Hoffentlich schenkt er mir was Schönes! - Camilla Bohlander - E-Book

Hoffentlich schenkt er mir was Schönes! E-Book

Camilla Bohlander

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Beschreibung

Sie ist Zynikerin. War sie schon immer. Die Tatsache, dass Line Anfang dreißig und seit Kurzem wieder Single ist, ändert daran natürlich nichts. Im Gegenteil. Um der Trauer über das plötzliche Ende ihrer Beziehung zu entkommen, flieht Line nach Australien - doch ihr kaputtes Seelenleben nimmt sie mit. Zurück in Deutschland, lässt Line in ihrem Liebeskummer nichts unversucht, um den gut aussehenden David für sich zu gewinnen. Trotz der Unterstützung ihrer besten Freundin und Leidensgenossin Mel will dies nicht wirklich gelingen. Kann frau denn nicht auch alleine glücklich sein?, fragt sich Line und beschließt kurzerhand, sich ihr Glück einfach auf Rezept zu holen. Aber das ist gar nicht so leicht wie gedacht: Der gut aussehende Psychiater möchte ihr partout keine Medikamente zur Ruhigstellung verschreiben, die esoterische Behandlung mit merkwürdigen Tropfen bringt ihr nichts außer einer teuren Rechnung und selbst das neurolinguistische Programmieren kann sie nicht von 'unglücklich' auf 'glücklich' umpolen. Endlich fasst Line den Beschluss, ihre verkorkste Beziehung zu Männern einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und beginnt allmählich, zur Wurzel ihres fehlenden Selbstwertgefühls vorzudringen. Mit sprühendem Witz erzählt der Roman in gleichermaßen rasanten wie tiefgründigen Dialogen von der Suche moderner Singlefrauen nach Anerkennung und dem Kampf um die emotionale (Un-) Abhängigkeit von einem Mann.

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Camilla Bohlander

Hoffentlich schenkt er mir was Schönes!

Roman

Für meine Eltern

November

Fluchthelfer

Es passiert immer in den unpassendsten Momenten. Dabei ist es eigentlich schon an sich unpassend, egal wann es passiert. Aber im Geschäft ist es noch kein Problem, dann kaufe ich den Pulli halt nicht. An der Tankstelle, wenn ich vollgetankt habe und es erst dann bemerke, ist es schon etwas ungünstiger. Ist trotzdem alles zu regeln. 21. Jahrhundert und so. Brisant ist es aber gerade jetzt – eine Stunde vor Abflug.

Brauchte ich denn wirklich noch eine Zeitschrift? Bei dem übergroßen Entertainmentangebot an Bord und den exzellenten Rotweinen eigentlich nicht nötig. Doch es musste unbedingt noch schnell eine Glamour sein, bevor ich quasi einmal um die ganze Welt reisen würde.

Vielleicht war es gerade diese beängstigende Erkenntnis, die in meinem Hirn ein Wirrwarr all der PIN-Nummern und Codes auslöste, die man so in sich vereint. Also tippte ich an der Kasse, die Glamour unter dem einen, mein Handgepäck unter dem anderen Arm, mit kaltem Finger, aber voller Überzeugung, die PIN-Nummer meines Handys in den kleinen Apparat auf dem Kassentresen. Dreimal.

Wer entscheidet eigentlich über Bezahlenkönnen oder Nichtbezahlenkönnen? Geldbekommen oder nicht? Eine Glamour bezahlen können? Welcher Idiot entscheidet bei meiner Bank, dass drei Versuche ausreichen müssten, um den Zahlungsvorgang erfolgreich einzuleiten? Da kann ich nur sagen: In Ausnahmesituationen reichen sie nicht.

In einer Stunde geht mein Flieger. Ich bin etwas nervös. Ein Zustand, den ich als Extremsituation bezeichnen möchte. Extremsituationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht normal sind. Sie sind extrem.

Meine Güte, das hat doch schon Sandra Bullock in den Neunzigern in Speed festgestellt. Gott, in den Neunzigern! Folgesituationen von Extremsituationen sind Situationen, die nur entstehen, weil die vorherige Situation schon extrem war, und sind deshalb selbst extrem zu nennen. Extrem schwierig. Sorry, das muss aber auch heute noch gelten. Das Erinnern von PIN-Nummern in Extremsituationen ist so ein Fall – und deshalb gerade jetzt extrem unmöglich. Dreimal daneben. Karte gesperrt. Bitte wenden Sie sich an Ihre Bank! Toll. Wirklich gaaaanz toll! Willkommen im nächsten Jahrtausend.

Ich entreiße dem gefräßigen PIN-Ding meine Karte, weil ich fürchte, es saugt sie sonst noch ein. Warum reicht nicht längst nur mein Fingerabdruck? Oder Bezahlen mit ein bisschen Spucke, das wäre doch mal eine feine Sache.

Gut. Ich lege die Glamour wieder zurück ins Regal neben mir. Die Verkäuferin mit dem sympathisch schwingenden Pony wirft mir noch einen mitleidigen Blick zu, wendet sich aber schnell der nächsten Kundin zu.

Stehe ich also allein da, ohne EC-Karte, ohne Glamour und nur mit meinem Handgepäck, in dem ich in letzter Sekunde noch meine Zahnbürste untergebracht hatte. Eigentlich ist auch das bereits eine Extremsituation gewesen. Nächstes Mal muss ich wirklich daran denken, dass es sowohl Zahnbürste als auch eine winzige Zahnpastatube im sorgfältig gepackten Survivalpack der Fluggesellschaft gibt. Das versetzt mich doch jedes Mal wieder in Entzücken.

Aber so weit ist es noch nicht. Noch eine Stunde bis zum Abflug. Die Panik kriecht in mir hoch. Meine EC-Karte ist gesperrt, Travellerschecks gibt es auf dieser spacigen Welt fast gar nicht mehr und von meiner Kreditkarte weiß ich den PIN erst recht nicht. Und das schon seit Jahren. Geld abholen damit ist also nicht, nur einkaufen.

