hirngespinste (SPIEGEL-Bestseller) - Lisa Vogel - E-Book

Hirngespinste (SPIEGEL-Bestseller) E-Book

Lisa Vogel

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Beschreibung

Sätze wie »Ein bisschen ADHS hat doch jeder.«, »ADHS gibt es doch gar nicht.« oder »ADHS haben doch nur kleine Jungs.« gehören für Lisa Vogel zum Alltag. Wie es ist, als erwachsene Frau mit ADHS zu leben, welchen Vorurteilen man ausgesetzt ist und was im Alltag hilft, davon handelt dieses Buch. Lisa räumt mit Mythen rund um die Stoffwechselstörung im Gehirn auf. Denn nicht jede/r mit ADHS ist ein zappeliges Kind, schlecht in der Schule oder auffällig im Erwachsenenalter. Mit ihrer späten Diagnose begann ihre Reise zu sich selbst, aus der ihr Wunsch erwuchs, andere auf dieser Reise zu begleiten, ihnen Verständnis zu schenken und sie vor Selbstzweifeln zu schützen. Aktuelle Erkenntnisse und Studien zum Thema ADHS runden das Buch ab.

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Lisa Vogel

Hirngespinste

Originalausgabe

1. Auflage 2023

Verlag Komplett-Media GmbH

2023, München

www.komplett-media.de

E-Book ISBN: 978-3-8312-7151-1

Begleitlektorat: Theda Bader, Berlin

Lektorat: Katrin Fillies, Hamburg

Korrektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Layout: Heike Kmiotek, Düsseldorf

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Bookwire, Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH, Frankfurt am Main

Aufgrund der besseren Lesbarkeit haben wir uns in diesem Buch dafür entschieden, abwechselnd und ausgewogen sowohl die weibliche als auch die männliche Form zu verwenden, um anzuzeigen, wie wichtig uns ein diverses Bild unserer Gesellschaft ist. Anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint.

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.

VORWORT

»ADHS GIBT ES NICHT!«

Was ist ADHS überhaupt? Und was passiert da im Kopf?

Welche Symptome hat ADHS?

Emotionale Dysregulation & exekutive Dysfunktion

Reizfilterstörung

Ist ADHS eine Krankheit oder eine Superkraft?

Der Hyperfokus – Fluch oder Segen?

Was es mit der »Sterbebett-Beichte« auf sich hat

Wie läuft die ADHS-Diagnose?

Wie wirken Medikamente?

»ADHS HABEN DOCH NUR KLEINE JUNGS!«

Meine Geschichte

ADHS & Masking

Die Folgen einer späten Diagnose

Toxische Empathie, Harmoniesucht & People Pleasing

Was hat der Zyklus mit ADHS zu tun?

Medizin ist männlich

»DU KANNST ADHS NICHT ALS AUSREDE FÜR ALLES BENUTZEN!«

Wieso ADHS stigmatisiert ist und bleibt

Jobs

ADHS & Energie

Energie & die Löffel-Theorie

»EIN BISSCHEN ADHS HAT DOCH JEDER MAL!«

Warum ADHS so nachvollziehbar ist

Sind Selbstdiagnosen überhaupt okay?

Warum ich keine Freunde habe

Ordnung vs. Chaos

ADHS & Fremdbestimmung

ADHS & Genetik: Liegt es doch nicht an der Erziehung?

ADHS & Partnerschaft

Ich war toxisch

Die häufigsten Begleiterkrankungen von ADHS

Selbstmedikation & Sucht

»KANNST DU DICH NICHT EINFACH MAL ZUSAMMENREIßEN?«

Wie man Freundschaft mit seinem Hirn schließt

Würdest du dein ADHS-Gehirn gegen ein neurotypisches Gehirn tauschen?

ADHS & Routinen

Ableismus

Welche Strategien funktionieren – und welche eher schaden

Radikale Selbstakzeptanz

Auf der Jagd nach Dopamin – und wo man es finden kann

Wie man mit ADHS leben lernt

Danksagung

Serviceteil

Stichwortverzeichnis

VORWORT

Ich dachte mein Leben lang, ich sei »anders«, aber nicht anders genug.

Mit 27 Jahren wurde bei mir ADHS diagnostiziert, und zwei Jahre später fing ich an, darüber auf Instagram zu schreiben – zunächst nicht über meine Geschichte, sondern über die harten Fakten. Stundenlang habe ich Studien gewälzt, zuerst, um selbst die Neurobiologie und psychologischen Vorgänge von ADHS zu verstehen, und dann, um sie in hübsche Häppchen verpackt dem Internet zugänglich zu machen. Dabei hatte ich stellenweise krasse Aha-Erlebnisse, sodass ich immer mehr wissen wollte, um noch mehr zu verstehen.

Ziemlich schnell schlossen sich mir viel mehr Leute an, als ich jemals gedacht hätte. Ein bisschen wie im Traum war ich nach ein paar Wochen bereits im Fernsehen zu sehen und hatte weitere Anfragen in meinem Postfach. Als eher introvertierter Mensch war mir die Aufmerksamkeit zuerst gar nicht recht, bis ich begriff, woher dieses plötzliche Interesse kommt. Und mir klar wurde, dass meine Geschichte die von vielen ist: eine Frau, die erst im Erwachsenenalter ihre Diagnose ADHS erhält, nachdem sie ein Leben lang mit Depressionen und Ängsten zu tun hatte, immer mit dem diffusen Gefühl, nirgendwo wirklich reinzupassen, anders zu sein, aber nicht anders genug. Für Depressionen nicht depressiv genug, für Ängste eigentlich zu risikofreudig, für die Gesellschaft zu unangepasst, für die Unangepassten aber nicht unangepasst genug.

