Hirsch und Keiler - Thomas Jung - E-Book

Hirsch und Keiler E-Book

Thomas Jung

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Beschreibung

Als Rhyn bei einem seiner Jagdausflüge auf einen Drachen trifft, ändert sich alles. Fortan wird er von unklaren, prophetischen Träumen geplagt. Als sich diese nach und nach bewahrheiten, finden er, seine Cousine Ria und ihr Mann Urs sich immer tiefer in den Wirren eines Bürgerkriegs gefangen. Der Ausgang dieses Krieges scheint untrennbar mit ihrem eigenen Schicksal und Rhyns Träumen verwoben.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Thomas Jung

Hirsch und Keiler

Chroniken von Heltria 1

Dieses Buch ist meiner Frau gewidmet, die jedes Kapitel als Erste gelesen und viele Autofahrten meine Fragen ertragen hat. Ohne dich würde dieses Buch nicht existieren.

Grüne Augen

Man konnte wohl nicht immer Glück haben. Die Falle war leer, und Rhyn stellte sie wieder auf, ein Stück weiter den Wildpfad hinunter. Die letzten drei Fallen hatten zugeschlagen, und an Rhyns Gürtel hingen zwei Kaninchen und ein Eichhörnchen. Deshalb war er guter Dinge, denn bei all den anderen Fallen, die er gestellt hatte, würde er sein Soll für diesen Tag sicher erreichen. Und Fallen stellen war immer ein Gedulds- und auch Glücksspiel. Nachdem die Falle wieder gerichtet war, stand Rhyn auf und wischte sich mit seinem Ärmel über die Stirn. Der Schweiß hinterließ eine nasse Stelle. Es war einer der ersten wirklich warmen Tage dieses Jahres, und der Frühling ging langsam aber sicher in den Sommer über. Rhyn gönnte sich einen Moment, und ließ seinen Blick durch den Wald schweifen. Die Bäume standen in vollem Grün, und spendeten wohltuenden Schutz vor der prallen Mittagssonne. Der Waldboden war gesprenkelt vom Licht- und Schattenspiel der Baumwipfel. Einige Meter weiter öffnete sich der Wald in eine Lichtung und der Steinbach, die Lebensader des Waldes und des nahegelegenen Heimatdorfes von Rhyn, floss in einen kleinen Weiher. Rhyn entschied, dass er eine Abkühlung verdient hatte, und ging an das dicht mit Schilf bewachsene Ufer. Er kämpfte sich durch das Dickicht der Schilfrohre bis er das Wasser erreichte und wusch sich ordentlich den Kopf. Das Wasser war noch recht kalt, und Rhyn zog scharf den Atem ein um dann einen erfrischten Seufzer loszulassen. Bevor er wieder ging tauchte er noch seine Bundhaube ins Wasser. Das Leinen saugte sich schnell mit Wasser voll und würde ihm noch einige Minuten Kühle spenden. Als er sich gerade wieder zurück durch das Schilf kämpfte, ließ ihn etwas innehalten. Ihm war als hätte er ein Geräusch gehört. Er blieb ruhig stehen und spitzte seine Ohren, ob er es noch einmal hören würde. Nach wenigen Augenblicken war es wieder da. Es war noch entfernt, tiefer im Wald. Und es klang wie ein Krachen, als würde etwas brechen. Etwas Großes. Rhyn ging wieder weiter, raus aus dem Dickicht und zurück in den Wald. Wieder zwischen den Bäumen, die Rhyn ein sichereres Gefühl vermittelten, blieb er erneut stehen und spähte in die Richtung, aus der er das Geräusch vermutete. Wenig überraschend konnte er im Wald nichts ausmachen. Er griff an seinen Gürtel, wo neben seiner Beute auch ein Langdolch hing. Rhyn fühlte den kühlen Griff und schloss seine Hand darum. Der Dolch gab ihm den nötigen Rückhalt einen Entschluss zu fassen. Seine weiteren Fallen waren tiefer im Wald, in eben jener Richtung aus der das Krachen gekommen war. Und er konnte es sich nicht leisten, die Fallen unkontrolliert zu lassen. Die Beute war überlebenswichtig für ihn, und da seit einiger Zeit keine Händler von außerhalb mehr ins Dorf kamen, waren auch die anderen Dorfbewohner auf das Fleisch, die Felle und anderen Produkte angewiesen, die man aus seiner Beute gewinnen konnte. Er machte sich auf den Weg, und sein Weg führte ihn weiter in den Wald hinein. Womöglich würde er noch herausfinden, was er da eben gehört hatte.

Die Sonne drang in den Tiefen des Waldes nicht mehr in voller Stärke durch das Blätterdach, und es war schattig und angenehm kühl. Rhyn war jetzt schon wieder eine Weile unterwegs, hatte zwei leere Fallen abgelaufen und umpositioniert, und seine Anspannung war etwas gewichen. Noch zwei weitere Fallen und er konnte wieder zurück ins Dorf und sich daranmachen, seine Beute auszunehmen und zu häuten. Er hatte das beunruhigende Dröhnen und Krachen noch einige wenige Male gehört, aber jetzt schon lange nicht mehr. Vielleicht war es ja in einem anderen Teil des Waldes gewesen und seine Ohren hatten ihn getäuscht. Vielleicht hatte er sich unbegründet Sorgen gemacht. Als er seine nächste Falle erreichte, huschte sogar ein kurzes Lächeln über sein Gesicht. Sie hatte zugeschlagen und ein weiteres Eichhörnchen wartete auf Rhyn. Er kniete sich hin und hob den Schlagbaum auf, der das Tier erschlagen hatte, dann packte er das Eichhörnchen im Nacken. Es war ein kleineres Exemplar, mit stark rötlichem Fell und einem ausgeprägt buschigen Schwanz. Rhyn griff in seine Tasche und holte einen Haken hervor. Er stieß das spitze Ende durch einen der Hinterläufe, versicherte sich, dass er festsaß und hing den Haken dann zum Rest an seinen Gürtel. Rhyn nahm die Falle, und machte sich daran sie einige Meter weiter wieder aufzustellen. Beim Umsehen nach einem geeigneten Köder hörte er es. Oder fühlte es vielmehr als dass er es hörte, ein tiefes Brummen, das seine Brust leicht vibrieren ließ. Zuvor hatte ihn seine Beute wohl abgelenkt und er hatte nicht genügend darauf geachtet. Doch jetzt war er sicher. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gehört, aber es war ganz sicher da. Und es fühlte sich intensiv an, mächtig, und nach etwas Großem. Seine Ohren hatten ihn am Weiher wohl doch nicht getäuscht. Hier war etwas, und es war nicht weit weg von Rhyn. Seine Gedanken fingen an sich zu drehen. Was tun? Womöglich war es gefährlich, und das Dorf musste gewarnt werden. Dann sollte er nachschauen und so viel wie möglich herausfinden. Aber wenn es wirklich gefährlich war, dann sollte er sich vielleicht nicht nähern. Viele waren auf sein Jagdglück angewiesen, konnte er es sich leisten sich hier in Gefahr zu begeben. Außerdem spielte noch herein, dass er ganz einfach Angst hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit entschied er sich. Ein Blick konnte nicht schaden, hoffte er zumindest. Seinen Dolch schon in der Hand, Rhyn konnte sich kaum erinnern ihn gezogen zu haben, ging er langsam und vorsichtig in Richtung des Brummens. Er bemerkte, dass es einen langsamen Rhythmus hatte, und je näher er kam desto deutlicher fühlte er es. Vor ihm schien der Wald sich recht plötzlich wieder zu lichten, Rhyn konnte eine harte Grenze erkennen hinter der keine Bäume mehr standen und es heller wurde. Er ging nun fast schleichend, so gut es ihm im Unterholz zumindest gelang, und trat an das Ende der Bäume heran. Der plötzliche Lichtwechsel blendete ihn kurz, seine Augen brauchten eine Zeit um sich von den Schatten des Waldes an die volle Kraft der Sonne zu gewöhnen, und Rhyn hob seine Hand damit das grellste Licht nicht in seine Augen fiel. Nach wenigen Augenblicken erkannte er was vor ihm lag. Die Bäume waren hier umgewälzt und eine Schneise war in den Wald gebrochen. Das mussten die berstenden Geräusche gewesen sein, die er vorhin gehört hatte. Rhyn trat ins Freie und schaute sich um. Auf den ersten Blick sah es aus wie reine Verwüstung, umgestürzte Bäume, die Stämme geborsten und überall lag Bruchholz. Die Folgen eines heftigen Sturmes, daran musste Rhyn als Erstes denken. Doch als er sich weiter umschaute, bemerkte er Dinge, die nicht ins Bild passten. Aus den abgebrochenen Baumstümpfen sprossen junge Triebe, der freie Boden war dicht bewachsen von Farnen, Gras und Blumen. Manche der Pflanzen hatte Rhyn noch nie gesehen, und manche Blumen die er kannte sollten um diese Jahreszeit gar nicht blühen. Etwas verwundert machte er sich auf und folgte, noch immer vorsichtig und leise, dem seltsam grünen Pfad aus Bruchholz. Nach ungefähr zwanzig Schritten machte die Schneise eine Kurve und hörte danach vor einem riesigen, dicht mit Moos und Bodendeckern bewachsenen Findling auf. Tatsächlich war er so groß, dass er die ganze Schneise ausfüllte und Rhyn nicht um ihn herumsehen konnte, und er reichte bis knapp unter die Baumwipfel. Das rhythmische Brummen war nun ganz deutlich zu vernehmen, und Rhyns ganzer Körper bebte. Es musste von hier kommen. Doch er konnte nur Vögel erkennen, die sich hier in ungewöhnlich großer Zahl versammelt hatten. Rhyn wollte gerade um den Felsen herumgehen, als er erneut an seinen Augen zweifelte. Hatte sich der Fels gerade bewegt? Er hätte schwören können, dass sich der Fels leicht ausdehnte und wieder zusammenzog. Pulsierend. Im selben Rhythmus, in dem er das Dröhnen vernahm. Fast wie bei einem schlafenden Tier. Rhyn hatte den Gedanken noch nicht ganz erfasst, als er sich schon als mehr als zutreffend erwies. Er taumelte einige Schritte rückwärts, bevor er über einen dicken Ast stolperte, und rücklings in einem Farn landete. Nun auf seinem Hintern rutschend, hielt er seinen Dolch am ausgestreckten Arm vor sich, obwohl ihm schnell klar wurde, dass er ihm ähnlich viel nützen würde wie ein Zahnstocher bei der Eberjagd. Was er für einen Findling gehalten hatte, hatte angefangen sich zu bewegen, und Rhyn konnte nun klare Formen erkennen. Aus dem Unterholz um die Kreatur herum schlängelte sich ein langer, kräftiger Schwanz hervor, und auf der anderen Seite zeichnete sich ein langer Hals ab. Der Kopf war noch auf der Rhyn abgewandten Seite verborgen. Über den Rest der Kreatur ging ein kurzes Beben, ehe sich zwei mächtige Schwingen ausbreiteten und, die Bäume nun sogar überragend, ihren Schatten auf Rhyn warfen. Der Körper erhob sich auf vier klauenbewehrten Beinen, und der Kopf, ähnlich einem Reptil und doch wie nichts was Rhyn je gesehen hatte, wandte sich ihm zu. Ein Drache. Unmöglich. Rhyns Atem stockte, und die Hand die den Dolch hielt verkrampfte. Der Drache, nun vollständig aufgestanden, schaute Rhyn kurz an, streckte sich einmal und ließ seinen Blick danach wieder auf Rhyn fallen. Seine Augen durchbohrten Rhyn wie Dolche. Sie waren tiefgrün wie Smaragde, und in ihnen sah Rhyn so viel Leben und eine solche Intelligenz, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Seine ganze Welt schien sich in diesem Moment zusammenzuziehen, und er sah sie gespiegelt in diesen Augen. Er erstarrte, gefangen vom Blick des Drachen, der nun einen kleinen Schritt auf ihn zu tat. „Du bist es also, kleiner Mensch…“ Die Stimme klang unverkennbar weiblich, auch wenn Rhyn natürlich nicht wusste wie ein weiblicher Drache im Gegensatz zu einem männlichen klang. Dennoch war es ihm so klar wie bei einem Menschen. Er musste beim Klang der Stimme sofort an seine Mutter denken, etwas was er so bewusst schon lange nicht mehr getan hatte. Unfähig sich zu bewegen, immer noch in dem urtümlichen Zauber dieser grünen Augen gefangen, saß Rhyn nur da als der Drache den letzten Schritt auf ihn zu tat und seine Klaue hob. Tränen ob seiner Ohnmacht schossen ihm in die Augen, während er hilflos zusah wie eine der Krallen sich langsam seinem Kopf näherte. „Du brauchst keine Angst zu haben, kleiner Mensch.“ Tatsächlich wirkte dieser Satz auf merkwürdige Art beruhigend auf Rhyn, und ein Teil der Anspannung in seinem Körper löste sich. Das letzte was er dachte war, dass diese Kreatur, dieses Wesen, wahrscheinlich das majestätischste war, was er je gesehen hatte, bevor die Kralle seine Stirn berührte und die Welt vor seinen Augen verschwand.