Ich will meinem Freund aber nur ungern auf der Tasche liegen. Außerdem bin ich nach der Ankunft noch ein wenig auf mich allein gestellt. Trevor werde ich erst am Abend treffen. Den Besuch bei seiner Schwester konnte er nicht absagen. Auch nicht für mich. Ich verstehe. Aber dann würde er ganz für mich da sein …

Jetzt heißt es einen kühlen Kopf bewahren. Gedanken ordnen. Die Leute schwirren an mir vorbei. Ich stehe einfach da. Woher bekomme ich nun Geld? Noch brauche ich es nicht, aber wenn ich in Sydney gelandet bin, wäre der eine oder andere Dollar doch schön. Mir dröhnt der Kopf.

»Entschuldigung, gehört die Ihnen?«

»Was, wie?«

»Die Tasche, gehört die Ihnen?«

Als ich aufblicke, kann ich nicht anders, als auf seine unglaublich große Nase zu starren. Der freundliche Düsseldorfer Securitymann der Firma Safety, wie mir sein Aufnäher auf der blauen Uniform eindeutig verrät, schaut mich vorwurfsvoll an.

»Junges Fräulein, Sie wissen doch, Taschen dürfen nicht unbeaufsichtigt herumstehen.« Ja, safety first, ich weiß. Allein die Tatsache, dass er mich »junges Fräulein« nennt, lässt mich ihn auf Mitte fünfzig schätzen. Da ist er wieder, mein Spürsinn. Geradezu faszinierend. Ich kenne die Menschen. Ja-ha, das ist es, was man braucht! Immer den richtigen Riecher.

Gedanken sortieren. Was sagte er, meine Tasche unbeaufsichtigt? Ich habe mein Handgepäck doch nur kurz abgestellt und mich hilflos umgeschaut. Mag sein, dass ich einige Zentimeter von ihr weggerückt bin. Ich habe schließlich nach einer Lösung für mein Problem gesucht. Macht mich das schon verdächtig? Dies ist immerhin eine Notsituation. Muss ich ihm vielleicht auch noch mal erklären, dem spießigen Oberwachhund. Ich verstehe nicht, dass die Leute gleich immer so ausrasten müssen. Sonst sind sie beschäftigt und bemerken mich nicht, doch auf einmal bin ich nicht mehr so unsichtbar wie sonst. Ich meine, ich stehe hier, gucke bestimmt wahnsinnig traurig und unsicher, und bisher hat das doch auch keinen interessiert.

»Ja, ähm, nein – also, ja, das ist meine«, stammele ich. Er verzieht den Mund. Was war das? Ein Lachen? Lacht der mich an oder aus? Manchmal habe ich das Gefühl, ich erwecke ein gewisses Mitleid bei den Leuten. Ich bin eine selbstbewusste junge Frau. Sehe nicht schlecht aus und bin auch sonst ganz zufrieden mit mir. Gut, das Haarproblem ist mir in die Wiege gelegt und im Supermarkt müsste ich ein Leiterchen mitnehmen, um an die oberen Regale zu kommen. Mach ich aber nicht.

Mir fällt wieder die Frau vom Check-in ein, die mich vor einer halben Stunde zum ersten Mal an diesem Tage so merkwürdig angegrinst hat. »Frau Hohendal, möchten Sie einen Fensterplatz?«, hatte sie gefragt. »Oh ja, ich glaube schon«, habe ich geantwortet. Die Dame mit dem gelben Halstuch lachte. »Glauben Sie oder sind Sie sich sicher?« Ein unnötiges Schmunzeln kräuselte sich durch ihr Gesicht, ein Kichern machte sich in ihrer Kehle breit. Hell, aber doch bemüht, es schnellstmöglich in den Griff zu bekommen.

Oh Gott, das war aber lustig. So einen Gag habe ich ja noch nie gehört. Sagen Sie all meine Termine ab, ich werde mich tagelang kaputtlachen. Das wäre mal eine angemessene Reaktion auf ihren Hammergag gewesen. Oder ich hätte ihr sagen können, dass sie mal nicht zu frech werden solle, die kleine Bodenstewardess. Und dass ihr Gelb sowieso nicht stehe und sie aussehen lasse wie ein Räuchermännchen auf Nikotinentzug. Stattdessen sagte ich: »Ja, Fenster bitte.« So ist es immer. Ich bin freundlich und ärgere mich später.

Der Securitymann ist weg. Jetzt mal langsam und gut nachdenken. Ich checke alle Möglichkeiten ab. Wer könnte mir denn eventuell Geld bringen? Bis es jemand zum Flughafen schaffen würde, säße ich schon im Flieger. Und dass sich jemand am Freitagnachmittag bis zum Flughafen quält, kann ich eigentlich auch keinem meiner geschätzten Freunde zumuten. Wenn ich es mir recht überlege, hat auch kaum einer ein Auto.

Also fasse ich den tollkühnen Plan, meine Karte einfach wieder entsperren zu lassen. Wozu gibt es denn am Düsseldorfer Flughafen eine Sparkassenfiliale! Ich bin fest entschlossen mich nicht abweisen und meine EC-Karte wieder brauchbar machen zu lassen.

Ja-a-a, das sei gar nicht so einfach, sagt die Sparkassenfrau. Die Karte müsse erst einmal zur Hauptfiliale geschickt werden, die würden sie dann wieder freischalten und dann könnte ich sie dort abholen. Oder halt einfach direkt eine neue beantragen. Das würde nur ein paar Tage dauern.

Prima, denke ich, könnten Sie mir die dann bitte nach Australien schicken? Adresse? – Weiß ich jetzt nicht genau. Haben wir nie drüber gesprochen. Irgendwo in Kings Cross. Schreiben Sie doch einfach: Line Hohendal, Kings Cross, Sydney. Wird schon ankommen.

Gut, die Frau kann nichts dafür, trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, hier nicht optimal betreut zu werden. Und Betreuung könnte ich gerade gut brauchen.

Ich erkläre ihr die Situation, sie geht weg und kommt nach gefühlten drei Stunden wieder.

»Also, es gibt die Möglichkeit, Ihre Daten und eine Kopie des Personalausweises in die Hauptfiliale zu faxen, und dann zu schauen, ob die es so regeln können. Die müssen das in ihren Computer eingeben, entsperren und einen neuen PIN zurückschicken.«

Wow, sieh einer an, da haben sie festgestellt, dass sie doch noch so ein altes, verstaubtes Ding in der Ecke stehen haben, das sich Faxgerät nennt. Toll, und sie schmeißen es nur für mich noch mal an. Ein bisschen oldschool, aber es ist einen Versuch wert.