Ich baue Türmchen auf bereits viel zu volle Müllbeutel. Ich fange zehn Aufgaben an und beende keine davon. Wäsche schafft es bei mir grundsätzlich nicht rechtzeitig in den Trockner, geschweige denn zurück in den Kleiderschrank. Wenn ich am Nachmittag einen Termin habe, kann ich vorher nichts anderes anfangen. Meine Gedanken fahren ständig Achterbahn – und zwar verschiedene, gleichzeitig. Schon als Kind löste ich nicht nur einmal wegen falsch angeschalteter Herdplatten oder vergessener Küchenutensilien im Backofen fast einen Wohnungsbrand aus. Ich lese alles über die Aufzucht von Urzeitkrebsen, während ich eigentlich ein wichtiges Projekt fertig machen muss – am liebsten würde ich dann Urzeitkrebse zu meinem Beruf machen, nur um zu merken, dass diese in zwei Tagen wieder ekelhaft langweilig sind. Über die Idee, ein ganzes Buch zu schreiben, lacht ein kleiner Kobold in meinem Kopf immer noch.

Das krasseste Gefühl der Welt ist es, dem Internet Dinge zu erzählen, die ich nicht mal meinem Therapeuten erzählt habe, und Tausende Leute lassen mich wissen, dass es ihnen absolut genauso geht. Es war also klar: Wenn ich meine Geschichte erzähle, geht es nicht um mich, es geht um uns. Die Geschichte von vielen sichtbar machen, sichtbar werden. In erster Linie für die Betroffenen. Viele von uns haben dabei das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl von Gemeinschaft und sind das erste Mal nicht zu »anders«, sondern genau richtig. Aber ebenso wichtig ist es, für die Angehörigen und die Gesellschaft sichtbar zu werden, denn es gibt noch zu viele Vorurteile über ADHS. Sie existieren in den Köpfen von Eltern, von Lehrpersonal, sogar von Ärzten und Ärztinnen.

Deswegen habe ich vor Kurzem meinen Job hingeschmissen – ein Schritt in die riesige Ungewissheit, um meine Geschichte zu erzählen. Für jemanden, der eine Rechnung frühestens nach der ersten Mahnung bezahlt, klingt eine Selbstständigkeit vielleicht erst mal nicht nach der besten Idee, aber man wächst ja mit seinen Aufgaben, oder so. Natürlich bekomme ich – auch dafür – jeden Tag tolle Tipps, wie:

Mach doch einfach das, oder tu doch einfach dies, dann läuft das schon. Was »einfach« ist, entscheiden aber nicht du oder ich. Für mich entscheidet das mein Gehirn, und dabei ist oft auch egal, was gerade eigentlich wichtig wäre. Deswegen werdet ihr in diesem Buch selten das Wort »einfach« lesen – denn für ADHS-Betroffene kann es beispielsweise total einfach sein, sich komplexes Fachwissen in kurzer Zeit anzueignen, aber schwierig bis unmöglich, einen Brief zu öffnen.

In diesem Buch beziehe ich mich häufig auf meine eigenen Erfahrungen sowie auf die Erfahrungen aus meiner Community. Nicht jede*r ADHS-Betroffene ist so chaotisch wie ich, nicht jedes Symptom ist gleich ausgeprägt. Kennt man einen Betroffenen, dann kennt man eben genau einen. Trotzdem spreche ich öfter von »wir«, und davon darf sich gerne jede*r angesprochen fühlen, die/der sich in meinen Erzählungen wiederfindet – ganz unabhängig von einer fachärztlichen Diagnose. Doch auch allen, die sich hier nicht wiederfinden, aber beim Lesen vielleicht an ein Familienmitglied, einen Freund, eine Schülerin oder jemand anderen denken, gebe ich hier einen Einblick in mein – in »unser« – Gehirn.

Ich gehe auf die Vorurteile ein, die ich selbst hatte und die mich davon abhielten, mich mit ADHS zu beschäftigen. Und auf Sätze, die ich selbst sagte, und die ich heute schwer aushalten kann. Deswegen möchte ich auch niemanden anprangern, der einen dieser Sätze schon gesagt oder zumindest gedacht hat. Vielmehr möchte ich über Mythen aufklären und dazu beitragen, dass sich Menschen gesehen und verstanden fühlen.

DARÜBER, wie ich in diesem Buch über ADHS spreche:

Viele Menschen sind sich unsicher, was die richtige Wortwahl angeht, deswegen erkläre ich kurz, wie ich es mache: Ich spreche von ADHS und nicht von AD(H)S oder ADS. Ich weiß, dass viele Betroffene – vor allem Frauen – sich mit dem H für Hyperaktivität nicht identifizieren können oder wollen. In den allermeisten Fällen ist die Hyperaktivität jedoch vorhanden, auch wenn man sie nicht immer als solche wahrnimmt. Außerdem werde ich vorrangig das Wort »Störung« oder »Stoffwechselstörung« benutzen, dafür aber Worte wie »Krankheit« oder »Erkrankung« vermeiden. Ausführlicher gehe ich auf die Wortwahl im Kapitel »Ist ADHS eine Krankheit oder eine Superkraft?« ab Seite 32 ein.

