Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der erste Band des Ferne Heimat-Zweiteilers: Eine bewegende Geschichte über Zusammenhalt, Hoffnung und Überleben mitten im Krieg, inspiriert von wahren Begebenheiten Aufgrund der näher rückenden Frontlinie werden in der Endphase des Zweiten Weltkriegs Orte im Rheinland evakuiert. Anna trifft die schwierige Entscheidung, die Heimat mit einem letzten Sonderzug mit ungewissem Ziel zu verlassen. Die Fahrt führt sie in die Niederlausitz, wo sie unermüdlich versucht, ihre sieben minderjährigen Kinder vor den Schrecken des Krieges zu bewahren. Inmitten der Wirren erlebt ihre älteste Tochter Liesel währenddessen erste zarte Liebesbande.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 335
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ingrid Eßer, Jahrgang 1963, ist in einem Dorf im Rheinland, einem der (Haupt-)Handlungsorte ihres Roman-Zweiteilers ‚Ferne Heimat‘, aufgewachsen. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Finanzwirtschaft sowie den Nebenfächern Wirtschaftsinformatik und Psychologie und arbeitete im Steuerbüro und in der Verwaltung. Seit 2012 betreibt sie gemeinsam mit ihrer Tochter den Bücherblog ‚Buchsichten‘. Von Jugend an interessiert sie sich für die Geschichte ihrer Familie. Sie lebt mit ihrem Mann in einer Kleinstadt am Niederrhein.
In liebevoller Erinnerung an meine Mutti
Oktober 1946
Das graublaue Heft lag vor ihr und wartete darauf, aufgeschlagen zu werden. Sie liebte den zarten, holzigen Duft, der vom Papier her in ihre Nase stieg. Ein sanftes Rascheln von Seiten beim Umblättern war im Klassenraum der Volksschule, in dem sie saß, zu hören. Bevor sie mit dem Schreiben begann, trug sie vorne als Erstes das Schulfach ‚Aufsatz‘ auf den kartonierten Umschlag in dem dafür vorgesehenen umrahmten Bereich ein. Sie spürte die glatte Oberfläche unter ihren Fingerspitzen. Der Karton des Hefts war kaum dicker als die einzelnen Seiten im Inneren. In die nächste Zeile schrieb sie ‚Magda Kriens‘. Eigentlich hätte sie dort ihren Taufnamen Magdalena eintragen sollen, aber dann wäre ihr Name entweder über den Rand hinweggegangen oder sie hätte ihre Schrift enger setzen müssen. Beides fand sie nicht schön.
In der Familie und von Freunden sowie Bekannten wurde sie Lensche gerufen, aber das hörte sie nicht gerne. Ihre Mutter und die sechs Geschwister nannten sie Leni, das war ihr viel lieber. Leider hatte sie bisher nicht durchsetzen können, dass sie stattdessen Magda gerufen wurde. Sie konnte verstehen, dass ihren Eltern der Name zu ähnlich zu dem ihrer jüngeren Schwester Martha war. Wenn sie aber später einen festen Freund hätte, sollte er sie so nennen, wie sie es mochte. Bis dahin verblieb ihr noch genügend Zeit, um darüber nachzudenken.
Mit der abgekürzten Fassung ihres Vornamens verband sie die bekannte Darstellerin Magda Schneider. Sie fand, dass sie ihr mit dem schmalen Gesicht und der schlanken Nase sogar ähnlichsah. Auf einem Plakat, das ihr gerade in den Sinn kam, hatte die Schauspielerin dunkelblonde Haare, genau wie sie. Allerdings zweifelte sie, dass es deren natürliche Haarfarbe war, denn in einem anderen Film, an den sie sich erinnerte, war sie blond gewesen. Sie ging gerne ins Kino. Die ‚Schauburg‘ lag nur wenige Meter von ihrem Zuhause entfernt. Leider wurde sie vor mehr als zwei Jahren aufgrund des näherkommenden Krieges geschlossen. Inzwischen hatte sie aber bereits mehrfach ein anderes Filmtheater im Dorf besucht.
Magdalena ließ ihren Blick durch den Klassenraum schweifen und bemerkte, dass die ersten Mitschülerinnen schon eifrig schrieben. Sie spürte einen Hauch von Nervosität und Konzentration im Raum. An den rechten Rand der letzten Reihe auf dem Heftumschlag setzte sie ‚8. Jg.‘. Dann schaute sie auf das Ergebnis: Es sah sauber aus. Sie gab sich in diesem letzten Schuljahr besondere Mühe, weil sie im Entlassungszeugnis eine gute Note in Ordnungsliebe erhalten wollte. Bestimmt würde sie die letzte Bescheinigung ihrer Schulleistungen im späteren Leben noch einige Male vorlegen müssen.
Mit ihren vierzehn Jahren gehörte sie zu den ältesten Schülerinnen der Volksschuloberklasse der Mädchen. Demzufolge, aber auch aufgrund ihrer Größe von 1,72 m saß sie in der hintersten langen Holzbank, auf der bis zu acht Schulkinder Platz nehmen konnten. Sie trug dicke Strümpfe unter ihrem dunkelgrauen Wollrock und eine selbst gestrickte blaue Jacke über einer beigen Bluse. Ihre Haare hatte sie wie üblich am Morgen mit zwei Steckkämmen an den Seiten befestigt.
Ein leichter Geruch vom Fußbodenöl, mit dem die dicken Holzdielen regelmäßig eingerieben wurden, lag wie immer in der Luft. Der Eisenofen in der Ecke vorne neben dem Lehrerpult wurde leider aus Gründen des Heizmaterialmangels noch nicht befeuert. Die Kühle im Raum ließ ihre Finger klamm werden.
Während ihre Mitschülerinnen sich über ihre Hefte beugten, hatte ihre Klassenlehrerin Fräulein Roderburg am Pult Platz genommen. Vor Beginn der Deutschstunde war sie energischen Schrittes in die Klasse gekommen.
Nach der Begrüßung und dem Morgengebet hatte sie sich an die Schülerinnen gewandt: „Wie gestern bereits angekündigt, schreiben wir heute den ersten Aufsatz dieses Halbjahres. Ihr werdet in mehreren Klassenarbeiten über das berichten, was ihr mit eurer Familie im letzten Kriegsjahr erlebt habt.“
Als die Schülerinnen begannen, miteinander zu tuscheln, hatte Fräulein Roderburg zum Rohrstock gegriffen und damit auf das Holz des Lehrerpults geschlagen. Magdalena war bei dem knallenden Geräusch zusammengezuckt. Der Klang hatte in ihrem Inneren nachgehallt. Sie hatte das Gefühl gehabt, einen Schuss im Krieg gehört zu haben.
