Historische Valenz - Albrecht Greule - E-Book

Historische Valenz E-Book

Albrecht Greule

0,0

Beschreibung

Das Interesse für die Anwendung der Valenztheorie auf die deutsche Sprachgeschichte besteht seit etwa fünfzig Jahren. Hierdurch lassen sich Grundlagen für ein besseres Verständnis der historischen deutschen Texte schaffen: Wenn die historischen Texte der Valenzanalyse unterzogen werden, fördert Die Beobachtung der semantischen und morphosyntaktischen Umgebung von Verben Erkenntnisse zutage, die in lexikalische Verzeichnisse Eingang finden. Damit stehen syntaktisch untersuchte Verben aller Sprachperioden bereit und bieten sich zum historischen Vergleich an. Aus diesem spezifischen Blickwinkel wird der Sprachwandel erfasst und erklärt. Diese Einführung gibt einen Überblick über die Forschungsaktivitäten im Bereich der deutschen Sprachgeschichte, die auf valenztheoretischer Grundlage ausgeübt werden, z.B. in den Bereichen Syntax, Phraseologie, lexikalische Semantik und Lexikografie.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 582

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Albrecht Greule / Jarmo Korhonen

Historische Valenz

Einführung in die Erforschung der deutschen Sprachgeschichte auf valenztheoretischer Grundlage

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung.

 

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISBN 978-3-8233-8478-6 (Print)

ISBN 978-3-8233-0306-0 (ePub)

Inhalt

VorwortEinleitungA. Deutsche Sprachgeschichte im Überblick1. Perioden der deutschen Sprachgeschichte2. Die Textüberlieferung in den historischen Sprachperioden3. Bibliografie der wichtigsten Grammatiken und Wörterbücher der deutschen SprachperiodenB. Der gegenwartssprachliche Valenzbegriff. Eine Zusammenfassung1. Prädikate, Ergänzungen, Angaben2. Verb-Aktanten-Konstellationen (VAK)C. Historische Valenz. Forschungsüberblick und Problembereiche1. Forschungsüberblick2. Probleme bei der Analyse der historischen Valenz3. Herausarbeitung der Verb-Aktanten-Konstellationen aus historischen TextenD. Valenz und Historische Grammatik1. Die Satzbaupläne im Zentrum der Syntax2. Von der Textanalyse zur Valenz und zu den Verb-Aktanten-Konstellationen3. Die linguistische Ersatzkompetenz (Prokompetenz)4. Vom historischen Korpus zur Valenz und zu den Satzbauplänen (Methoden)5. Die Satzbaupläne, Satzmodelle oder Satzmuster im Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutschen sowie im (Älteren) Neuhochdeutschen6. Die „logisch-grammatischen Satztypen“ in der deutschen Sprachgeschichte7. Polyvalenz in der deutschen Sprachgeschichte8. Historische Valenz und Wortbildung9. Historische Valenz und verbale Wortfelder10. Historische Valenz und Phraseologie11. Historische Valenz und Funktionsverbgefüge12. Historische Valenz und Textgrammatik13. Pragmatische Valenz historisch14. Historische Valenz und KonstruktionsgrammatikE. Historische Valenz und Lexikografie1. Historische Valenzlexika und valenzbezogene Informationen in historischen Allgemeinwörterbüchern des Deutschen2. Methoden der historischen Valenzlexikografie3. Projekte zur historischen Valenzlexikografie (HSVW, KHVL, MSVW)4. Historische Valenz und Digital HumanitiesF. Valenzwandel und Valenzentwicklung1. Valenzwandel: Satzglied- und Attributklassen2. Entwicklung der Valenz ausgewählter Verben und Verbphraseme vom Althochdeutschen bis zum heutigen Deutsch3. Valenzgeschichte(n)G. Lexikografischer Anhang1. Ausschnitt aus dem Syntaktischen Verbwörterbuch zu den althochdeutschen Texten des 9. Jahrhunderts (Greule 1999, 300)2. Probeartikel zum Mittelhochdeutschen syntaktischen Verbwörterbuch (MSVW)3. Probeartikel zum Historisch syntaktischen Verbwörterbuch (HSVW)4. Probeartikel zum Kleinen historischen Valenzlexikon (KHVL)Literatur zur Historischen ValenzVerzeichnisse1. Wörterbücher2. KorporaVerfasser- und QuellenregisterSachregister

Vorwort

Mit dem vorliegenden Handbuch, für dessen Inhalt wir gemeinsam verantwortlich zeichnen, wollen wir zum einen einen Überblick über die verschiedenen Forschungsaktivitäten im Zusammenhang mit der Übertragung der Valenztheorie auf die Beschreibung des Deutschen unter sprachgeschichtlichem Gesichtspunkt bieten und zum anderen die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Valenzmodells für die Erfassung des Sprachwandels und damit für die Schaffung von Voraussetzungen für ein besseres Verständnis historischer Texte lenken. Bei der Beschäftigung mit älteren Texten in lexikalischer, syntaktischer, phraseologischer und semantischer Hinsicht stellen synchronsynchron und diachrondiachron angelegte Wörterbücher ein unverzichtbares Hilfsmittel dar, und gerade auf dem Gebiet der Erstellung historischer lexikografischer Nachschlagewerke hat die Valenztheorie in den letzten Jahrzehnten wichtige Ansätze entwickelt. Entsprechend bildet die historische ValenzlexikografieValenzlexikografie neben der Erläuterung von Beziehungen zwischen Valenz und historischer Grammatik sowie von Aspekten des ValenzwandelsValenzwandel und der ValenzentwicklungValenzentwicklung einen deutlichen Schwerpunkt in unserem Buch.

Das Interesse für die Anwendung der Valenztheorie auf die deutsche Sprachgeschichte erwachte vor rund 50 Jahren. Bereits in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre haben wir uns ‒ unabhängig voneinander ‒ vorgenommen, jeweils einen umfangreicheren Text mit valenzbasierten Methoden zu analysieren. In der Abhandlung von Albrecht Greule diente das „EvangelienbuchEvangelienbuchOtfrid von Weißenburg“ Otfrids von WeißenburgOtfrid von Weißenburg, in der von Jarmo Korhonen der Sermon „Von den guten Werken“ von Martin LutherLuther, Martin als Untersuchungsmaterial. Seitdem haben wir uns fast ununterbrochen mit dem Problemkomplex Valenztheorie und historische deutsche Sprachwissenschaft befasst und dazu mehrere Publikationen in unterschiedlicher Form vorgelegt. Unsere Zusammenarbeit hat sich in letzter Zeit besonders dadurch verstärkt, dass Jarmo Korhonen mit Hilfe eines Forschungsstipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung in den 2010er-Jahren am Institut für Germanistik der Universität Regensburg arbeiten konnte. Während dieser Zeit hat Albrecht Greule eine Idee entwickelt, einerseits ein umfassendes Historisch syntaktisches Verbwörterbuch mit Schwerpunkt auf der Valenz und andererseits ein Kleines historisches ValenzlexikonValenzlexikon zu erarbeiten.

Ende der 1970er-Jahre intensivierten sich die Forschungen zur historischen Valenz erheblich, sodass Albrecht Greule im Jahr 1982 einen diesbezüglichen Sammelband („Valenztheorie und historische Sprachwissenschaft“) herausgeben konnte. Schon damals zeigte sich, dass die einschlägigen Untersuchungen trotz der gemeinsamen theoretischen Grundlage recht divergent waren, was sich z.B. in den Methoden, der Terminologie und der Kennzeichnung der valenzbedingtenvalenzbedingt Bestimmungen (ErgänzungenErgänzung) widerspiegelte. Auch spätere historische Valenzstudien sind durch eine ähnliche Differenziertheit geprägt, weshalb wir uns entschieden haben, für unsere Darstellung keine formale Einheitlichkeit anzustreben, sondern die herangezogenen Publikationen etwa in Bezug auf die Gestaltung der Symbole von Ergänzungen unverändert zu dokumentieren und bei Bedarf kritisch zu besprechen.

Unsere Arbeit im Bereich der historischen Valenzforschung ist außer von der Alexander von Humboldt-Stiftung auch von der germanistisch-romanistischen Forschergemeinschaft CoCoLaC (Contrasting and Comparing Languages and Cultures) in der Abteilung für Sprachen der Universität Helsinki gefördert worden. Es konnten beispielsweise mehrere Arbeitstreffen und kleinere Kolloquien, auf denen wir unsere Überlegungen und Forschungsergebnisse präsentieren konnten, abwechselnd in Regensburg und Helsinki stattfinden. Beiden Institutionen sind wir zu Dank verpflichtet, desgleichen sprechen wir der Alexander von Humboldt-Stiftung für die Bewilligung einer großzügigen Druckkostenbeihilfe einen verbindlichen Dank aus. Schließlich danken wir dem Verlag für die gute Betreuung bei der Erstellung der Druckvorlage.

 

Regensburg und Helsinki, im März 2021

Albrecht Greule und Jarmo Korhonen

Einleitung

„Viel stärker noch als bei der Beobachtung der Gegenwartssprache stoßen wir beim Lesen älterer Texte auf Zeichen der Veränderung. […] Dies macht sich durch zahlreiche Verständnisprobleme fortwährend bemerkbar. Je älter ein Text ist, umso mehr häufen sie sich. […] Das Gute an den Schwierigkeiten im Umgang mit historischen Texten ist aber, dass sie uns die Tatsache der geschichtlichen Entwicklung einer Sprache nachhaltig verdeutlichen. […] Sprachgeschichtliche Kenntnisse helfen uns dabei, diese älteren Texte – und damit die Gedanken und Konzepte vorangegangener Generationen – richtig einzuordnen“.1

Im Vorwort zu seinem Werk betont JÖRG RIECKE darüber hinaus, dass es in der Sprachgeschichte um Grundlagen des Textverständnisses, um ein Verständnis für den Wandel von Kommunikationsformen und um Einblicke in den historischen Wandel bei der Erfassung und Interpretation unserer Welt geht.

Wir sind der Überzeugung, dass die Übertragung des aus den praktischen Belangen des Deutsch-als-Fremdsprache-Unterrichts der 1960er-Jahre entwickelten Valenzmodells auf die deutsche Sprachgeschichte den Ansprüchen an die Sprachgeschichtsschreibung, besonders dem Anspruch, Grundlagen des Textverständnisses zu schaffen, Vorschub leistet. Wir sehen dies darin begründet, dass die Beobachtung der semanto- und morphosyntaktischenmorphosyntaktisch Umgebung – in erster Linie – von Verben, wenn die historischen Texte der Valenzanalyse unterzogen werden, Erkenntnisse zutage fördert, die dann in lexikalische Verzeichnisse (analog oder digital) Eingang finden. Damit stehen syntaktisch untersuchte Verben aller Sprachperioden bereit und bieten sich zum historischen Vergleich an. Aufgrund der „ValenzgeschichteValenzgeschichte“, die für je ein Verb das syntaktische Verhalten und die semantische Entwicklung vom Ahd. bis zum Nhd. beschreibt, wird aus einem spezifischen Blickwinkel der Sprachwandel erfasst und erklärt. Die wichtigsten Beschreibungs- und Forschungsbereiche der historischen Valenz sind demnach Syntax, Phraseologie, lexikalische Semantik und Lexikografie.

Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut. Zunächst erhalten die Leser einen knappen Einblick in die (periodisierte) deutsche Sprachgeschichte (Kapitel A), um die zeitlichen Dimensionen, die Textmenge und Themenfülle kennenzulernen, auf die sich die valenzbasierte Text- und Satzanalyse erstreckt. Kapitel B fasst den Forschungsstand zur gegenwartssprachlichen Valenztheorie zusammen. In Kapitel C geht es um die Probleme der Übertragung des ValenzbegriffsValenzbegriff in die deutsche Sprachgeschichte. Die Kapitel D und E präsentieren die Ergebnisse historischer Valenzforschung auf dem Gebiet der Grammatik und der Lexikografie, den Hauptgebieten der Anwendung der sprachhistorischen Valenz. Kapitel F beschreibt den Sprachwandel, soweit die Verbvalenz erklärend dazu beiträgt. Die aus unterschiedlichen Perspektiven verfassten Probeartikel zu Historischen VerbvalenzwörterbüchernValenzwörterbuch des Deutschen füllen den umfangreichen Anhang (Kapitel G).

A.Deutsche Sprachgeschichte im Überblick

1.Perioden der deutschen Sprachgeschichte

Auf der Grundlage der schriftlichen Überlieferung ergibt sich folgende Einteilung der Entwicklung der deutschen Sprache in zeitliche Abschnitte. Die zeitlichen Grenzen sind ungefähre und gerundete Jahreszahlen. Neben den im hochdeutschen Sprachraum entstandenen Texten findet auch die Entwicklung im niederdeutschen Sprachraum Berücksichtigung.

1.1

Die althochdeutsche (und altsächsische) Zeit ca. 750‒1050 (ahd.) bzw. 9.‒12. Jh. (as.)

1.2

Die mittelhochdeutscheMittelhochdeutsch (und mittelniederdeutscheMittelniederdeutsch) Zeit ca. 1050‒1350 (mhd.) bzw. ca. 1200‒1650 (mnd.)

1.3

Die frühneuhochdeutscheFrühneuhochdeutsch Zeit ca. 1350‒1600 (fnhd.)

1.4

Das NeuhochdeutscheNeuhochdeutsch ab ca. 1600 (nhd.)

1.1AlthochdeutschAlthochdeutsch und Altsächsisch

Das Ahd. wird von dem sprachhistorisch nah verwandten AltsächsischenAltsächsisch durch den geografischen Raum, in dem es schriftlich festgehalten wurde, und durch lautliche Differenzen unterschieden. Die altsächsischen (altniederdeutschen) Aufzeichnungen weisen keine Reflexe der Zweiten (hochdeutschen) Lautverschiebung (germanisch /p, t, k/ > ahd. /ff, zz, hh/ bzw. /pf, tz, kch/) auf, sondern bewahren den germanischen Lautstand. Der Raum, in dem ahd. geschrieben wurde, wird durch die folgenden Schreiborte (Klöster, Bischofssitze) markiert: Trier, Echternach, Köln, Aachen, Mainz, Lorsch, Speyer, Frankfurt, Fulda, Würzburg, Bamberg, Weißenburg, Murbach, Reichenau, St. Gallen, Freising, Regensburg, Salzburg, Tegernsee, Passau, Mondsee. Nach der Unterwerfung des Stammes der Sachsen durch Karl den Großen (804) wurden altsächsische Texte zum Zweck der Christianisierung der Sachsen verfasst und niedergeschrieben (vgl. das Altsächsische Taufgelöbnis). Als Grenze zu dem ahd. Gebiet wird die Benrather Linie (auch maken-machen-Linie) angenommen, eine gedachte Linie, die vom Rhein bei Düsseldorf nach Nordosten verläuft und die heutigen hochdeutschen Mundarten im Süden von den niederdeutschen im Norden trennt.

Die ahd. Schriftlichkeit setzt im 8. Jh. ein (siehe Kapitel A.2). Die historischen Rahmenbedingungen dazu schufen die (fränkischen) Karolinger, deren Reich mit dem Tod Kaiser Karls III. anno 888 endete. Insbesondere die Kirchen- und Bildungsreform Kaiser Karls des Großen (geb. 747 oder 748, gest. 814 in Aachen) ist die Ursache dafür, dass „im ahd. Sprachraum Grundlagentexte des christl. Glaubens, der kirchlichen Praxis, der kulturell-politischen Auseinandersetzung und der schulischen Lektüre glossiert, übersetzt, kommentiert und zur Dichtung umgestaltet“ wurden.1

Nach den herausragenden Werken des St. Galler Mönchs Notker III.Notker III. (†1022) findet die ahd. Phase unter dem Geschlecht der Salier (1024‒1125) mit den um die Mitte des 11. Jh. verfassten Schriften ihr Ende und geht allmählich ins Frühmhd. über. Williram von Ebersberg (†1085) widmete seine ahd. Hoheliedparaphrase Heinrich IV., römisch-deutscher König seit 1056.

1.2MittelhochdeutschMittelhochdeutsch

Während das Ahd. eine Sammelbezeichnung für die Schriftzeugnisse der „Stammesdialekte“ Fränkisch, Alemannisch und Bairisch ist und es noch keine „deutsche“ Sprachgemeinschaft gab, verfestigte sich der um 1090 im vermutlich in Siegburg verfassten Annolied auftauchende Ausdruck diutsch (diutischin sprechin ‚deutsch sprechen‘) als Sprachbegriff. Er findet sich weiterhin in Texten des 11. und 12. Jh. aus allen Mundartgebieten und wird zum Volks- und Raumbegriff (diutschi liute). Der politische Hintergrund für diese Entwicklung ist die Machtentfaltung des (ehemals ostfränkischen) Reiches zur Zeit der salischen (1024‒1125) und staufischen (1125‒1250) Kaiser, auf die im letzten Jh. der mhd. Periode (1250‒1350) als Folge des Interregnums (1254‒1273) wechselnder Herrscherhäuser und territorialer Gewalten der Niedergang folgte.

Der Wechsel der politischen Herrschaft im deutschen Reich ermöglicht es, das Mhd. in drei Phasen einzuteilen:

Frühmhd. (während der Zeit der Salier etwa ab 1050 bis 1125)

Klassisches (höfisches) Mhd. (während der Zeit der Staufer)

Spätmhd. (vom Ende der Staufer bis zu den Mystikern im 14. Jh.)

Die frühmhd. Texte, die besonders im bairisch-österreichischen Raum entstanden (vgl. zuerst das um 1060 verfasste Ezzolied), gehen auf die Wirkung der in Deutschland seit 1070 wirksamen cluniazensischen Klosterreform zurück. Sie verfolgten die Absicht, auch dem Laienstand das asketische Ideal des Mönchtums nahezubringen. Die Verfasser waren vorrangig Geistliche. Ebenfalls von Geistlichen, die aber im Dienst adliger Auftraggeber standen, wurden Versepen verfasst (z.B. das Rolandslied des Pfaffen Konrad, 1170), die auf die aventiure-Romane der höfischen Zeit vorverweisen.2

MittelhochdeutschDie Literatur zur Zeit der Staufer wird von den ritterlichen Epen, der Minne- und Kreuzzugslyrik bestimmt, besonders durch die Werke Hartmanns von AueHartmann von Aue, Wolframs von EschenbachWolfram von Eschenbach, Parzival, Gottfrieds von StraßburgGottfried von Straßburg, Tristan und Isolde, des anonymen Nibelungenlied-DichtersNibelungenlied und Walthers von der Vogelweide. Die Dichtungen der klassischen Autoren sind rhetorisch geformt und von einem speziellen, teils aus dem Französischen entlehnten Wortschatz geprägt, in dem sich das Ideal der ritterlichen Lebensführung ausdrückt. Die „mhd. Dichtersprache“ war auch in der Weise überregional angelegt, als sich im Sprachgebrauch der Dichter um 1200, besonders in den Reimen, eine Vermeidung von Dialektismen und eine Tendenz zum Dialektabbau feststellen lässt.3 Die lautliche Abgrenzung des Mhd. vom Ahd. wird vor allem an der „Nebensilbenabschwächung“ sichtbar. Das bedeutet, dass die im Ahd. noch vollen Vokale der unbetonten Silben im klassischen Mhd. als einförmiges <e> erscheinen oder durch Synkope oder Apokope ausfallen. Dem ahd. sálbōta entspricht mhd. salbete, nhd. salbte.

Spätmhd. Phase (ca. 1250 ‒ ca. 1350): Seit dem 13. Jh. finden immer mehr Menschen Zugang zur Schriftlichkeit. Die Zahl der Städte stieg in Mitteleuropa zwischen 1200 und 1500 von ca. 250 auf ca. 3000. Die Städte boten in den unsicheren Zeiten Schutz. Es bildeten sich neue Kommunikationsgruppen; die Kaufleute brauchten Schulen, in denen Lesen, Schreiben und Rechnen in deutscher Sprache gelernt werden konnte. In diese Zeit fällt der Verfall der höfischen Dichtersprache; das höfische Ideal wurde in den Dichtungen der Zeit zur Mode stilisiert oder von realistischer Dichtung (z.B. Werner der Gartenaere, „Meier Helmbrecht“) verdrängt. Gegenüber dem Versepos in Reimpaaren gewinnen Texte in Prosa die Oberhand. Einerseits ist es die von den Angehörigen des Franziskaner- und Dominikanerordens gepflegte geistliche Predigt (z.B. Berthold von Regensburg), andererseits Fachliteratur, insbesondere die des Rechtswesens. Zuerst wurden Urkunden, in der Mitte des 13. Jh. im Südwesten, in deutscher Sprache ausgestellt. Der Beginn der Rechtskodifikation, z.B. im Sachsenspiegel, fällt in die mittelniederdeutscheMittelniederdeutsch Zeit (s.u.). Für das Geschäfts- und Rechtswesen sind die im Sprachgebiet verbreiteten herrschaftlichen Kanzleien wichtig. Aufgrund der hier verschrifteten Texte können verschiedene Schreiblandschaften ausfindig gemacht werden. Am Ende der spätmhd. Phase stehen die Mystiker und Mystikerinnen (z.B. Mechthild von Magdeburg, Meister EckhartMeister Eckhart), die ihre „Gottsuche und Gotteserkenntnis“4 in mhd. Prosa zum Ausdruck brachten. Den Übergang zur neuen Epoche markiert der Weltgeistliche Konrad von Megenberg, dessen für Laien in Prosa verfasstes naturkundliches „Buch der Natur“ (1348/1350) mit mehr als 100 Handschriften weite Verbreitung fand.