Diesen Satz hört man am häufigsten noch mit dem Nachsatz: »Das ist eine Erfindung der Pharmaindustrie, hat der Erfinder von ADHS selbst auf dem Sterbebett zugegeben.« Und häufig hört man ihn genau dann, wenn man sich offenbart: ICH HABE ADHS. Feingefühl? Läuft!

Denn was suggeriert diese Aussage zuerst? »Du hast dich geirrt!«, »Du lügst!« oder »Du bist falsch!«. Dabei kann man heutzutage wunderbar belegen: ADHS gibt es, und wir verstehen mittlerweile auch die Zusammenhänge davon.

Was ist ADHS überhaupt? Und was passiert da im Kopf?

Die Abkürzung ADHS steht für Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, und obwohl diese Bezeichnung seit 1978 kursiert, ist man sich in Fachkreisen sowie unter Betroffenen bis heute uneinig, was da denn nun gestört ist.

Die offiziellen Diagnosekriterien drehen sich um die drei Überbegriffe:

AUFMERKSAMKEITSDEFIZIT

IMPULSIVITÄT

HYPERAKTIVITÄT

Aber im Austausch mit Betroffenen wird klar: Ganz so einfach ist das nicht. Bei vielen gehen die Symptome weit über diese drei Überbegriffe hinaus, während sich andere zum Beispiel mit Hyperaktivität oder Impulsivität überhaupt nicht identifizieren können.

Seit 1978 wird ADHS bei Kindern diagnostiziert und als Krankheit behandelt. Man ging jedoch davon aus, dass sich mit Abklingen der Pubertät die Symptome weitestgehend verwachsen. Erst seit 2003 wird in Deutschland offiziell anerkannt, dass ADHS auch im Erwachsenenalter bestehen kann. Erst seit 2011 dürfen Ärzte übrigens auch Erwachsenen Medikamente gegen ADHS-Symptome verschreiben.

Nicht verwunderlich ist es deshalb, dass wir mit vielen Fragen rund um ADHS noch am Anfang stehen: Es unterscheiden sich nicht nur die Symptome von Kindern und Erwachsenen oft maßgeblich, auch hat man sich mit einer vermeintlich vorübergehenden Kinderkrankheit wissenschaftlich nicht wirklich intensiv beschäftigt. ADHS wird immer noch hauptsächlich bei Jungen mit durchschnittlich neun Jahren diagnostiziert, und wir beginnen gerade erst, das Image des »Zappelphilipp« aufzulösen. Klar ist auch: Wenn man einen Neunjährigen fragt, welche Auswirkungen ADHS auf sein Leben hat, würde man unter Umständen nicht dieselbe Antwort bekommen wie von einer 30-jährigen Frau. In den seltensten Fällen haben Neunjährige einen Job, eine Beziehung oder ein eigenes Bankkonto. Deshalb stehen in der Fachliteratur häufig Probleme mit schulischen Leistungen im Vordergrund. Die Frage: »Was passiert da überhaupt im Gehirn?« wurde schlichtweg viele Jahre nicht gestellt, weil man davon ausging, dass ADHS sich irgendwann in der Jugend verwächst. Die momentan wissenschaftlich vorherrschende Theorie zu dieser Frage hängt unter anderem mit den Neurotransmittern im Gehirn zusammen.

Aber ganz von vorn: Neurotransmitter werden auch Botenstoffe genannt. Sie übernehmen wortwörtlich die Botengänge in unserem Körper. An jedem Blick, an jeder Bewegung und an jedem Gedanken sind Neurotransmitter beteiligt. Wenn du dein Bein bewegst oder dir in den Finger schneidest, leiten sie alle Informationen an dein Nervensystem weiter. Wenn dir eine Person begegnet, die du kennst, rast dieses Bild in Windeseile über das Sehzentrum ins Erinnerungszentrum und zu den Emotionen, beispielsweise, wenn eine Entscheidung getroffen werden muss. Wenn du verliebt bist, spürst du eine regelrechte Explosion an Neurotransmittern: Alles kribbelt, die Gedanken spielen verrückt und du schwebst auf Wolke sieben. Wenn du traurig bist, werden die Körperfunktionen und das Immunsystem zurückgefahren – auch daran sind die kleinen Postboten des Nervensystems beteiligt. Neurotransmitter haben extrem viel zu tun: Hunger, Durst, Schlaf, Stress, Motivation, Lust, die Lernfähigkeit, der Blutdruck und die Körpertemperatur werden von ihnen beeinflusst. Der wichtigste Neurotransmitter bei ADHS heißt Dopamin. Aber Moment, ist das nicht das so bekannte Glückshormon? Dopamin ist sowohl ein Hormon als auch ein Neurotransmitter. Dabei steuert Dopamin nicht nur unser Belohnungszentrum, sondern auch unsere Motivation, Aktivität und unseren Antrieb. Die vorherrschende Meinung war eine Zeit lang, dass es sich bei ADHS um einen klassischen Dopamin-Mangel handeln muss. Dieser kann sich unter anderem in Form von Antriebslosigkeit, schwindender Konzentration und fehlender Motivation sowie Müdigkeit und Gedächtnisproblemen äußern. Die Behandlung einer Mangelerscheinung war aber wenig erfolgreich. Also hat man genauer hingeschaut und festgestellt, dass Dopamin im ADHS-Hirn zwar in ausreichender Menge produziert werden kann, aber dem Nervensystem trotzdem nicht zur Verfügung steht. Das Problem ist also nicht die Dopaminproduktion oder -menge, sondern höchstwahrscheinlich eine Veränderung im Dopamin-Transporter-Gen – wodurch Dopamin deutlich schneller abgebaut wird als bei Menschen ohne diese Veränderung.