„Ruhe bitte!“, hatte Frau Roderburg mit unnachgiebiger Stimme gefordert. „Jede von euch hat auf die eine oder andere Weise im Krieg erfahren, was es bedeutet, die Heimat zu verlieren. Das ist euer Thema für heute.“
Die Lehrerin hatte sich umgedreht und mit Kreide ‚Als wir unsere Heimat verlassen mussten‘ an die Tafel geschrieben. Dann hatte sie sich wieder der Klasse zugewandt und die Schülerinnen angewiesen: „Beginnt bitte jetzt.“
Magdalena brauchte nicht lange zu überlegen, worüber sie erzählen würde. Die Evakuierung ihrer Familie hatte sie aus ihrer vertrauten Welt gerissen. Einerseits hatte sie in dieser Zeit Orte und Landschaften fern von zu Hause kennengelernt, Hilfsbereitschaft erfahren und neue Freundschaften geschlossen. Andererseits verblassten die positiven Erfahrungen angesichts ihrer Verzweiflung und des nagenden Hungers, die sie erleben musste, sowie der Zerstörungen, die sie unterwegs gesehen hatte. Keiner aus der Familie konnte das bisher verdrängen, aber es bestand eine stille Übereinkunft, nicht mehr darüber zu sprechen.
Im Klassenraum war es still geworden, nur das leise Kratzen von Schreibfedern auf Papier war zu hören. Magdalena schlug bedachtsam ihr Heft auf, nahm ihren Federhalter zur Hand, tauchte vorsichtig die Feder in die Tinte und streifte sie anschließend am Rand des Tintenfasses ab. Von ihren Erinnerungen ließ sie sich hineinziehen an das Ende des Sommers vor zwei Jahren.
Sie begann, die Linien in ihrem Heft zu füllen:
„Der September 1944 war für uns alle eine Zeit schwerster Prüfung. Schon umbrandeten die Wogen der Invasion unser stilles Grenzland. Näher und näher kam der Lärm der Front. …“
(Zitat aus dem Aufsatz ‚Als wir unsere Heimat verlassen mussten‘, geschrieben am 18.10.1946)
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Schulaufsatz Magdalena
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Schulaufsatz Magdalena
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Schulaufsatz Magdalena
Kapitel Neunzehn
Schulaufsatz Magdalena
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Schulaufsatz Magdalena
Kapitel Vierundzwanzig
Kapitel Fünfundzwanzig
Kapitel Sechsundzwanzig
Schulaufsatz Magdalena
Kapitel Siebenundzwanzig
Kapitel Achtundzwanzig
Kapitel Neunundzwanzig
Kapitel Dreißig
Kapitel Einunddreißig
Schulaufsatz Magdalena
Kapitel Zweiunddreißig
Kapitel Dreiunddreißig
Kapitel Vierunddreißig
Kapitel Fünfunddreißig
Kapitel Sechsunddreißig
Kapitel Siebenunddreißig
Kapitel Achtunddreißig
Schulaufsatz Magdalena
Kapitel Neununddreißig
Kapitel Vierzig
Kapitel Einundvierzig
Kapitel Zweiundvierzig
Samstag, 02.09.1944
Anna saß auf einem Schemel im Hof, geschützt von einer Holzüberdachung. Sie schaute auf den kleinen Garten, der von einer Scheune und Ställen flankiert war. Darin lagerten Kohlen, Briketts, Gartengeräte sowie anderes sperriges Werkzeug und Material.
Auf dem rechteckigen Tisch vor Anna stand ein flacher Korb mit Zwetschgen. Damit ihr die braunen Haare bei der Arbeit nicht ins Gesicht fielen, hatte sie diese im Nacken zusammengefasst, eingedreht und am Hinterkopf mit Haarnadeln befestigt. Ein leiser Wind bewegte die Zweige der wenigen Obstbäume im Garten. Unter den Büschen, die das Grundstück auf der rechten Seite begrenzten, war ein Rascheln zu hören. Eine Taube flog mit lautem Flügelschlag vorbei und von weitem erklang Kinderlachen.
Zwetschge nehmen, aufschneiden, Stein entfernen und in die Schüssel auf ihrem Schoß fallen lassen. Sie mochte die eintönige Arbeit, da sie ihr Raum bot, über anstehende Aufgaben nachzudenken. Doch die beschauliche Ruhe war trügerisch, weil sie jederzeit vom Lärm sich nähernder Feindflugzeuge verdrängt werden konnte. Wenig später hielt Anna inne und lauschte, denn sie glaubte, in der Ferne ein Grollen zu vernehmen.
„Hast du das auch gehört?“, fragte sie verunsichert ihre fast vierzehn Jahre alte Tochter Liesel.
Sie saß ihr auf einem Holzstuhl am Tisch gegenüber und half beim Entsteinen tüchtig mit. Bejahend nickte sie ihrer Mutter zu, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.
„Das ist doch kein Gewitter?“, zweifelte Anna.
Sie blickte zum Himmel, der in hellem Blau strahlte. Die sie seit längerem begleitende Sorge wuchs in ihr, dass sich Tiefflieger nähern könnten, denn die Kriegsfront rückte immer näher. Seit der Landung der Alliierten in der Normandie vor einigen Wochen wälzte sich die Hauptkampflinie zuerst durch Frankreich, dann durch Belgien und nun kam sie unaufhaltsam auf ihren Heimatort Dribben zu, dem kleinen Ort im Tal der Rur. Die Angriffe der alliierten Luftwaffe hatten sich verstärkt, immer häufiger war das Dröhnen der Motoren zu hören. Die Jagdbomber beschossen Züge auf den Strecken und in den Bahnhöfen, um den Nachschub der Deutschen zu behindern. Die am Rand des Ortes liegende Bahnlinie war dadurch ein potenzielles Ziel der Tiefflieger.
Längst glaubte Anna nicht mehr an einen Sieg der Deutschen Wehrmacht. Das durfte sie aber nicht in der Öffentlichkeit äußern, denn sonst lief sie Gefahr, auf eine gefürchtete ‚Schwarze Liste‘ der nationalsozialistischen Ortskommandantur gesetzt zu werden.
Wenn die Sirenen heulten, rief sie ihre sieben Kinder, um gemeinsam mit ihnen den Keller des Nachbarhauses aufzusuchen. Dort, wo früher Vorräte gelagert worden waren, hatten die Nachbarn einen Luftschutzraum eingerichtet.