»Gut, dann machen Sie es so«, sage ich bestimmt. Die Sachen sind schnell aufgenommen und das eingestaubte Faxgerät fängt an zu faxen. Auf einmal kommt die Frau in ihrem blauen Bankoutfit in Bewegung. Sie faxt, telefoniert und tippt am Computer rum. Alles klar. Wird ja wohl gehen. Ich bin optimistisch und lehne mich entspannt an den Tresen. Nach weiteren gefühlten vier Stunden kommt sie mit einem Wisch in der Hand zurück.

»So, die Karte müsste nun wieder gehen. Sie können den alten PIN-Code verwenden. Das sind dann zehn Euro Bearbeitungsgebühr.«

Ach, was soll ich mich aufregen, denke ich. Die Frau macht ja auch nur ihren Job. Klar.

»Ich habe nur leider ja kein Bargeld«, sage ich. Sie erinnern sich, ich musste deswegen gerade meine Karte freischalten lassen, bei IHNEN. Das sage ich natürlich nicht laut, nicht dass sie meine Karte wieder sperrt.

Sie schaut verwirrt.

»Können Sie das nicht irgendwie vom Konto abbuchen?«, frage ich.

»Ja, das dauert jetzt natürlich noch mal etwas.«

»Davon gehe ich aus.«

Kein Thema, ich wollte sowieso schon immer mal wie die Familie von Kevin über den Flughafen sprinten, um den Flieger nicht zu verpassen. Nur, dass ich Kevin nicht allein zu Haus hinterlasse, weil ich gar keinen Kevin habe. Noch nicht einmal eine Kim Chantal. Oder einen total süßen kleinen Jonas. In meinem Freundeskreis fängt sie gerade an, die Babyepidemie. Die eine oder andere kann gar nicht mehr ohne ihr Balg, das ihr Leben ach so komplett macht. Diese zynische Einstellung sollte ich bald mal ablegen, würde meine Mutter an dieser Stelle sagen. Und vermutlich hat sie recht. Zynismus rettet mich dafür aber zu oft. Ist doch besser als Weinen!

*

Endlich halte ich meine freigeschaltete EC-Karte wieder mit dem guten Gefühl in der Hand, dass sie mir auch am Bankautomaten zu einem guten Gefühl verhelfen wird. Das wäre geschafft. Und gleich wird mir bestimmt auch der PIN wieder einfallen.

Ich mache mich auf zum Gate 15. Noch zehn Minuten bis zum Abflug. Allerletzter Aufruf für den Flug 672 nach Sydney. Rennen finde ich selbst jetzt übertrieben, aber vor allem peinlich. Trotzdem gebe ich ein bisschen Gas und sehe aus wie einer von diesen Gehern, deren Po so schnell hin und her wackelt. Etwas aus der Puste komme ich am Gate an, eine Stewardess scheint mich bereits zu erwarten. Den lang ausgestreckten Arm reckt sie mir schon vier Meter vorher entgegen und entreißt mir meine Bordkarte, während ich vorbeidüse.

»Guten Tag, das ging ja gerade noch mal gut. Rechter Gang, Reihe 24, Platz A.« Ich habe es geschafft, ich sitze auf meinem Platz im Flugzeug nach Australien.

*

»Line, so heißt du doch, oder?« Ich schrecke von meinem Schreibtisch hoch. Mein Blick bleibt dennoch hoch konzentriert auf dem Computerbildschirm kleben, als könne ich mich dahinter verstecken. Wohl nicht.

»Ja?«, flüstere ich.

Der hochgewachsene junge Typ schaut mich fragend an. Seine dunklen Haare fallen ihm ins Gesicht, da er den Kopf zu mir runterneigen muss. Oh, ein Mittelscheitel. Ich zucke zusammen, weil ich einen Schuppenangriff befürchte. Er trägt ein schwarzes Hemd in seine Joop-Jeans gestopft, festgehalten durch einen dicken Joop-Gürtel. Fehlt nur noch, dass der Typ Wolfgang heißt.

»Hast du denn schon mal einen Artikel geschrieben?«

»Ähm, na ja, hier nicht, aber bei der Zeitung.«

»Gut. Schön, vielleicht hätte ich da was für dich. Wir brauchen dringend noch einen Platzfüller für die nächste Ausgabe, vielleicht fällt dir da ja etwas ein. Ruf einfach durch, ich sitze auf der -2012. Ach ja, und das ist Philipp, er kann dir auch helfen.« Grinsend weist er auf den gut aussehenden Typen, der mir gegenübersitzt, den ich aber nie im Leben freiwillig angesprochen hätte. Er lächelt wie in einer Zahnpastawerbung zu mir rüber, seine Zähne strahlen wie Flutlicht. Der Chef ist wieder weg. Er ist immer unglaublich beschäftigt. Und ich sitze allein hier mit Blend-a-med-Blondie.

Ich hatte Philipp schon ein paar Mal in der morgendlichen Redaktionssitzung erlebt. Er kommt immer exakt fünf Minuten zu spät, stürzt zuerst zum Kaffeeautomaten und lässt sich danach mit einem lauten Seufzer in den Stuhl am Kopfende fallen. Als linke Hand des Chefredakteurs hat er viel zu tun. Viel mehr als alle anderen natürlich!

Erst nachdem der Chef wieder davongerauscht ist, verstehe ich, was er gerade gesagt hat. Ich habe endlich eine richtige Aufgabe bekommen. Sie lautet, den unglaublich tollen Philipp anzusprechen und vielleicht sogar etwas zu schreiben. Aber was um Himmels willen meint er mit »etwas«? Eine Anekdote aus meinem Leben? Einen Psychothriller? Ein Kochrezept? Wie soll ich das wissen? Hat er das womöglich erwähnt, als ich auf den Bildschirm gestarrt und mir überlegt habe, wie mein Gesichtsausdruck möglichst lässig und entspannt aussieht?