GEWUSST? Dopamin gilt häufig als das ultimative Glückshormon, dabei hat es mit Glück gar nicht so viel zu tun, wie man denken würde. Eigentlich ist Dopamin nämlich unser »Motivationshormon« – es sorgt (wenn es in ausreichender Menge vorhanden ist) dafür, dass wir Aufgaben angehen und löst das Gefühl von Vorfreude in uns aus.

Und nicht nur das. Man hat außerdem eindeutig nachweisen können, dass die vorderen Hirnabschnitte bei ADHS-Betroffenen deutlich schlechter durchblutet werden und außerdem kleiner sind. Um das mal zu sehen, habe ich an einer MRT-Studie zu ADHS bei Erwachsenen teilgenommen und siehe da – es stimmt! Aber Achtung: Das ist nicht bei allen Betroffenen gleichermaßen ausgeprägt und gilt deshalb nicht als Diagnosekriterium. Aber wer kann zu Fotos vom eigenen Gehirn schon nein sagen?

Diesen vorderen Bereich im Gehirn nennt man den präfrontalen Kortex. Was erst mal sehr kompliziert klingt, ist eigentlich ganz einfach: Dieses präfrontale Dingsbums ist ein Teil des Frontallappens, also dem Teil des Gehirns, der direkt hinter der Stirn liegt. Und obwohl er größentechnisch nur etwa zehn Prozent des Gehirns ausmacht, ist der präfrontale Kortex einer der wichtigsten Teile des Organs. Hier findet unter anderem die Aufmerksamkeit statt, störende Geräusche oder Sinneseindrücke werden unterdrückt und zukünftige Handlungen werden geplant – und zwar nicht nur der nächste Urlaub auf dem Kreuzfahrtschiff, sondern auch simple Tätigkeiten wie Zähneputzen oder den Müll rausbringen. Außerdem sitzen hier ein Teil des Kurzzeitgedächtnisses sowie komplexere Dinge wie das Zeitgefühl, Sozialverhalten oder Schamempfinden einer Person.

Theoretisch kann man ohne den präfrontalen Kortex leben, weil er nicht für überlebenswichtige Körperfunktionen verantwortlich ist (wie zum Beispiel für das Atmen). Wenn dieses Hirnareal aber durch einen Unfall oder eine Krankheit beschädigt wird, ist ein normales Leben nicht mehr möglich, denn sämtliche Fähigkeiten gehen verloren, man wäre nicht mehr in der Lage, die einfachsten Alltagsaufgaben zu übernehmen, wäre teilnahmslos und apathisch und würde Reize von außen nur noch sehr entfernt wahrnehmen.

ADHS-Betroffene leben aber nicht ohne, sondern mit einem anders aufgebauten präfrontalen Kortex. Deshalb sind wir auch nicht gänzlich lebensunfähig und die Andersartigkeit zeigt sich etwas subtiler. Der andere Aufbau eines ADHS-Gehirns kann für Betroffene unterschiedliche Auswirkungen haben: Während einige im alltäglichen Leben gut zurechtkommen, haben andere Schwierigkeiten in allen Lebensbereichen, wie Arbeit, Haushalt, Familienleben, Selbstbild, soziale Beziehungen … Man kann eigentlich sagen, dass an fast allem, woran unser Gehirn beteiligt ist, auch ADHS beteiligt sein kann. Warum sich die Veränderungen so unterschiedlich auswirken, kann man nur mutmaßen.

Ich habe mehr Jahre meines Lebens ohne das Wissen um mein ADHS gelebt als mit, und trotzdem ist mir rückblickend total klar, dass diese andere Art des Hirnstoffwechsels immer da war. Ich empfinde das nicht als besonders negativ oder besonders positiv, aber als besonders wichtig und irgendwie befreiend. Für meinen Hirnstoffwechsel kann ich nichts – ich bin also nicht einfach zu faul, zu blöd, zu sprunghaft oder zu viel.

Welche Symptome hat ADHS?

Grundsätzlich wird ADHS seit 1998 in drei verschiedene Typen unterschieden:

DEN VORWIEGEND UNAUFMERKSAMEN TYP

DEN VORWIEGEND HYPERAKTIV-IMPULSIVEN TYP

EINEN MISCHTYP AUS DEN BEIDEN

Wie der Name schon sagt, hat der vorwiegend unaufmerksame Typ vor allem Probleme mit der Aufmerksamkeit und Konzentration. Es wird häufig auch vom »verträumten Typ« gesprochen, weil es gerade bei Kindern auffällig ist, dass sie in ihrer eigenen Welt leben. Sie fallen in der Schule auf, weil sie mehr aus dem Fenster schauen, als dem Unterricht zu folgen, sie vergessen beim Spielen oder Lesen Raum und Zeit und fangen bei Gesprächen oft aus dem Nichts an, das Thema zu wechseln. Außerdem neigen sie eher dazu, sich zurückzuziehen oder wirken desinteressiert an dem, was um sie herum passiert.