Was ein Angriff der Jagdbomber bewirken konnte, hatte Anna im vergangenen Jahr erleben müssen, als in einer lauen Sommernacht Hunderte von Brandbomben auf Dribben gefallen waren. Dabei war in der angrenzenden Straße eine Scheune in Flammen aufgegangen und restlos abgebrannt. Zum Glück hatte dabei kein Mensch Schaden genommen.
Anna war vor sechsunddreißig Jahren im Dorf geboren worden und auch aufgewachsen. Hier hatte sie ihren Ehemann Jakob kennen und dann lieben gelernt, der bereits kurze Zeit nach Kriegsbeginn zum Wehrdienst eingezogen wurde. Seinen letzten Brief hatte sie ständig bei sich. Meistens steckte sie ihn in die linke Tasche einer ihrer geblümten Kittelschürzen, die sie bei der Hausarbeit trug. Jedes Mal, wenn sie ihn herausnahm, pochte ihr Herz und sie sehnte sich nach ihm.
Bei ihrer Heirat war sie bereits mit Liesel schwanger gewesen, die dann ein ‚Viermonatskind‘ wurde. Deshalb hatten ihre Verwandtschaft und die von Jakob eine Trauung in einer Klosterkapelle außerhalb des Ortes organisiert. Aber ihr Umstand blieb im Dorf nicht verborgen. Sie hatte bemerkt, dass die Leute zu tuscheln begannen, wenn sie ihnen auf der Straße begegnete.
Zu dem Zeitpunkt, als Jakob seinen Militärdienst antrat, war sie mit Zwillingen schwanger. Die beiden Mädchen kamen kurz vor Weihnachten des ersten Kriegsjahres viel zu früh zur Welt. Eines starb nach zwei Tagen, das andere Frühchen am nächsten. Der Verlust der Kinder und die Abwesenheit ihres Mannes hatten Schwermut auf sie gesenkt. Auch wenn sie sich schließlich zusammengerissen hatte, weil ihre anderen Töchter und Söhne sie brauchten, konnte sie die Sorge um Jakob im Krieg nie ganz abstreifen. Inzwischen war er zum Unteroffizier aufgestiegen. Mehrfach hatte er ihr versichert, dass er im Stab der Luftschutzabteilung nicht an vorderster Front im Kampf stünde. Dennoch malte sie sich zahlreiche Gefahren aus, die ihn treffen könnten.
Einige Wochen nach dem Tod der Zwillinge hatte sie von der Ortsgruppe der NSDAP bei einer Feierlichkeit das silberne Mutterkreuz für ihre Mutterschaft von sechs lebenden Kindern überreicht bekommen. Erst zwei Tage vorher hatte sie bemerkt, dass sie während des Heimaturlaubs ihres Ehemanns wieder schwanger geworden war. Wenig später war sie zum ersten Mal mit den Kindern aufgrund eines starken Feindfliegeranflugs zum Luftschutzraum im Nachbarhaus gerannt. Im Januar des folgenden Jahres hatte sie Matthes geboren, ihren Jüngsten.
Sie kehrte mit ihren Gedanken wieder in die Gegenwart zurück. In den letzten Tagen wurde in den umliegenden Geschäften über eine drohende Evakuierung der Bewohner im Ort gesprochen, aber niemand wusste etwas Genaueres, was sie sehr beunruhigte. Wie lange würden sie und ihre Kinder noch im Dorf bleiben können? Außerdem fragte sie sich, wohin sie sich in Sicherheit begeben könnten, wenn ein Befehl zur Räumung käme.
Die Umgebung von Dribben war inzwischen zum Frontgebiet erklärt worden. Weil die Schulräume jetzt zur Einquartierung von Westwallarbeitern genutzt werden sollten, hatten die Lehrerinnen und Lehrer am Vormittag alle Schülerinnen und Schüler in die Ferien verabschiedet, deren Ende noch nicht absehbar war. Dabei war ihre sechsjährige Tochter Martha gerade erst eingeschult worden.
Sie sah zu Liesel hin und überlegte laut: „Wir sollten uns mit dem Entsteinen beeilen. Wenn Matthes aus dem Mittagsschlaf aufwacht, bevor wir fertig sind, beginnt er zu quengeln, weil er uns helfen will. Und du weißt, dass seine sogenannte Hilfe“, bei dem letzten Wort zeichnete sie mit ihrer rechten Hand Anführungszeichen in die Luft, „uns mehr Arbeit einbringen wird als sie uns abnimmt.“
Weil die Türen offenstanden, konnte sie durch den Flur hinweg das Lachen ihrer Kinder hören. Sie spielten vor dem Haus, in dem sie lebten. Jakob und sie hatten es von ihrem Vater gemietet. Der weiße Putz verwitterte zunehmend. Früher hatte ihr Mann sich darum gekümmert und abblätternde Stellen ausgebessert sowie neu gestrichen. Das Haus lag in der Kirchgasse, einer schmalen Straße, die einige Meter hinter einer Kreuzung an der Treppe zur katholischen Kirche des Dorfs endete. Es verfügte im Erdgeschoss über zwei Zimmer, oben waren es sogar drei, sodass die Mädchen einen Raum für sich hatten und die Jungen ebenfalls. Matthes schlief bei ihr im Ehebett.
Im Moment spielte ihre zwölfjährige Tochter Leni vor dem Haus mit ihren Geschwistern: dem elfjährigen Peter, der zehnjährigen Tine, dem siebenjährigen Toni und Martha. Oft gesellten sich auch Nachbarskinder hinzu. Meistens war es Leni, die aufpasste, dass es fair zuging und kein Streit entstand. Vorhin hatten ihre Kinder einen Kreisel mit nach draußen genommen. Häufig spielten sie Hinkelkästchen und warfen dabei einen Stein in eines der aufgemalten Kästchen, um anschließend über die anderen Felder zu hüpfen. Bei den Kindern waren auch Murmeln beliebt und Ballspiele.
Der Schatten des Hauses spendete ein wenig Kühle in der anhaltenden Hitze. Das Grollen in der Luft nahm zu. Anna hatte darauf gehofft, dass die Flieger abdrehen würden. Sie nahm die letzte Zwetschge aus dem Korb, als auch schon die Sirenen zum Voralarm ertönten.
Liesel sah sie fragend an: „Soll ich schnell Matthes aus dem Bett holen?“
Anna nickte zustimmend, während sich ein Ring der Beklemmung um ihre Brust legte, wie so oft in letzter Zeit. Jetzt musste es schnell gehen.
Ach, wäre der Krieg doch bald vorbei, dann käme Jakob endlich nach Hause. Sein letzter Heimaturlaub lag schon mehrere Monate zurück. Bei der vergangenen Abfahrt Richtung Rumänien hatte sie geweint, was ihnen den Abschied nicht leichter gemacht hatte. Bei der Erinnerung daran spürte sie wieder Tränen aufsteigen. Rasch schluckte sie und räusperte sich.