Nun bin ich alles andere als entspannt. Oje, ich brauche eine Idee für ein Thema. Am besten zwei. Drei. Der Chef will bald etwas hören. Das Telefon auf der internen Nummer -2012 soll glühen. Er würde vor Freude über meinen Vorschlag aus dem Stuhl kippen und mich zu seiner persönlichen Assistentin ernennen.

»Äh, Entschuldigung, du sag mal, ich soll so einen Text schreiben, ich hab das aber noch nie gemacht«, stammele ich und kaue auf meinem Stift rum.

Philipp guckt hoch.

»Du bist doch der Super-Redakteur … äh, sagt er«, kichere ich kindisch. »Könntest du mir helfen? Bitte.«

Philipp lächelt, es fühlt sich allerdings eher an, als würde er seine tadellos weißen Zähne fletschen. Er schweigt. Seine Augen werden weiß.

»Ich weiß nicht, was er meint. Bitte. Du würdest mir sehr helfen?«

Er schweigt weiter. Der schöne Philipp grinst unverändert und starrt gruselig durch mich durch. Sein perfektes Lächeln verschwimmt zu einer fiesen dauergrinsenden Grimasse mit zu stark gebleachten Zähnen. Sein ganzes Gesicht ist verzerrt und scheint gleich zu zerspringen.

*

Mein Traum wird jäh unterbrochen. Ich schrecke hoch. Ladies and Gentlemen, please remain seated with your seat belts fastened until we have reached our final parking position.

Zwischenstopp in Dubai. Und dann – nach mehr als zwanzig Stunden Flug, weiteren wirren Traumsequenzen, einem mehrfach eingeschlafenen Bein und einem fetten Schlafknautschstreifen auf der Stirn – mache ich mich endgültig zum Ausstieg bereit. Sydney, die Sonne brennt und mein Haar sitzt alles andere als perfekt.

Welcome. Let the sunshine in your heart. Yeah.

Nach einer umständlichen Gepäckkramerei laufe ich auch schon durch die Gangway, lasse meinen Rucksack auf dem Band kreisen, bevor ich ihn mir schnappe, und stelle mich in die Schlange für den Zoll. Die Einreise nach Australien ist an sich schon ein Erlebnis. Überall stehen große Warnschilder, auf denen Äpfel und sonstige Nahrungsmittel abgebildet sind, die man auf keinen Fall, aber auf gar keinen Fall mit einführen darf. Australien ist schließlich ein vom Rest der Welt abgetrennter Kontinent und sehr darauf erpicht, dass das auch so bleibt, was die Tierwelt, die Nahrungsmittelkette, Viren und sonstigen Naturkram angeht. Da kann ein einziges Staubkorn eines anderen Kontinents schon mal ein globales Chaos auslösen. Wehe dem, der einen Brocken Erde unterm Wanderstiefel einschmuggelt!

Etwas genervt stehe ich in der Schlange und beobachte eine Horde Amerikaner, die ihre mitgebrachten Sandwiches und Getränkekanister auf ebendiese auf den Schildern abgebildeten Lebensmittel überprüft. Ob auf dem Sandwich wohl auch Apfel ist? Der Amerikaner an sich meint wohl, so weit weg von zu Hause gibt es nichts zu essen, da schmiert man sich lieber noch eine Stulle für den Weg. Für alle Fälle. Sie pulen etwas in ihren Broten rum, bevor man anscheinend beschließt, alles wegzuwerfen.

Nach gut einer halben Stunde bin ich endlich dran und ein freundlicher Zollbeamter nimmt meine Einreiseunterlagen unter die Lupe.

»Are you here for holidays?«, fragt er.

»Yes Sir«, grinse ich gut gelaunt zurück. Meine gute Laune scheint ihn aber nicht zu beeindrucken.

Eine Station weiter hieve ich meinen Rucksack zum Durchleuchten auf das Band. Er kommt zwar am anderen Ende wieder raus, aber der Zollbeamte steht bei meinem Anblick kurz vor einem Herzinfarkt.

»IS THIS YOUR BAG?«

»Y-e-s«, stottere ich.

»DID YOU PACK IT YOURSELF?«

Ich schaue ihn ungläubig an.

»DO YOU UNDERSTAND ME?«

Ich nicke.

»DO YOU UNDERSTAND ENGLISH?«

Er wird immer lauter. Ich grübele, was er jetzt wohl von mir hören will. Meine Englischnote in der Schule?

Ich fange an zu schwitzen und nicke eifrig.

»SO, DID YOU PACK IT YOURSELF?«

Jetzt brüllt er und guckt finster. Ich nicke stumm.

Er wühlt in meinem Rucksack rum und zieht etwas von gaaaanz unten aus der Innentasche hervor. Seine Stirn zieht sich zusammen, seine Augen sehe ich schon nicht mehr. Sie sind in den Zornesfalten verschwunden.

Scheiße, ein zerknautschter Müsliriegel! Der muss von der letzten Fahrradtour noch da drin sein. Und ja, ich habe die übergroßen Warnschilder mit Äpfeln, Birnen, Bananen und auch Müsliriegeln darauf gesehen. Und mir ist völlig klar, dass nur Trottel es nach fünfhundert Metern Fußmarsch durch den Zoll und achtzig Schildern immer noch nicht gerafft haben, dass die Australier in Sachen Lebensmittel etwas empfindlich sind. Sie sind ein abgeschlossener Kontinent und wollen es auch bleiben, unsere Seuchen sollen wir mal schön zu Hause lassen. Jaaaha, I understand ja.

Nach einer viertel Stunde Moralpredigt über Viren, Schädlinge und Naturgewalten und meinem »Yes, I understand English very well« lässt er mich laufen.

Okay mate, mach es gut. Ich bin durch.

Schon öffnet sich die Schiebetür und ich stehe vor einem Haufen Menschen, die alle ihre Liebsten, Geschäftspartner, Gäste oder wen auch immer erwarten. Mitten in der Ankunftshalle. Ein Schild mit meinem Namen darauf kann ich auf die Schnelle nicht finden. Da könnte ich auch stundenlang hier stehen und rumgucken. Für einen kurzen Moment gebe ich mich dennoch der Illusion hin und lasse meinen Blick über die Namensschilder und die Personen hinter ihnen schweifen. Ganz unauffällig scanne ich im Laufen alle Schilder ab. Vielleicht steht ja doch irgendwo Miss Hohendahl und dann schauen wir uns an, fallen uns in die Arme und sind so froh, dass wir uns endlich wiederhaben. Aber nein, mich erwartet wirklich keiner. Er ist nicht überraschend doch noch gekommen.