Im Erwachsenenalter wird der vorwiegend unaufmerksame Typ – insbesondere bei einer undiagnostizierten ADHS – eher als faul und teilnahmslos wahrgenommen. Die Diagnose lautet dann häufig Depression oder Angststörung. Dazu kommen aber meist unerkannt die ADHS-Symptome, sodass im Kopf des Träumertyps ein regelrechter Kampf abläuft. Denn nur, weil man die Hyperaktivität bei diesem Typ nicht sehen kann, heißt es nicht, dass sie nicht existiert: Entsprechend häufig hat er ein Problem damit, Ordnung in den eigenen vier Wänden zu halten.

So unterschiedlich wie wir Menschen sind, so unterschiedlich und komplex können die Symptome von ADHS im Erwachsenenalter sein. Wie bereits erwähnt, unterscheidet man in der offiziellen Diagnostik zwischen den drei Kernsymptomen 1. Aufmerksamkeitsdefizit, 2. Impulsivität und 3. Hyperaktivität. Alle drei werden dann noch in jeweils mehrere Symptome unterteilt:

Symptome, die das Aufmerksamkeitsdefizit betreffen, sollten vom Namen her eigentlich relativ klar sein – sind es aber nicht. Das »Defizit« bei der Aufmerksamkeit ist nämlich eigentlich ein irreführender Begriff, denn wortwörtlich ist ein Defizit ein Mangel an etwas. Uns mangelt es aber gar nicht an Aufmerksamkeit, sie wird nur anders gelenkt, als es von uns erwartet wird. Die meisten Menschen mit ADHS können sehr konzentriert bei einer Sache sein und extrem zerstreut bei einer anderen.

Dadurch, dass die Aufmerksamkeit größtenteils im präfrontalen Kortex und durch den Neurotransmitter Dopamin gesteuert wird, beschränkt sie sich häufig auf Reize, bei denen viel Dopamin ausgeschüttet wird. Das sind vor allem Dinge, die als neu oder aufregend wahrgenommen werden, die dringend sind oder die wir als interessant wahrnehmen. Das Defizit von Aufmerksamkeit entsteht also dann, wenn etwas langweilig wird, sich wiederholt oder wenn wir etwas erst »irgendwann« erledigen müssen.

Zum fälschlicherweise sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit gehört aber auch noch eine übersteigerte Vergesslichkeit. Für viele Betroffene ist das eins der größten Probleme im Alltag. Außenstehende empfinden sie oft als nervig oder sogar irgendwie lustig. Bei vielen ist die Vergesslichkeit aber so schlimm, dass sie subjektiv das Gefühl haben, an Demenz zu leiden. Denn nicht nur das Kurzzeitgedächtnis ist häufig schlecht, auch wichtige Lebensereignisse verschwimmen schnell und können nicht gut erinnert werden. Wir verpassen wichtige Termine, vergessen, Rechnungen zu bezahlen oder die Geburtstage unserer Liebsten. Wir vergessen aber auch, Routinen einzuhalten, die Pizza im Ofen oder einen wichtigen Gedanken, kurz bevor wir ihn aufschreiben konnten. Vergesslichkeit wird häufig mit erhöhter Ablenkbarkeit erklärt, also dass jeder Gedanke so schnell durch einen neuen ersetzt wird, dass uns entfällt, was vorher war. Neueste Studien deuten allerdings darauf hin, dass Erinnerungen und Gedanken durch fehlende Neurotransmitter häufig falsch oder gar nicht im Gehirn weitertransportiert werden können, also nicht oder nicht richtig »abgelegt« werden.

Außenstehende nehmen Menschen mit dem Aufmerksamkeitsdefizit also häufig als verträumt oder leicht verwirrt wahr. Aus Betroffenenperspektive fühlt es sich aber oft wie ein Wettlauf gegen seine eigenen Gedanken an, denn nicht wir selbst haben sie in der Hand, sondern unsere Neurotransmitter.

In meiner Kindheit hat es wie gesagt in meinem Elternhaus nicht nur einmal wegen mir gebrannt: Die falsche Herdplatte einschalten und vergessen führt bei einem Plastiksieb dazu, dass es schmilzt und in den Atemwegen brennt und bei einem Spültuch, dass es Feuer fängt. Beim angeschmorten Wasserkocher kann es übrigens zu einem Kurzschluss kommen. Aber nicht nur die direkte Umgebung wurde von mir in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch ich selbst. In meiner Schule gab es niemanden, der so häufig verletzt war wie ich: Beim Kartoffeln Reiben musste die Fingerkuppe dran glauben, mehrere Narben von Platzwunden in Augenbrauen und Lippen durch unachtsames Kopfstoßen werden heute von Make-up überdeckt, Verbände, Krücken und Schienen bewahre ich eher griffbereit auf. Das klingt erst mal lustig, und oft kann ich auch selbst drüber lachen. Aber nie, ohne auch mal mehr, mal weniger frustriert zu sein und mich zu fragen: »Wie konnte das denn jetzt schon wieder passieren?«