Moira

Ria stellte den Löffel wieder in den Topf und nickte. Noch wenige Minuten, dann wäre die Brühe fertig. Hoffentlich würde er bald wach werden und etwas essen. Seit Rhyn am gestrigen Tag aus dem Wald zurückgekehrt und im Dorf zusammengebrochen war, war er nicht aufgewacht. Er hatte kein Fieber, aber er murmelte und bewegte sich im Schlaf als würde er von schlechten Träumen geplagt. Jetzt war schon wieder Abend, und sie hatte Rhyn nicht aufwecken können. Ria machte sich Sorgen. Sie ging vom Herd durch das Haus, das nur aus einem großen Zimmer bestand, auf die andere Seite zu den Strohbetten. Rhyn lag dort, offensichtlich schlafend, aber er hatte schon wieder seine Decken weggetreten, und mittlerweile kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Mit dem Tuch welches neben dem Bett lag wischte Ria seine Stirn wieder trocken. Er musste bald etwas trinken, soviel wie er am Schwitzen war. Dass das Wetter wieder wärmer geworden war, kam noch dazu. Ria strich ihm sanft durch die Haare, stand von ihren Knien auf und ging zurück an den Herd. Sie stellte gerade den Topf von der Flamme als die Tür aufging. „Ich bin wieder da. Wie geht es ihm?“ Im Eingang stand ein großer, muskulöser Mann. Er trug einfache, von Schweiß nasse Kleidung. Selbst in seinem langen Bart hatte sich so viel Flüssigkeit gesammelt, dass ab und an Tropfen davon auf den Boden fielen. Rias Gesicht hellte sich auf, wie immer, wenn ihr Mann Urs nach Hause kam. Sie ging auf ihn zu, gab ihm einen schnellen Kuss und schaute dann zu Rhyn. „Unverändert. Er ist immer noch nicht aufgewacht.“ Urs‘ Miene verzog sich, und Ria kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er sich Sorgen machte. „Wenn er nicht bald aufwacht oder zumindest etwas trinkt, dann wird er nicht mehr lange leben.“ Ria fühlte einen leichten Stich in ihrer Brust als Urs das sagte. Natürlich wusste sie, dass er Recht hatte, aber es ausgesprochen zu hören machte es realer. „Er wird schon wieder werden.“ entgegnete sie ihm, ein wenig Trotz in ihrer Stimme. „Natürlich.“ Urs klang zwar aufrichtig, doch die Sorgenfalten waren noch immer in seinem Gesicht zu sehen. Ria seufzte. Sie kannte Rhyn schon seit ihrer Kindheit. Er war ihr Cousin, und ihre Eltern waren sehr eng verbunden gewesen. Tatsächlich waren sie eher wie Geschwister aufgewachsen. Er war früher öfter kränklich gewesen, und sie hatte sich damals schon um ihn kümmern müssen. So verhielt man sich in einer Familie, so war sie erzogen worden. Vor allem nachdem ihre Tante gestorben war. „Komm, lass uns erst mal etwas essen. Du siehst hungrig aus.“ Ria nahm den Topf mit der Brühe, zwei Schalen, Löffel und einen Laib Brot und stellte sie auf den Tisch, dann setzte sie sich. Urs nahm den anderen Stuhl und sie begannen zu essen. „Wenn es nicht bald besser wird, müssen wir was unternehmen.“ sagte Urs nach einer Weile. „Vielleicht kann Moira ihm helfen.“ Ria antwortete zunächst nichts. „Er wird schon wieder werden.“ wiederholte sie nach einer Weile leise.

