Höhenrausch - Jürgen Leinemann - E-Book

Höhenrausch E-Book

Jürgen Leinemann

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Beschreibung

Politikverdrossenheit ist weit mehr als ein Schlagwort: Haben Politiker den Kontakt zur Wirklichkeit nicht längst verloren? Der Journalist Jürgen Leinemann hat die parteipolitische Machtszenerie jahrzehntelang aus nächster Nähe betrachtet, ohne seinen analytischen und gleichzeitig leidenschaftlich wertenden Blick zu verlieren. Das Fazit seiner Beobachtungen und Erkenntnisse ist alarmierend!

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Vorwort
EINLEITUNG
 
I - Die Berliner Republik
Das Raumschiff
Zu viele Wirklichkeiten
 
Copyright
Für Rosemarie
VORWORT ZUR TASCHENBUCHAUSGABE
Die Stille umhüllt den Hausherren mit milder Weltenferne. Ihn erfülle »Kampfeseifer« versichert er, aber um ihn herum ist Frieden. Der Blick durch die weiten Fenster gleitet über eine blühende Stadtlandschaft. An den Wänden des hohen Raumes ist die brüchige, grelle Wirklichkeit des Lebens - gemalt von den großen Künstlern unserer Zeit - kultiviert in Bilderrahmen gezwungen.
Ruhe, Ordnung, Kultur - ein Ambiente wie im Museum für moderne Kunst am Abend vor der Eröffnung. Nein, mitten im Leben regiert der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland nicht. Sein Arbeitszimmer im siebten Stock des Berliner Amtssitzes ist ein Ort unwirklicher Ruhe inmitten einer hektischen, gereizten politischen Umgebung. Ein Zauberberg. Wer hier allein ist, wird es lange bleiben...
Oder auch nicht. Wo ist denn bloß das Grundgesetz? Gerhard Schröder, der gerade noch betont gemütlich an seiner Zigarre gezogen hat, ist aufgesprungen und hastet vom Regal zum Schreibtisch, weil er seinem Besucher Artikel 63 des Grundgesetzes vorlesen will, der die Wahl des Bundeskanzlers regelt, in dem aber das Wort Rücktritt nicht vorkommt. Gerade hatte er - es ist Donnerstag, der 9. Juni 2005 - vor der Presse seine Entschlossenheit bekundet, vorzeitige Neuwahlen zu erzwingen und zu diesem Zweck die Vertrauensfrage zu stellen.
Das ist ein kompliziertes Verfahren, seine Kritiker wollen deshalb, dass er einfach zurücktritt. Doch das, findet Schröder, sei eher noch komplizierter. Und vor allem - aber das sagt er nicht - könnte Rücktritt so aussehen, als werde er »vom Hof gejagt« oder als schmeiße er einfach kampflos die Brocken hin wie einst sein früherer Kampfgefährte und Parteifreund Oskar Lafontaine, der sich vor sieben Jahren ohne Gruß aus der rotgrünen Koalition davonmachte. Das soll über ihn einmal nicht im Geschichtsbuch stehen.
Insofern hat Deutschland wohl trotz allem Glück gehabt. Denn wie nahezu alle Politiker seiner Generation von Trümmerkindern, die zwischen 1940 und 1950 geboren und nach dem Zweiten Weltkrieg in die Wirtschaftswunderwelt der neuen Bundesrepublik hineingewachsen sind, ist auch für den von »den Asozialen« - wie er selbst sagt - an die politische Spitze aufgestiegenen Sozialdemokraten Gerhard Schröder der persönliche Erfolg das Allerwichtigste. Wenn der mit den Interessen der Bürger, des Landes und womöglich auch seiner Partei übereinstimmt, umso besser.
Und so hat Schröder nach der verheerenden Niederlagen-Serie seiner Partei in elf Bundesländern am Abend des Debakels von Nordrhein-Westfalen handstreichartig Neuwahlen angekündigt. Noch einmal versuchte er, seine Fernseh-Popularität als Medienkanzler auszunutzen und eine Bundestagswahl zum Plebiszit über seine Person zu machen - zum Schrecken seiner Genossen, zur Freude der seither strahlenden CDU-Chefin und Gegenkandidatin Angela Merkel und zum Unbehagen des Bundespräsidenten Horst Köhler, der das knifflige Verfahren der Auflösung des Bundestages absegnen muss.
Als Coup wurde Schröders Entscheidung beurteilt, als machiavellistisches Manöver, die Macht wieder in den Griff zu bekommen, die ihm zu entgleiten drohte. So sah ich es auch. Wer den Kanzler lange und gut kennt, der kommt nicht auf die Idee, dass Schröder freiwillig etwas loslassen würde, was er schon erobert hatte. Ich fand also meine vor einem Jahr in diesem Buch veröffentlichen Prognosen über die Realitätsferne, die süchtige Gier nach Macht und Aufmerksamkeit, das selbstzerstörerische Klammern an Ämtern und Privilegien unserer politischen Elite voll bestätigt.
Überhaupt haben die Akteure aller Parteien es mir leicht gemacht, die Thesen meines Buches in zahlreichen öffentlichen Diskussionen und Lesungen, in Fernseh-Interviews und Presse-Befragungen zu vertreten. Als wollten sie für mich Reklame laufen, leisteten sie sich Ausrutscher, Skandale und Tragödien. Auf vielfältige Weise bekräftigten sie damit Erhard Epplers Einschätzung, dass Politik an der Grenze dessen angesiedelt sei, was Menschen bewältigen können, ohne Schaden zu nehmen an ihrer Seele.