Das MittelniederdeutscheMittelniederdeutsch (von ca. 1200 bis ca. 1650) schließt an das AltsächsischeAltsächsisch an. Sprachräumlich umfasste das Mnd. ganz Norddeutschland und wurde zur Zeit der Hanse die führende Schreibsprache im Norden Mitteleuropas und Lingua franca in der Nordhälfte Europas. Bereits seit dem 12. Jh. trug die Einwanderung deutschsprachiger Siedler vorwiegend aus Flandern, Holland, dem Rheinland und Westfalen in die von Slawen besiedelten Gebiete östlich von Saale und Elbe (Deutsche Ostsiedlung) zur Erweiterung des Sprachgebiets bei. Es entstanden der niederdeutsche Dialekt ostelbisch und der ostmitteldeutsche Raum, dem Martin LutherLuther, Martin entstammte. Wichtige mnd. Sprachdenkmäler sind der Sachsenspiegel Eikes von Repgow, ein um 1225 entstandenes Rechtsbuch, die Sächsische Weltchronik (13. Jh.), das Redentiner Osterspiel (Handschrift 1464), der Frühdruck der Lübecker Bibel (1494) und das Tierepos Reynke de vos (1498 gedruckt in Lübeck).

MittelhochdeutschDer Untergang des MittelniederdeutschenMittelniederdeutsch, jener neben dem Mhd. existierenden deutschen Varietät mit überregionaler Verbreitung, wurde auch ‒ als Folge der Reformation ‒ durch die Ausbreitung des „Meißnischen“, der durch LuthersLuther, MartinBibelübersetzungLuther-Bibel geschaffenen Schreibsprache, bewirkt.

1.3FrühneuhochdeutschFrühneuhochdeutsch

Die Gründe, dass zwischen den Perioden Mhd. und Nhd. eine Epoche, das Fnhd., eingeschoben wird, liegen bei zwei weltgeschichtlichen Ereignissen, die für die Entwicklung der deutschen Sprache von großer Bedeutung waren: Um 1450 wurde der Druck mit beweglichen Metalllettern erfunden, und in der Folge der Reformation übersetzte Martin LutherLuther, Martin (1483‒1546) die Bibel ins Deutsche. Im September 1522 erschien seine Übersetzung des Neuen Testaments als gedrucktes Buch zur Leipziger Buchmesse. Luther legte damit und mit den späteren Bibeldrucken den Grundstein für die Herausbildung einer einheitlichen deutschen Schriftsprache.5

LutherLuther, Martin selbst bekannte, dass er nach der sächsischen Kanzlei „rede“, und lenkte damit den Blick auf die Rolle der sogenannten Kanzleisprachen und ihre Wirkung als schreibsprachliche Vorbilder im 14. und 15. Jh. Ab der Mitte des 14. Jh. erhöht sich die Zahl der Texte je Textsorte, vor allem die Zahl der Gebrauchstexte, nicht zuletzt befördert durch die Verbreitung des Schreibstoffs Papier. In diesem Zusammenhang wuchs auch die Zahl der Schreib- und Schriftkundigen an. Vor allem die Kanzleien sind die Schreibstätten, wo das Schrifttum der herrschaftlichen Verwaltung durch Notare und Schreiber auch in deutscher Sprache produziert wurde. Aufgrund der zunächst nur regionalen (territorialen) Verbreitung der in den Kanzleien hergestellten Schriften entwickelten sich in den Kanzleien spätmittelalterliche Schreibdialekte. Unter ihnen kam der Schreibsprache der kaiserlichen Kanzlei eine gewisse Vorbildfunktion zu.

In der Kanzlei des späteren Kaisers Karl IV. wurden um 1350 die Ergebnisse der nhd. Monophthongierung (mhd. /ie uo üe/ > nhd. /i: u: y:/) und der nhd. Diphthongierung (mhd. /i: u: y:/ > nhd. /ei au eu/) geschrieben und erlangten Vorbildfunktion für den Schreibusus auch anderer Kanzleien. Beide Lautentwicklungen gelten als die deutsche Sprache charakterisierende Erscheinungen und werden als Hauptmerkmale genannt, durch die sich das Mhd. vom Fnhd. abgrenzt.

Die führende Rolle für die Sprachentwicklung übergaben die Kanzleisprachen im Lauf des 16. Jh. an die städtischen Druckerzentren. Es entstanden regionale Druckersprachen. Mit der gedruckten Bibelübersetzung durch Martin LutherLuther-Bibel, der sich an Tendenzen zur Bildung überregionaler deutscher Schriftlichkeit anschließen konnte, bildete sich nach 1500 eine bislang fehlende deutsche Leitvarietät aus, die auch dank der Tatsache, dass die Druckerzeugnisse einen großen Absatzmarkt brauchen, geografische Verbreitung fand, zuerst in den protestantischen, danach auch in den katholischen Herrschaftsgebieten. Nachdem der deutschen Sprache dank der Bibelübersetzung der Rang einer heiligen Sprache zuerkannt worden war, sind erste Werke der Sprachkultivierung zu verzeichnen, d.h., es entstanden grammatische Darstellungen, die auf das einheitliche Lesen und Schreiben ausgerichtet waren.

1.4NeuhochdeutschNeuhochdeutsch

Die Abgrenzung und der Beginn der nhd. Periode der deutschen Sprachgeschichte ist nicht einheitlich. Bisweilen setzt man den Schnitt zwischen Fnhd. und Nhd. auch erst mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) an. Dies bedeutet aber, dass die Zäsur in der Mitte des 17. Jh. nicht nur die Epoche der deutschen Literaturgeschichte (Literatur des Barock), sondern auch wichtige sprachgeschichtliche Entwicklungen, die die Zeit des Barock mitprägen, auseinanderreißen würde.6 Man teilt das Nhd. beginnend mit dem Barock (17. Jh.) in drei Phasen ein:

Das Ältere Nhd.NeuhochdeutschÄlteres 1600 ‒ ca. 1800 (änhd.)

Das Jüngere Nhd.NeuhochdeutschJüngeres ca. 1800‒1950 (jnhd.)

Nhd. Gegenwartssprache seit ca. 1950 (nhd.)

Das Ältere Nhd.NeuhochdeutschÄlteres: Der Dreißigjährige Krieg hinterließ ein verwüstetes Land und brachte dem Deutschen Reich einen politischen und ökonomischen Rückschlag. Am Ende des Krieges hatte sich Frankreich als führende Macht in Europa etabliert. Der französische Hof wurde zum Vorbild der absolutistischen Territorialfürsten, was eine besonders starke Einwirkung auf die deutsche Sprache durch die Übernahme zahlreicher Lehnwörter aus dem Französischen hatte und zu der häufig kritisierten deutsch-französischen „Mischsprache“ (Alamodewesen) führte. Außer der durch die Sprachkritik angeregten Sprachreflexion bekam die deutsche Sprachkultivierung noch vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges einen weiteren Impuls. Infolge der Gründung der ersten der barocken, primär adeligen Sprachgesellschaften im Jahr 1617 durch Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen bildeten sich im 17. Jh. neue Zentren der Sprachreflexion, Sprachkultivierung und literarischen Produktion heraus. Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft war auch Martin Opitz, der mit dem „Buch von der deutschen Poeterey“ (1624) eine Literaturreform herbeiführte und einem der drei bestimmenden Prinzipien der Sprachreflexion, der Sprachschönheit, zur Geltung verhalf. Neben den Prinzipien der Sprachschönheit und Sprachreinheit beschäftigte man sich mit der Sprachrichtigkeit und der Norm einer Leitvarietät des Deutschen. Zwei weiteren Zielen, die Georg Philipp Harsdörffer im Programm der Spracharbeit formulierte, nämlich die Erarbeitung eines Wörterbuchs und einer der Sprachrichtigkeit verpflichteten, normativen Grammatik, kam man näher: Dominant war in dieser Zeit die „Teutsche Sprachkunst“ (1641) von Justus Georg Schottel; aus der theoretischen Diskussion über das Verfassen eines Wörterbuchs ging gegen Ende des Jahrhunderts das normierende Wörterbuch von Kaspar Stieler „Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs / oder Teutscher Sprachschatz“ (1691) hervor. Dass die überregionale Verständlichkeit schriftlich verfasster und öffentlicher Texte erreicht war, zeigt die Zeitungssprache. Erstmals 1609 erschienen periodische Wochenzeitungen, ab Mitte des Jahrhunderts auch erste Tageszeitungen.

Den Übergang vom 17. zum 18. Jh., dem Zeitalter der Aufklärung, innerhalb des Älteren Nhd.NeuhochdeutschÄlteres, markiert Johann Christoph Gottsched (1700‒1766), dessen maßgebliche Grammatik „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“ ab 1748 erschien. In seinem „Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen“ (Leipzig 1729/1730) begründete Gottsched den Zusammenhang von Vernunft und Sprachgebrauch und setzte Maßstäbe der Sprachnorm, die im Laufe des 18. Jh. sowohl in den katholischen Regionen Süddeutschlands akzeptiert wurde als sich auch im niederdeutschen Norden als Schriftsprache (Meißnisch) ausbreitete. Dass das Hochdeutsche nun im gesamten deutschen Sprachraum Geltung besaß, ist auch den an verschiedenen Orten erscheinenden Zeitungen zu verdanken.

NeuhochdeutschKritik an der von Gottsched mit Absolutheitsanspruch vorgetragenen Sprachreform regte sich auf Seiten der Dichter. Zu nennen sind in diesem Kontext besonders Friedrich Gottlieb Klopstock (1724‒1803), Gotthold Ephraim Lessing (1729‒1781) und Christoph Martin WielandWieland, Christoph Martin (1733‒1813). Zu den Kritikern gehörte auch Johann Christoph Adelung (1732‒1806), der mit dem „Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart“ (1774–1786) nicht mehr Normen setzen, sondern den tatsächlichen Sprachgebrauch (der oberen Stände Obersachsens) beschreiben wollte. Adelungs großes neues deutsches Wörterbuch wurde mit Gewinn von den Klassikern und gebildeten Bürgern benutzt.

Zwischen Älterem und JüngeremNeuhochdeutschJüngeres Nhd.NeuhochdeutschÄlteres: Die politischen und literaturgeschichtlichen Ereignisse zwischen 1789 und 1830/1832 erfordern es, dass die Sprachgeschichtsschreibung eine die deutsche Literatur und Sprache entscheidend prägende Epoche einblendet und die Epochengrenze ca. 1800 gleichsam überspringt. In den Vordergrund treten dabei die literarischen Werke der Weimarer Klassiker und der Romantiker; insbesondere geht es um die Literatursprache GoethesGoethe, Johann Wolfgang von und SchillersSchiller, Friedrich von. Wie die Klassiker verhielten sich auch die Romantiker ablehnend gegenüber der Französischen Revolution von 1789. (Als Dichter des „Sturm und Drang“ werden Goethe und Schiller auch der Periode des Älteren Nhd. zugeordnet.) Seit Beginn des 19. Jh. wird die auf der klassischen Literatursprache beruhende Norm zur Gebrauchsnorm der Schriftsprache überhaupt; eine überregional verständliche Schriftsprache ist vorhanden. Sie war die Sprache der in ganz Europa anerkannten klassischen Literatur und prägte das „bürgerliche Sprachempfinden“7 im gesamten 19. Jh.