Sie nahm den Korb vom Tisch, stellte die Schüssel mit den Zwetschgensteinen hinein und griff nach dem Henkel des Eimers neben ihr. Liesel tat es ihr gleich. Das Einkochen der halbierten Früchte konnte warten. Jetzt mussten sie zuerst für ihre Sicherheit sorgen.
Als sie nach Liesel den Flur betrat, hörte sie das leise Tapsen der bloßen Füße von Matthes auf der Treppe. Schleunigst ging sie ihrer Tochter hinterher in die Küche, um die Behältnisse abzustellen. Währenddessen hörte sie, dass Leni hereinkam, gefolgt von den jüngeren Geschwistern.
Anna eilte zu Matthes und nahm seine Hand. Nach einem inzwischen eingeübten Ritual schnappten sich alle eine der Taschen, die in einer Ecke des Wohnzimmers abgestellt waren. Darin befanden sich haltbares Essen, Feldflaschen mit Trinkwasser, Besteck, ein Teller, eine Gasmaske, Kleidung zum Wechseln, eine Decke und Spielsachen zum Zeitvertreib. Außerdem nahm Anna immer eine Reihe wichtiger Dokumente mit. Zügigen Schrittes begaben sie sich zum Haus der Nachbarn. Auch diesmal war die Hoffnung, von Unglück verschont zu bleiben, an ihrer Seite.
Sonntag, 03.09.1944
Liesel hatte sich am frühen Morgen für den anstehenden Kirchgang fein gemacht. Erfreulicherweise hatte es an diesem Morgen noch keinen Alarm gegeben, aber in der Nacht hatten die Sirenen wieder geheult. Eine halbe Stunde hatten sie im Luftschutzraum verbracht, bevor sie wieder nach Hause gehen konnten.
Sie schaute an sich hinunter. Zu Schulzeiten trug sie im Sommer üblicherweise ihre weiße oder aber ihre blaue kurz-ärmelige Bluse, die ohne Verzierungen waren. Dazu passte ihr grauer knielanger Baumwollrock am besten. Am heutigen Sonntag hatte sie jedoch vor dem Gottesdienst ein gelbes Kleid mit aufgedruckten Margeriten und Puffärmeln ausgewählt und angezogen. Es hatte einmal eine ihrer älteren Kusinen gehört. Ihre Mutter hatte es seitlich abgenäht, weil sie schlanker als die Vorbesitzerin war. Mit ihren 1,68 m war sie auch ungefähr fünf Zentimeter größer als die Tochter ihrer Tante väterlicherseits, aber die Länge des Kleids passte trotzdem. Die Taille war gerafft und der angesetzte Rock hatte Falten. Besonders schick fand sie den weißen gestärkten Kragen, auf dem an beiden Enden eine rosa Rose gestickt war. Dazu trug sie Schnürschuhe, die allmählich für ihre Füße zu klein wurden. Demnächst würde sie diese an Leni abgeben. Ihre hellbraunen Haare hingen offen bis knapp über ihre Schultern, wobei die vordere Partie mit einer zum Kleid passenden Schleife am Hinterkopf zusammengehalten wurde.
Aufgrund einer staatlichen Verordnung vor drei Jahren durfte die Sonntagsmesse nicht mehr vor zehn Uhr beginnen. Nach der Messfeier hatte Liesel ihre Großeltern und ihre beiden dort wohnenden Tanten nach Hause begleitet. Bis zu ihnen war es ein Fußweg von etwa zehn Minuten.
Aufgrund des eucharistischen Fastens musste man vor dem Empfang der Kommunion in der Messe im Gottesdienst mindestens ab Mitternacht nüchtern bleiben. Sie hatte daher nach dem Kirchgang bei den Großeltern gefrühstückt. Die Mahlzeit hatte lediglich aus einer Scheibe Brot bestanden, die mit Marmelade bestrichen war. Das überbrückte den Hunger bis zum Mittagessen.
Auf ihrem Weg nach Hause beobachtete Liesel, dass ein Soldat der Wehrmacht Stroh von der Ladefläche eines Militärlastwagens ablud, der vor der verglasten Doppeltür des Filmtheaters ‚Schauburg‘ geparkt war. Neugierig blieb sie vor der letzten Straßenüberquerung stehen. Ein weiterer Wehrdienstleistender kam mit einer leeren Schubkarre aus dem Eingang des Filmtheaters und stellte sie auf dem Bürgersteig ab. Anschließend nahm er eine am Laster lehnende Heugabel zur Hand und begann, Stroh von der Straße auf die Karre zu laden, mit der er wieder im Gebäude verschwand, als sie voll war. In der Luft lag der erdige Geruch der getrockneten Getreidehalme.
„Ach herrje, ich bin spät dran. Mutter erwartet sicherlich meine Mithilfe beim Kochen“, erschrak Liesel sich, als sie das Zwölfuhrläuten der Kirchturmuhr hörte. Besonders am Sonntag wollte ihre Mutter die Familie pünktlich um dreizehn Uhr am Tisch versammelt sehen.
Der Großvater hatte ihr einige Zwiebeln und einen Weißkohl aus seinem Garten in einem Henkelkorb mitgegeben. Das Gemüse würde die karg bemessenen Rationen aufbessern, die sie auf ihre Lebensmittelmarken erhielten. Im eigenen Gärtchen hinterm Haus baute ihre Mutter nur noch wenige robuste und pflegeleichte Pflanzen wie beispielsweise Buschbohnen an. Zunehmend fiel es ihr schwer, den Boden umzugraben und sie war schnell erschöpft beim Gärtnern. Liesel erklärte sich das damit, dass keiner von ihnen noch richtig satt wurde. Sie wusste aus Erfahrung, dass ihre Mutter eher einen Rest im Topf abgab, statt sich selbst davon zu nehmen.
Peter half im Garten, soweit seine eigene Kraft es zuließ. Sie kannte ihn zwar als oft vor Energie und Tatendrang sprühend, aber auch an ihm zehrte die schmaler werdende Kost.
Beim Näherkommen sah Liesel, dass ihre Mutter die Haustür offengelassen hatte. Dadurch sorgte ein Luftzug im Haus für ein wenig Abkühlung. Am Morgen war die Hitze noch erträglich, die zunehmend vor allem den Älteren zu schaffen machte. Ihre Großeltern hatten sich vorhin darüber beklagt und sich endlich Regen gewünscht.