Ein weiteres Diagnosekriterium ist die Hyperaktivität, worunter sich die meisten einen zappeligen kleinen Jungen vorstellen, der nicht stillsitzen kann und ständig unter Strom steht. Diese Art der Hyperaktivität – wie sie häufig (aber nicht immer) bei Kindern auftritt – ist bei Erwachsenen aber extrem selten. Zwar zeigt sich die Hyperaktivität auch bei Erwachsenen hin und wieder durch Bewegungsdrang oder Probleme, still zu sitzen – mittlerweile ist man sich aber einig, dass der Großteil der Hyperaktivität bei ADHS im Kopf stattfindet. Die physische Reaktion ist eigentlich ein gesunder Kompensationsmechanismus des Körpers bei innerer Unruhe oder anders gesagt: Stress.

Die ständige innere Unruhe, rasende Gedanken und negative Einflüsse aus der Umgebung lösen akuten Stress aus, der auf kurz oder lang zu chronischem Stress wird. Dieser kann sich für Außenstehende als Bewegungsdrang bemerkbar machen: wippen mit den Füßen, klopfen mit den Händen, umherlaufen und irgendwie »getrieben sein«. Noch häufiger zeigt sich chronischer Stress für den Betroffenen aber ganz anders: Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Reizbarkeit und Schlafstörungen sind nur einige der Symptome. So kann es sein, dass aus einem hyperaktiven Kind ein zurückgezogener, permanent müder Erwachsener wird, der dann fälschlicherweise mit Depressionen diagnostiziert wird. Dabei handelt es sich meistens um eine Folge der Hyperaktivität.

Auch ich war eins dieser hyperaktiven Kinder, war ständig auf Achse, immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Ich schlief wenig und kletterte, schwamm und rannte viel. Fremden Leuten erzählte ich regelmäßig Geschichten wie ein unaufhaltsamer Wasserfall und störte in der Schule den Unterricht durch meine ungefragten Redebeiträge. Je älter ich wurde, desto mehr wurde aus dem aufgeweckten Kind erst eine zurückgezogene Jugendliche und später eine depressive Erwachsene. Mein Bewegungsdrang äußerte sich nur in Form von ständigem Fußwippen, Fingertrommeln oder indem ich Dinge kaputtfummelte, die in meiner Jackentasche waren. Niemals hätte mich jemand als »hyperaktiv« bezeichnet. Erst mit 30 Jahren – mit dem Wissen um meine Andersartigkeit – kommt das aufgeweckte Kind in mir immer wieder zum Vorschein.

Das dritte Diagnosekriterium ist die Impulsivität. Diese zeigt sich durch vielfach unüberlegte Entscheidungen, häufige Gereiztheit bis hin zu kurzen Wutausbrüchen und einer intensiven Ungeduld. Impulsivität kann bei ADHS sehr stark ausgeprägt sein, aber eine Diagnose wird auch gestellt, wenn wenig bis keine impulsiven Symptome vorhanden sind. Während impulsive Handlungen bei Kindern eher normal sind, können sie einen im Erwachsenenalter in problematische Situationen bringen. Nicht nur macht man sich unbeliebt, wenn man ständig andere Menschen unterbricht oder anfährt, auch werden wichtige Lebensentscheidungen oft übereilt getroffen: Jobs werden spontan angenommen oder gekündigt, Beziehungen werden schnell begonnen und im selben Tempo wieder beendet, immer und immer wieder werden Impulskäufe getätigt, was zeitnah zur Überschuldung führen kann.

Das erklärt sehr gut, warum ich als gebürtige Dortmunderin nicht nur für drei Monate nach Aachen zog, sondern auch ganze sechs Monate im tiefsten bayerischen Dorf wohnte, bevor mir auffiel: »Ups, das war ja total unüberlegt und gar nicht mal so gut.« Ganz zu schweigen davon, dass ich von dort in eine Wohnung zog, die ich mir gar nicht leisten konnte. Aber nicht nur meine Wohnverhältnisse haben sich häufig radikal verändert: Eine neue Haarfarbe oder Haarschnitt muss grundsätzlich abends um 23 Uhr im heimischen Badezimmer umgesetzt werden, meine Jobs wollte ich jedes Mal nach der kleinsten Unstimmigkeit kündigen (habe es aber nur jedes zweite Mal gemacht), und ich schaffte mir einen Hund an, obwohl ich ihn mir damals weder finanziell noch zeitlich leisten konnte. Auch hier: Das klingt irgendwie lustig, und im Nachhinein kann ich sogar selber darüber lachen. Aber oft genug sah ich mich in diesen Situationen in einer schrecklichen Ausweglosigkeit, und das nur, weil ich schon wieder eine unüberlegte Entscheidung getroffen habe. Aktuell sind diese drei – Aufmerksamkeitsdefizit, Impulsivität, Hyperaktivität – die Hauptkriterien, wenn es um die ADHS-Diagnostik geht. Doch sowohl in der Wissenschaft als auch im Austausch mit Betroffenen werden noch zwei andere, besonders wichtige Symptome in Betracht gezogen, auf die ich gleich noch eingehen möchte.