Das Jüngere Nhd.NeuhochdeutschJüngeres: Der Tod GoethesGoethe, Johann Wolfgang von im Jahr 1832 markiert das Ende der Zeit, in der die für die deutsche Literatur- und Schriftsprache vorbildlichen Werke geschaffen wurden. Das 19. Jh. ist danach durch die Festigung und Verbreitung der literatursprachlichen Norm, zu deren Durchsetzung besonders in Norddeutschland die Zeitungen einen wichtigen Beitrag leisteten, gekennzeichnet. Der Gebrauch der perfekten Schriftsprache wurde durch das Lesen der richtigen Bücher (z.B. der Ausgabe von Goethes Werken), durch Sprachratgeber, Lehrbücher und Briefsteller garantiert. Von besonderer Bedeutung waren das „Vollständige Orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache“ (1880) von Konrad Duden und die „Deutsche Bühnenaussprache“ (1889) von Theodor Siebs. Nicht den aktuellen Sprachgebrauch beschreiben oder regeln wollten die Brüder Jacob und Wilhelm GrimmGrimm, Jacob und Wilhelm. In der Tradition der Romantik stehend erforschten sie die Geschichte der deutschen Sprache und begründeten durch Werke wie die „Deutsche Grammatik“ (1819‒1837) und das „Deutsche Wörterbuch“ (1. Band 1854, 33. und letzter Band 1971) eine deutsche Nationalphilologie. In den von den Brüdern Grimm verfassten und in mehreren Ausgaben überarbeiteten „Kinder- und Hausmärchen“ (1. Auflage 1812‒1815) ist die dafür als Volkspoesie konzipierte Sprache bis heute verbreitet und bekannt.

NeuhochdeutschNach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 erhielt der gegen französische Einflüsse auf die deutsche Sprache gerichtete Sprachpurismus Auftrieb. Behörden griffen regulierend, z.B. bei Post, Eisenbahn und Militär, in den „Sprachenkampf“ durch Verdeutschungen ein. Nach der Gründung des „Allgemeinen deutschen Sprachvereins“ (1885) wurde die Sprachreinigung fast zu einer populären Bewegung. Noch zuvor war der „Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein“ (1863) entstanden und wurde die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ (1869) gegründet. Damit etablierte sich ein Arbeiterbildungswesen, das die literatursprachliche Norm akzeptierte. Die Teilnahme der Bevölkerung am öffentlichen politischen Leben und die Rolle, die die Sprache in der öffentlichen Auseinandersetzung jetzt spielte, führten im Gefolge des Ersten Weltkriegs zur Politisierung der Sprache. Von den Schrecken des Ersten Weltkriegs sind die expressionistischen Dichtungen (1906‒1923) geprägt, in deren besonderem Sprachstil sich die Krise der bürgerlich-imperialistischen Gesellschaft abzeichnet.

Mit der Herrschaft der Nationalsozialisten (1933‒1945) war der öffentliche Sprachgebrauch vom nationalsozialistischen Sprachstil und von den durch den Rundfunk ins ganze Land verbreiteten Hetz- und Hassreden der Nazigrößen dominiert. Für seine Kritik des nationalsozialistischen Sprachgehabes ist besonders Victor Klemperer, der Autor der „Lingua Tertii Imperii“ (1947), bekannt geworden. Ein herausragendes Zeichen der Auseinandersetzung mit der durch den Nationalsozialismus „vergifteten“ deutschen Sprache nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte die von Dolf Sternberger herausgegebene Sammlung „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ (1957).

NeuhochdeutschGegenwartssprache: Die von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs 1945 befreiten Länder Deutschland und Österreich waren zunächst in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 war der öffentliche politische Sprachgebrauch vom sogenannten Ost-West-Konflikt in der deutschen Sprache, der sich schon ab 1945 in den Tageszeitungen andeutet, beherrscht. Der Konflikt wurde theoretisch durch die Vier-Varianten-Theorie untermauert, die besagt, dass es gemäß den deutschsprachigen Staaten, Bundesrepublik Deutschland, DDR, Österreich und Schweiz, auch vier offizielle Varianten des Deutschen gibt. Durch die Wiedervereinigung 1989 und die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland existierte auch das „DDR-Deutsch“ außer in Regionalismen nicht weiter.

Als die zentrale außeruniversitäre Einrichtung zur Erforschung und Dokumentation der deutschen Sprache der Gegenwart wurde 1964 das Institut für Deutsche Sprache (IDS), jetzt Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, gegründet. Im Fokus der sprachwissenschaftlichen Forschung der deutschen Sprache der Gegenwart standen und stehen: die Sprache der Werbung (in allen Medien), die Sprache der Jugend und der Jugendkultur, die Sprache der Politiker, die Entwicklung der Dialekte zu Regionalsprachen, neuerdings die Sprachstile der „neuen Medien“, die durch die breite Nutzung der Sozialen Netzwerke (z.B. Facebook) und des Smartphones präsent sind. Als wichtige Institutionen der Sprachkultivierung und Sprachberatung wirken die bereits 1947 gegründete Gesellschaft für deutsche Sprache und die Duden-Redaktion. Sprachwissenschaftlich festgestellt werden Tendenzen, wie die deutsche Gegenwartssprache sich unter dem Einfluss der medialen und gesellschaftlichen Diskurse entwickelt. Dazu gehören z.B. der seit 1945 wachsende Einfluss des amerikanischen Englisch, der Übergang von einer literaturgeprägten Schriftsprache zu sprechsprachlichen Stilen, verbunden mit der Neigung zu kürzeren Sätzen und erweiterten NominalgruppenNominalgruppe, und die Änderung der Satzklammer.8Neuhochdeutsch

2.Die Textüberlieferung in den historischen Sprachperioden

Die Sprachgeschichtsschreibung sowie die grammatische und lexikalische Beschreibung der historischen Sprachstufen des Deutschen beruhen auf Texten, d.h. auf in lateinischer Alphabetschrift fixierten sprachlichen Formulierungen. Dem Umfang nach kann es sich um Kleinsttexte handeln, die nur aus einem Satz bestehen, oder auch um Großtexte und Textsammlungen (Bücher, Codices). In der Art und Weise der Überlieferung der Texte seit dem frühen Mittelalter bis in die Jetztzeit spiegelt sich auch die Entwicklung der Schriftmedien wider. Obwohl „Inschriften“ auf Stein, Holz, Gebäuden usw. angebracht wurden und noch werden, sind für die deutsche Textgeschichte als Schriftträger Pergament, Papier und letztlich computerbasierte Speichermedien die wichtigsten Träger der Textüberlieferung.

Im frühen Mittelalter wurden die Texte in den Skriptorien der Klöster durch Abschreiben hergestellt. Geschrieben haben anfangs vornehmlich Mönche. Die volkssprachliche (deutsche) Textüberlieferung beginnt im späten 8. und frühen 9. Jh. mit Glossierungen lateinischer Texte (anfänglich durch ahd. Einzelwörter), mit Übersetzungen pastoraler Kleinliteratur (z.B. die ahd. Übersetzungen des Vaterunsers) und weitet sich aus auf die Bibeldichtung (z.B. das Evangelienbuch Otfrids von WeißenburgOtfrid von Weißenburg) und die zum Zweck der Schullektüre verfassten Schriften NotkersNotker III. von St. Gallen oder auch auf heldenepische Texte (z.B. das HildebrandsliedHildebrandslied). Zu den historischen Rahmenbedingungen für die Übersetzung lateinischer religiöser Texte bis hin zu den Dichtungen des (ahd.) Evangelienbuchs und des (altsächsischenAltsächsisch) Heliands durch die Kirchen- und Bildungsreform Karls des Großen vgl. den Überblick über die deutsche Sprachgeschichte (Kapitel A.1.1).

Im späten Mittelalter änderte sich zwar die „Technik“ des Schreibens; das Texteschreiben war jetzt arbeitsteilig organisiert: Der „Autor war für die Erzeugung des Textes verantwortlich, der Schreiber für die Herstellung des Manuskriptes“.1 Die Kunst des Schreibens blieb aber noch immer auf den Klerus beschränkt. Schon im 13. Jh. wurden in den Kanzleien Urkunden nicht mehr nur in lateinischer, sondern auch in deutscher Sprache abgefasst. Vom 14. Jh. an üben sich auch Laien (Ritter und ansehnliche Bürger) in der Kunst des Schreibens, hauptsächlich um geschäftliche und private Briefe zu schreiben. Wichtige Sammelhandschriften sind die am Ende des 12. Jh. im Augustiner Chorherrenstift Vorau (Steiermark) geschriebene Vorauer Handschrift und der Codex Manesse, die bedeutendste deutsche Liederhandschrift des Mittelalters, die veranlasst durch die Zürcher Patrizierfamilie Manesse in der ersten Hälfte des 14. Jh. auf der Grundlage der Sammlung der Manesse vermutlich durch Nonnen des Klosters Oetenbach in Zürich hergestellt wurde. Nicht nur durch das zeitgleiche (oder spätere) und fehleranfällige Abschreiben (Kopieren) von Handschriften erscheint der mittelalterliche Text als ein dynamisches Gefüge. Es war auch üblich, Texte zeitlich und räumlich, dialektal und inhaltlich zu aktualisieren. Nicht jede mittelalterliche Handschrift setzt Verse ab; die Handschriften kennen keine Interpunktion im modernen Sinn und keine diakritischen Zeichen wie z.B. den Balken über Vokalen, um die Länge des Vokals zu markieren. Dies alles stammt von den Herausgebern der Neuzeit, die mit der Interpunktion das Textverständnis der modernen Rezipienten erleichtern, aber auch steuern wollten. Die Edition mittelalterlicher Texte hat erhebliche Auswirkungen auf die historische Syntax und die interpretative Satzabgrenzung.

An die Stelle des teuren und für schnelles Schreiben ungeeigneten Pergaments trat das glattere und billigere Papier als Schreibunterlage. Im 14. Jh. verbreitete sich Papier als Beschreibstoff und verdrängte im 15. Jh. das Pergament. Die erste deutsche Papiermacherwerkstatt wurde 1390 in Nürnberg in Betrieb genommen. Papier war eigenhändig leicht zu beschreiben und ermöglichte einen durchgängigen Schreibfluss. Diesem diente auch die – anstelle der aufwendigen Buchschrift vor allem in Handel und Verwaltung verwendete – Kursivschrift, wo große Schriftmengen (Akten, Rechnungen) zu bewältigen waren. Auch ganze Bücher wurden im 14. Jh. in Kursive geschrieben.

Das mühsame (Ab-)Schreiben mit der Hand konnte die steigende Nachfrage nach Lektüre auf Dauer nicht befriedigen. Die Erfindung des Bedruckens von Papier mit beweglichen Metalllettern durch Johannes Gutenberg um 1450 ermöglichte es, Texte zu „setzen“ und beliebig oft mechanisch in identischer Form zu vervielfältigen. Gegen Ende des 15. Jh. existierten in ganz Europa Druckwerkstätten (Offizinen). Die zwischen 1454 und dem 31. Dezember 1500 mit beweglichen Lettern gedruckten Einblattdrucke und Bücher (Inkunabeln, Wiegendrucke) waren in Format, Typografie und Illustration vom Erscheinungsbild mittelalterlicher Handschriften geprägt. Die Produktion auch deutscher Bücher stieg bis 1523 auf 944 Exemplare. Neue Textsorten wie gedruckte Flugblätter und Flugschriften sind Vorformen der Zeitungen und Vorläufer der Massenmedien.