Im Hausflur strich ein kühler Hauch über Liesels Arme. Sie eilte über die Treppe hinauf zum Zimmer der Mädchen, um rasch ein Buch in ihrer Schublade der Kommode abzulegen. Den Roman hatte ihre Tante Lilli ihr mitgegeben. Sie war die jüngste Schwester von Liesels Mutter und lebte, ebenso wie die fünf Jahre ältere Tante Grete, noch bei den Eltern zu Hause.
Tante Grete hatte vor zwei Jahren ihren Freund während eines Heimaturlaubs geheiratet, aber das Paar wollte sich erst nach dem Krieg eine eigene Wohnung suchen. Beide Tanten arbeiteten im Glanzstoffwerk im Nachbarort, in dem Kunstseide und Viskose produziert wurden. Auch ihre Mutter war vor ihrer Heirat dort tätig gewesen. In der Fabrik gab es eine werkseigene Bücherei, die vor allem Tante Lilli ausgiebig nutzte. Das Buch, das Liesel nun in die aufgezogene Lade gleiten ließ, war von dort entliehen.
Vom unteren Flur her hörte sie ihre Mutter rufen. „Liesel, bist du das? Wo bleibst du? Hast du dich wieder aufhalten lassen? Leni hat vorhin schon die Kartoffeln aus der Kiste im Schuppen geholt, die du schälen sollst.“
Liesel fühlte sich ertappt und zuckte kurz zusammen, als sie ihre Mutter rufen hörte, obwohl diese gar nicht sehen konnte, dass sie ein Buch versteckte. Diese ärgerte sich häufiger darüber, dass ihre jüngste Schwester ihrer Tochter Liebesromane auslieh, die sie als nicht für Jugendliche geeignet ansah. Deswegen war Tante Lilli schon mehrfach von ihr ausgeschimpft worden. Jedes Mal hatte sie versichert, dass sie Liesel nur selbst gelesene Bücher weitergab, von deren Inhalt sie wusste, dass darin keine anrüchigen Handlungen beschrieben wurden.
Ihre Mutter hatte keine Lust zum Lesen. „Weißt du, wenn ich es mal schaffe, ein paar Seiten zu lesen, dann vergeht so viel Zeit, bis ich wieder dazu komme, das Buch in die Hand zu nehmen, dass ich mich an die bisherige Handlung kaum noch erinnern kann“, hatte sie ihr mangelndes Interesse begründet.
Liesel gab der Lade einen festen Schubs und stürmte aus dem Zimmer.
„Gleich bin ich da! Ich ziehe mich nur schnell um!“, rief sie vom oberen Treppenabsatz.
Einige Zeit später köchelte die Kartoffelsuppe auf dem Kohleherd. In der Küche begann sich ein köstlicher Duft zu verbreiten. Liesel schnupperte: Es roch erdig, aber auch süß nach Möhren und würzig nach Lauch. Obwohl die Eintopfsonntage längst nicht mehr vorgeschrieben waren, hielt die Familie daran fest. Es war inzwischen fast unmöglich, Fleisch für einen guten Braten zu erhalten, den es sonntags früher immer gegeben hatte.
Liesel ging zum Regal im Flur, das sich in der Aussparung unter der Treppe befand, und nahm den dort abgestellten Nähkorb an sich. Als sie zurück in der Stube war, sah sie, dass ihre Mutter begonnen hatte zu fegen.
Sie stellte das Nähzeug auf den Küchentisch und setzte sich auf einen davorstehenden Stuhl, um einige Kleidungsstücke auszubessern. Als erstes würde sie einen abgerissenen Knopf an einem Hemd von Peter erneuern. Matthes gesellte sich zu ihr, kletterte auf die Küchenbank und kniete sich hin. Er griff nach der Blechdose mit dem Verschlussmaterial, die Liesel aus dem Nähkorb genommen und auf den Tisch gestellt hatte, und kippte sie aus. Dann begann er damit, die Knöpfe nach Farben zu sortieren. Mit diesem Spiel konnte er sich immer wieder lange beschäftigen. Als das Essen fertig war, räumte Liesel die geflickte Kleidung weg und half Matthes beim Einräumen der Knöpfe. Anschließend stellte sie den Nähkorb zurück ins Regal.
„Hilf mir Matthes, dann decken wir gemeinsam den Tisch“, forderte sie ihren kleinen Bruder auf, der daraufhin von seinem Platz rutschte.
Das Helfen beim Tischdecken war für Matthes eine Spielerei. Leni war inzwischen mit dem Bettenmachen fertig und kam in die Küche.
Um die in der Gasse spielenden Geschwister zu Tisch zu bitten, ging Liesel zur Haustür und rief: „Bitte alle Kriens-Kinder zu Tisch!“
Sie sah ihre Schwestern rechter Hand mit Mädchen aus der Nachbarschaft beim Kästchenhüpfen. Auf der anderen Seite waren mehrere Jungen ins Murmelspiel vertieft.
Tine kam Liesels Ruf als Erste nach. Sie war die Einzige der Geschwister mit lockigen Haaren. Fröhlich zog sie Martha an der Hand hinter sich her.
„Wir kommen schon!“, rief sie ihrer ältesten Schwester zu.
Tine zögerte kurz und schaute zu Peter, der noch schnell seine Murmeln aufhob und in seine Hosentasche steckte. „Komm, bevor die Suppe kalt wird!“, forderte sie ihn im Weitereilen auf.
Während Liesel sich bereits wieder dem Haus zugewandt hatte, hörte sie hinter sich, wie ihr Bruder sich von seinen Freunden verabschiedete. Im Flur überholte er sie auf dem Weg in die Küche.
Ihre Mutter bestand darauf, dass sich die Geschwister vor dem Essen ihre Hände wuschen. Vor dem Waschbecken stießen sich Tine, Martha und Peter spielerisch mit ihren Ellenbogen an und versuchten einander lachend wegzuschubsen. Liesel wunderte sich, dass Toni nicht mit seinen Geschwistern hereingekommen war.
„Hat Toni nicht mit euch gespielt?“, fragte sie Peter verwundert.
Ihr Bruder verneinte und ergänzte: „Du weißt doch, dass er nicht gerne Murmeln spielt, weil er oft verliert. Er wollte mit Paul und Karl ‚Verstecken‘ spielen.“
Er hielt inne und kratzte sich überlegend am Kopf. „Seine Freunde habe ich auch nicht mehr gesehen. Ich habe keine Ahnung, wo er sein könnte.“
Entschuldigend zog er seine Schultern hoch und drehte sich zu Tine um: „Hast du Toni gesehen?“
Liesel sah ihre Mutter, die am Herd gestanden und den Wortwechsel verfolgt hatte, Richtung Haustür eilen, noch bevor ihr Bruder eine Antwort erhalten hatte. Wenig später kam sie in die Küche zurück. Von der Aufregung zog sich ein leichtes Rot über ihre Wangen. Sie ließ ihren Blick über ihre Kinder gleiten.