Vor allem Heide Simonis führte es vor, die nach dem für sie enttäuschenden Wahlausgang in Schleswig-Holstein die Chance gehabt hätte, in Würde als Ministerpräsidentin abzutreten. Auf die Frage, warum sie sich denn auf die wackelige Mehrheit von nur einer Stimme einlassen wolle, statt ihrer SPD den Weg frei zu machen in eine große Koalition mit der CDU, antwortete sie in einer Talkshow mit dem Schlüsselsatz ihrer ganzen Generation: »Ja - und wo bleibe ich dann?« Sie pokerte auf persönlichen Erfolg und verlor mehr als ihr Amt.
Oder Joschka Fischer, der Publikums-Liebling. Krachend stürzte er von seinem Umfrage-Gipfel, als bekannt wurde, wie fahrlässig er die Visa-Affäre seines Amtes unterschätzt hatte. Dass er dazu vom Untersuchungsausschuss des Bundestages einen ganzen Tag lang vor Fernsehkameras befragt wurde, empfand er indes eher als eine Chance. »Zwölfeinhalb Stunden Live-TV, das ist doch der Traum jedes Politikers«, spottete er. »Die Kinder gehen zu Schule, Fischer ist im Fernsehen. Die Kinder kommen nach Hause, Fischer ist im Fernsehen. Die Kinder müssen ins Bett, Fischer ist immer noch auf dem Bildschirm«.
Landauf, landab bestätigte das politische Personal seine schwindende Bodenhaftung. In Bremen knallte der CDU-Wirtschaftssenator Peter Gloystein durch, der ein heimisches Weinfest offenbar mit der Siegerehrung eines Formel-Eins-Rennens verwechselte. Mit den Worten »Hier hast Du auch was zu trinken«, kippte er von der Bühne herab Sekt aus einer Magnum-Pulle auf einen Obdachlosen. In Wiesbaden verstand Helmut Kohls früherer Bundesinnenminister Manfred Kanther die Welt nicht mehr, als er zu 18 Monate Gefängnis auf Bewährung verurteilt wurde, wegen Untreue. Untreue? Aus »Übertreue« hatte der damalige CDU-Generalsekretär 1983 illegal 20,8 Millionen Mark Parteigelder in die Schweiz transferiert.
Von der Droge Politik redeten plötzlich alle so freimütig und öffentlich, als hätten sie sich schon immer als Abhängige verstanden, als »Poilitiksüchtige«, wie der frühere Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU), oder zumindest als »Kleinjunkie«, wie Ex-Verkehrsminister Reinhard Klimmt (SPD). In der ARD-Fernsehdokumentation »Im Rausch der Macht« bekräftigten Klaus Kinkel, Joschka Fischer, Andrea Fischer, Wolfgang Schäuble, Horst Seehofer, Heide Simonis, Gregor Gysi, Wolfgang Thierse und Wolfgang Clement vor der Kamera, was die meisten mir in den Jahren zuvor lieber hinter vorgehaltener Hand anvertraut hatten. Jetzt waren sie zu öffentlichen Eingeständnissen - freiwilligen und unfreiwilligen - von verblüffender Deutlichkeit bereit.
So bekannte beispielsweise Heide Simonis: »Wenn mich auf fünf Schritte keiner erkennt, werde ich depressiv.« Es musste also - als sie sich später so jammervoll an ihr Amt klammerte - niemand raten, warum sie das tat. Oder Gregor Gysi. Es klang wie der Erleichterungsstoßseufzer eines Mannes, der das Schlimmste hinter sich hat, als er einräumte »Politik kann abhängig machen, ja«. Im Wahlkampf 2005 aber ist er prompt wieder dabei - nach drei Herzinfarkten und einer Hirnoperation, die er überstanden hat, »ohne bekloppter zu sein als vorher«, wie er sagt. Wie der PDS-Star im Duett mit dem linken Populisten Oskar Lafontaine noch einmal zurück auf die öffentliche Bühne drängt, das trägt Züge von Verzweiflung. Für die Wichtigkeitsdroge »öffentliche Aufmerksamkeit« setzen sie Leben und Ansehen aufs Spiel.
Der vorgezogene Wahlkampf 2005 liefert der jetzt regierenden Generation von 60-jährigen die letzte Chance, im Rampenlicht des Erfolges zu bleiben. »Fischer ist Geschichte« titelte die taz bereits. Aber was kommt danach? Noch hat die Generation der 40 bis 50-jährigen keine erkennbare politische Physiognomie. Dass aber die CDU-Chefin und Kanzlerkandidatin Angela Merkel schon immer mehr war als Helmut Kohls »Mädchen« aus dem Osten, könnte jeder gemerkt haben, der sich nicht in traditioneller Überheblichkeit an seine Vorurteile aus der guten alten Bonner Republik klammert.