Ich brauche einen Plan. Nein, Mist, erst einmal brauche ich Geld. Gute Australische Dollar. Also, wo ist ein Bankautomat?

Im Flieger zwischen der zweiten Runde des schlimmsten Filmes aller Zeiten Twilight und dem stetigen Bemühen, meinen überbreiten Sitznachbarn in seine Sitzlehnen zurückzuquetschen, war mir urplötzlich wieder der PIN-Code für meine EC-Karte eingefallen.

Siehst du, Line, geht doch, hatte ich mich selbst beruhigt. War nur die Aufregung, alles in Ordnung mit dir. Die Demenz ist noch lange hin.

*

Mit dem frisch gezogenen Geld genehmige ich mir ein Taxi, das mich direkt in die City kutschiert. Man gönnt sich ja sonst nichts. Auf Bahnfahren habe ich nun wirklich keine Lust mehr, ich fühle mich wie gerädert. Es ist knapp elf Uhr, ich bin ein Schatten meiner selbst, es sind dreißig Grad hier, aber ich ziehe meinen Kapuzenpulli nicht aus, so kalt ist mir vor Erschöpfung. Wirklich erholsam war der Schlaf im Flugzeug nicht. Ich bin froh, dass ich nicht im Hostel in einem Etagenbett übernachten muss, sondern bei Trevor auf der Couch hausen darf.

Etagenbetten sind für mich das absolute Grauen. Eine ruhige Nacht ist in diesen wackeligen Dingern ausgeschlossen. Vor allem unten. Nicht nur, wenn ein besonders schweres Menschenkind oben schläft, droht Gefahr. Selbst bei so ganz winzig kleinen, dünnen Indie-Mädchen muss ich befürchten, dass der Lattenrost nicht hält und ungebremst samt Matratze auf mich knallt und ich ersticke, weil ich unter Schock bewegungsunfähig bin und mich nicht befreien kann. Es wäre ein qualvoller, elendiger Erstickungstod.

Dann wäre es zwar endlich vorbei, denke ich jetzt, aber ich hätte den Zeitpunkt nicht selbst gewählt. Schließlich ließe es sich zeitlich nicht einkreisen, wann die Matratze runterkracht. Ich würde also wach liegen und warten, am Ende doch einschlafen und dann würde es überraschend passieren. Nein, das wäre im Moment nur halb so befreiend. Das wäre ja streng genommen sogar ein Unfall. Ne, also wenn ich mich zum Sterben entschließe, dann möchte ich schon selbst bestimmen, wann es so weit sein soll. Viele denken, der Tod ist das Schlimmste, was einem passieren kann, aber so ist es nicht.

So, Schluss mit diesen Gedanken, ich bin da. Wo? Das weiß ich noch nicht. Hier halt.

Ich sollte zur Oper. Ich meine, es ist Sydney, also trotte ich gedankenverloren Richtung Oper! Da ist immer was los. Ein paar Stunden noch, dann kommt Trevor aus Melbourne zurück. So aufgeregt war ich lange nicht mehr, ich habe ihn ewig nicht gesehen und verspreche mir doch einiges von meinem Besuch.

Es sei kein Problem, dass er erst noch bei seiner Schwester sei, hatte ich ihm versichert, nachdem ich den Flug gebucht hatte. Ich wäre ja erwachsen und könnte natürlich ein paar Stunden allein verbringen.

Ich möchte ja nun auch tapfer sein, bis ich später in seinen Armen zusammenbrechen darf. Ich wollte unbedingt nach Australien, um – wie man so schön sagt – die Seele baumeln zu lassen, um herauszufinden, was aus mir werden soll, zu flüchten und um zu vergessen. Vor allem aber will ich aufgepäppelt werden.

Mit derMonorail hat man einen Spitzenblick über Sydney, vorbei am Darling Harbour, der Town Hall, einmal rund um das Zentrum. Einatmen. Ausatmen. Ich bin wieder da. Alle Eindrücke, jede Häuserfassade muss ich knipsen, aufsaugen, als Bild im Kopf behalten. Vor allem aber fix mal eben bei Facebook posten: Angekommen, Sydney rocks! Dass es bisher noch so gar nicht rockt, spielt keine Rolle. Ich atme tief ein und aus und möchte schreien: »Schaut her! Seht ihr das! Siehst du das, wie schön das ist!«

Aber es würde keiner hören. Vor allem er nicht. Er will es ja nicht mehr hören und nicht mehr sehen.

Direkt vor der Oper am Wasser lasse ich mich erschöpft vom Weg, von meinem Jetlag und all der wieder eingeatmeten Luft der Freiheit ins Portobello Cafe fallen. Nicht oft, nun ja, eigentlich nie, sitze ich allein im Café. Hier hatte ich es vor fünf Jahren schon einmal getan. Damals fand ich die Allein-Sitzer noch ganz besonders cool, wie sie da ganz lässig mit einer Zeitung saßen oder auch nur rumschauten. Sie existierten einfach nur, ganz ohne eigenes Dazutun. So, nun sitze ich auch hier.

Ich flippe aus, bald übertreibe ich es aber mal richtig und gehe allein ins Kino. Ha, die werden Augen machen, denke ich. Nun, ehrlich gesagt, würde natürlich keiner Augen machen.

Drei Eiskaffees, eine Cola und ein Sandwich später ziehe ich meine verschwitzte Jeans vom Plastikstuhl ab und trotte zur U-Bahn-Station. Noch zwei Stunden, dann ist Trevor da. Er hat es versprochen. Wir haben uns in Kings Cross verabredet, es sind nur ein paar Stationen zu fahren, aber bei meinem Tempo heute mache ich mich lieber rechtzeitig auf den Weg.

Wie eine fußlahme Schnecke schlendere ich wenig später durch das Viertel. Es hat sich nichts verändert. Ich suche die Orwell Street, das Sydney Central. Ich will es nur noch mal kurz sehen, bevor ich mich mit Trevor treffe. Das Hostel war meine erste Anlaufstelle damals. Es ist ein lila gestrichenes Haus, von innen größtenteils gelb, mit einem Treppenhaus komplett aus Holz. Die Zimmer hatten besonders hohe Decken, ein Bad gab es auf dem Flur, das war es.