Emotionale Dysregulation & exekutive Dysfunktion

EMOTIONALE DYSREGULATION benennt die mangelnde Fähigkeit, in bestimmten Situationen »gesellschaftlich angemessen« auf Emotionen zu reagieren oder auch diese Reaktionen zu steuern.

EXEKUTIVE FUNKTIONEN sind die »Funktionen der Ausführung«, also alles, was wir TUN wollen. Dazu gehört beispielsweise: mit Aufgaben anfangen können, ein Zeitmanagement und eine Flexibilität innerhalb von Aufgaben haben, das Arbeitsgedächtnis und Aufgaben beenden können.

Von himmelhochjauchzend nach zu Tode betrübt und wieder zurück, und das alles innerhalb einer Stunde – emotionale Dysregulation hat viele Gesichter, und das ist eines davon. Betroffene erleben häufig sehr intensive Emotionen, die aber auch schneller wieder verpuffen als bei Nicht-Betroffenen. Während wir in der einen Sekunde wegen einer Kleinigkeit an die Decke gehen, können wir uns im nächsten Moment schon fragen, was wir heute zu Abend essen wollen. Ablenkbarkeit spielt dabei eine große Rolle, denn Emotionen sind bei ADHS häufig unmittelbar mit der Situation verknüpft. Sobald wir diese verlassen, verlieren wir auch oft die extreme Gefühlsregung, die sie ausgelöst hat.

Ich kann ganz wunderbar eine sehr ernste Diskussion mit meinem Partner anzetteln, weil ich mich in dem Moment nicht geliebt genug fühle. Wenn dann aber mein Handy klingelt und meine Mutter anruft, kann es sein, dass ich nach dem Telefonat an der Diskussion, die gerade mal zehn Minuten her ist, gar kein Interesse mehr habe. Die negativen Gefühle sind wie weggewischt. Aber natürlich nur bei mir – mein Partner ist weiterhin im Streitgespräch-Modus. Andererseits kann es aber genauso sein, dass ich tagelang tieftraurig über einen abfälligen Kommentar eines Fremden bin und durch nichts und niemanden von dieser Trauer abgebracht werden kann. Und das ist es, was die emotionale Dysregulation so schwierig macht: Unser Umfeld kann oft nicht nachfühlen, warum unsere Reaktionen sich so unterscheiden und das führt bei Betroffenen relativ schnell zu dem Eindruck: »Meine Gefühle sind falsch!«

Ich fühle alles in Extremen. Ein neues Projekt ist nicht einfach ganz nett, sondern phänomenal. Ich kriege Herzrasen, wenn ich daran denke, kann nicht aufhören, anderen davon zu erzählen. Eine kleine Planänderung hingegen ist nicht nur etwas doof, sondern eine komplette Katastrophe. Dadurch wirken meine Reaktionen auf eher unbedeutende Alltagssituationen oft übertrieben oder kleinkariert. Ich liebe sofort mit allem, was ich habe und ich hasse inbrünstig. Meist gibt es nur schwarz und weiß, keine Graustufen.

Die Emotionen an sich unterscheiden sich natürlich nicht von denen, die in normalen Gehirnen stattfinden: Wut, Trauer, Freude, Angst – aber das in tsunamiartigen Wellen. Vor allem negative Gefühle werden deutlich stärker wahrgenommen und beeinflussen Betroffene dadurch auch deutlich stärker im Alltag. Man beobachtet das Symptom der emotionalen Dysregulation häufig schon bei Kindern, und auch im Erwachsenenalter wird es oft als kindisch empfunden. Wenn einem Kind das Eis herunterfällt und es einen mehrstündigen Wutanfall bekommt, ist das Äquivalent dazu, dass ich mehrere Tage über Rache nachdenke, wenn mein Partner die Spülmaschine nicht ausgeräumt hat.

Die exekutive Dysfunktion ist etwas komplexer. Wörtlich betrachtet hat man es hier mit einer Fehlfunktion in der Ausführung zu tun. Mit ausführenden Funktionen sind beispielsweise die Planung und Umsetzung von alltäglichen Aufgaben, sich auf Neues einstellen, Selbstmotivation ohne äußere Faktoren, Arbeitsgedächtnis und Zeitmanagement gemeint. Also alles, was wir brauchen, um uns einen groben Plan für den Tag, die Woche, den Monat oder das Leben zu machen. Die Exekutivfunktionen finden hauptsächlich im präfrontalen Kortex statt – wir erinnern uns: Das ist der Teil des Gehirns, der bei Menschen mit ADHS nicht nur schlechter durchblutet und weniger entwickelt sein kann, sondern der auch durch das Fehlen von Neurotransmittern weniger gut mit den anderen Hirnarealen kommuniziert. Nicht verwunderlich ist also, dass Aufgaben rund um die Planung und Durchführung bei uns häufig nicht oder nicht ausreichend funktionieren. Ein Kommentar, den wir dazu nahezu immer hören ist: »Na, dann mach dir doch eine To-do-Liste!« Doch dieser Rat könnte nicht weiter von unserer Realität entfernt sein. Die Voraussetzung für das Erstellen von To-do-Listen ist, dass ich weiß, welche Aufgaben überhaupt anstehen und welche davon wichtig sind. Wenn ich an einem Regentag eine solche Liste schreibe, kann es passieren, dass mein Hirn es gerade wichtig findet, dass die Fenster geputzt werden. Das muss allerdings warten, bis es nicht mehr regnet. Mein Gehirn hat diese Aufgabe aber als allerwichtigste Aufgabe des Tages eingestuft und deswegen kann ich jetzt nichts tun als warten, dass der Regen aufhört. Wenn das passiert, kann es aber sein, dass Fensterputzen an diesem Tag trotzdem zur unlösbaren Aufgabe wird, denn jetzt beginne ich zu überlegen: Was brauche ich überhaupt zum Fensterputzen? Was ist der erste Schritt? Mit welchem Fenster würde man anfangen und warum? Und wie lange dauert Fensterputzen überhaupt? Macht das überhaupt Sinn, genau jetzt Fenster zu putzen, wenn es doch morgen wieder regnen soll? All diese Gedanken habe ich leider nicht beim Fensterputzen, sondern bevor ich mit der Aufgabe überhaupt anfangen kann.