In der zweiten Hälfte des 20. Jh. brachte die Erfindung und weite Verbreitung des Computers eine der Erfindung Gutenbergs vergleichbare mediale Wende auf der Grundlage elektronischer Datenverarbeitung. Mit Hilfe des Computers seit den 1970er-Jahren, des Internets und des World Wide Webs seit den 1980er-Jahren sind die Herstellung, massenhafte Verbreitung und Speicherung von Texten in uneingeschränktem Maß möglich. Neue Textsorten wie E-Mail, Newsletter, Chat (und Chatroom), Tweet u.a.m., die sich von den Texten in den Printmedien erheblich unterscheiden, sind entstanden. Die Digitalisierung ganzer Bücher und mittelalterlicher Handschriften ist in vollem Gang. Die Digitalisate werden online gestellt und sind jederzeit und überall mit Hilfe des Computers aufrufbar. Damit schließt sich der Kreis zum Beginn der Überlieferung deutscher Texte im 8. Jh. – Zur Anwendung der Computer-Technik bei der Erforschung der Historischen Valenz vgl. Kapitel E.4.

 

Die Textüberlieferung im Wandel der Medien am Beispiel von OtfridsOtfrid von Weißenburg EvangelienbuchOtfrid von Weißenburg

Die als Codex Vindobonensis (V) bezeichnete Handschrift des EvangelienbuchsOtfrid von Weißenburg von Otfrid von WeißenburgOtfrid von Weißenburg wurde zwischen 863 und 871 im Skriptorium des Klosters Weißenburg unter der Aufsicht und mit eigenhändigen Korrekturen Otfrids hergestellt. V diente im dritten Viertel des 9. Jh. als Vorlage für die zweite – ebenfalls in Weißenburg hergestellte – Handschrift, den Codex Palatinus (P). In Freising entstand am Anfang des 10. Jh. die dritte Handschrift (F) und in Fulda in der zweiten Hälfte des 10. Jh. die nur fragmentarisch erhaltene Handschrift (D), beide kopiert von V. Der Codex Vindobonensis gilt als Haupthandschrift. Sie ist bis 1480 als Teil der Weißenburger Klosterbibliothek nachgewiesen, wurde aber, nachdem sie zwischenzeitlich in das Kloster St. Martin in Sponheim verbracht worden war, 1576 als Handschrift der Wiener Hofbibliothek geführt. 1560 fertigte Achill Pirmin Gasser in Augsburg eine Abschrift der Handschrift P an, nachdem P an Ulrich Fugger verkauft worden war. Als Druck erschien 1571 in Basel eine von Matthias Flacius Illyricus veranlasste Gesamtausgabe des Evangelienbuchs. Im 19. Jh. entstanden mehrere kritische (gedruckte) Textausgaben des Evangelienbuchs, zuerst die von Eberhard Gottlieb Graff unter dem Titel „Krist“ 1831 herausgegebene („mit einem Facsimile ieder der drei Handschriften“), dann die von Johann Kelle (1856‒1881) und Oskar Erdmann (1882), auf der Grundlage von V, und Paul Piper (1882) auf der Grundlage von P. Die Handschrift F wurde erst im Jahr 2000 durch Karin Pivernetz ediert. Eine Faksimile-Ausgabe der Wiener Handschrift wurde unter Mitwirkung von Hans Butzmann im Vierfarbendruck 1972 in Graz gedruckt. Eine nach den Handschriften V, P und D getrennte Neuedition des Evangelienbuchs gab Wolfgang Kleiber (2004 und 2006) im Druck heraus. Die Neuedition wird mit Mängeln der älteren Editionen, Neufunden zur Handschrift D und Konsequenzen aus der Autopsie der Wiener Handschrift begründet. Wichtiges Editionsprinzip ist die Vermeidung von Normalisierungen, moderner Zeichensetzung, Lesehilfen usw. zugunsten einer originalnahen, handschriftgetreuen Textwiedergabe. Das Ende der Textgeschichte des Evangelienbuchs ist vorläufig erreicht, seit die in der Universitätsbibliothek Heidelberg lagernde Handschrift P als digitale Kopie2 und die Handschrift F als Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek3 verfügbar sind.

3.Bibliografie der wichtigsten Grammatiken und Wörterbücher der deutschen Sprachperioden

3.1Althochdeutsch

Grammatik:

Wilhelm Braune (2018 [1886]): AlthochdeutscheAlthochdeutsch Grammatik. Band I: Laut- und Formenlehre. 16. Auflage. Tübingen; Richard Schrodt (2004): Althochdeutsche Grammatik. Band II: Syntax. Tübingen.

 

Wörterbücher:

AlthochdeutschesAlthochdeutsch Wörterbuch (1968ff.). Auf Grund der von E. v. Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearbeitet und herausgegeben von Elisabeth Karg-Gasterstädt/Theodor Frings u.a. Berlin (bis 2020 sind 7 Bände erschienen, Band VII: O‒R). (= AWB) Digital zugänglich.

 

Rudolf Schützeichel (2006): AlthochdeutschesAlthochdeutsch Wörterbuch. 6. Auflage. Tübingen.

3.2Altsächsisch

Grammatik:

Johan Hendrik Gallée (1993 [1891]): AltsächsischeAltsächsisch Grammatik. 3. Auflage. Tübingen.

 

Wörterbuch:

Heinrich Tiefenbach (2010): AltsächsischesAltsächsisch Handwörterbuch. Berlin/New York.

3.3Mittelhochdeutsch

Es existiert keine umfassende grammatische und lexikografische Darstellung des Frühmhd. und des Spätmhd. Die mhd. Grammatiken konzentrieren sich auf das klassische Mhd.

 

Grammatiken:

Hermann Paul (2007 [1881]): MittelhochdeutscheMittelhochdeutsch Grammatik. 25. Auflage. Tübingen.

 

Thomas Klein/Hans-Joachim Solms/Klaus-Peter Wegera (2018): MittelhochdeutscheMittelhochdeutsch Grammatik. Teil II: Flexionsmorphologie. Tübingen; dies. (2009): Mittelhochdeutsche Grammatik. Teil III: Wortbildung. Tübingen.

 

Wörterbücher:

Georg Friedrich Benecke/Wilhelm Müller/Friedrich Zarncke (1854‒1861): MittelhochdeutschesMittelhochdeutsch Wörterbuch. 3 Bände. Leipzig. (= BMZ) Digital zugänglich.

 

Matthias Lexer (1872‒1878): MittelhochdeutschesMittelhochdeutsch Handwörterbuch. 3 Bände. Leipzig. (= ML) Digital zugänglich.

 

Kurt Gärtner/Klaus Grubmüller/Karl Stackmann (Hg.) (2006‒2012): MittelhochdeutschesMittelhochdeutsch Wörterbuch. Stuttgart (bis 2020 ist 1 Band erschienen, Band 1: a–êvrouwe). (= MWB) Digital zugänglich.

3.4Mittelniederdeutsch

Grammatik:

Agathe Lasch (1974 [1914]): MittelniederdeutscheMittelniederdeutsch Grammatik. 2., unveränderte Auflage. Tübingen. Digital zugänglich.

 

Wörterbuch:

Karl Schiller/August Lübben (1875‒1881): MittelniederdeutschesMittelniederdeutsch Wörterbuch. 6 Bände. Bremen.

3.5Frühneuhochdeutsch

Grammatiken:

Virgil Moser (1929‒1951): FrühneuhochdeutscheFrühneuhochdeutsch Grammatik. Band I,1 und 3. Heidelberg.

 

Hugo Moser/Hugo Stopp (Hg.) (1970–1991): Grammatik des FrühneuhochdeutschenFrühneuhochdeutsch. Beiträge zur Laut- und Formenlehre. 7 Bände. Heidelberg.

 

Robert Peter Ebert/Oskar Reichmann/Hans-Joachim Solms/Klaus-Peter Wegera (1993): FrühneuhochdeutscheFrühneuhochdeutsch Grammatik. Tübingen.

 

Wörterbücher:

Ulrich Goebel/Anja Lobenstein-Reichmann/Oskar Reichmann (Hg.) (1986ff.): FrühneuhochdeutschesFrühneuhochdeutsch Wörterbuch. Berlin/New York (bis 2020 sind die Bände 1‒6, 8 und 9 erschienen, Band 9: l‒ozzek). (= FWB) Digital zugänglich.

 

Ph. Dietz (1973 [1870‒1872]): Wörterbuch zu Dr. Martin LuthersLuther, Martin Deutschen Schriften. 2., unveränderte Auflage. Band 1‒2,1 (A‒Hals). Leipzig (Nachdruck Hildesheim/New York). (= PHD)

 

Renate und Gustav Bebermeyer (1993‒2018): Wörterbuch zu Martin LuthersLuther, Martin deutschen Schriften. Wortmonographien zum Lutherwortschatz. [2], 2 (Hals‒Härtigkeit) ‒ 17 (Lehnen‒Liebreden). Hildesheim/Zürich/New York. (= RGB)

3.6ÄlteresNeuhochdeutschÄlteres Neuhochdeutsch

Grammatik:

Robert Peter Ebert (1999): Historische Syntax des Deutschen II: 1300–1750. 2., überarbeitete Auflage. Berlin.

 

Wörterbücher:

Goethe-WörterbuchGoethe, Johann Wolfgang von (1978ff.). Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart (bis 2020 sind 6 Bände erschienen, Band 6: Medizinalausgabe‒Promenade). (= GWB) Digital zugänglich.

 

Rosemarie Lühr/Susanne Zeilfelder (Hg.) (2010‒2012): Schiller-WörterbuchSchiller, Friedrich von. 5 Bände. Berlin/Boston.

3.7NeuhochdeutschNeuhochdeutsch

Grammatiken:

Duden. Die Grammatik (2016). 9., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Herausgegeben von Angelika Wöllstein und der Dudenredaktion. Berlin.

 

Ulrich Engel (1988): Deutsche Grammatik. Heidelberg.

 

Gerhard Helbig/Joachim Buscha (2001): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Berlin u.a.

 

Hans Wellmann (2008): Deutsche Grammatik. Laut. Wort. Satz. Text. Heidelberg.

 

Wörterbücher:

Konrad Duden (1880): Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Leipzig.

 

Duden. Die deutsche Rechtschreibung (2020). 28., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Berlin.

 

Wörterbuch der deutschen Gegenwartsprache (1961‒1977). Herausgegeben von Ruth Klappenbach/Wolfgang Steinitz. 6 Bände. Berlin (Ost). (= WDG) Digital zugänglich.

 

Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1976‒1981). Herausgegeben und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter Leitung von Günther Drosdowski. 6 Bände. Mannheim/Wien/Zürich.