Am nächsten Morgen war Rhyn noch immer nicht wach. Ria und Urs waren beim Frühstück und es herrschte beunruhigtes Schweigen. „Es hilft nichts, Ria.“ sagte Urs endlich. „Ich muss jetzt ins Sägewerk. Und du solltest zu Moira gehen.“ „Sie ist Murin, Urs. Man kann ihr nicht trauen.“ Ria war nicht wirklich von ihrem Einwand überzeugt, und einmal ausgesprochen bereute sie es auch schon. „Aber es ist wohl seine einzige Chance, oder?“ setzte sie nach. Urs gab ihr einen tröstenden Kuss auf die Stirn. „Mir fällt nichts Anderes ein. Und für den richtigen Preis ist auf sie Verlass. Auch wenn die Muren uns Schetten hassen.“ Ria nickte nur mit dem Kopf. Das Misstrauen zwischen Muren und Schetten, den beiden Völkern der Menschen, war Jahrhunderte alt und hatte einiges an Blutvergießen hervorgebracht. Es war nun schon mindestens zwei Generationen her, dass der letzte Bürgerkrieg beendet wurde, und es herrschte ein zerbrechliches Miteinander, aber mehr auch nicht. Man hörte immer öfter von Problemen und kleineren Reibereien. Die Schetten stellten die herrschenden Schichten und machten damit die Gesetze des Landes. Die Muren hassten die Schetten dafür, und die Schetten hassten die Muren, weil diese sich nicht an die Gesetze halten wollten. Aber Urs hatte Recht, Moira war wahrscheinlich wirklich Rhyns letzte Chance. Sie hatte angeblich ausgiebiges Wissen über die Heilkünste, und Ria war mit ihren begrenzten Mitteln am Ende. Als Urs gegangen war, sah Ria noch einmal nach Rhyn. Sein Zustand war unverändert, er war nicht ansprechbar und schweißgebadet. Sie wischte ihm erneut die Stirn trocken. Dann verließ auch sie das Haus. Moiras Haus lag etwas abseits vom Dorf, am Rande des Waldes. Ria folgte dem Weg über die Wiesen, der mehr ein ausgetretener, schmaler Pfad war, und nicht zu vergleichen mit den breiteren Wegen im Dorf oder gar der gepflasterten Handelsstraße. Die alte Straße war die Lebensader des Dorfes Steinthal, und brachte regelmäßig Händler und Reisende, welche neue Waren brachten und die Güter des Dorfes kauften. Zumindest bis vor kurzem, denn die üblichen Reisenden und Händler blieben aus. Ria spürte das deutlich am Fehlen von alltäglichen Dingen, aber auch durch Urs, der nun schon einige Zeit auf die Karawanen wartete die regelmäßig Holz aus dem Sägewerk mitnahmen. Mit diesen gab es fest verhandelte Lieferzeiten, und sie hielten immer den vereinbarten Zeitrahmen ein. Die Karawanen arbeiteten für die Handelsfürsten der großen Städte im Süden, und für die Handelsfürsten zählte die Einhaltung ihrer Lieferzeiten alles, denn sonst verloren sie bare Münze. Rias Gedanken waren abgeschweift während sie weiter dem Trampelpfad folgte, wohl auch damit sie nicht an die vor ihr liegende Begegnung denken musste. Auch wenn sie die Notwendigkeit einsah, so hatte sie doch ein mulmiges Gefühl. Moiras Hütte war nun in Sicht, ein kleines Gebäude aus Stroh und Lehm und einigen wenigen Balken aus Holz die das Grundgerüst bildeten. Es stand am Übergang des Waldes, wo die Bäume Platz machten für die mittlerweile fast kniehohen Wiesen. Um das Haus war in einem kleinen Radius das Gras gemäht, und Ria konnte im Freien an die Wand gelehnt schon die Sense erkennen. Es gab einen kleinen Schober neben der Hütte, und da das Werkzeug noch draußen stand, war sie wohl gerade benutzt und noch nicht weggeräumt worden. Als sie nähertrat, sah und roch sie das frisch geschrittene Gras, was ihre Vermutung bestätigte. Jetzt im Sommer war es üblich, solche Arbeiten in den Morgen- oder Abendstunden zu verrichten, da es mittags zu heiß wurde. Und Moira war nicht mehr die Jüngste wie Ria wusste. Sie ging an einem kleinen Beet vorbei, in dem unterschiedlichste Gemüsepflanzen wuchsen, und direkt zur Tür, an deren Rahmen mehrere Vogelfüße sowie getrocknete Zweige und andere Pflanzen genagelt waren. Ria verzog kurz das Gesicht. Muren-Aberglaube. Dann klopfte sie. Nach kurzer Zeit hörte sie Geräusche hinter der Tür, welche daraufhin geöffnet wurde. Moira war eine alte Frau, das hatte Ria gewusst, aber sie war dennoch überrascht wie alt. Sie hatte Moira das letzte Mal als kleines Kind gesehen, da die Murin nicht ins Dorf ging, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Sonst hatte sie nur Erzählungen gehört. Moiras Haar war grau und strähnig, zumindest was davon übrig war, denn es war so dünn, dass man deutlich die Kopfhaut darunter sehen konnte. Dennoch hatte sie es geschafft, einige Perlen einzuflechten. Ihre Statur war klein und eingefallen, ihr Rücken leicht gebeugt als würde sie ständig eine schwere Last tragen. Trotz der Hitze hatte sie mehrere Schichten Kleidung an, und ihre Röcke waren nach traditioneller Art der Muren geschnitten, unterschiedlich lang und hatten bunte Farben. Moira schaute nach oben und ihr Blick blieb nach kurzer Zeit an Rias Gesicht stehen. Nun konnte Ria auch ihr Gesicht besser sehen, das von hunderten Falten zerfurcht war, wie die Rinde eines knorrigen Baumes. Ihre Augen waren trübe, fast als wären sie mit Rauch gefüllt, und schienen nichts wirklich zu fokussieren. Alles an ihr wirkte zerbrechlich, alt und schwach. Und nichts desto trotz umgab Moira eine Aura der Stärke und Selbstsicherheit, die Ria verunsicherte. Aber sie wollte verdammt sein, wenn sie sich das würde anmerken lassen. „Hallo, Kind!“ Moiras Stimme hatte dieselbe merkwürdige Mischung aus Zerbrechlichkeit und Stärke. „Komm rein.“ Ohne auf eine Antwort zu warten drehte sie sich um und ging zurück in die Hütte. Ria zögerte einen Moment, dann folgte sie. Zeit, das hinter sich zu bringen. Für Rhyn. Wie auch bei Rias und Urs‘ Haus gab es nur einen großen Raum, und der Herd war das einzig gemauerte. Doch da hörten die Gemeinsamkeiten auch auf. In einer Ecke war ein Lager aus Fellen errichtet, das wohl als Bett diente. Es standen mehrere kleine Tische an den Wänden, die voller Schalen, Schüsseln und Krügen standen. Auch gab es viele Regale, auf denen verschlossene Gefäße und Schriftrollen zu sehen waren. Und überall an der Decke hingen an Fäden aufgehängt Kräuter, Wurzeln sowie Knochen und andere Teile von toten Tieren zum Trocknen. Moira war zielstrebig zum Herd gegangen und schürte das Feuer. Ria fand ihren Weg in eine Ecke des Raumes wo sie stehen konnte ohne bei der kleinsten Bewegung an irgendetwas zu stoßen und versuchte die Eindrücke zu verarbeiten. „Bist du nur gekommen um mich zu besuchen? Wenn du etwas von mir willst, dann musst du schon den Mund aufmachen, Kind. Du wirkst nicht, als wärst du in Umständen… Also, was ist es.“ Rias Blick war durch den Raum gewandert und schnellte jetzt zurück zu der alten Frau am Feuer. Sie wollte gerade ansetzen, als Moira sie unterbrach: „Gib mir bitte mal einen Zweig Rauchtanne, Kind.“ Ria schaute sich um, und nahm dann einen Zweig der von der Decke hing und reichte ihn Moira. „Mein Name ist Ria!“ Es klang ein wenig mehr Trotz in ihrer Stimme mit, als sie beabsichtigt hatte. Moira nahm die Rauchtanne entgegen, roch kurz daran und warf sie dann ins Feuer. „Dabei kann ich dir auch nicht helfen, Kind!“ antwortete sie und lachte kurz. Ihr Lachen war rau wie eine Feile. „Das ist auch nicht mein Problem, alte Frau!“ Ria konnte jetzt die Rauchtanne riechen. Wenn man Zweige der Rauchtanne ins Feuer warf, dann gab das Feuer alsbald einen frischen, angenehmen Geruch ab. Deshalb nannte man sie auch Rauchtanne. Auch konnte man wohlriechende Öle und Salben aus ihr herstellen. „Und nein, ich erwarte auch kein Kind.“ Das versetzte Ria einen kleinen, unerwarteten Stich. Sie und Urs hätten gerne ein Kind. „Mein Cousin ist seit zwei Tagen nicht aufgewacht und trinkt nicht. Dafür schwitzt er umso mehr. Wenn er nicht bald aufwacht, wird er sterben fürchte ich.“ Ria macht eine kleine Pause, und nun war ihre Stimme deutlich leiser und verzweifelter: „Ich weiß nicht wie ich ihm helfen soll. Ich hatte gehofft, Ihr könnt es vielleicht.“ Stille nahm danach den Raum ein. Moira stocherte mit einem Stock, den sie offensichtlich zum Schüren benutze, im Feuer herum und ließ somit immer wieder Schwaden des Rauchtannengeruchs aufsteigen. Dann, ohne sich umzudrehen, sagte sie: „Ich bin alt. Meine Körper kann nicht mehr so wie in meinen jungen Jahren. Vor allem meine Augen lassen mich im Stich, ja ja.“ Dann drehte sie sich zu Ria um, und ihre Hand tastete nach ihrem Gesicht. Ria zuckte kurz, ließ es dann aber geschehen. Hoffentlich konnte sie Rhyn helfen, und war nicht nur eine merkwürdige alte Frau. Ein Lächeln breitete sich über Moiras Gesicht aus, und die Falten in ihrem Gesicht wurden noch tiefer. „Ich werde dir helfen, ja das werde ich. Aber dafür wirst auch du mir helfen müssen, Kind. Du wirst mir ein Jahr lang zur Hand gehen, bei all den Dingen die diese alte Frau nicht mehr kann. Das ist der Preis, Kind.“ Sie tätschelte kurz Rias Gesicht, dann drehte sie sich wieder zum Feuer. „Ein guter Preis wie ich finde, ja ja.“ Ria stutzte. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Aber…“ fing sie an, doch sie wusste nicht was sie Weiteres sagen sollte. „Ein sehr guter Preis, Kind.“ wiederholte Moira. „Na gut! Aber nur, wenn du ihm helfen kannst, alte Frau!“ Verfluchte Murin. Ria hatte ja mit einem Preis gerechnet, aber das war unerwartet. Und auch wenn es keine materiellen Kosten hatte, so war es doch Zeit, die verloren ging um ihre eigenen Arbeiten zu erledigen. Je nachdem wie oft sie helfen musste, war Moiras Preis einem Vermögen gleichzusetzen. Zumindest für Ria. „Schön, schön. Bring ihn heute Abend hierher.“ Ria war schon fast wieder zur Tür hinaus, als Moira nachsetzte: „Und schau, dass er bis dahin nicht stirbt, Kind.“ In ihrer Stimme lag keinerlei Boshaftigkeit, sondern nur Ernst und echte Sorge. Ria schluckte. „Werde ich!“ Als Ria die Hütte verließ, schlug sie die Hand vor die Augen, um das grelle Sonnenlicht abzuhalten. Sie hatte ganz vergessen, wie viel dunkler es in der Hütte gewesen war. Sie kniff die Augen stark zusammen, was ihr nach kurzer Zeit leichte Kopfschmerzen verursachte. Ein Jahr bei dieser verrückten alten Frau. Und die Leute würden reden, wenn sie oft zu Moira gehen musste. Steinthal war schon wieder in Sicht. In einem kleinen Dorf wie diesem verbreiteten sich Gerüchte und Gerede schnell, schon alleine, weil sonst nicht viel passierte. Rhyn war besser der dankbarste und netteste Cousin den man sich vorstellen konnte, sonst würde Ria ihn eigenhändig erwürgen. Als sie Zuhause ankam, fand sie alles unverändert vor. Rhyn lag noch immer da, die Augen geschlossen, Schweiß auf der Stirn, murmelnd und sich immer wieder bewegend. Schau, dass er bis dahin nicht stirbt, hatte Moira gesagt. Sie wollte verflucht sein, wenn es so weit kam. Doch jetzt konnte sie nichts weiter für Rhyn tun, als zu warten. Mit einem unguten Gefühl im Bauch machte sie sich an ihr Tagewerk.