Ich habe sie im Februar 1990 als engagierte, selbstironische, nüchterne junge Wahlkämpferin des Demokratischen Aufbruch kennen gelernt. Wie nahezu alle ihrer heutigen Politiker-Kollegen, die aus der DDR stammen, kam sie mir wirklichkeitsnäher und erwachsener vor als ihre Altersgefährten aus dem Westen. Angela Merkels Aufstieg war rasant ohne Beispiel. Bald galt sie als eiskalt, misstrauisch und machtbesessen ohne inhaltliche politische Ziele. Je länger sie im Partei-Geschäft war, umso undurchschaubarer verhängte sie ihre Züge mit einer auf westliche Medien umfunktionierten grämlichen Stasi-Abwehr-Maske. »Ich habe früh gelernt, dass man im Freundeskreis alles besprechen kann, aber draußen eben vorsichtig ist«, erklärte sie. Sie wusste, dass ihre Rivalen in CDU und CSU noch keineswegs aufgegeben hatten.
Dann kam der triumphale CDU-Sieg in Nordrhein-Westfalen und Schröders Neuwahl-Ankündigung. Von einem Tag zum anderen erschien Angela Merkel auf den Titelseiten der Medien und auf den Bildschirmen als strahlende, selbstbewusste Lichtgestalt, glücklich und schön wie eine Braut. War das alles nur Inszenierung? Und wenn ja - von wem? Sicherlich hat sie an ihrem Styling gearbeitet, dezentes Make-up, luftigere Frisur, flottere Kostüme. Auch wählten Fotografen und Bildredakteure freundliche Motive, die zur allgemeinen Stimmung passten. Vor allem aber war es die Droge Macht, die Schröders Herausforderin von innen leuchten ließ. Einen Satz von Hillary Clinton hatte sich Angela Merkel dazu gemerkt: »Frauen sind wie Teebeutel. Du weißt nicht, wie stark sie sind, bis Du sie ins heiße Wasser tauchst.«
 
Jürgen Leinemann Berlin, Juni 2005
EINLEITUNG

Todeskuss

Der Mann im Publikum fühlte sich sichtlich fehl am Platz. Gierig blickte er auf die Bühne, während er wortlos zwischen den Sportlern und Chorsängerinnen des sächsischen Städtchens Grimma wartete, vielleicht ein bisschen formeller gewandet in seinem dunklen Nadelstreifenanzug, aber nicht weniger aufgeregt. Denn da oben auf dem provisorischen Podest am Ufer der Mulde standen die Großen des Landes - der Bundeskanzler und der Ministerpräsident. Auf die zielten die Kameras, vor denen waren die Mikrofone aufgebaut, zu ihnen blickten die Leute auf. Nichts wünschte der Mann in der Menge in diesem Augenblick mehr, als mit den Wichtigen zusammen gesehen zu werden, seinen Namen erinnerte sowieso noch jeder: Kurt Biedenkopf.
In Wahrheit zählte er sich natürlich noch immer dazu. Sechzehn Monate war es jetzt her, dass der kleine Professor sein Amt in der Dresdener Staatskanzlei an Georg Milbradt abgegeben hatte. Offiziell hoch gepriesen, war er im April 2002 als Ministerpräsident zurückgetreten, tatsächlich aber hatten ihn seine Parteifreunde nach kleinkrämerischen Affären und großmannssüchtigem Gehabe in Schande davongejagt. Denn der CDU-Chef Biedenkopf und seine Frau Ingrid hatten etwas zu feudal und selbstherrlich regiert. Ein Minister spottete: »Biedenkopfs öffentliche Auftritte besitzen eine fast religiöse Dimension.«
Jetzt liefen die Kabelträger und Fotografen achtlos an ihm vorbei. Es war der 13. August 2003, vor fast genau einem Jahr hatte das Hochwasser hier eine Hängebrücke schwer beschädigt und die Stadt überflutet. Damals versprach ein entschlossener Gerhard Schröder, dem im Wahlkampf selbst das Wasser bis zum Hals stand, unbürokratische rasche Hilfe. Jetzt kassierte er den Dank ein. Und während der Bundeskanzler zufrieden die Menge der vielen tausend Grimmaer Bürger überblickte, entdeckte er schließlich den vor verkannter Bedeutung vibrierenden Mann neben der Bühne. »Ach«, rief er leutselig, »da ist ja der Altministerpräsident.« Und ohne auf Milbradt zu achten, zog er dessen Vorgänger hoch aufs Podium und juchzte ins Mikrofon: »Herr Professor Biedenkopf. Oder soll ich sagen: König Kurt?« Die Menge klatschte, Kurt Biedenkopf strahlte und überbrachte Grüße von Richard von Weizsäcker.
War das nun rührend? Zynisch? Peinlich? Gar entwürdigend? Mit gemischten Gefühlen verfolgte ich, wie der 73-Jährige dem genüsslich die Zuneigung der Menge einsammelnden Schröder nachlief. Gelegentliches Winken und Zurufe, die ihm galten, beflügelten den Promi im Ruhestand wie Aufputschpillen: Ja, auch Kurt Biedenkopf war immer noch populär. »Wie leben Sie denn so ohne Politik?«, fragte ich ihn, als der Kanzler ihm an der Theke eines Lokals ein Bier bestellt hatte. Das war aber die falsche Frage. »Ich lebe doch nicht ohne Politik«, fuhr er mich an. Was glaubte ich denn, was er mache im Flutkuratorium und in der Deutschen Nationalstiftung, an Hochschulen, Akademien und beim Bücherschreiben? Nein, dieser Mann, der sich zeitlebens so viel darauf zugute gehalten hatte, dass er in der Wirtschaft erfolgreich gewesen war, an der Universität Karriere gemacht und als »Staranwalt« - so seine Frau - reüssiert hatte, konnte von der Politik nicht lassen.