*

Von hier aus startete ich vor fünf Jahren jeden Morgen, um in den Süden der Stadt zu kommen. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, dass ich nur in Sydney ein Praktikum bei einer Zeitschrift machen konnte. Und so stand ich damals da, mit sechsundzwanzig Jahren, vor dem großen, weißen Gebäude. Geschätzte fünfundzwanzig Stockwerke hoch. Schon im Aufzug wusste ich, dass ich hier eine ganz kleine Nummer sein würde, und das meinte ich wörtlich. Gut, dass ich wenigstens meine höchsten Knöchelbrecher aus dem Rucksack gezogen hatte. Oben angekommen, bemerkte ich schon beim Reingehen, dass ich nicht nur wesentlich kleiner als alle so groß gewachsenen Australier war, sondern auch unpassender nicht hätte gekleidet sein können.

Im schicken, feudalen Sydney kam ich mir mit meiner Jeans, den schwarzen High Heels und der reingesteckten weißen Bluse trutschig vor. Hier im zwölften Stock in der Redaktion pflegte und bevorzugte man die Farbe schwarz. Das Marketing-und-Werbeagenturen-Schwarz mit einer fetten goldenenHermes-Gürtelschnalle über der besonders im Schritt kneifenden Hose. Regungslos stand ich ein paar Minuten im Eingang, um all die wuselnden Menschen zu beobachten. Hoffentlich nicht mit offenem Mund. Ich erinnere mich nicht.

Irgendwann wagte ich mich dann wohl doch unsicher auf den hohen Hacken wackelnd vor bis zum roten Empfangstresen. Ein Chor sang damals nicht zur Begrüßung. Die Empfangsdame bemerkte mich gar nicht. Sie war zu sehr mit der Telefonanlage beschäftigt.

Also gut, vielen Dank für den freundlichen Empfang und klar, kein Problem, ich finde den Weg schon allein. Kein Ding. Danke. Ich nickte mir selbst im Spiegel aufmunternd zu und warf die lockigen Haare zurück.

Der Gang, den ich dort auf meinen hohen Hacken möglichst elegant, aber wohl doch leicht wackelig entlangschwankte, war länger, als ich dachte. Man kommt sich mit hohen Schuhen im ersten Moment, wenn man hineinschlüpft, immer wahnsinnig sexy vor. Ne, was hab ich auf einmal lange Beine! Und sie wirken auch schlanker – schon klar. Aber der Gang! Wie soll ich nur gehen? Soll ich die Knie durchdrücken oder nicht? Lieber leicht beugen? Arsch hin und her schwenken oder lieber Arschbacken zusammenkneifen und möglichst steif die Hüfte in Position halten?

Es ist immer das Gleiche, auch wenn ich nur Schuhe mit etwas Absatz anziehe. Nach nur ein paar Metern auf der Straße ist meine Anfangseuphorie über meine sexy langen Beine und meine schlanke Erscheinung meist schnell verflogen. Denn natürlich sind alle hohen Hacken immer und zu jeder Zeit totaaaaaal bequem, man müsse sie und sich nur einlaufen und daran gewöhnen, wie mir die Promitanten aus dem Fernsehen immer weismachen wollen. Leute, aber habt ihr mal hingeguckt, wie ihr damit lauft?

Ich checke es immer direkt im Schaufenster, kaum dass ich das Haus verlassen habe. Immer und immer wieder. Sieht es gut aus? Naaa, ja! Geht. Im nächsten Fenster gucke ich natürlich noch mal genauer, jetzt aber richtig. Ich bin so konzentriert auf meinen Gang und mein Spiegelbild, dass ich bei jeder sich nun bietenden Glasfläche kontrolliere, dass ich dabei glatt vergesse, entspannt zu gucken und gegebenenfalls sogar mal zu lächeln, falls mir ein guter Typ entgegenkommt.

Ich traue mich zwar immer wieder in die hohen Schuhe, laufe aber mit einem Zitronengesicht durch die Straßen. Höher als sonst, aber eben mit der erotischen Ausstrahlung einer Kleiderstange. Das Plus an Sex-Appeal, das mir die Hacken eigentlich verpassen sollten, ist nicht auffindbar. Plus und plus macht eben manchmal auch minus. Wer sich zu sehr aufbrezelt und sich zu sehr bemüht, gut auszusehen, macht ein Verlustgeschäft.

Immerhin schaffte ich es damals unfallfrei bis zum Vorzimmer des Redaktionsleiters Mr Balsh. Hier strahlte mich seine Assistentin, hinter ihren Schreibtisch geklemmt, schon an, als ich noch gar nicht richtig im Zimmer war. Endlich, ein freundliches Gesicht. Ich glaubte, sie sah mir an, dass ich nur die Praktikantin aus Deutschland sein konnte, die nun acht Wochen hier arbeiten wollte.

»Hi, come on in, I’m Katie«, wies sie mir mit ausgestrecktem Arm den Weg zu ihrem Schreibtisch, damit wir uns begrüßen konnten. Sie blieb dabei sitzen, strahlte mich aber von unten an wie ein Deckenfluter. Das war der Eisbrecher. Schon fühlte ich mich besser und wartete gespannt auf den Chef. Und das war mal ein Chef!

Ich musterte ihn ständig von der Seite. Was für ein Typ! Groß gewachsen, gebräunt, blonde längere Haare. Ein echter Sonnyboy und Surfertyp. Ich stellte ihn mir am Bondi Beach auf seinem Board vor und dabei machte er eine perfekte Figur. Wie konnte es sein, dass so ein Typ ein Hochzeitsmagazin herausbrachte? Er ging mit mir zu meinem Schreibtisch. Wobei »Schreibtisch« übertrieben ist. Es war eher ein ein Meter breiter Arbeitsplatz mit Computer und Telefon. Immerhin. Die Beine quetschte ich unter den Tisch, rechts und links vom Tischbein. So, wie es sich für Praktikanten gehörte. In der Vorstellungsrunde, die der schöne Chef Gott sei Dank mit mir zusammen absolvierte, blieben mir erst einmal nur zwei Leute im Gedächtnis. Anne vom anderen Ende des Büros und Trevor, der mir eigentlich direkt gegenüber saß, den ich aber wegen der Trennwand nur im Stehen sehen konnte.