Urs war am frühen Abend wieder da. Ria hatte nur noch auf ihn gewartet. Sie hatte schon alles vorbereitet, aber Rhyn alleine zu Moiras Hütte zu bringen schaffte sie nicht. Dazu war Rhyn einfach zu schwer. „Warst du bei Moira?“ „Ja. Wir sollen ihn gleich zu ihr bringen. Dafür brauche ich deine Hilfe.“ „Natürlich.“ Urs kam näher zu Ria und schaute sie mit besorgtem Blick an. „Und was will sie haben?“ Ria senkte den Blick einen Moment und kurz herrschte Schweigen. Sie spürte Urs‘ starke Hand an ihrem Arm und schaute dann auf, als wäre nichts gewesen. „Sie will, dass ich ihr zur Hand gehe.“ Ria bemühte sich um einen beifälligen Ton, als wäre es nichts weiter. Doch Urs kannte sie besser. „Bei was?“ fragte er, seine Stirn in Falten. „Bei alltäglichen Dingen… alles Mögliche schätze ich.“ „Und für wie lange?“ Die Sorge war noch nicht aus Urs‘ Gesicht gewichen, und seine Stimme klang zweifelnd. „Für… ein Jahr.“ Die Sorge schlug zu Zorn um, einen Ausdruck den Ria bei Urs nicht mochte. Urs war nicht der besonnenste Mann, wenn er wütend war. Bevor er etwas sagen konnte setzte sie nach: „Ich habe ihr schon zugesagt. Und ich halte mein Wort, das gehört sich so! Jetzt nimm bitte Rhyn. Wir müssen los.“ Urs‘ zorniger Ausdruck war noch nicht ganz verschwunden, doch er sagte nichts. Er ging brummelnd zu Rhyn hinüber, nahm ihn aus dem Bett und warf ihn vorsichtig über seine Schulter. Rhyn schien das gar nicht zu bemerken. „Dann lass es uns hinter uns bringen. Ich hoffe die alte Vettel kann Rhyn helfen.“ Es lag immer noch eine gewisse Portion Unmut in Urs Stimme, während er zur Tür ging, Rhyn wie eine Puppe auf der Schulter. „Das hoffe ich auch…“ murmelte Ria, dann folgte sie Urs. Die Sonne ging gerade unter und war noch gerade so hinter den Baumwipfeln des Waldes zu sehen. Ihr Licht tauchte einen guten Teil des Himmels in rotes Licht, und gen Westen wurde der Himmel über ein sanftes Gelb und ein helles Blau immer dunkler. Steinthal war in goldenes Licht getaucht und wirkte in diesem Moment auf Ria wie der friedlichste Ort der Welt. Die Luft war kühl, angenehm im Gegensatz zur Hitze des Tages. Die Luft war kühl, angenehm im Gegensatz zur Hitze des Tages. Urs war schon einige Schritte voraus, und Ria beeilte sich, zu ihm aufzuschließen. Als sie neben ihm war nahm sie seine freie Hand, und sie gingen schweigend zu Moiras Hütte. Die Sonne war komplett hinter den Baumwipfel verschwunden, und das Licht hatte sich von Gold zu einem tiefen Rot verfärbt, als sie das kleine Häuschen erreichten. Moira saß auf einem Stuhl vor ihrer Tür und schien schon zu warten. Ria und Urs waren schon fast bei ihr, als sie sie bemerkte. Sie drehte das faltige Gesicht zu ihnen, und die trüben Augen schauten vage in ihre Richtung. Dann stand sie auf. „Ihr seid da, gut gut. Dann hast du ihn am Leben gehalten, was Kind?“ „Natürlich habe ich das!“ „Und du tätest gut daran, das Selbe zu tun, Weib!“ fügte Urs hinzu. „Wollen wir dann beginnen?“ Moira klang weder gereizt, noch eingeschüchtert. „Bring ihn hinein, und leg ihn auf das Stroh dass ich ausgelegt habe, Junge.“ Urs schnaubte nur kurz, dann ging er hinein. „Dein Mann, Kind? Er klingt stark, ja ja!“ sagte Moira zu Ria. „Ja. Aber eigentlich geht dich das auch gar nichts an, alte Frau!“ Ria war angespannt. Moira sprach mit ihr, als wäre sie ihre Freundin oder als würden sie sich schon lange kennen. Damit ging auch Ria in die Hütte hinein. Moira lachte kurz leise vor sich hin. „Du bist auch stark, Kind.“ Dann folgte sie den beiden nach.