 

Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1999). 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. 10 Bände. Mannheim.

 

Duden. Deutsches Universalwörterbuch (1983). Herausgegeben und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim/Wien/Zürich. (= DUW)

 

Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2019). 9., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Berlin. (= DUW)

 

Duden. Onlinewörterbuch. duden.de/woerterbuch

 

Brockhaus-Wahrig. Deutsches Wörterbuch in sechs Bänden (1980‒1984). Herausgegeben von Gerhard Wahrig †/Hildegard Krämer/Harald Zimmermann. Wiesbaden/Stuttgart. (= 1BW)

 

Brockhaus-Wahrig. Deutsches Wörterbuch von Renate Wahrig-Burfeind. Mit einem Lexikon der Sprachlehre (2011). 9., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage. Gütersloh/München. (= 2BW)

 

DWDS-Wörterbuch. dwds.de/wb (= DWDSWB)

 

Helmut Schumacher/Jacqueline Kubczak/Renate Schmidt/Vera de Ruiter (2004): VALBU ‒ ValenzwörterbuchValenzwörterbuch deutscher Verben. Tübingen. (= VALBU)

 

NeuhochdeutschElektronisches ValenzwörterbuchValenzwörterbuch deutscher Verben. grammis.ids-mannheim.de/verbvalenz (= E-VALBU).

3.8Diachrondiachron

Grammatiken:

Hermann Paul (1916‒1920): Deutsche Grammatik. 5 Bände. Halle a. d. S.

 

Otto Behaghel (1923‒1932): Deutsche Syntax. 4 Bände. Heidelberg.

 

Robert Peter Ebert (1978): Historische Syntax des Deutschen. Stuttgart.

 

Wladimir Admoni (1990): Historische Syntax des Deutschen. Tübingen.

 

Jürg Fleischer in Zusammenarbeit mit Oliver Schallert (2011): Historische Syntax des Deutschen. Eine Einführung. Tübingen.

 

Ingerid Dal/Hans-Werner Eroms (2014): Kurze deutsche Syntax auf historischer Grundlage. 4. Auflage, neu bearbeitet von Hans-Werner Eroms. Berlin/Boston.

 

Wörterbücher:

Jacob Grimm und Wilhelm GrimmGrimm, Jacob und Wilhelm (1854‒1971): Deutsches Wörterbuch. 33 Bände. Leipzig. (= DWB) Digital zugänglich.

 

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm GrimmGrimm, Jacob und Wilhelm (1983ff.). Neubearbeitung, herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen bzw. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 9 Bände. Leipzig/Stuttgart. (= DWBN) Digital zugänglich.

 

Daniel Sanders (1860‒1865): Wörterbuch der deutschen Sprache. Mit Belegen von LutherLuther, Martin bis auf die Gegenwart. 2 Bände. Leipzig. (= DS)

 

Hermann Paul (2002 [1897]): Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete und erweiterte Auflage von Helmut Henne/Heidrun Kämper/Georg Objartel. Tübingen.

 

Trübners Deutsches Wörterbuch (1939‒1957). Herausgegeben von Alfred Götze/Walther Mitzka. 8 Bände. Berlin.

B.Der gegenwartssprachliche Valenzbegriff. Eine Zusammenfassung

Den gegenwartssprachlichen ValenzbegriffValenzbegriff beschreibt HANS-WERNER EROMS in der „Syntax der deutschen Sprache“ (Eroms 2000) ausführlich. Vorausgesetzt werden dabei die Annahme der „Satzbedeutung“, wonach Sätze komplexe Zeichen sind, die eine strukturierte Bedeutung haben und durch integrierende Regeln ein komplexes Ganzes aufbauen, sowie der Satzgliedbegriff. SatzgliederSatzglied oder PhrasenPhrase werden durch zwei auf den Satz angewendete Proben (PermutationPermutation oder VerschiebeprobeVerschiebeprobe und KommutationKommutation oder ErsetzungsprobeErsetzungsprobe) ermittelt und in sieben Phrasentypen unterteilt: NominalphrasenNominalphrase, PronominalphrasenPronominalphrase, PräpositionalphrasenPräpositionalphrase, AdverbphrasenAdverbphrase, Satzförmige Typen, InfinitivkonstruktionenInfinitivkonstruktion und PartizipialkonstruktionenPartizipialkonstruktion. Die Phrasen sind meist aus mehreren Wörtern bestehende Wortgruppen (Eroms 2000, 34‒38, 47). Die Benennung der Phrasen erfolgt nach der Wortart des die Wortgruppe „regierenden“ Wortes (NukleusNukleus, Kern oder Haupt).

Dass die Wörter bzw. Wortgruppen im Satz so angeordnet sind, dass sich zwischen ihnen Verbindungslinien fassen lassen, die ihre Funktion steuern, ist der Ausgangspunkt der DependenzgrammatikDependenzgrammatik. In ihr herrscht ein hierarchisches Prinzip vor, das sich am ValenzbegriffValenzbegriff verdeutlichen lässt. Der Valenzbegriff ist eine aus Physik oder Chemie übernommene Metapher, die besagt, dass das Verb als Kern des Satzes dank seiner WertigkeitWertigkeit (Valenz) andere Einheiten an sich bindet. Grundlage der Analyse des Satzes ist nicht die SubjektSubjekt-PrädikatPrädikat-Trennung, sondern die n-näre Valenz des Verbs (verbale Valenz). Verben erscheinen nämlich viel offensichtlicher „unvollständig“ oder ungesättigt als Substantive. Werden Verben bei der Versprachlichung verwendet, dann werden nominale Ausdrücke als Beteiligte von kleinen Handlungs- oder Vorgangsszenen oder Zuständlichkeiten spontan mitgedacht.

Eine noch formalere Deutung des der verbalen Valenz zugrunde liegenden Phänomens ist der Bezug auf logische Vorstellungen: Wie ein PrädikatPrädikatArgumenteArgument erfordert und dabei seine Stelligkeit von entscheidender Bedeutung ist, so gibt es ein-, zwei- oder höherwertige Verben, die entsprechende Füllungen ihrer LeerstellenLeerstelle verlangen.

ValenzpragmatischeWörter sind inhalts- und ausdrucksseitig bestimmbar, aber sie sind, wie alle Zeichen, gesamthaft funktional. Entsprechend lässt sich von ausdrucks- und inhaltsseitiger Valenz sprechen. Isolierungen von logischen, semantischen, syntaktischen und pragmatischen Valenzen sind jedoch immer Abstraktionen vom Gesamtbegriff der Valenz, der dadurch als ein Bündel verschiedener Schichten erscheint. – Es wird davon ausgegangen, dass die schon angegebene Argumenthaftigkeit die logisch-semantischeValenzlogisch-semantische Grundlage des Valenzkonzepts bildet. Dies kann nur so verstanden werden, dass ErgänzungenErgänzung zu Verben in der Art von ArgumentenArgument zu PrädikatenPrädikat aufgefasst werden. […] Manifest wird diese Valenz-Grundschicht in der „Beteiligtheit“ der AktantenAktant an der „Verbszene“.

Sind die Verben gegeben, dann ist die valenzgrammatische Frage zunächst: Welche sind die valenzgebundenenvalenzgebunden Substantive und welche nicht? Ein Blick auf unterschiedliche Sätze zeigt, dass es alles andere als offensichtlich ist, was eine ErgänzungErgänzung (KomplementKomplement) ist und was eine AngabeAngabe (SupplementSupplement) als Komplementärmenge der dependenten Glieder. Gerade die ValenzwörterbücherValenzwörterbuch verdeutlichen durch ihre Unterschiedlichkeit die Schwierigkeit bei der Bestimmung der Ergänzungen. Zum Beispiel setzt ein Wörterbuch das Verb kaufen als zweiwertigzweiwertig, ein anderes als dreiwertigdreiwertig, teils als vierwertigvierwertig an.

Welches E- und welches A-Kandidaten sind, muss jeweils einzeln durch Testverfahren ermittelt werden (vgl. Eroms 2000, 122‒125). Operationale Verfahren sind allerdings nur Näherungslösungen, und bei oberflächenstrukturellen Kriterien spielen auch immer inhaltsseitige Bedingungen eine Rolle. Dass ein Komplementärbereich, die AngabenAngabe, zugelassen wird, ermöglicht andere syntaktische Regelinstanzen anzusetzen. Denn nur die gestufte Einbindung der Konstituenten in die gesamte Satzbedeutung vermeidet eine bloß reihende „flache“ Verkettung der SatzgliederSatzglied. ErgänzungenErgänzung und Angaben tragen in prinzipiell unterschiedlicher Weise zur Satzbedeutung bei. Dass es Syntagmen gibt, bei denen die Entscheidung für die eine oder andere Klasse nur mit Wahrscheinlichkeit gegeben werden kann, ist kein Einwand.

 

(Eroms 2000, 119‒129)

1.Prädikate, Ergänzungen, Angaben

Das finite Verb (Finitum) ist der „Kopf“ des Satzes und bildet das PrädikatPrädikat. Einfache finite Verben werden in der deutschen Sprache der Gegenwart zunehmend durch periphrastische, hierarchisch aufgebaute Fügungen ersetzt; das Prädikat ist dann identisch mit einer Verbgruppe (VG); diskontinuierliche Verbgruppen bilden die Verbalklammer. Die Verben werden wie folgt eingeteilt: HilfsverbenHilfsverb, ModalverbenModalverb, Modalitätsverben, Aktionsartverben. Einen besonderen Typ der VG stellen die FunktionsverbgefügeFunktionsverbgefüge (FVG) dar.

 

 

Ergänzungstypen (Eroms 2000, 183‒214)

Es ist zu beachten, dass diese Abgrenzung der ErgänzungenErgänzung formale und semantische Kriterien mischt: Typ 1‒5 sind formal bestimmt, Typ 6‒10 vorrangig semantisch. Typ 2‒4 sind Kasus-ObjekteKasusobjekt, genauer Oberflächenkasus-ObjekteOberflächenkasus. Von den Oberflächenkasus müssen die TiefenkasusTiefenkasus (Kasusrollen, Theta-Rollen) wie z.B. AgensAgens, PatiensPatiens, ExperiensExperiens, unterschieden werden. Es handelt sich um „Funktionsindikatoren von SatzgliedernSatzglied in Hinblick auf ihre Bindung an das PrädikatPrädikat“ (Eroms 2000, 178), vgl. den Überblick über unterschiedliche Kasuslisten bei Eroms (2000, 180f.); neueste Überlegungen zu den semantischen RollenValenzsemantische bei Welke (2011, 140‒163).

 

AngabenAngabe (Supplemente)Supplement sind nicht im StellenplanStellenplan von Verben verankerte SatzgliederSatzglied. Ihre Klassifikation erfolgt nicht nach formalen Kriterien, sondern nach dem Beitrag der A zur Satzbedeutung:

(1)

SatzadverbienSatzadverb (ModalwörterModalwort), z.B. leider, wahrscheinlich, hoffentlich, beziehen sich auf den ganzen Satz, nicht auf das Prädikat allein.