„Toni ist draußen weit und breit nicht zu sehen. Wisst ihr, ich mache mir Sorgen, dass er sich von einem Soldaten hat mitnehmen lassen“, sagte sie erklärend.
Mit gerunzelter Stirn überlegte sie laut: „Er interessiert sich doch für alles Motorisierte. Habt ihr vielleicht einen Lastwagen in der Nähe gesehen?“
Alle Geschwister schüttelten verneinend den Kopf. Anna ließ sich schwer auf einen der Küchenstühle fallen und griff hilflos an die Kante des Halsausschnitts ihrer Kittelschürze.
„Ich muss gerade an Ludwig von gegenüber denken. Er ist in der vergangenen Woche einer Kolonne von Fahrzeugen hinterhergelaufen. Erinnert ihr euch daran? Später wurde er von Anwohnenden heulend am Ortsrand gefunden und nach Hause gebracht. Ach, du meine Güte! Hoffentlich hat Toni nicht etwas Ähnliches gemacht.“ In der Stimme ihrer Mutter hörte Liesel Angst mitschwingen.
Peter grübelte: „Vielleicht ist Toni auf der Suche nach Pferdeäpfeln, um dir eine Freude zu bereiten?“
Liesel wusste, dass ihre Mutter den Naturdünger gerne im Garten benutzte, um den Wuchs des Gemüses anzuregen. Toni machte es nichts aus, den stinkenden Mist anzufassen.
„Er hat aber nichts dabei, um die Pferdeäpfel zu transportieren“, wandte sie ein.
Dann kam ihr ein Gedanke in den Sinn, ohne dass sie diesen fassen konnte. Da war etwas gewesen …
Plötzlich fiel es ihr ein: „Auf dem Heimweg von den Großeltern habe ich vorhin gesehen, wie Soldaten Stroh vor der ‚Schauburg‘ abluden. Möglicherweise hat er das auch mitbekommen und ist dort hingelaufen.“
„Das wäre eine Möglichkeit“, entgegnete ihr die Mutter und ließ dabei die Schürzenkante los. „Bitte lauf hin, Liesel, und schau nach. Hoffentlich hast du recht. Wir warten mit dem Essen auf dich und lieber noch auf euch beide.“
Ohne weiter auf ihre Kleidung zu achten, lief sie los. Sie machte sich nicht die Mühe, die Halbschürze auszuziehen, die sie zur Hausarbeit umgebunden hatte. An ihren Füßen klapperten Holzschuhe.
Als sie wenig später das Kino erreichte, sah sie, dass der Laster zwar noch davorstand, aber die Ladefläche leer war. Es war niemand in der Nähe, den sie nach ihrem Bruder hätte fragen können, darum blieb ihr nichts anderes übrig, als das Filmtheater zu betreten.
Nach dem Durchqueren des Vorraums, in dem sich das Kassenhäuschen befand, stutzte sie an der Tür zum Saal. Im Raum lag überall frisches, leicht süßlich riechendes Stroh auf dem Boden, das von mehreren Soldaten mit Heugabeln verteilt wurde. Trotz der stickigen Schwüle trugen sie die zu ihrer Uniform gehörende Feldmütze, eine lange Drillichhose sowie Schaftstiefel, von denen sich ein muffiger Duft in der Räumlichkeit ausbreitete. Der Geruch nach Schweiß überlagerte alle anderen. Erleichtert sah Liesel den blonden Haarschopf ihres Bruders. Er stand gebückt mitten im Stroh und machte sich einen Spaß daraus, die getrockneten Getreidehalme mit den Händen weiter zu verteilen.
„Toni!“, rief sie in den Saal, wobei sie so viel Empörung hineinlegte, wie sie aufbringen konnte.
Sie ging mit forschen Schritten auf ihren Bruder zu, der aufschaute und ihr mit großen Augen erschrocken entgegensah. Seine Miene verfinsterte sich zunehmend, als sie näherkam.
„Liesel, was machst du hier? Ich helfe den Soldaten und wir sind noch nicht fertig“, schrie er sie wütend an.
Vermutlich ahnte er, dass seine Schwester ihn gesucht hatte, um ihn nach Hause zu holen. Anscheinend kam ihm dann ein Gedanke, denn seine Miene hellte sich auf.
„Pack doch mit an, dann geht es schneller“, schlug er arglos vor.
Liesel blieb verdattert stehen. Ihr Blick schweifte zu den Wehrdienstleistenden im Raum. Sie riss ihren rechten Arm hoch und warf schnell einen Hitlergruß in deren Richtung. Doch dann gewann ihre Verärgerung wieder die Oberhand. Sie trat näher an Toni heran und griff entschlossen nach seinem rechten Oberarm.
„Was fällt dir ein!“, fuhr sie ihn an, während sie an seinem Arm rüttelte. „Es ist Zeit zum Mittagessen und alle warten hungrig auf dich. Keiner wusste, wo du bist. Warte nur, Mutter wird dir den Hosenboden versohlen dafür, dass du einfach verschwunden bist!“
Toni versuchte, sich aus ihrem Griff zu winden. Währenddessen waren von der Straße aus Stimmen zu hören, die lauter wurden. Die Männer im Raum, die Liesels Gruß nachlässig erwidert hatten, stützten sich inzwischen mit den verschränkten Unterarmen auf ihren Heugabeln ab. Amüsiert verfolgten sie die Unterhaltung der Geschwister.
Während Liesel ihren widerstrebenden Bruder hinter sich her aus dem Saal zog, hörte sie einen der Soldaten zu den anderen sagen: „Ich glaube, da sind schon die ersten Jungs, um ihre Sachen abzustellen, bevor es zum Schanzen geht.“
Sie sah ihn mit dem Kinn in Richtung Vorraum deuten, in dem es unruhig wurde, bevor er fortfuhr: „Das sind bestimmt die Heinsberger. Heute Morgen gab es zum Glück keine Fliegerangriffe, dann konnten sie die fünf Kilometer durchmarschieren.“
Liesel hätte gerne bei dem Soldaten nachgefragt, warum die Heinsberger Jungen nach Dribben kamen und weshalb der Kinosaal mit Stroh ausgelegt wurde. Aber sie dachte an ihre Mutter und die Geschwister, die ungeduldig auf ihre Rückkehr warteten. Darum war sie bemüht, mit Toni so schnell wie möglich das Gebäude zu verlassen.