Der Traum

…Rhyn stolperte aus dem Wald heraus. Die Bäume bekamen ihre ersten Blätter und standen in hellem, frischem Grün. War es nicht Sommer gewesen? Nein, offensichtlich war es Frühjahr. Er ging einige Schritte weiter, bis er den Rand des Dorfes erreichte. Steinthal lag friedlich vor ihm, die Handelsstraße zu seiner linken und zu seiner Rechten der Steinbach der aus dem Wald durch das Dorf floss. Die Luft war erfüllt vom Klang der Insekten und dem Gezwitscher der Vögel. Er war Zuhause. Aber wo war er eigentlich vorher gewesen? Als er durch das Dorf ging mischte sich der Klang von Musik zu den Geräuschen der erwachenden Natur. Doch sehen konnte Rhyn niemanden. Die Musik schien vom Zentralplatz des Dorfes zu kommen, deshalb machte sich Rhyn dorthin auf. Es war ungewohnt das Dorf so leer zu sehen, normalerweise sah man immer jemanden der seinem Tagewerk nachging, sei es jemand der Holz hackte, jemand der den Wetterumschwung nach dem Winter genoss und vor dem Haus seinem Handwerk nachging oder jemand der sich um die Tiere kümmerte. Der Dorfplatz kam jetzt in seine Sicht. Jetzt verstand Rhyn auch, warum er niemanden getroffen hatte. Der Platz war voll, es schienen alle Bewohner des Dorfes da zu sein. Und sie feierten, musizierten und tanzten. In der Mitte des Platzes stand eine große Birke. Auch sie hatte schon neue, blassgrüne Blätter und schien nur so vor Leben zu strotzen. Aber es gab doch gar keinen Baum auf dem Dorfplatz. Rhyn ging weiter, auf die feiernden Menschen zu und sah auf einmal eine große Gestalt mit langem, dichtem Haar vor sich stehen. Urs! Er rief seinen Namen, doch kam kein Laut von seinen Lippen. Er versuchte es erneut, doch wieder nur Stille. Was war hier nur los? Verzweifelt tippte Rhyn Urs auf die Schulter. Wenigstens das schien zu funktionieren, denn Urs drehte sich um. „Ah Rhyn.“ sagte er. „Du bist es …“ …also, kleiner Mensch. Die Welt verschwand schlagartig vor Rhyn und er sah kurz das Bild eines großen, smaragdgrünen Auges vor sich. Ein Auge das er kannte. Doch wollte ihm nicht einfallen, woher. So schnell wie ihm das Bild erschienen war, verschwand es auch wieder. Es war jetzt Nacht, und Rhyn stand alleine auf dem Dorfplatz. War es nicht eben noch Tag gewesen? Jetzt wo die Sonne weg war, wurde es noch immer kalt. Rhyn schaute sich um. Es war wirklich niemand da außer ihm. Nur der Baum stand noch da. Er gehörte dort auf den Platz, das wusste Rhyn, aber irgendwie wusste er auch, dass es dort keinen Baum gab. Neugierig ging er darauf zu, und er legte seine Hand auf die weiße Rinde der Birke. Sie war erstaunlich warm. Fast als würde er ein Tier anfassen und keine Pflanze. Doch kam ihm das gerade recht, und er lehnte sich kurz an um sich aufzuwärmen. Als er sich umdrehte und wieder zum Dorf schaute, den Rücken gegen den warmen Stamm gelehnt, fiel sein Blick auf ein rotes Flackern, das er hinter den Häusern sehen konnte. Wie von Feuer. Nun hörte er auch Geräusche, dumpfe Laute wie schwere Schritte. Und das Brechen von Dingen. So ähnlich wie neulich im Wald. Oder? Wann war er denn das letzte Mal im Wald gewesen? Gerade wollte er losgehen und nachschauen was los war, und ob er helfen konnte, als eines der Häuser am Rande des Dorfplatzes in Flammen aufging. Feuer. Ein Brand könnte ganz Steinthal zu Grunde richten. Am Dorfplatz floss doch der Steinbach entlang, dort wo die Handelsstraße den Bach kreuzte. Er musste Wasser besorgen. Und einen Eimer oder ähnliches. Rhyn dachte noch nach wo er all das herbekommen sollte, als das Trampel lauter wurde und das brennende Haus zusammenbrach, mit einem lauten Bersten. Und in den Trümmern sah Rhyn etwas, undeutlich durch den Rauch. Etwas bewegte sich da. Nein, mehrere Dinge. Die Bewohner des Hauses vielleicht? Rhyn rannte auf das eingestürzte Haus zu. Es war das Haus des Küfers, und Rhyn kannte ihn und seine Familie schon sein ganzes Leben. Sein Sohn war mit ihm groß geworden, auch wenn Rhyn etwas älter war. Auf halbem Weg blieb er stehen. Aus dem Rauch hatten sich die Gestalten nun verdeutlicht, und Rhyn wich zurück. Was war das nur? Rhyn wich zurück. Er konnte es deutlich sehen. In den brennenden Trümmern wütete ein Eber. Ein großer Eber, der alles um sich herum zerbrach und zerriss. Rhyn sah jetzt auch weiter die Straße hinunter. Dort waren noch mehr. Wilde Eber, die die Häuser mit ihren Hauern und Schädel angingen, Türen und Balken zerbrachen. Und was sie berührten, ging in Flammen auf. Rhyn drehte sich um und sah nun auch hinter sich Feuer im Dorf. Aus dem Rauch und den Flammen strömten nun mehrere der Tiere auf den Platz. Der Baum. Die Birke stand lichterloh in Flammen. Rhyn sank auf seine Knie. Er wusste nicht was los war, und er wusste nicht was er tun sollte. Machtlos. Schon wieder. Hinter sich hörte er schwere Schritte näherkommen, ein lautes Quieken, und er wartete auf den Schmerz…

„Los hol Wasser, Kind.“ Rhyn war aufgeschreckt. Er war verwirrt, denn er wusste nicht wo er war und wie er hierhergekommen war. „Leg dich hin, Rhyn.“ Das war Urs‘ Stimme, Rhyn erkannte sie sofort. Er schaute sich um, und sah seinen alten Freund an seiner Seite knien. Er wirkte erleichtert. Rhyn wollte etwas zu ihm sagen, doch aus seinem Mund kam nur ein leichtes Röcheln. Erst jetzt merkte er, wie trocken sich seine Kehle anfühlte, als hätte jemand seine Zunge durch ein Stück Pökelfleisch ersetzt und seinen Rachen durch einen Sandstein. Er musste husten, was ihm Schmerzen bereitete. „Mach langsam. Hier, trink!“ Ria war jetzt zu ihm getreten und beugte sich mit einem Becher Wasser über ihn. Gierig trank Rhyn, auch wenn jedes Schlucken schmerzte. „Danke.“ Ein Krächzen. Immerhin. Rhyn trank auch den zweiten Becher aus den Ria ihm brachte, dann schaute er sich um. Zuerst hatte er gedacht, er wäre bei Urs und Ria im Haus. Die Größe und die Bauart passten auch, doch nun sah er die Einrichtung, und er fragte sich, wie er so etwas gedacht haben konnte. Urs‘ und Rias Haus war stets ordentlich und sauber, worauf Ria auch Wert legte. Hier jedoch war jeder Platz, der nicht durch Herd oder die wenigen Möbel besetzt war, von allerlei Kram zugestellt. Überall Körbe und vollgestellte Regale, selbst von der Decke hingen überall die unterschiedlichsten Dinge, die Rhyn jetzt nicht näher erkennen konnte. „Wo…?“ fragte er, die Stimme immer noch leise und rau, aber besser als noch gerade eben. „Du bist bei mir im Haus, Junge.“ Die Stimme hatte er eben schon einmal gehört, direkt nachdem er aufgewacht war. Das hätte ihm doch auffallen müssen, sagte er sich. Die Stimme klang alt, leise aber nicht dünn. „Moira, nicht wahr?“ Rhyn hatte sich inzwischen aufgesetzt, und konnte nun auch eine alte, kleine Frau hinter Ria stehen sehen. „Dein Kopf scheint zu funktionieren, gut gut.“ sagte Moira. Plötzlich schwang der Tonfall in ihrer Stimme um und wurde ernster. „Du hast lange geschlafen, Junge. Tage, ja ja. Und du hast geträumt. Was hast du gesehen?“ Sie war hinter Ria hervorgetreten und etwas auf ihn zugegangen. Rhyn stutzte. Geträumt? Ja, er hatte geträumt. Aber was? Die Bilder seines Traumes kamen ihm verschwommen wieder vor Augen. Feuer… und Eber. Nach einer Weile schüttelte Rhyn den Kopf. „Ich weiß es nicht genau… Ich glaube, es waren wirre Dinge.“ Rhyn war sich aber sicher, dass es mehr als das gewesen war. Aber bevor er wusste was, brauchte er es erst mal keinem auf die Nase zu binden. Moira schaute ihn unzufrieden an, als würde auch sie wissen, dass es nicht nur wilde Fieberträume gewesen waren. „Spielt das eine Rolle?“ Urs sprach jetzt. Er stand auf und streckte seine Hand aus. „Kannst du aufstehen?“ Rhyns Körper fühlte sich schwach an. Vermutlich wäre es besser, noch liegen zu bleiben. Doch Urs und Ria schienen sich hier unwohl zu fühlen. Und Rhyn wollte auch nicht getragen werden müssen. Also aufstehen. Urs wollte seine Hand gerade wieder zurücknehmen, als Rhyn sie ergriff. Urs starker Griff schloss sich um Rhyns fast schlaffe Hand und zog ihn hoch als würde er nichts wiegen. Rhyn war immer wieder überrascht, wie stark Urs doch war. Wieder auf den Füßen, wurde Rhyn zunächst einmal schwarz vor Augen. Fast hätte er seinen festen Stand verloren, doch Urs Hand, die seine immer noch umschlossen hatte, hielt ihn aufrecht bis er sich gefangen hatte. „Scheinbar schon.“ sagte er zu Urs und grinste ihn dabei an. Urs grinste zurück und schlug ihm auf die Schulter, was Rhyn fast wieder umwarf. „Gut. Dann lass uns gehen.“ „Ja, lass uns gehen.“ Rias Stimme war voller Erleichterung. Moiras Blick war auf Rhyn geheftet als die Drei die Hütte verließen. Auch nachdem sie schon draußen waren, schaute sie noch eine Zeitlang auf die Tür. „Was hast du gesehen, Junge?“ murmelte sie vor sich hin, dann wandte sie sich von der Tür ab und begann, wieder Ordnung zu schaffen.