(2)

Propositionsbezügliche Angaben mit den Subklassen:

 

(a)

Situierende: Temporal-, Lokalangaben

 

(b)

Handlungskennzeichnende: Kausal-, Konditional-, Konzessiv-, Restriktiv-, Konsekutiv-, Finalangaben

 

(c)

Prädikatmodifizierende: Instrumental-, Modal-, Quantifizierende Angaben

 

(d)

Subjektbezogene Angaben

 

(e)

Sprecherbezogene Angaben

 

(f)

Negationsangaben.

Für eine AngabeAngabe steht das Symbol A, indiziert durch die Abkürzung des Namens der Subklasse, z.B. Asit, Atemp, Alok. Die SatzadverbienSatzadverb erhalten die Sigle Mw (ModalwortModalwort).

 

(Eroms 2000, 215‒246)

2.Verb-Aktanten-Konstellationen (VAK)

Das Verb und die ErgänzungenErgänzung (AktantenAktant, KomplementeKomplement) bilden spezifische Konfigurationen. In isolierten Sätzen besteht deren Funktion darin, propositionale Inhalte kompakt auszudrücken. Die Konfigurationen können entweder so wie sie im mentalen Lexikon gespeichert sind, abgerufen und verwendet werden, oder aber quantitativ reduziert oder erweitert und je nach den Erfordernissen des KontextesKontext abgewandelt werden. Gewöhnlich werden die Verb-Aktanten-KonstellationenVerb-Aktanten-Konstellation als SatzmusterSatzmusterSatzbauplan oder SatzbaupläneSatzbauplan (SBP) bezeichnet (Eroms 2000, 315). Wird im Satzbauplan den Ergänzungen auch die jeweilige Kasusrolle zugeordnet, dann liegt ein KasusrahmenKasusrahmen („case frame“ nach Ch. J. Fillmore), besser TiefenkasusrahmenTiefenkasusrahmen (TKR), vor. Die VAK können demnach auf zwei Ebenen beschrieben werden: auf der morphosyntaktischenmorphosyntaktisch (z.B. als NominalgruppeNominalgruppe im Akkusativ bzw. als AkkusativobjektAkkusativobjekt) und auf der semantosyntaktischensemantosyntaktisch, auf der der NGakk die Kasusrolle PatiensPatiens zugeordnet wird.

C.Historische Valenz. Forschungsüberblick und Problembereiche

1.Forschungsüberblick

Noch im Jahr 2007 konstatierte MECHTHILD HABERMANN (2007, 85), dass es zur historischen Valenz des Deutschen nur wenige Forschungsbeiträge gebe, und zählte folgende Arbeiten auf: Greule (1973), Korhonen (1978), Maxwell (1982b), Greule (1982a), Ágel (1988). Ein Blick auf das Literaturverzeichnis zur Historischen Valenz (S. 207‒221) beweist, dass es bis 2007 und erst recht bis heute (2021) eine weit größere Zahl an Forschungsbeiträgen gibt. Die Idee der Übertragung des Valenzkonzepts auf die deutsche Sprachgeschichte und auf historische deutsche Texte kam – unabhängig voneinander – in der deutschen und in der finnischen Germanistik auf. Wichtige Anregungen gingen von den Arbeiten HANS JÜRGEN HERINGERS (Heringer 1967; 1968a; 1968b; 1968c; 1969) aus. Eine erste Zusammenfassung der Forschungslage nach gut zehn Jahren lieferte der Sammelband „Valenztheorie und historische Sprachwissenschaft“ (Greule 1982b).

Die – mit den von Habermann genannten Arbeiten charakterisierte ‒ Forschungslage war streng synchronsynchron auf einzelne historische Sprachdenkmäler (z.B. Otfrid von WeißenburgOtfrid von Weißenburg, NibelungenliedNibelungenlied, LutherLuther, Martin) konzentriert (vgl. auch Habermann 1994, 65‒70, zu Albrecht Dürer). Erst JARMO KORHONEN befasste sich 1995 unter dem Terminus „Polyvalenz“ explizit mit dem ValenzwandelValenzwandel (siehe dazu Kapitel F).1 Bereits ein Jahr nach dem Statement von Habermann (2007) erschien 2008 die Dissertation von NÁNDOR CSIKY, in der die Geschichte eines ganzen WortfeldsWortfeld, nämlich des Wortfelds WACHSEN, vom Ahd. bis zum Nhd. ausgearbeitet wurde. Der ValenzgrammatikValenzgrammatik der historischen Sprachstufen des Deutschen sind im Handbuch „DependenzDependenz und Valenz“ mehrere Artikel gewidmet. Während Greule (2014) diachronediachron Perspektiven im historischen ValenzwörterbuchValenzwörterbuch skizzierte, behandelte HANS-WERNER EROMS in der 4. Auflage der „Kurzen deutschen Syntax auf historischer Grundlage“ (Dal/Eroms 2014, 4‒31) die Entwicklung der Valenz im Kontext von „Kasus und Kasusfunktionen“. Den Abriss einer historischen ValenzsyntaxValenzsyntax, konzentriert auf den EinfachsatzEinfachsatz, enthält die 3. Auflage der „Einführung in die deutsche Sprachgeschichte“ von Hans Ulrich Schmid (Schmid 2018, 185‒201).

Die neueste Forschung ist vorrangig auf den Entwurf und die Realisierung eines Historisch syntaktischen Verbwörterbuchs (HSVW) konzentriert (vgl. Greule/Korhonen 2016), siehe dazu Kapitel E.

 

Folgende historische Schriften sind bislang zur Beschreibung der historischen Valenz ausgewertet worden:

 

Gotische BibelGotische Bibel (Korhonen 1995a); AlthochdeutscheAlthochdeutsch Exhortatio ad plebem christianam (Greule 1982c); HildebrandsliedHildebrandslied (Greule 1987); OtfridOtfrid von Weißenburg, EvangelienbuchOtfrid von Weißenburg (Greule 1982a; Thornton 1984); ahd. IsidorAlthochdeutscher Isidor (Eichinger 1993); ahd. GebeteAlthochdeutsche Gebete (Braun 2016); ahd. Rezepte und ZaubersprücheAlthochdeutsche Rezepte und Zaubersprüche (Riecke 2016); Hartmann von AueHartmann von Aue (grüezen im Gesamtwerk) (Greule 2016); NibelungenliedNibelungenlied (Maxwell 1982a; 1982b); Heinrich von MorungenHeinrich von Morungen (Schütte 1982); Österreichische ReimchronikÖsterreichische Reimchronik (Lénárd 1996); mhd./mnd. KochbuchtexteMittelhochdeutsche/Mittelniederdeutsche Kochbuchtexte (Ehnert 1982); Handschriften des Rechtsbuchs „Schwabenspiegel“ (Uhlig 1983); mhd. Prosa-Lancelot (Keinästö 1986; 1990; 2016); fnhd. „Legenda aureaLegenda aurea“ (Wegstein/Wolf 1982; Wolf 1985); Bruder BertholdBruder Bertholds „Rechtssumme“sBruder Bertholds „Rechtssumme“ „Rechtssumme“ (Wegstein/Wolf 1982; Wolf 1985); „Denkwürdigkeiten der Helene KottannerinDenkwürdigkeiten der Helene Kottannerin“ (Ágel 1988); fnhd. BenediktinerregelFrühneuhochdeutsche Benediktinerregel (Simmler 1982); Texte Albrecht Dürers, Heinrich Deichslers und Veit Dietrichs (um 1500) (Habermann 1994); Martin LutherLuther, Martin, Schriften (u.a. Korhonen 1978); Luthers BibelübersetzungLuther-Bibel (Thornton 1984; Wolf 1984; Funk 1995; u.a. Korhonen 2016); Reiseberichte der frühen Neuzeit (Aehnelt 2016); Leipziger ZeitungLeipziger Zeitung (1660‒1914) (Anttila 1997); Leipziger Frühdrucke (Fischer 1987).

2.Probleme bei der Analyse der historischen Valenz

Die folgenden Problembereiche, die bei der Übertragung des gegenwartssprachlichen Valenzmodells auf historische deutsche Texte zu beachten sind, wurden zuerst im Zusammenhang mit der Valenzanalyse der mhd. Lieder Heinrichs von MorungenHeinrich von Morungen dokumentiert (Schütte 1982, 32‒40).

2.1Allgemeine Probleme

a)

Man muss zwischen (freien) AngabenAngabe und ErgänzungenErgänzung unterscheiden, die nach Helbig/Schenkel (1973, 33ff.) in der „Tiefenstruktur“ begründet sind und durch eine Eliminierungs- und Substitutionsprobe unterscheidbar sein sollen. Die Unterscheidung in obligatorischeobligatorisch und fakultative ErgänzungenErgänzungobligatorische wird dadurch getroffen, dass fakultativefakultativErgänzungenErgänzungfakultative weggelassen werden können, ohne dass der Satz ungrammatisch wird oder sich die Verbbedeutung wesentlich ändert.

b)

Es ist nicht angebracht, die GenitivobjekteGenitivobjekt – bei einer Analyse mhd. Texte – als veraltet anzusehen, weil die Genitive im Mhd. eine größere und natürlichere Rolle spielen als im Nhd.

c)

Bei FunktionsverbgefügenFunktionsverbgefüge wird dem Funktionsnomen nicht der Rang eines AktantenAktant zuerkannt. Funktionsverbgefüge sind erwartbar bei semantisch indifferenten Verben wie mhd. tuon ‚tun‘ und hân ‚haben‘ (s.u.).

d)

Die Valenz eines Verbs ist nicht unabhängig vom Genus VerbiGenus Verbi (AktivAktiv oder PassivPassiv). Die Passivierung ist ein Verfahren der ValenzminderungValenzminderung, weil der Erstaktant im Passiv fakultativfakultativ wird.

e)

Die WertigkeitWertigkeit eines Verbs kann durch Reflexivierung erhöht werden, z.B. mhd. vröiwe ich mich ‚…freue ich mich‘ mit zwei referenzidentischen AktantenAktant.

f)

Die Valenz eines Verbs kann auch mit dem Verbinhalt wechseln, z.B. mhd. kommen 1 ‚gehen nach‘ mit PräpG mit in oder einem Dativ; kommen 2 ‚gereichen‘ mit PräpG mit ze.

g)

Es ist sinnvoll, keine nullwertigennullwertig Verben anzusetzen und referierendes mhd. ez von „inhaltsleerem“ ez (z.B. bei Witterungsverben, mhd. dô tagte ez) nicht zu unterscheiden.

2.2Methodologische Probleme

a)

Da bei der Anwendung der muttersprachlichen Kompetenz auf die Valenzbestimmung historischer Verben die Gefahr intuitiver Fehlschlüsse besteht, sind der Ansatz einer „ErsatzkompetenzErsatzkompetenz“ (siehe Kapitel D.3) und statistische Methoden (z.B. die Häufigkeit bestimmter Syntagmen bei verschiedenen Verben) erforderlich (s.u.).

b)

Linguistische Tests können nur beschränkt angesetzt werden.

c)

Notwendig ist die Übertragung der gegenwartssprachlichen Kompetenz des Deskribenten auf die gewünschte Sprachstufe (siehe Kapitel D.3).