Wieder einer. Seit vierzig Jahren beobachte ich nun Politiker aus nächster Nähe, sehe, wie die Macht sie verändert, wie sie sich einmauern in Posen von Kompetenz und Zuversicht, während die öffentliche Verachtung wächst. Alle haben sie irgendwann einmal die Welt verändern wollen, ein bisschen wenigstens, aber die meisten geraten doch alsbald in die Versuchung, ihre Wahlämter als Plattform zur Selbstbestätigung zu benutzen, sich und anderen mit ihren Privilegien Bedeutung vorzuspielen. Viele merken gar nicht, wie sie von einem Sog erfasst werden, der ihnen immer mehr äußeren Betrieb zumutet und immer mehr innere Freiheit nimmt. Meist wollen sie es nicht wahrhaben.
Eine Weile glaubte ich mich in meiner Beobachterposition auf der sicheren Seite - bis ich merkte, dass ich als Journalist keineswegs nur Zuschauer war, der auf der Tribüne des Geschehens saß und cool protokollierte, sondern auch Zeitgenosse und Mitspieler in der politischen Klasse. Ich musste erst selbst eine lebensbedrohliche Krise überstehen, um zu begreifen, in welches Elend manche geraten, wenn sie Politik zum Beruf machen. Hans Magnus Enzensberger hat es drastisch zugespitzt: »Der Eintritt in die Politik ist der Abschied vom Leben, der Kuß des Todes.«
Mit den meisten politischen Karrieristen teilte ich einen unersättlichen Hunger nach Anerkennung und Bestätigung. Denn wie sie sah auch ich mich bald nicht nur auf der Erfolgsleiter, sondern zugleich auf der Flucht vor der immer unangenehmer werdenden Realität aus Selbstzweifeln, Furcht vor dem Scheitern und quälenden Fragen nach dem persönlichen Preis für die Karriere. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend war ich schnell weit gekommen. Mit einunddreißig Jahren arbeitete ich als dpa-Korrespondent in Washington, D.C., 1971 wurde ich Büroleiter des Spiegel in der amerikanischen Hauptstadt.
Da war damals zwar noch nicht viel zu leiten, aber zu viel für mich: Ich begann zu ahnen, dass ich meinem Aufstieg nur unzureichend gewachsen war. Zwar hatte ich gelernt, die Erwartungen meiner Umwelt zu erkennen, und ich war auch talentiert und fleißig genug, sie zu erfüllen. Doch meinem äußeren Aufstieg fehlte das innere Gegengewicht. Ich brauchte Erfolg, um meine Selbstzweifel zu kompensieren. Ich war hungrig nach Lob und Zustimmung, um meine Ängste zu ersticken. Und ich arbeitete bis zur Bewusstlosigkeit, um meinen Aufstieg zu rechtfertigen und meinem Leben einen Sinn zu geben. Das gelang mir aber erst später.
Nun erlebte ich in Grimma ohne Überraschung die klägliche öffentliche Macht-Ranschmeiße des Kurt Biedenkopf, der sich zwar immer als hochintelligenter Mann, aber selten als talentierter Politiker erwiesen hatte. Nie war ich dem selbstgefälligen CDU-Herren, den ich seit Anfang der Achtzigerjahre kannte, besonders nahe gekommen. Sein ruhmloser Abgang aus Dresden, wo er um Ikea-Rabatte gefeilscht und sich monatelang mit »Putzfrauen«-, »Miet«- und »Yachturlaubs«-Affären herumgeschlagen hatte, erschien mir umso trostloser, als er sich kurz zuvor noch öffentlich über den verhassten Helmut Kohl belustigt hatte, weil der - als Kanzler abgewählt und als CDU-Ehrenvorsitzender abgesetzt - sich wie ein »Altbauer« aufführe, der nicht aufs Altenteil wolle. Mit deutlicher Herablassung hatte Kurt Biedenkopf begründet, woher »die irrationale Unfähigkeit zum Loslassen« komme, mit der der Altkanzler seine furiose Selbstdemontage durch illegale Parteispenden in Szene gesetzt habe: Kohl habe nun einmal seit seinem 15. Geburtstag ein Leben geführt, das auf nichts anderes als auf die Eroberung von formalen Machtpositionen ausgerichtet gewesen sei. Und nun könne er eben nicht mehr existieren ohne Macht. Das sei wie eine Sucht.
Dass Politik im »Machtrausch« enden kann, dass der Verlust einer politischen Position zu »Entzugserscheinungen« führt - das sind geläufige Redensarten in Politikerkreisen. Schon Max Weber hatte 1919 in seiner berühmten Rede über »Politik als Beruf« davor gewarnt, dass das Machtstreben des Politikers »Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung« werden könnte. Heute hantieren die Akteure selbst locker mit Sucht-Begriffen, um die Gefahren der beruflichen Verformung zu beschreiben. Und Gerd Langguth, einst CDU-Vorstandsmitglied, Bundestagsabgeordneter und RCDS-Vorsitzender, jetzt Professor für Politische Wissenschaft in Bonn, spricht gar von »Politoholics«, um die Persönlichkeitsveränderungen zu charakterisieren, die die »Droge Macht« auslöst.