Die Sonne war jetzt gänzlich verschwunden, und Rhyn brauchte einen Moment bis er an die Dunkelheit gewöhnt war. Er hatte schon immer eine ganz gute Nachtsicht gehabt, und schnell konnte er Umrisse seiner Umgebung erkennen. Seine Kraft und das Gleichgewicht schienen jedoch nicht so schnell wiederzukehren wie sein Sehvermögen. Jeder Schritt war wackelig und eine Herausforderung. Nur nicht stürzen, sagte sich Rhyn immer wieder. Einen Fuß vor den anderen setzen. „Was ist denn passiert?“ fragte Rhyn schließlich, seine Stimme noch immer rau wie eine Feile. „Ich dachte, das kannst du uns sagen.“ erwiderte Urs. „Du bist vor ein paar Tagen aus dem Wald gekommen, und bist mitten in Steinthal zusammengebrochen, auf dem Dorfplatz. Und dann bist du nicht mehr aufgewacht.“ fügte Ria hinzu. „Wir haben uns Sorgen gemacht.“ „Daran kann ich mich nicht erinnern.“ Rhyn versuchte sich zu erinnern. Was war das Letzte an das er sich erinnerte? Ein großes, smaragdgrünes Auge. Ein Gefühl von Geborgenheit. War das auch nur ein Traum gewesen? „Ich bin mir nicht sicher, was im Wald passiert ist. Ich bin sicher, dass ich da war, aber dann verschwimmt alles.“ Urs nickte. „Ist ja auch nur halb so wichtig. Wichtig ist, dass du wieder auf die Füße kommst.“ Aus irgendeinem Grund konnte Rhyn nicht glauben, dass es nur halb so wichtig war. Tatsächlich, so schoss es ihm gerade durch den Kopf, war es von enormer Wichtigkeit. Dann fiel ihm etwas Anderes ein, und drängte die verschwommenen Bilder in den Hintergrund. „Ihr habt mich zu Moira gebracht. Was hat sie dafür verlangt?“ Rhyn wusste, wie jeder andere in Steinthal, dass Moira ihren Preis hatte. Urs wollte gerade ansetzen, doch Ria kam ihm zuvor. „Mach dir darüber keine Gedanken. Das ist schon geregelt. Und keine Widerworte!“ Rhyns Versuch zu widersprechen wurde von ihren letzten Worten unterdrückt. Urs schnaubte nur. Den Rest des Weges gingen sie schweigend. Ria war an Urs‘ Seite getreten und lehnte sich an ihn, während Rhyn seinen Gedanken nachhing und versuchte, sich zu erinnern.

Der Frühjahrsbaum

Der Schnee fing an zu tauen und füllte den Steinbach, der so viel Wasser führte wie selten zuvor. Der Winter war hart gewesen, hart und lang, und die Schneemassen hatten sich angesammelt und ließen den Bachlauf nun fast über die Ufer treten. Doch nicht nur das kalte Wetter hatte den Winter so hart gemacht. Die Händler kamen nur noch selten, und wenn einer kam brachte er beunruhigende Neuigkeiten von immer häufigeren Unruhen der Muren und einer stets wachsenden Gruppe von Aufständigen. Rhyn atmete tief die kalte Morgenluft ein. Auch wenn er dem Winter eine gewisse Schönheit nicht absprechen konnte, wenn das Dorf und der Wald mit Schnee und Reif gekrönt waren wie Zucker auf den luxuriösen Süßspeisen der Südlande, und die Luft klar und kalt war, so war es sogar ihm jetzt lange genug gewesen. Er, Ria und Urs hatten rationieren müssen, und waren im Vergleich zu anderen in Steinthal noch gut über die Runden gekommen. Rhyn hatte bei dem Gedanken ein ungutes Gefühl im Magen. Die Jagd und das Fallenstellen waren diesen Winter auch nicht sehr ergiebig gewesen. Hätte es mehr Nahrung gegeben, wenn er sich geschickter angestellt hätte? Hätten dann die Leute, die er sein Leben lang kannte, Matt, der Sohn des Küfers, Ilia, die Tochter des Schmieds, oder Eren und Firn, die kleinen Zwillinge des Bauern Rothgar, nicht hungern müssen? Ihnen allen hatte der Winter zugesetzt, und jetzt freuten sich alle zu Recht, dass der Frühling nahte. Rhyn nahm den Eimer, und ging los Wasser holen. Seine Schritte knirschten bei jedem Schritt auf dem Schnee, der noch immer den Boden bedeckte, doch klang es schon deutlich feuchter. Rhyns Weg führte ihn zum Dorfplatz, einem großen freien Platz direkt neben der gepflasterten Handelsstraße auf der einen Seite und einigen Häusern auf den anderen Seiten. Beim Dorfplatz kreuzte der Steinbach die Handelsstraße, und eine alte steinerne Brücke führte über das Wasser. Es war noch früh am Morgen, und das Dorf lag ruhig da. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die Dämmerung hatte schon eingesetzt und es war hell genug um zu sehen. Die dünne weiße Schneeschicht reflektierte das Licht zusätzlich. Am Ufer des Bachlaufes angekommen, kniete sich Rhyn hin und tauchte den Eimer ins Wasser. Da der Pegel so hoch war musste er nicht die Böschung hinunterklettern, sondern erreichte das Wasser ohne Probleme. Der Steinbach war eiskalt, und Rhyn verlor in der kurzen Zeit die der Eimer brauchte um sich zu füllen schon das Gefühl in der Hand. Er holte den gefüllten Eimer aus dem Wasser, stellte ihn neben sich und holte tief Luft. Dann zog er sich aus, bis er Oberkörper frei war. Der kalte Wind ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen, und Rhyn spürte, wie sich seine Muskeln als Reaktion auf die Kälte anspannten. Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, tauchte er seine Hände erneut ins Wasser und begann, sich zu waschen. Wenn er das hier erledigte, auch wenn es unangenehmer war, blieb mehr Wasser für Ria und Urs übrig, und vielleicht sparte es einen weiteren Gang zum Bach. Ihm blieb kurz die Luft weg als er sich den ersten Schwall ins Gesicht warf, ehe er sich an die Temperatur gewöhnt hat. Er beeilte sich fertig zu werden, dann trocknete er sich grob ab und zog sich wieder an. Mit einer groben Wollmütze über den noch nassen Haaren und dem vollen Wassereimer in der Hand, machte Rhyn sich dann zügig auf den Rückweg. Seit letztem Sommer hatte Rhyn angefangen, Aufgaben für Ria und Urs zu übernehmen, wann immer er konnte. Es hatte nicht lange gedauert, bis Rhyn herausgefunden hatte, wie sich Moira bezahlen ließ. Ria konnte es auch nur schwer verheimlichen, wenn sie immer wieder nicht da war, in Richtung von Moiras Hütte ging und ihre eigene Arbeit liegenblieb. Und Moira verlangte häufig nach Hilfe. Rhyn konnte es nur schwer ertragen, dass Ria seinetwegen so viel zusätzlich leisten musste. Er war kurz nachdem Urs und Ria ihn hatten behandeln lassen noch einmal selbst zu Moira gegangen, um mit ihr einen anderen Preis auszuhandeln. Doch sie hatte nur gelacht und abgelehnt. „Nein nein, die Abmachung ist ganz und gar perfekt, Junge!“ hatte sie gesagt. Nun versuchte Rhyn wenigstens zu helfen wo er konnte. Mittlerweile war das Dorf aufgewacht, und Rhyn sah deutlich mehr Menschen auf den Wegen. Bei manchen blieb er kurz stehen und unterhielt sich kurz, meistens über den kalten Winter und den einbrechenden Frühling, aber alle grüßten mindestens. Als er schon fast wieder bei der Hütte war, hörte er von hinten ein Rufen. „Hey, Morgen Rhyn!“ Rhyn blieb stehen und drehte sich mit einem Grinsen um. Auf ihn zu kam ein kleiner aber kräftiger Mann, in Rhyns Alter, mit hellem lockigem Haar und einem schelmischen, bartlosen Gesicht. „Morgen, Matt!“ erwiderte Rhyn und stellte den Eimer ab. Matt und Rhyn gaben sich eine kurze Umarmung, bei der Rhyn sich ein wenig bücken musste. Rhyn war zwar nicht so groß wie Urs, aber dennoch ein gutes Stück höher gewachsen als der Sohn des Küfers. „Das bisschen Eimer tragen bringt dich wohl schon ins Schwitzen, und dass bei Schnee, was?“ sagte Matt neckisch mit einem Blick zu Rhyns nassen Haaren. „Erwischt. Aber wenn der Eimer nicht von dir gemacht wäre, dann hätte ich vielleicht nicht rennen müssen damit Zuhause noch was drinnen ist.“ „Ich mache die zweitbesten Eimer im Dorf, direkt nach meinem Vater! Wir mögen die Einzigen sein, aber es ist dennoch wahr!“ Matt hatte einen offensichtlich gestellten, ernsten Ton angenommen. „Gehst du heute mit den Frühjahrsbaum schlagen?“ „Natürlich! Bist du deshalb auf dem Weg zu Urs?“ Rhyn kannte die Antwort natürlich. Jedes Jahr gingen Matt, Urs und er zu Beginn des Frühlings den Frühjahrsbaum schlagen, ein junger Baum der dann zum Fest des Frühlingserwachens entastet und mit bunten Bändern geschmückt wurde, und als Symbol für das neu erwachte Leben den Mittelpunkt des Festes darstellte. Die Frauen des Dorfes waren schon fleißig am Bänder knüpfen, und alle waren voller Vorfreude auf die Festlichkeiten. Nach dem harten Winter konnte ein ausgelassenes Fest nur guttun. Tatsächlich war das Fest des Frühlingserwachens in Steinthal so groß, dass in der Regel alle Bauern und Einsiedler von den Höfen im dünn besiedelten Umland die teils mehrtägige Reise auf sich nahmen, um dort für kurze Zeit ihre Sorgen zu vergessen. „Richtig.“ antwortete Matt, und zusammen gingen sie die letzten Meter bis zur Hütte. Als sie ankamen, kam gerade Ria mit leicht verzogener Miene aus der Tür, eine Hand auf ihrem Bauch, und grüßte sie. „Guten Morgen, Matt. Hallo, Rhyn.“ Sie blickte kurz auf den Wassereimer. „Du brauchst wirklich nicht unsere Hausarbeit erledigen, das weißt du, oder?“ „Bist du heute wieder unterwegs? Und wenn ich sowieso gehe, kann ich auch Wasser mitbringen.“ Ria seufzte. Rhyn war unverbesserlich, das wusste sie. Sie konnte ihm noch so oft sagen, dass es nicht nötig war, Rhyn fühlte sich einfach in der Pflicht. Mittlerweile hatte sie sich an die Arbeit mit Moira gewöhnt, oft lernte sie sogar etwas. Die alte Murin kam ihr zwar immer noch etwas eigen vor, aber damit hatte sie gelernt umzugehen. „Ja bin ich. Und ihr geht heute den Frühjahrsbaum fällen?“ Bei dem Themenwechsel zum Fest hellte sich Rias Miene deutlich auf. Sie hatte die Festlichkeiten immer geliebt. „Urs ist gleich da, er freut sich schon darauf!“ Mit diesen Worten gab sie Rhyn einen Kuss auf die Wange. „Ich mache mich jetzt auf den Weg.“ sagte sie und ging auch schon los. Kurz darauf war sie im Dorf schon nicht mehr zu sehen. „Sag mal, stimmt es, dass Ria der alten Murenhexe hilft?“ Matt hatte sich zu Rhyn gebeugt und sprach mit leicht gesenkter Stimme. Natürlich, dass die Leute reden würden hätte Rhyn sich ja denken können. „Sag mal, kann es sein dass du ein altes Klatschweib bist? Und selbst wenn es dich etwas angehen würde du Eimerkopf, wäre das ein Problem für dich?“ Matt zuckte zusammen. Urs stand vor der Tür und hatte ihn offensichtlich gehört. „Äh, nein. Ich meine… natürlich nicht…“ Matt schaute hilfesuchend zu Rhyn. Doch der zuckte nur mit den Schultern. „Sieh‘ mich nicht so an, Matt. Urs hat Recht.“ Rhyn hatte die freundliche Miene, die auf Urs‘ Gesicht zurückgekehrt war, schon bemerkt und wusste, dass Matt nichts weiter zu befürchten hatte. Urs war mittlerweile zu Matt gegangen und hatte ihm seine Hand schwer auf die Schulter gelegt. Neben Matt wirkte Urs noch größer, als sonst. Er überragte ihn um gute zwei Kopf, und obwohl Matt nicht schmal war, wirkte er neben Urs doch fast zerbrechlich. „Auf einmal scheint es dir ja die Sprache verschlagen zu haben. Wo ist denn das Plappermaul, das ich so gut kenne.“ Auch Matt hatte bemerkt, dass Urs Stimmung gut war und entspannte sich. „Ich glaube das Plappermaul ist schon vorgegangen, weil wir hier nur faul rumstehen.“ Urs lachte kurz auf, und auch Rhyn huschte ein Lächeln übers Gesicht. „Du hast Recht Matt. Dann auf, bevor wir am Boden festfrieren.“ stimmte Urs zu, woraufhin sie sich auf den Weg machten.