Es war ein typisch amerikanisches und anscheinend auch australisches Großraumbüro. Wenigstens konnte ich so bei unangenehmen Dingen immer meine Schneckenhaustechnik anwenden. Mit den Trennwänden funktionierte das super. Einfach hinsetzen, Kopf einziehen und geradeaus starren. Schwupps, war ich quasi verschwunden. Abgetaucht, wenn etwa jemand mit mir reden wollte. Es haben mich während des gesamten Praktikums aber ohnehin nicht viele Leute dort bemerkt. In meinen Trennwänden gefangen.

Ich war nicht böse drum. Von einigen wollte ich auch eigentlich gar nicht bemerkt werden. Von Anne zum Beispiel. Dem Typ Tittenmäuschen konnte ich noch nie viel abgewinnen: blonde Haare, Puppengesicht, viel zu braun für ihren naturblassen Teint und die Hupen ohne Rücksicht auf Sehverluste der Mitmenschen unters Kinn geschnallt. Natürlich schlabberten ihre Klamotten, weil sie mal wieder wie durch ein Wunder einfach so abgenommen hatte. Ach, sie könne halt essen, was sie wolle. Das ist aber auch ein Ding.

Anne antwortete gleich zu Beginn schon auf mein »Hallo, ich bin Line«kreischend mit »Hey, du Süße, hi!!!!«und gab mir dazu zwei Luftküsschen gratis.Bussi, links, rechts. Dennoch war eines schnell klar, Anne wollte mir den Aufenthalt hier auch nicht unnötig versüßen, dazu war sie zu sehr damit beschäftigt, ihren Teint vollends zu ruinieren. In ihrem Gesicht ging täglich die australische Sonne auf, aber leider auch wieder unter. Gegen Mittag wuchsen ihre Pigmentstörungen zu einem flächendeckenden Gesamtbraun zusammen, das ich bisher nur als den verbrannten Satz eines Schmorbratens in der Bratpfanne kannte.

»I love being tanned«, pflegte Schmorgesicht zu sagen.

Dafür war Trevor ziemlich schnell mein Verbündeter. Trevor war wundervoll. Ich liebte ihn ab dem Moment, als er mit den Augen rollte, als sich Schmorgesicht mir mit ebendiesem hysterischen »Hi« vorstellte und mich fragte, ob wir nicht viel Sonne in Deutschland hätten.

Trevor stammt ursprünglich aus Cairns im Norden der Ostküste von Australien. Er ist ein Rumtreiber im allerbesten Sinne: selbstbewusst, sarkastisch und fast immer gut gelaunt. Trevor hat alles, wovon eine Frau nur träumen kann. Er ist groß gewachsen, könnte glatt als Will-Smith-Double durchgehen, liebt Filme mit Jennifer Aniston und ist hoffnungslos romantisch. Mein Trevor brachte mich – gleich von Anfang an – immer zum Lachen. Und ganz nebenbei fand er, ich sei die tollste Frau in der Redaktion, in der Straße, wohl in ganz Sydney. Das sagte er jedenfalls immer, wenn ich mich über ihn kaputtlachte. Meistens reichte ein schlechter Witz über meine strubbeligen Haare, das biestige Schmorgesicht, das mal wieder ordentlich gefickt werden müsse, oder meine überflüssigen Pfunde. Dann streichelte er mir zur Aufmunterung über die Wange und kniff mich in die nicht zu übersehenden Rettungsringe.

»I love your lovehandels!«, und schon fühlte ich mich zugleich verarscht und geliebt. Eine wundervolle Mischung. Das zog schon damals bei mir.

Das ist das Komische mit den Schwulen, zu oft hat man das Gefühl der körperlichen Anziehung. Es ergeben sich Momente, in denen man gerade noch gegibbelt und rumgeflachst hat, und innerhalb von Millisekunden sieht man sich in die Augen und dieser magische Moment lässt einen erschaudern. Man zittert innerlich, man kommt sich näher, doch leider denken beide: Schade, dass du kein Mann für mich bist.

Dennoch war Trevor toll. Wenn ich abends mit ihm durch Sydney bummelte, waren die Blicke der anderen Frauen nicht zu übersehen. Er sah gut aus. Und er genoss es sichtlich, für hetero gehalten zu werden, wenn er mit einer Frau im Arm rumlief. Er schwor mich darauf ein, dass wir beide irgendwann unser Gegenstück finden würden. Doch noch sei es nicht an der Zeit. Noch müssten wir hier sein, sagte er, in unserem Sydney. Dann setzte er sein verschwörerisches Lächeln auf, seine Augen blitzten und er hielt seine rechte Hand so lange hoch, bis ich mit ihm einschlug. Dafür musste ich allerdings ein paar Zentimeter, gefühlte zwanzig, hochhüpfen. Und da das an sich schon absurd war, brachen wir jedes Mal in großes Gelächter aus. Das half. Eine Portion Trevor half einfach. Kaum hatte ich den Hüpfer gemacht, und bei Trevor eingeschlagen, ging es mir schlagartig besser.

Trevor war zufrieden damit, Fotos von glücklichen Paaren, Brauteltern, Hochzeitsgästen, bunten Torten und Lamettatischchen machen zu dürfen. Damit ließe sich doch jeder noch so schnöde Artikel aufpeppen, meinten die Coolen wie Trevor, die nicht ganz so Ehrgeizigen. Doch die Redakteure, die ihren Job bitterernst nahmen, waren davon überzeugt, dass nur das absolut richtige Foto, auf dem die Braut im richtigen Winkel lachte oder ihre Haarfarbe exakt zum Hochzeitshündchen auf der Kutsche passte, die Großartigkeit ihrer geistigen Ergüsse im Artikel zum Thema Wie teuer darf das Essen sein? oder Welcher Hochzeitsreisetyp sind sie? nicht schmälerte, sondern im besten Fall noch unterstützte. Trevor nahm ihre Biestigkeiten und Ansprüche locker.