Sucht. Droge. Entzug. Die meisten Politiker benutzen die Begriffe aus der Junkie-Szene mit bemerkenswerter Beiläufigkeit, um ihre eigene Befindlichkeit zu beschreiben. Sie tun so, als seien die Sucht-Vergleiche bloße Metaphern, harmlose Umschreibungen für eine etwas peinliche Besessenheit. Sucht light, sozusagen. Doch wer von Drogen redet und von Sucht, der redet zugleich von Realitätsverlust. Wenn also gerade jene Menschen Gefahr laufen, von Berufs wegen ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit zu entwickeln, denen wir durch Wahl den Auftrag erteilt haben, unser eigenes Leben, unsere persönliche Alltagsrealität zu ordnen, zu schützen oder sogar zu verändern, dann brauchen wir uns über den beklagenswerten Zustand der Welt nicht zu wundern.
Die »Droge Politik«, hat Bundespräsident Johannes Rau gewarnt, verursache eine »Sehstörung«, die er als Hauptgefahr im Leben von Berufspolitikern betrachte. Politiker neigten dazu, sagte Rau, sich so sehr an ihrer eigenen Bedeutung zu berauschen, in dem Gefühl zu schwelgen, die Welt verändern zu können, dass sie bald nicht mehr wahrnähmen, dass für andere Menschen Politik keineswegs das ganze Leben ist. Normale Bürger lesen Bücher, treiben Sport, kümmern sich um ihre Familie, haben Hobbys. Der Politiker hat von morgens bis abends nur die Politik, um die sich alles dreht - sein Denken, sein Tagesablauf, seine Phantasien, alles. Rau: »Wenn der Politiker das zu übersehen beginnt, dann politisiert er die Welt. Und weil die Realität anders ist, verschätzt er sich in der Welt.«
Auch der SPD-Politiker Rau war gegen solche Irrtümer keineswegs gefeit. Ziemlich erschrocken und empört saß er im Frühjahr 2000 - während ihm im atmosphärischen Gefolge der Kohlschen Parteispenden-Affäre nachträglich angebliche Privatflüge und gesponserte Geburtstagsfeiern aus seiner Düsseldorfer Regierungszeit vorgeworfen wurden - als neu gewählter Bundespräsident im Berliner Schloss Bellevue, auf dessen Dach die goldene Präsidentenfahne mit dem schwarzen Adler flatterte. »Die Leute sagen, wenn der Lappen draußen hängt, sind die Lumpen drinnen«, flüsterte er fassungslos Freunden zu, die ihn besuchten.
Dass die Anklagen unhaltbar waren, erwies sich schnell. Raus Wahrnehmungsstörung betraf auch eher sein neues Amt - er hatte offenbar geglaubt, als Staatsoberhaupt aus der Klasse der normalen Berufspolitiker ausgeschieden zu sein. Sonst hätte der alte politische Fahrensmann eigentlich nicht überrascht sein können, dass in der Vorstellung der meisten Deutschen die parteipolitischen Profis generell als korrupt, oder wenigstens als latent korruptionsanfällig gelten. Und schien nicht eine unendliche Folge von Skandalen und Affären in den vergangenen Jahrzehnten - eine Strauß-Lambsdorff-Barschel-Engholm-Späth-Krause-Streibl Leisler Kiep-Kohl-Koch-Klimmt-Biedenkopf-Möllemann-Döring-Kette von mehr oder minder hochgespielten Anrüchigkeiten und unzweifelhaft kriminellen Akten - diesen Eindruck zu bestätigen?
Politik als Beruf, hat Erhard Eppler geschrieben, gehöre nicht nur zum Gefährlichsten und Abgründigsten, worauf Menschen sich einlassen können, sondern auch zum Faszinierendsten, Spannendsten, ja Schönsten. Fast zögernd fügte der gestrenge Protestant in einer Art verkappter Bilanz seines öffentlichen Wirkens als Abgeordneter, Minister und freier Volkstribun der Friedensbewegung hinzu: »Vielleicht ist Politik an der Grenze dessen angesiedelt, was Menschen leisten können, ohne, um es biblisch zu sagen, Schaden zu nehmen an ihrer Seele.« Das wissen die meisten ziemlich genau, auch wenn sie über den selbstzerstörerischen Trend in ihrem Beruf nicht reden. Sie ahnen zumindest, dass es ernst ist.
Ich weiß es seit dem 9. August 1974, 12 Uhr mittags. Damals gab der 37. amerikanische Präsident, Richard Milhouse Nixon, in Washington, D.C. sein Amt an den Vizepräsidenten Gerald Ford ab. Die Watergate-Affäre, eine aus dem Weißen Haus gesteuerte Verschwörung zur Vertuschung krimineller Wahlkampfaktivitäten, hatte den Republikaner eingeholt. Nixon war der erste Präsident, den Verstöße gegen seinen Amtseid zum Rücktritt zwangen. Zum letzten Mal spielte die Marine Band »Hail to the Chief«. In der Tür des Helikopters, der ihn aus dem Weißen Haus abholte, drehte sich Nixon noch einmal um und spreizte die Finger zum nun grotesk wirkenden Siegeszeichen »Victory«. Er hatte keine Schuld auf sich genommen und niemanden um Verzeihung gebeten. Er tat sich Leid.