Irgendwo in diesem Regal musste das Kraut sein dachte Ria, als sie die verschiedenen Kästchen, Beutel und Tontöpfe öffnete, den Inhalt untersuchte und dann weiter schaute, bis sie schließlich in einem unscheinbaren Säckchen fündig wurde. Als sie es öffnete schlug ihr der unverkennbare, süßliche Geruch vom Honigkraut entgegen, woraufhin sie das Säckchen wieder schloss und vom Regal nahm. Moira stand am Herd und rührte in einem Topf einen Sud um, den sie angesetzt hatte. „Hast du das Honigkraut, Kind? Schnell jetzt, sonst ist es zu spät!“ Ria seufzte leise. „Ja doch.“ „Dann gib jetzt eine Handvoll hinzu.“ Sie ging mit dem Honigkraut hinüber zum Topf und griff in das Säckchen hinein und fühlte die klebrigen Blätter und Stängel zwischen ihren Fingern. Zusätzlich zum honigsüßen Geruch gab Honigkraut eine klebrige Substanz ab wenn man es abriss oder abschnitt, die es unverwechselbar machten. Es war keine Pflanze die man überall auf der Wiese finden konnte, doch gab es einige Stellen in der näheren Umgebung von Steinthal an denen man es zuverlässig finden konnte. Die Meisten wussten um diese Stellen, da Honigkraut allgemein als Heilkraut bekannt war. Ria holte mit ihren Fingerspitzen ein wenig des Krautes heraus und warf es in den Topf mit hinein. „Hm, noch etwas mehr.“ sagte Moira, woraufhin Ria noch einmal etwa dieselbe Menge hinzugab. „Gut gut. Das sollte reichen. Jetzt müssen wir es einkochen lassen, bis es dickflüssig ist. Und ab und an Wasser nachfüllen, damit es nicht anbrennt. Haben wir noch Wasser da, Kind?“ Ria schaute in den Eimer, der nicht weit vom Herd stand, und der fast leer war. „Nur noch wenig. Ich werde frisches Wasser holen.“ Sie legte das Honigkraut zurück aufs Regal, und verließ dann die Hütte um den Eimer aufzufüllen. „Aber überanstrenge dich in deinem Zustand nicht, Kind.“ Ria drehte sich noch einmal um. „Seit wann kümmert es dich ob mich etwas anstrengt, alte Frau?“ fragte sie, ehrlich erstaunt. Das war nun wirklich nicht Moiras Art, sie hatte Ria noch nie geschont. Doch sie hatte sich schon wieder dem Topf zugewandt, rührte, summte vor sich her und tat so, als hätte sie Ria nicht gehört. Das entsprach nun schon eher ihrer Art. Es dauerte noch den Rest des Vormittags, den Sud einzukochen. Immer wieder gaben sie etwas Wasser dazu und ständig musste gerührt werden. Je länger es kochte, desto intensiver wurde der Geruch. Das honigsüße Aroma des Honigkrautes vermischte sich mit den anderen Zutaten zu einem schweren, durchdringenden Duft. Es wurde so heftig, dass es bei Ria die Übelkeit wieder hervorbrachte, die sie diesen Morgen schon gequält hatte. Als sie endlich fertig waren, war aus dem Sud eine dunkle, fast schwarze Flüssigkeit geworden, die Sirup ähnelte und in der die völlig ausgekochten Reste der Kräuter und Beeren schwammen. Vorsichtig füllten sie das Mittel aus dem Topf in einen irdenen Krug, wobei sie darauf achteten möglichst viel aus dem Topf herauszukratzen. Moira war dabei sehr gründlich um ja nichts zu verschwenden, und da Ria wusste wie häufig Moira diesen Sud benutzte, sei es zum Beispiel in heißem Wasser verdünnt gegen Husten oder als Wundsalbe auf Verbänden, wunderte sie das gar nicht. Da Licht scheinbar nicht gut für das Heilmittel war, kam noch ein großer Korken in die Öffnung des Kruges, und damit war das Mittel lagerfertig. „Das reicht für heute, Kind. Du kannst nach Hause gehen. Morgen Abend brauche ich dich wieder.“ „Morgen Abend? Aber dort werden wir anfangen den Frühjahrsbaum zu schmücken!“ widersprach Ria sofort. „Ach, euer Fest steht wieder an, was? Macht nichts, ich brauche dich trotzdem.“ Ria machte diese abfällige Art vom Frühjahrsfest zu reden, dem größten Fest des Jahres hier im Dorf und der ganzen Umgebung, wütend. „Jetzt hör mal zu: Euch Muren mit euren verqueren Traditionen mag das nichts bedeuten, doch dieses Dorf hat auch gewisse Traditionen. Und das Frühjahrsfest ist nicht nur Tradition, sondern auch eine Ehrerbietung an die Drachen, die den Winter haben enden lassen. Aber das wird euresgleichen wohl nie verstehen.“ Moira lächelte nur leicht. „Du solltest nicht vergessen, dass du noch in meiner Schuld stehst, Kind. Und rühmt ihr Schetten euch nicht damit, eure Schulden immer zu bezahlen, im Gegensatz zu uns unzuverlässigen Muren? Wenn du schon so viel Wert auf die Stämme gibst, dann solltest du vielleicht mal diese Tradition pflegen.“ Darauf konnte Ria nichts erwidern. Sie konnte nur dastehen und frustriert ihre Fäuste ballen. Es stimmte ja sogar was sie sagte, die Schetten waren dafür bekannt ihre Schulden sehr ernst zu nehmen, fast so bekannt wie die Muren für ihre Freiheitsliebe waren. „Dann sehe ich dich also morgen Abend, Kind. Weißt du, die Sache mit den Schulden ist etwas was ich durchaus schätze an euch Schetten. In der Hinsicht bin ich nämlich selbst eher ein altes Schettenweib.“ Damit drehte sich Moira um, mit ihrem typischen kratzigen Lachen, und Ria blieb nichts außer geschlagen die Hütte zu verlassen.