Im Vorraum traten ihr Jungen der Hitler-Jugend entgegen, ohne auf sie und ihren Bruder zu achten. Sie trugen ihre Uniformen mit grünbrauner Mütze und Hemd, ein schwarzes Halstuch unter dem Kragen sowie schwarze Kniebundhosen. Unverdrossen hielt sie den Arm von Toni fest, während ihr Blick über die hereinströmenden Jungen schweifte und sich an einem hellen Paar blauer Augen verfing.
An der Eingangstür schaute sie noch mal über ihre Schulter zurück. Überrascht registrierte sie, dass der junge Mann sie weiterhin ansah und ihrem Blick ein Lächeln zuwarf. Sein schmales Gesicht war leicht gerötet, eine blonde Strähne fiel ihm in die Stirn. Liesel hob zögernd ihren Arm. Der Hitlergruß kam ihr nur geflüstert über die Lippen. Auch der Junge streckte nun nachlässig seine Hand nach oben. Statt einer Entgegnung nickte er ihr zu. Vermutlich war er genauso verlegen wie sie selbst. Einige Sekunden hielten sie Augenkontakt.
„Wenn du mich schon nach Hause holst, dann lass uns jetzt auch endlich gehen“, unterbrach ihr Bruder den schönen Moment.
Er zog sie nun mit seinem Arm, an dem sie sich weiter festhielt, vorwärts. Liesel ließ sich von Toni an weiteren Neuankömmlingen vorbei nach draußen führen.
Als sie wenig später gemeinsam mit ihrem Bruder in die Kirchgasse einbog, sah sie ihre Mutter in der Haustür stehen. Sie hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und einen Ausdruck im Gesicht, der keinen Zweifel an ihrem Ärger ließ.
In Anna kämpften Wut und Erleichterung. Toni kam ihr unbekümmert entgegengelaufen.
„Mama! Mama, stell dir vor, im Kino schlafen heute Nacht viele Hitlerjungen. Die Ersten sind gerade gekommen. Sie sollen Panzergräben und Schützenlöcher ausheben. Weißt du, das ist wichtig, damit wir uns besser verteidigen können“, sprudelten aufgeregt aus seinem Mund.
„Mein lieber Sohn Anton Albert!“, unterbrach Anna ihn mit strenger Stimme, um sich Gehör zu verschaffen.
Ihre Kinder wussten, dass es nichts Gutes bedeutete, wenn ihre Mutter sie mit vollem Taufnamen ansprach.
„Mein lieber Sohn Anton Albert!“, wiederholte Anna, um ihre Verärgerung zu unterstreichen. Toni sah sie weiterhin mit Unschuldsmiene an. Etwas ruhiger fuhr sie fort: „Ich habe dir und deinen Geschwistern schon oft gesagt, dass ihr mir immer Bescheid geben müsst, wenn ihr euch vom Haus entfernt. Denk doch mal nach! Wie häufig ertönen die Sirenen! Wo willst du denn dann hin? Weißt du, wie viele Sorgen ich mir vorhin um dich gemacht habe?“
Toni blinzelte und sein Gesicht verzog sich weinerlich.
„Aber …“, begann er einzuwenden, brach dann jedoch ab und versuchte sich an seiner Mutter vorbeizudrängeln, doch Anna hielt ihn fest.
„Mach. Das. Nie. Wieder“, zischte sie, immer noch aufgebracht. Dann schob sie ihn resolut Richtung Küche.
Während sie selbst zum Herd ging, trat Toni ans Waschbecken. Die Geschwister, die bisher noch in der Küche gestanden und sich darüber ausgetauscht hatten, wo sie ihren Bruder suchen könnten, setzten sich erleichtert an den Küchentisch. Das Kopfende blieb immer frei und führte jedem das Fehlen des Vaters vor Augen.
In Anna brodelten weiterhin die Gefühle. Sie warf sich vor, dass sie den Geschwistern zu viel Verantwortung aufbürdete. Andererseits hatte sie klare Regeln aufgestellt. Die Wirkung ihrer Standpauke würde wahrscheinlich schnell wieder verblassen und Toni erneut unbesorgt umherschweifen.
Sie war stolz darauf, dass jedes der Kinder bei guter Gesundheit und trotz der täglichen Bedrohungen noch optimistisch und lebensfroh war. Durch Bestrafungen wollte sie ihnen nicht die Heiterkeit nehmen. Langsam beruhigte sie sich. Sie nahm den Topf vom Herd und stellte ihn auf ein bereitgelegtes Holzbrett auf dem Tisch ab. Sieben Augenpaare richteten sich begehrlich auf den Kessel. Doch bevor jeder eine Kelle von der Suppe auf seinen Teller erhielt, sprachen sie ein Tischgebet. Es dauerte nicht lange, bis alle aufgegessen hatten.
Nach einem weiteren Gebet zum Dank für das Essen forderte Anna ihren Sohn auf: „Toni, erzähl uns doch bitte, wie du auf die Idee gekommen bist, den Soldaten beim Strohauslegen des Kinos zu helfen. Du sollst dich doch nicht von deinen Freunden entfernen und schon gar nicht außer Rufweite von zu Hause. Wenn du zu Ende berichtet hast, reden wir noch mal über unsere festen Regeln.“
„Ich habe mit Paul und Karl Verstecken gespielt. Paul ist immer sehr findig dabei. Als er an der Reihe war mit Suchen, bin ich ein Stück weiter die Gasse runtergegangen, um mich nach einem Versteck umzusehen. Dann kam ein Militärlaster, der vor dem Kino hielt.“
Alle hörten aufmerksam zu, aber noch bevor Toni seine Schilderung der Ereignisse beendet hatte, wurde er von einem ungeduldigen Klopfen an der Haustür unterbrochen. Liesel hatte diese vorhin beim Betreten des Hauses hinter sich geschlossen, nachdem sie mit ihrem Bruder zurückgekehrt war.
Anna hörte ihrem Sohn weiter zu, der sich von dem Geräusch beim Reden nicht stören ließ. Sie nickte auffordernd in Richtung ihrer Ältesten, damit diese nachschauen gehen sollte, wer zu Besuch kam.
Gerade als Liesel den Flur betrat, klopfte es erneut.
„Ich komme schon!“, rief sie und eilte zur Tür, die sie wenig später öffnete und auf Konni hinabschaute, den kleinen Bruder ihrer Freundin Agi.
Er war mit einer kurzen Hose bekleidet, die zwei Nummern zu groß für ihn schien und deshalb von Hosenträgern gehalten wurde. Dazu trug er ein kariertes Kurzarmhemd. Leicht verlegen hantierte Konni an den Trägern.