Ein paar hundert Meter entfernt hockte ich derweil am Schreibtisch des Spiegel-Büros im National Press Building und versuchte vergeblich, Nixons trostlosen Augenblick als meinen Triumph zu genießen. Aus irgendeinem Grund war auch ich ganz allein. Sozusagen zur Belohnung für meine ausführliche und vorherschauende Berichterstattung in den Monaten zuvor sollte ich den Abgang des US-Präsidenten in einem Namensbericht beschreiben - in jenen Jahren im Hamburger Nachrichtenmagazin noch eine ziemlich ungewöhnliche Auszeichnung. Doch ich starrte auf den Fernseher, sah den krampfhaft um Haltung bemühten gedemütigten Mann und fühlte nichts. Keine Erregung, keine Erleichterung, kein Mitgefühl, keinen Hass, nichts. Es war eine historische Stunde, aber die Kommentare der Fernsehkorrespondenten erreichten mich so wenig wie die Bedeutung der Bilder. Ich hörte wie durch Watte, sah wie durch Milchglas. Mein Bewusstsein schien ausgeschaltet. Heute weiß ich, dass dieser taube Augenblick ein existenzieller Tiefpunkt war, dass er eine Wende in meinem Leben einleitete, nicht nur in meinem beruflichen, aber da vor allem.
Im Mai 1968 hatte ich in Washington angefangen. Da schwelten in Reichweite des Weißen Hauses noch die Trümmer der schwarzen Ghettos, die nach dem Mord an dem farbigen Bürgerrechtler Martin Luther King explodiert waren. Monatelang passierte ich die Sicherheitskontrollen zum Amtssitz des Präsidenten, 1600, Pennsylvania Avenue, NW, mit einer Art frommem Schauder. Ich war der junge Mann aus Germany, ein kaum wahrgenommener Außenseiter im legendären White House Press Corps. Den Ausweis - man trug ihn an einer Kette um den Hals - empfand ich als eine Art Orden. Auch wenn mich das Attentat auf John F. Kennedy und der schmutzige und erfolglose Krieg in Vietnam erschreckt und irritiert hatten - im Grunde waren meine positiven Vorurteile über die Vortrefflichkeit der amerikanischen Demokratie noch unerschüttert.
Dann eskalierte der Vietnamkrieg, Präsident Lyndon B. Johnson, der deftige Texaner, der John F. Kennedy nachgefolgt war und den Krieg intensiviert hatte, gab auf, die Demokraten verloren die Wahl 1968. Jetzt richtete sich der Zorn der Demonstranten gegen den Republikaner Nixon, der sich fast über Nacht aus einem geschäftsmäßig kühlen Taktiker der Weltpolitik in einen rücksichtslosen Spieler mit Menschenleben verwandelt zu haben schien. Statt, wie versprochen, den Krieg in Südostasien zu beenden, weitete er ihn aus. Dennoch wurde Nixon 1972 wiedergewählt - und das, obwohl zuvor fünf Männer, von der Presse »die Klempner« genannt, bei einem Einbruch ins Wahlkampfhauptquartier der Demokraten im Watergate-Bürokomplex erwischt worden waren, denen eindeutig Kontakte ins Weiße Haus nachgewiesen werden konnten.
Mich versetzte diese Nachricht schlagartig in ein unerklärliches und unangemessenes Jagdfieber. Ich war inzwischen zum Spiegel gewechselt, wo ich größeren Spielraum für Meinungsäußerungen hatte, aber mehr als eine kurze Nachrichtengeschichte über die obskure Räuberpistole hatte ich zunächst nicht zu bieten. Trotzdem sagte mir mein Instinkt, dass Nixons Leute, wenn nicht gar er selbst, hinter dem klandestinen Unternehmen stecken mussten.
Ich traute dem ungeliebten Nixon, für den ich auf eine mich selbst irritierende Weise zugleich Abscheu und Mitgefühl empfand, inzwischen allerhand Verrücktheiten zu. Irgendwie meinte ich etwas zu ahnen von den Ängsten und der unterdrückten Wut, die ihn antrieben, immer aufs Neue beweisen zu müssen, dass er, der einfache Kleinbürger aus Yorba Linda in Kalifornien - dem der Ruf eines schlüpfrigen, überehrgeizigen Opportunisten anhing - der rechtmäßig gewählte und auch befähigte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war. Ich war sicher, dass er scheitern würde - an sich selbst. Das blieben natürlich Vermutungen. Mit seinem Einzug ins Weiße Haus war Richard Nixon sozusagen der menschlichen Nachprüfbarkeit entrückt und zu einer abstrakten Herrschaftsfigur geworden - blutleer, aufgedonnert, schemenhaft, mehr das Image eines Präsidenten als eine kenntliche Person. Solche Enthumanisierungsprozesse, im heutigen Medienzeitalter überall üblich, gehörten schon Anfang der Siebzigerjahre zum Alltag in der politischen Weltmetropole am Potomac, dem Neuen Rom.