2.3Grundsätzliche Unsicherheiten

Indem sie sich mit der historischen ValenzsyntaxValenzsyntax generell kritisch auseinandersetzt, führt MECHTHILD HABERMANN sechs „Unsicherheiten“ auf, die bei der Feststellung der historischen Valenz beachtet werden sollten.

a)

Die Unsicherheit bei der Abgrenzung der Sätze: „Uncertainty as to the limits of the clause. Punctuation is often missing as a clause is punctuated according to pauses in speech, hence there are no criteria for identifying the beginning and the end of sentences.“

b)

Die Unsicherheit in Bezug auf den Status der Sätze: „Uncertainty as to the status of the clause. Subordinate clauses are, as such, not unequivocally identified in every case, since the end position of the finite verb first appears as a rule in New High German. In addition, many conjunctions can just as well be read as hypotactic subordinators or coordinating elements. […] To sum up: the difference between parataxis and hypotaxis is nowhere as clear and unequivocal as in Modern German.“

c)

Die Unsicherheit in Bezug auf den Verbstamm: „For a long time, noun compounds and […] verb compounds were not usually written as one word. With regard to the stem and its valency, it is essential to determine whether Middle High German adverbs such as an, auf, durch, or heran, hinauf, herum have the status of phrases or not and whether, as a consequence, they could be complements or adjuncts; or whether we are dealing with verb particles, and thus with verbs which take a particle“ (z.B. ankommen, aufsteigen, durchfahren).

d)

Die Unsicherheit in Bezug auf die morphologische Identifikation der Kasus: „Because of early syncretism of form, especially since Middle High German, certain cases are no longer identifiable. […] It is very risqué to transpose conventional valency schemata of New High German to historical language.“

e)

Die Polyvalenz der Verben: „In contrast to New High German verbs, Old and even Middle High German verbs do not have a stable, or should I say prototypical valency. In New High German the meaning of the verb introduces a valency framework which, although it is slightly modifiable, as for instance in the case of optional complements, is quite stable for this particular meaning of polysemic lexemes. A wider range of structures is often recognisable in historical periods of language, so that prototypes cannot easily be defined. Thus here […] historical valency is greatly influenced by co-textual and contextual factors“ (siehe Kapitel D.12).

f)

Nachwirkung der indoeuropäischen Kasus-Bedeutungen: „It seems that the meanings of the case in Old and Middle High German are still strongly influenced by their ancient Indo-European meanings […] – Basically, the three morphological cases genitive, dative and accusative can appear as adverbial phrases. The disparity and diversity of meanings of genitive and dative render the assignment of semantic roles difficult.“

(Habermann 2007, 86‒88)

 

Kommentar: Die vor der Analyse zu bedenkenden Unsicherheiten (a) – (c) betreffen nicht nur die historische Valenzanalyse, sondern syntaktische Analysen und Beschreibungen der Sätze in historischen Texten gleich welcher Art. Bei (a) und (b) kommt man um eine syntaktische Interpretation einer Textstelle nicht herum. Entweder übernimmt sie der Deskribent aus der Edition des historischen Textes (und folgt der Interpretation des Herausgebers) oder er interpretiert unter Beachtung von Textgliederungs-Signalen in der Handschrift die Interpretation selbst. (d) entspricht der Warnung, nhd. SatzbaupläneSatzbauplan auf die historischen Texte einfach zu übertragen. (e) betrifft die bekannte Tatsache, dass vor der grammatischen und lexikalischen Regelung der deutschen Standardsprache sich aus den historischen Texten nicht immer ‒ wie im Nhd. ‒ eine stabilestabil, prototypische Valenz ermitteln lässt (siehe Kapitel D.7). (f) zielt auf die Schwierigkeit des Ansatzes der semantischen RollenValenzsemantische generell und auf die „Ableitung“ der semantischen Rollen aus den morphologischen Kasus (siehe Kapitel B.1).

3.Herausarbeitung der Verb-Aktanten-Konstellationen aus historischen Texten

Die Abstraktion von Verb-Aktanten-KonstellationenVerb-Aktanten-Konstellation (auch SatzmusterSatzmusterSatzbauplan, SatzbaupläneSatzbauplan, SatzmodelleSatzmodellSatzbauplan) (vgl. Kapitel B.2) erfolgte – anders als in der Grammatik der Gegenwartssprache ‒ im Rahmen der historischen Grammatik abhängig von der Methode, unter unterschiedlichen Begriffen und mit unterschiedlicher Markierung (vgl. Kapitel D.5).

Als Erster hat JARMO KORHONEN den Begriff des SatzmodellsSatzmodellSatzbauplan auf die Analyse eines umfangreicheren historischen Textes angewendet. In Korhonen (1978) wurde mit mehreren Arten von Satzmodell operiert: Es wurden zunächst einerseits aktivischeaktivisch und passivischpassivische SatzmodelleSatzbauplanaktivischer (Satzbauplanpassivischermit PrädikatPrädikat in Aktiv-Aktiv bzw. Passivform), andererseits Haupt- und NebenmodelleNebenmodell unterschieden. Zu den HauptmodellenHauptmodell wurden vom PrädikatsverbPrädikatsverb unmittelbar abhängige Elemente (ErgänzungenErgänzung 1. GradesErgänzung1. Grades), zu den Nebenmodellen mittelbar abhängige Elemente (Ergänzungen 2. GradesErgänzung2. Grades) gerechnet. Als ValenzträgerValenzträger der Nebenmodelle fungiert in Korhonen (1978) eine infinite Verbform oder ein prädikativesprädikativ Adjektiv. Die konstitutiven Glieder der Haupt- und NebenmodelleNebenmodell wurden in Bezug auf Form und Funktion beschrieben und mit entsprechenden Symbolen gekennzeichnet, an denen die Wortklasse und die Anschlussart an den Valenzträger bzw. der Satztypus zum Ausdruck kommen (z.B. Nomen im Nominativ als SubjektSubjekt, präpositionales Adjektiv als PrädikativPrädikativ und Nebensatz als ObjektNebensatzobjekt). ObjektDie auf diese Weise entstandenen Kombinationen von Ergänzungen wurden morphofunktionelle SatzmodelleSatzbauplanmorphofunktioneller genannt. In einem weiteren Arbeitsschritt wurden die unterschiedlich ausgeprägten Ergänzungen jeweils zu Gruppen mit gleicher syntaktischer FunktionFunktionsyntaktische zusammengefasst und diese ferner miteinander verbunden, was zur Bildung von SatzgliedmodellenSatzgliedmodell führte. ‒ Zu den verschiedenen Satz- und Satzgliedmodellen vgl. genauer Kapitel D.4.5.

Verb-Aktanten-KonstellationALBRECHT GREULE (1982c) fasste unter dem Terminus SatzformSatzform das formalisierte Ergebnis der Satzglied-AnalyseSatzglied eines konkreten (ahd.) Satzes zusammen. Die Analyse beginnt mit einer Segmentierung des Satzes in Satzglieder, denen Kategorialsymbole zugeordnet werden. Zum Beispiel wurde der ahd. Satz1 aufgeteilt in die Satzglieder: a) drato mihiliu caruni, b) dar inne, c) sint pifangan „sehr große Geheimnisse sind darin eingefangen“ (= SatzmusterSatzmusterSatzbauplan). In der abstrahierten Satzform, die die Reihenfolge der Satzglieder wie im originalen Satz beibehält, sind die Satzglieder durch die Symbole a) NG1 (NominalgruppeNominalgruppe im Nominativ), b) AdvG (AdverbgruppeAdverbgruppe), c) VER (Verb) präsent. Die morphosyntaktischmorphosyntaktisch determinierte Satzform bildet die Grundlage zu ihrer semantischen Interpretation. Im Fallbeispiel sieht die semantisch interpretierte Satzform so aus: a) NG1/Pat – b) AdvG/U:loc – c) VER/P:perf2. Die Satzform ist also noch nicht auf das PrädikatPrädikat und seine ErgänzungenErgänzung reduziert.

LAWRENCE JOHN THORNTON (1984, 77‒117) unterschied, ausgehend vom „Kleinen ValenzlexikonValenzlexikon deutscher Verben“ (Engel/Schumacher 1976), zehn „complement classes“ (E0‒E9), indem er das syntaktische Verhalten von ahd. Verben mit fnhd. Verben vergleicht: E1 ist markiert als Akkusativ, E2 als Genitiv, E3 als Dativ, E4 durch eine Präposition, E5 + 6 als lokale und temporale PhrasenPhrase, E6* durch VerbzusätzeVerbzusatz, E7 ist die „EinordnungsergänzungEinordnungsergänzung“ (z.B. er nennt sie Schätzchen) und E8 sind „Artergänzungen“ (z.B. er nennt sie faul), E9 ist der ErgänzungssatzErgänzungssatz. Dem ahd. Verb geban wird u.a. der SatzbauplanSatzbauplan 013 zugeordnet und durch den Belegsatz (OtfridOtfrid von Weißenburg 1,27,39) gab er mit giwurti in avur antwurti (= P, Nnom, Ndat, Nakk) verdeutlicht. Dem fnhd. Verb geben wird u.a. der Satzbauplan 014 zugeordnet und durch den Belegsatz (LutherLuther, Martin, Jn6.51): welchs ich geben werde fur das Leben der Welt (= Nakk, Nnom, P, PräpG) verdeutlicht (Thornton 1984, 290, 293).

Verb-Aktanten-KonstellationHARRY ANTTILA (1997, 78‒83) definierte SatzmodellSatzmodellSatzbauplan wie folgt: „Mit Satzmodellen sind syntaktische Grundstrukturen gemeint, die auf der Valenz beruhen und die jedem realisierten Satz zugrunde liegen. […] Es handelt sich also um eine begrenzte Zahl von abstrakten Strukturmodellen, denen alle Verben des Deutschen zugeordnet werden können. Es ist zu beachten, daß ein und dasselbe Verb zu mehreren Satzmodellen gehören kann.“ (Anttila 1997, 78). Bei Anttila werden Satzmodelle, die bei aktivischenaktivischPrädikatenPrädikat vorkommen, von solchen unterschieden, die bei passivischenpassivisch Prädikaten vorkommen (Anttila 1997, 156). Die für die Satzmodelle konstitutiven (d.h. die obligatorischenobligatorisch und fakultativenfakultativ) SatzgliederSatzglied sind im Satzmodell durch fettgedruckte Abkürzungen der grammatischen Bezeichnungen präsent. Dem Verb danken wird z.B. entweder das Satzmodell sub dat prp mit den Satzgliedern SubjektSubjekt, DativobjektDativobjekt und PräpositionalobjektPräpositionalobjekt (Der Lehrer dankt dem Schüler für die Hilfe) zugeordnet oder das Satzmodell sub dat gls mit den Satzgliedern Subjekt, Dativobjekt und GliedsatzGliedsatz (Der Lehrer dankt dem Schüler, dass er ihm geholfen hat