„Was hältst du von dem hier, Urs?“ fragte Matt und deutete auf einen stämmigen, gerade gewachsenen Baum. „Sieht zumindest gerade aus.“ antwortete Urs und blieb stehen. „Was denkst du Rhyn?“ Rhyn umrundete den Baum und schaute ihn sich genau an, betrachtete ihn von allen Seiten. „Kommst du mal zu einem Entschluss?“ fragte Matt nach, nachdem eine Weile vergangen war. „Gerade ist er, ja. Aber auch deutlich größer als letztes Jahr, und der war schon groß. Wir hätten schön was vor uns, den hier zurück zu schleifen. Und ich glaube, dass wir deutlich mehr Bänder bräuchten um ihn zu schmücken, weil er so dick ist.“ Rhyn grinste die anderen beiden kurz an. „Und ich will das den Frauen nicht beibringen, nur weil wir den erstbesten Baum nehmen wollten.“ Urs lachte. „Du hast Recht, das will ich auch nicht. Lass uns weitersuchen Matt.“ Matt hatte erst gar nicht auf das Ende des Gespräches gewartet, und war schon weitergelaufen. Rhyn und Urs folgten ihm. „Es ist gut, dass der Frühling endlich kommt. Der Winter war lang. Zu lang.“ sagte Urs. Rhyn nickte verständnisvoll, und sie gingen wieder eine Zeit lang schweigend weiter, die Augen immer offen nach einem geeigneten Baum. „Ich hatte wieder diesen Traum, Urs.“ fing Rhyn an. „Den mit den Wildschweinen und dem Feuer im Dorf?“ fragte Urs nach, obwohl er die Antwort erahnen konnte. „Genau. Er kommt immer wieder, und in letzter Zeit immer öfter.“ Rhyn klang besorgt, und das schien Urs auch zu bemerken. „Das wird schon wieder besser werden. Wer weiß schon was letzten Sommer mit dir in diesem Wald passiert ist. Du erinnerst dich ja selbst nicht mehr daran.“ Das war teilweise sogar wahr, Rhyn erinnerte sich nicht an viel. Mittlerweile war er sich ziemlich sicher, dass er sich an ein grünes, durchdringendes Auge erinnern konnte, und dass das nicht Teil eines Traumes gewesen war. Doch das hatte er für sich behalten, erschien es ihm doch sehr vage. „Aber im Moment wird es schlimmer. Und ich wache immer mit dem Gefühl auf etwas zu übersehen. Als wäre der Traum wichtig. Und er fühlt sich auch anders an, als andere Träume die ich habe. Irgendwie… realer.“ Urs legte ihm die Hand auf die Schulter. „Was redest du denn da? Was sollte es denn mehr sein als ein Traum? Die Ära von Visionen und Magie endete mit den Elfen, vor langer Zeit, wenn du das meinst.“ Rhyn wusste das natürlich. In allen Regionen des Landes gab es Geschichten über die alten Zeiten, als die Elfen mit Kunstfertigkeit und Magie das Land formten und große, unfassbare Städte errichteten. Hier in den vergessenen Landen, einem wirklich ländlichen, hinterwäldlerischen Gebiet, wahrscheinlich mehr noch als sonst wo. Hier war so viel unberührtes Land, dass man, wenn man sich in den tiefen Wäldern verirrte, sogar noch über alte unbekannte Elfenruinen stolpern konnte. „Du hast ja Recht, Urs. Du hast ja Recht…“ sagte Rhyn endlich. Doch seine Gedanken waren immer noch bei dem Traum, und Urs schien das auch zu bemerken „Komm, wir müssen jetzt einen guten Baum finden. Sonst hält Matt uns ein ganzes Jahr vor, dass er ja den Frühjahrsbaum gefunden hat und was für ein gutes Auge er doch dafür hat.“ Rhyn nickte. „Und das kann der Besitzer des Sägewerks natürlich nicht geschehen lassen!“ erwiderte er und gab Urs einen spielerischen Schlag an die Schulter. Sie verbrachten den Rest des Vormittags mit der Suche, und einen kleinen Teil des Nachmittags, bevor Rhyn die anderen rief. „Ich glaube ich habe einen!“ Urs und Matt kamen zu der Stelle an der sie Rhyn gehört hatten und begutachteten den Baum. Es war eine junge Birke mit schneeweißer Rinde, die nur vereinzelt dunkle Stellen aufwies. Es waren schon erste Knospen an den dünnen Ästen zu sehen, die bald zu feinen grünen Blättern werden würden. Er war etwa eineinhalb Mal so groß wie Urs, recht schlank und gerade gewachsen. Rhyn hatte es sich gut überlegt bevor er die Anderen gerufen hatte. Nachdem sie sich den Baum angeschaut hatten, nicken beide. „Der passt perfekt würde ich sagen. Birke ist sogar der Baum den man früher ausschließlich dafür genommen hat!“ sagte Urs. „Ich finde ihn ja ein bisschen klein.“ erwiderte Matt mit einem Augenzwinkern. „Du bist nur eingeschnappt, weil wir deinen Baum vorhin nicht gutgeheißen haben!“ Urs schubste Matt bei diesen Worten mit einem Arm zur Seite. „Nein, der wird es werden. Es ist Schicksal, dass Rhyn so einen guten Baum gefunden hat nach so einem harten Winter.“ sagte er weiter. „Na ja ich weiß ja nicht. Wir haben immerhin mehr als den halben Tag gesucht, wir hatten da sicher auch unseren Anteil daran.“ sagte Rhyn. „Wie auch immer. Fangen wir lieber an den Baum zu fällen, bevor aus dem halben der ganze Tag wird.“ unterbrach Matt sie, und nahm seine Axt. Urs nahm die Säge, die er mitgebracht hatte und reichte eine Seite Rhyn. „Dann wollen wir mal.“

Rhyn legte das Beil zur Seite, und betrachtete den Baum. Sie hatten ihn im Wald gefällt, auf Länge geschnitten und die größten Äste entfernt, damit sie ihn leichter zurück ins Dorf und zu Urs‘ Hütte bringen konnten. Dort hatten sie den Rest des Tages damit verbracht, die übrigen Äste zu entfernen und die Dicke des Stammes anzupassen, damit er in dem Loch halten würde, das für ihn vorgesehen war und nicht unten zu breiter und oben zu schmal war. „Sieht aus als wären wir fertig.“ Matt schaute zufrieden auf ihr Tagwerk. Rhyn war geschwitzt und die Arme taten ihm weh, aber auch war zufrieden mit ihrer Arbeit. Matt und Urs arbeiten jeden Tag auf diese Weise, Urs im Sägewerk, Matt mit seinem Vater beim Fässer binden, und sahen noch frischer aus als Rhyn sich fühlte. Er streckte sich und versuchte seine verspannten Muskeln zu lockern. „Sehr gut Rhyn, du machst dich schon warm!“ sagte Urs verschmitzt. Rhyn schaute ihn etwas gequält an. „Natürlich, hätte ich ja kommen sehen müssen.“ „Bist du etwa schon müde, Rhyn?“ fragte Matt ihn scheinheilig, während auch er begann seine Schultern zu lockern. „Für euch zwei reicht es noch.“ erwiderte Rhyn neckisch. Er wusste genau was jetzt noch kam. Auf dem Frühjahrsfest wurden jedes Jahr Wettkämpfe abgehalten, bei denen sich die Besucher des Festes miteinander in verschiedenen Disziplinen messen konnten. Sei es beim Laufen, Steine stoßen, Ringen, Bogenschießen oder dem Kämpfen mit dem Schwert, um die Wette musizieren oder bei Brettspielen, es war für jeden etwas dabei. Urs hatte den Titel des besten Schwertkämpfers schon mehrfach gewonnen, und war das ganze Jahr, aber besonders in der Zeit direkt vor dem Fest, immer froh um Trainingspartner. Rhyn selbst war ein besserer Schütze als Fechter, doch hatte ihn das regelmäßige Üben mit Urs und manchmal auch mit Matt auch zu einem passablen Kämpfer gemacht, zumindest verglichen mit der einfachen Bevölkerung. Urs hatte derweilen schon die Holzschwerter mit denen gefochten wurde, sowie die Schilde geholt. Er gab Rhyn ein Schwert und ein Schild und bewaffnete sich dann selbst. „Auf drei Treffer, und nach jedem Treffer wird getrennt, wie beim Fest auch, in Ordnung?“ sagte Urs noch einmal die Regeln an. „Natürlich. Matt machst du den Schiedsrichter?“