Das Thema »Watergate« entwickelte einen Sog, dem sich kaum einer zu entziehen vermochte. Ich am allerwenigsten. Meine Jagd nach Details, die Akribie meiner Kenntnisse über Personen, Zeitpunkte und Formulierungen sowie die aggressive Intensität meiner Argumentation kriegten wahnhafte Züge. Was nach außen wie professionelle Leidenschaft wirkte - und sich für die Berichterstattung ohne Zweifel auch höchst positiv auszahlte -, empfand ich selbst immer mehr als Besessenheit. Ich begann Richard Nixon zu hassen. Er hatte mir nicht nur endgültig meinen amerikanischen Traum von einer funktionierenden und integren Demokratie zerstört. Er trug auch persönlich alle Merkmale des kleinbürgerlichen Aufsteigers, der sich in Positionen hochgedient hatte, denen er nicht gewachsen war - so wie ich selbst. Immer zwanghafter projizierte ich meine eigenen ungeliebten Eigenschaften auf Tricky Dick, um sie an ihm zu bekämpfen.
Wohl war mir dabei nicht. Ich ahnte meine Unfreiheit, litt unter meiner Unfähigkeit zur Distanz. Die Ruhelosigkeit quälte mich. Ich lebte mit dem Gefühl, mich und meine Position verteidigen zu müssen, obwohl mich niemand in Frage stellte. Ich schlief schlecht. Ich arbeitete rastlos. Ich trank zu viel und aß zu wenig. Aus Erschöpfung wurde Depression. Medikamente kamen dazu. Doch ich blieb Richard Nixon auf den Fersen, begleitete ihn zur Nato nach Brüssel, zu Breschnew auf die Krim und in den Kreml und zu Pompidou, den sterbenskranken, durch Kortison aufgeblähten französischen Staatspräsidenten, nach Island. Merkte Nixon nicht, dass ich dabei war, ihn zur Strecke zu bringen? Wann würde er zurückschlagen? Bei jedem Telefonschrillen zuckte ich zusammen. FBI? CIA? Secret Service? Steuerbehörde? Einwanderungsbüro? Er oder ich, ich oder er - in meinem Kopf lief ein panischer High-Noon-Film in Endlosschleife.
Am Ende war Richard Nixon erledigt, aber ich hatte nicht gewonnen. Im Gegenteil - auch ich konnte und wollte in Washington nicht länger bleiben. Denn so krank, müde und depressiv, wie der Präsident wirkte, fühlte ich mich auch. Ein Hochstapler im Weißen Haus war enttarnt, nun war ich dran. Das weinerlich selbstmitleidige und unterschwellig suizidale Lamento über seine armen Eltern, die sich krumm gelegt hatten für ihren Sohn, der es einmal zu etwas bringen sollte, weswegen er, Richard Nixon, ihnen niemals Schande machen wollte - diese Schnulze, die echten Schmerz in falsche Gefühle umsetzte, entsprach voll und ganz meiner eigenen Empfindung. Der Alkohol, mit dem ich mir aufhelfen wollte, machte alles noch schlimmer. Nein, ich konnte keine Sieger-Story abliefern, denn mir ging es miserabel. Wie Nixon suchte auch ich nach diesem Tag professionelle Hilfe wegen meines seelischen Zustands. Doch was dann monatelang von verschiedenen Ärzten zunächst als endogene Depression behandelt wurde, erhielt am Ende einen anderen Namen: Sucht.
Das Wort »Sucht« - es kommt von »siech«, englisch »sick«, was krank heißt - kennzeichnet einen Mangel, ein Defizit. Die Wirklichkeit wird als unerfüllt oder bedrohlich erlebt. Mit Hilfe von Drogen, ganz gleich ob chemische Mittel oder stimulierende Aktivitäten, versucht der Betroffene, dieses Defizit zu füllen. Wenn das Bedürfnis nach solchen Mitteln sich auswächst zu einem »unabweisbaren Verlangen« nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebnis- oder Bewusstseinszustand, sprechen die Fachleute von Sucht. An Mitteln zur Herstellung dieser betäubenden Gemütsverfassung war kein Mangel in meinem Job - dazu dienten Arbeit, öffentliche Wirkung, Lob und Rituale der Bedeutung, Rauchen und vor allem Alkohol. Aus Gewöhnung an diese Mittel wurde durch ständige Wiederholung und immer höhere Dosierung zunächst Abhängigkeit, dann Sucht.
Es dauerte eine Weile, bis ich diesen Prozess erkannt, bearbeitet und akzeptiert hatte. Einzugestehen, dass ich zwar alkoholabhängig war, dass mein süchtiges Verhalten aber nicht durch Whisky, Bier oder Wein erzeugt wurde, sondern dass umgekehrt der Suff die Folge eines persönlichen Defizits war, fiel mir nicht leicht. Es half aber, dass ich schnell merkte, wie sehr auch andere sich mit dieser Problematik herumschlugen - nicht zuletzt in der Politik.

Die da oben

Etwas Zweideutiges und Heimtückisches, ja Todbringendes hat der tschechische Präsident Václav Havel in der Versuchung der Macht entdeckt, nachdem er selbst in politische Führungspositionen aufgerückt war: »Unter einem Schleier existenzieller Selbstbestätigung wird die Existenz ihrer selbst enteignet, von sich selbst entfremdet, gelähmt.« Es war aber gerade dieses Abgründige, das mich an der Politik früh gereizt hat. Neugierig auf Menschen war ich sowieso immer - auf ihre Irrtümer, ihre Vernunft und ihr Bewähren, auf ihr Scheitern und ihre Schuld, das ganze unübersichtliche Drama des Lebens.