„Du, Liesel, die Agi ist krank. Die schnieft heftig und meine Mama hat gesagt, ich soll fragen, ob du statt Agi heute Abend beim Suppenausteilen im Kino helfen kannst?“
Dann stockte er. Seine Daumen fuhren unter den Hosenträgern auf und ab.
„Ich habe vergessen, warum das Essen dort ausgeteilt wird“, nuschelte er, sodass Liesel ihn kaum verstand, während er sich auf die Unterlippe biss.
Sie fasste Konni mit ihrer Hand beruhigend an der Schulter.
„Schon gut. Lauf rasch wieder nach Hause und gib Bescheid, dass ich einspringe. Grüße deine Mutter von mir und wünsche Agi gute Besserung. Schade, dass wir uns dann heute Nachmittag nicht treffen können.“
Konni drehte sich um und hüpfte die Gasse entlang nach Hause.
Die Freundinnen hatten nur noch am Wochenende Zeit füreinander. Agi wohnte zwar unweit entfernt, aber sie hatte im Vormonat die achtjährige Volksschule abgeschlossen und leistete seither ihr Pflichtjahr ab. Dadurch war sie wochentags im Haushalt einer Bäckerfamilie tätig.
„Abends bin ich so müde, dass mir die Augen zufallen“, hatte sie gesagt.
Vermutlich würde ihre Mutter bald den Bäcker fragen, ob Liesel nach ihrer Schulentlassung im nächsten Jahr die Stelle von Agi übernehmen könnte. Vorteilhaft war, dass sie dort tagsüber verpflegt werden würde. Von Agi wusste sie, dass sie hin und wieder sogar ein unverkauftes Brot, manchmal auch Kleingebäck, mit nach Hause nehmen durfte.
Statt zum Pflichtjahr anzutreten, würde Liesel lieber das Abitur ablegen. Das war aber nur möglich, wenn bis dahin der Krieg beendet sein würde. Ohne den Lohn des Vaters konnten sie sich keine weiterführende Schule leisten. Als Maurer würde er bestimmt genug verdienen, um die Gebühren zu bezahlen.
Von ihrer Mutter wusste sie, dass sie mit dem Sold, von dem sie im Moment leben mussten, gerade so über die Runden kamen. Die Zuteilung durch die Lebensmittelmarken wurde immer geringer und oft war selbst nach langem Schlangestehen im Geschäft nichts mehr vorrätig. Daran konnte auch ihre Nachbarin Maria Jansen, die von allen nur Mie gerufen wurde, nichts ändern. Sie führte den Gemischtwarenladen an der Straßenecke.
Wenn sie dort im Luftschutzraum saßen, bekam Liesel immer wieder mit, dass sie sich über die Zulieferungen beklagte. Aber manchmal gelang es ihr dennoch, Schokolade vom Großhändler zu erhalten. Dann brachte sie eine Tafel davon mit in den Keller, während sie das Ende der Fliegerangriffe abwarteten.
„Das festigt die Nerven“, sagte sie, wenn sie jedem ein Stückchen reichte.
Liesel begann sich auf die Suppenausgabe am Abend zu freuen, denn ihr kam in den Sinn, dass vielleicht auch diejenigen, die bei der Ausgabe halfen, selbst einen Teller Eintopf essen durften.
Nach einer kurzen Mittagsruhe, die sie strickend in einem Sessel im Wohnzimmer verbracht hatte, besuchte Anna gemeinsam mit ihren Kindern ihre Eltern, wie jeden Sonntagnachmittag. Nur Liesel bevorzugte es in letzter Zeit, sich mit ihrer Freundin Agi zu treffen. Weil aber ihr Einsatz als Jungmädel erst am frühen Abend beginnen würde, war sie ebenfalls dabei.
Anna ließ sich gerne von ihren Eltern verwöhnen. An warmen Tagen saßen sie in der Sitzgruppe des Vorhofs. Es war sehr angenehm, in der vertrauten Runde eine Zeit mit Gesprächen zu verbringen, während ihre Kinder im angrenzenden Innenhof spielten. Ihr Vater und ihre Mutter besaßen einen Volksempfänger und waren auch durch Flurnachrichten über das aktuelle Tages- und Kriegsgeschehen informiert. Das Haus stand immer offen für Nachbarn, Freunde und Bekannte, die gerne für ein Schwätzchen hereinschauten. Ihre jüngeren Schwestern schnappten außerdem viele Neuigkeiten bei ihrer Arbeit im Glanzstoffwerk auf.
Als selbstständiger Schuhmacher übernahm ihr Vater auch im fortgeschrittenen Alter von seinen Stammkunden noch Aufträge zur Reparatur. Nachdem die Kinder zum Spielen in den Hof gelaufen waren, schilderte er der Sonntagsrunde den Besuch seines Nachbarn Hein, der erst kurz vor ihrem Eintreffen wieder gegangen war.
„Während ich mir den Schuh von Hein ansah, bei dem sich der Absatz gelöst hatte, erzählte er mir, dass sein Sohn heute früh einen Gestellungsbefehl erhalten hat. Er ist erst fünfzehn Jahre alt. Stellt euch vor: Als Hitlerjunge muss er am Bau der Verteidigungsanlage des Westwalls mithelfen. Ob die noch daran glauben, dass uns die Gräben, die die Jungs schaufeln, den Sieg bringen werden?“
Als Anna das hörte, berichtete sie der Tischrunde davon, dass am Vormittag der Kinosaal der Schauburg mit Stroh ausgelegt wurde.
„Toni hat den Militärlastwagen vorfahren gesehen. Als dann die Soldaten ausstiegen, ist er hingelaufen. Seine Neugierde hat ihn getrieben, aber ich vermute auch die Uniformen. Jakob hat ihm von dem Zusammenhalt und der gegenseitigen Hilfe der Kameraden erzählt. Damit wollte er uns eigentlich beruhigen, dass er zwar ohne seine Familie im Krieg ist, aber Freunde an seiner Seite sind. Doch mein Sohn wünscht sich seither, selbst als Soldat kämpfen zu dürfen. Mit seinen sieben Jahren ist er einfach zu jung, um zu erkennen, welche Gefahren der Einsatz für unser Volk bringen kann. Darum ist er bis zum Kinosaal gelaufen und hat die Fremden angesprochen, die sich einen Spaß daraus gemacht haben, ihn helfen zu lassen.“
Kaum hatte sie den Satz beendet, ertönte der Voralarm. Alle am Tisch sprangen auf. Anna rief nach ihren Kindern. Sie sah im Innenhof Leni zu Matthes eilen und ihn auf den Arm nehmen, während Liesel nach Marthas linker Hand griff, die rechts ihre gestrickte Schlenkerpuppe trug.