So kam es schon vor, dass ich erst um neunzehn Uhr völlig ausgelaugt anfing, die Fenster zu putzen, eine Stunde später wegen Dunkelheit wieder aufgab und am nächsten Tag merkte, dass nicht nur die Fenster streifig sind, sondern ich gestern auch die wichtige E-Mail nicht geschrieben und Oma nicht zum Geburtstag gratuliert habe – denn ich habe ja Fensterputzen priorisiert.

Eine weitere exekutive Funktion ist das Arbeitsgedächtnis, welches auch Kurzzeitgedächtnis genannt wird. Das Arbeitsgedächtnis speichert kurzfristige Informationen und Reize zwischen, um sie abzurufen und weiterzuverarbeiten. Die durchschnittliche Zeit, die ein Reiz dort verweilt, liegt bei 20 bis 45 Sekunden. Dann geht die Information entweder ins Langzeitgedächtnis über oder verschwindet im ewigen Nirwana der nicht weitergeführten Gedanken. Es läuft quasi die ganze Zeit nebenher mit, und wir schmeißen alle Gedanken und Außenreize zuerst einmal dort rein. Dann wird entschieden, ob die Information wichtig genug für unser Hirn ist, um sie zu speichern.

Bei vielen Menschen mit ADHS läuft der Prozess aber anders ab – das Arbeitsgedächtnis im Frontalhirn will oft nicht so, wie wir wollen. Eine Aufgabe kann damit beginnen, dass ich denke: »Wäsche waschen!« – also gehe ich los und sammle die Wäsche ein. Dafür muss ich auch ins Bad, wo ich sehe, dass das Waschbecken dreckig ist – das könnte man auch mal wieder putzen! Also gehe ich in den Flur zum Putzschrank, öffne ihn und sehe eine neue Packung Schwämme. Schwämme! Wann hab ich die eigentlich zuletzt ausgetauscht? Also gehe ich mit der Packung Schwämme bewaffnet in die Küche, um sie auszutauschen, sehe aber dort auch, dass sehr viel Geschirr herumsteht. Während ich also abspüle, fällt mir auf, dass mir Geschirrtücher fehlen. Klar, ich wollte ja auch eigentlich die Wäsche machen. Wie viel Zeit dabei vergangen ist – keine Ahnung, denn auch das Zeitgefühl ist eine exekutive Funktion.

Für Menschen mit ADHS gibt es nur zwei Zeiten: »jetzt« und »nicht jetzt«. Alles, was in der Vergangenheit oder Zukunft liegt, wird oft wie ein verwaschener Einheitsbrei an Zeit wahrgenommen. Auch das ist für die Planung von Aufgaben eine Katastrophe, denn wir wissen nicht, wie lange Aufgaben dauern, auch wenn wir sie schon hunderte Male ausgeführt haben. Mir passiert es immer wieder, dass ich zum Wäschewaschen eine Stunde einplane, für den Hundespaziergang (der immer eine Stunde dauert) aber nur eine halbe. Ich weiß nicht, wie lange meine letzte Mahlzeit her ist, mit meinem Partner bin ich »ganz frisch« zusammengezogen, und bis zu meinem wichtigen Termin habe ich noch Ewigkeiten Zeit. Wenn ich auf eine Uhr oder einen Kalender schaue, ist mir natürlich bewusst, dass ich gestern um neunzehn Uhr das letzte Mal gegessen habe, dass ich seit fast zwei Jahren mit meinem Partner zusammenwohne und mein wichtiger Termin morgen ist. In meinem Kopf fühlt sich das aber alles gleich weit weg an. Dieses Phänomen nennt man »Zeitblindheit« und die vorherrschende Theorie dazu ist, dass ein Gehirn Zeit misst, indem es unterbewusst Puls- und Atemfrequenz und Veränderungen von Licht und Temperatur wahrnimmt und damit ungefähr weiß, wie lange eine Minute, eine Stunde oder ein Tag dauert. Ein Gehirn mit exekutiver Dysfunktion und einem veränderten Neurotransmitter-Stoffwechsel kann diese Informationen aber nicht alle gleichzeitig verarbeiten und nimmt Zeit daher nur als vages Konstrukt wahr.