Der Job des Redakteurs war es, die Heiratswütigen zu finden, sie bei den Feierlichkeiten zu begleiten und ein Interview mit den frisch vermählten Paaren zu führen. Die konnten ihr Glück natürlich gar nicht in Worte fassen, dann aber doch stundenlang ihre Kennenlerngeschichte erzählen. In mehreren Versionen selbstverständlich. Wie die Redakteure all diese Geschichten über sich ergehen lassen konnten, war mir schleierhaft. Nein, das brauchte ich nicht. Trevor fand es romantisch, die Geschichten zu hören, und hätte sie gern selbst aufgeschrieben. Doch er durfte nur die passenden Fotos dazu liefern. Jedes Wochenende war er dafür auf einer anderen Hochzeit und sammelte zudem Ideen für die pfiffigen Bildunterschriften. Für eine Unterwasserhochzeit so nach dem Motto: Tief verbunden, Carolin & Jason. Das gleiche schlimme Wortspielchen ging natürlich auch bei einer Ballonfahrt-Hochzeit: Sie wollen hoch hinaus, Catherine & Jim. Oder für die Hochzeit auf einem Vulkan: Sie sind heiß drauf,Meredith & Bill. Herrje!

Da sind mir fast die deutschen Paare lieber, die spießig vor einem Baum posieren, ihre Feier wenig spektakulär in einer kleinen Gaststätte ausrichten und ihre Einladungskarten mit dem Spruch Wir trauen uns versehen. Kaum zu glauben, aber die gibt es immer noch. Sie meinen allen Ernstes, dieses Wortspiel sei neu, komisch oder zumindest geistreich. Oder wollen sie wirklich damit ausdrücken, wie unglaublich mutig sie sind, sich zu trauen?

Die Wir-trauen-uns-Paare grinsen dir arrogant ins Gesicht: Siehst du, wir trauen uns was, wir werden es schaffen.

Na, denn man tau! Man soll ja auch schon Pferde vor der Apotheke kotzen gesehen haben!

*

Jeden Tag beschäftigten wir uns mit Hochzeiten. Meine bisher privat erlebten Hochzeiten waren damals dagegen harmlos. So harmlos, wie die Pärchen auf all diesen Hochzeiten, die es schon gewagt hatten und von nun an nur noch in ihrer Blase vor sich hin blubberten. Sie nennen sich gegenseitig Schätzchen, Spätzken, Puperchen und wollen auf jeden Fall am Tisch nebeneinander sitzen. Schließlich sind sie ja gerade frisch verheiratet, verliebt oder sonst was. Da zählt jede gemeinsame Sekunde, jeder zusammen eingeatmete Luftzug. Meinen sie. Nicht, dass einer die Luft einen halben Meter weiter einatmet. Was, wenn die schlechter, oder schlimmer noch, besser ist? Das Risiko geht keiner ein, und so kleben die Jungvermählten meines Heimatdorfes, die nichts anderes haben als sich, den ganzen Abend zusammen. Wahlweise klebt auch die Freundin, die endlich geheiratet und geschwängert werden will, an ihrem Freund, der immer noch nicht rafft, was sie eigentlich von ihm will. Ich hatte schon oft das Vergnügen, als Single in diesen illustren Runden zu sitzen. Man gewöhnt sich daran. Mittlerweile habe ich gelernt, dass das Single-Dasein für diesen einen Abend sogar ganz lustig sein kann. Denn auf Hochzeiten flirten die anwesenden Männer definitiv immer mit der einzigen Singlefrau im Raum. Das ist ein Naturgesetz. Bei einigen Hochzeiten meiner geschätzten Freunde, die sich mit einer Heirat brüsten mussten, hatte ich schon das Vergnügen, die Angebetete des Abends zu sein. Es gilt nur, einen Trick zu beherzigen: keinen Slip anziehen. Auf einmal ist es ganz einfach: nett lächeln und witzig sein. Den Rest erledigt die Ich-bin-heute-ohne-Schlüpfer-unterwegs-und-du-ahnst-es-nicht-Ausstrahlung von ganz allein. Wenn ich dann bei meinen Sprüchen nicht mit dem Wort »Schwanz« spare, hängen die so glücklich Frischvermählten auf einmal ziemlich notgeil an meinen Lippen. Den einen oder anderen habe ich durchaus schon mit einem schmutzigen Witz meinerseits restlos zum Sabbern gekriegt. Da geht man doch gleich beschwingter, wenn auch allein, vom Schauplatz der Glückseligkeiten nach Hause.

*

Ein paar Tage vor meiner Abreise vor fünf Jahren hatte Trevor einen ebenfalls gut aussehenden Typen kennengelernt. Gut aussehend und gut aussehend macht zusammen sensationell. Wir saßen, wie fast jeden zweiten Tag, an der Theke in einer Bar in Kings Cross. Es war noch nicht mal eine Schwulenbar. Und auf einmal stand John einfach neben ihm. Es muss wohl so gewesen sein, dass sie sich nur einmal anguckten, und alles war klar. Doch diesen einen besonderen, entscheidenden Moment hatte ich nicht mitbekommen, obwohl ich danebensaß. Während ich Trevor vorjammerte, dass ich nicht zurück nach Hause wollte und ich nicht wüsste, was ich tun sollte, hatte er schon ganz andere Gedanken. Und die hatten so gar nichts mit meinen Problemen zu tun.

Nach diesem Abend waren wir noch einmal zu dritt ausgegangen. Es war nett und streckenweise lustig, aber für Trevor war ich ab sofort nicht mehr die Angebetete. Er strich mir nicht mehr über das Haar, kniff mir nicht mehr in die Seite und schüttelte mich nicht mehr. Ich bin auch nicht mehr gehüpft.

An meinem letzten Tag hatte ich einen Kuchen zum Abschied ins Büro mitgebracht. Trevor machte noch nicht einmal einen Witz bezüglich meiner Rettungsringe. Die Kollegen verschlangen die Kuchenstücke schneller, als ich sie durchschneiden konnte, und bedankten sich teils mit vollem Mund und Bröckchen spuckend bei mir. Allen voran spuckte Schmorgesicht ein überschwängliches »Sooo sad. We will miss you«. Na, sicher!