Die Umstände meiner Kindheit und Jugend in den Bombenkellern des Zweiten Weltkrieges und im Wiederaufbaufieber der frühen Adenauer-Jahre haben es mit sich gebracht, dass dieses Interesse schon früh eine politische und historische Einfärbung erhielt. Denn die älteren Menschen um mich herum - die Verwandten, Nachbarn, Lehrer und Professoren, die mich auf den Ernstfall des Erwachsenendaseins vorzubereiten vorgaben - schienen fast alle über zwei verschiedene Biografien zu verfügen. Es irritierte mich, dass - wenn sie von sich redeten - eine unüberbrückbare Kluft ihre persönliche Alltagswelt von jener großen Geschichte zu trennen schien, die offenbar ganz ohne eigenes Zutun hineingehagelt hatte in ihr privates Geschick.
Von ihren Großtaten als treu sorgende Familienmenschen, fleißige Kleingärtner, listige Überlebenskünstler und pflichtbewusste Berufstätige wussten sie lebensprall und saftig zu erzählen - von Geburten, Hochzeiten, Krankheiten und Beförderungen. Da waren sie Helden, Schlitzohren, Tölpel und Pechvögel, und, ob glücklich oder unglücklich, immer mittendrin im richtigen Leben. Das zweite Schicksal blieb dagegen seltsam vage, farblos und abgetrennt von eigenem Selbstverständnis. Es war den verhärmten Neudemokraten irgendwie zugestoßen, als exklusive Veranstaltung von »denen da oben« über sie hereingebrochen. Die hatten sie nach Verdun in den Ersten Weltkrieg geschickt oder nach Stalingrad in den Zweiten. Die hatten Inflation, Arbeitslosigkeit, Krieg, Hungerjahre und Wirtschaftswunder gemacht. »Die da oben« - das waren der Kaiser und die Parteien, die Siegermächte, Hitler und die Nazis, die Amis, der Tommy und der Russe, schließlich Adenauer und »die in Bonn«.
Vor allem deshalb, denke ich heute, habe ich Geschichte studiert und bin Journalist geworden, um herauszufinden, wie diese beiden Leben zusammenpassen. Die Abspaltungen waren mir unheimlich, das Private und das Politische zu integrieren, erschien mir unumgänglich. In meinem eigenen Leben wollte ich diese Kluft nicht zulassen, und ich wollte andere Menschen beobachten, wie sie sich gegen das Auseinanderfallen wehrten - oder wie sie es benutzten. Und wo wäre das besser zu studieren gewesen als in der Politik?
Deshalb habe ich mich nach meinem Zusammenbruch, den ich nur verkraften konnte, indem ich eine Menge über mich selbst lernte, vor allem darauf konzentriert, die handelnden Figuren in der Politik zu beschreiben. Nicht weil ich - wie etwa die Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts - noch immer glaubte, Politiker und Staatsmänner seien die großen Macher, die alle Fäden in der Hand hielten und die Geschichte lenkten. In ihnen bricht und spiegelt sich Geschichte eher. Weil sie öffentliche Ämter haben und öffentliche Funktionen ausüben, weil sie mitentscheiden, wie wir leben, verdienen sie besondere Aufmerksamkeit, nicht weil sie so bedeutsame Menschen wären. In seltenen Fällen sind sie es trotzdem.
Als ich anfing, klangen solche Einschätzungen ziemlich altmodisch. Ende der Siebzigerjahre kamen Menschen als Machtfaktoren in theoretischen Abhandlungen über Politik kaum noch vor. Biografische Darstellungsformen galten als überholt. Strukturen und Systeme, Bürokratien, Märkte und Kulturen schienen Geschichte zu machen, wenn die sich nicht ohnehin dem Ende zuneigte, künftig abgelöst von einer die Zeit einebnenden virtuellen Globalität. Doch dann geriet mit dem Fernsehen der Mensch wieder in den Blick - die Glotze brauchte action. Und prompt reduzierten sich hoch komplizierte politische Zusammenhänge auf archaische Kämpfe zwischen Helden und Schurken, Rettern und Opfern, Machern und Moralisten. Je differenzierter und unüberschaubarer Politik wurde, desto mehr wuchs das Bedürfnis von Parteien und Wählern, mit Hilfe des Fernsehens einzelne Personen als Symbole für Kompetenz, Integrität und Durchsetzungskraft eines politischen Konzeptes herauszustellen und zu akzeptieren. Nach amerikanischem Vorbild, das ich ja sieben Jahre lang vor Ort hatte studieren dürfen, wurden auch in der Bundesrepublik aus Wahlkämpfen zunehmend Duelle zwischen den Spitzenkandidaten der Parteien.
Uns schreibenden Journalisten blieb die Aufgabe, zu den Bildern spannende Geschichten zu erzählen. Hinter den Gesichtern in der »Tagesschau« sollten Lebensmodelle erkennbar werden, die zur Identifikation einluden. Denn es sind ja nicht in erster Linie die Aussagen eines Politikers, die ihn für die Fernsehzuschauer attraktiv oder abstoßend machen. Nur zu sieben Prozent, haben Kommunikationswissenschaftler ermittelt, reagieren Menschen auf Worte und Aussagen. Tonfall und Stimme beeinflussen das Urteil zu 38 Prozent, den Rest - 55 Prozent - prägen Körperhaltung, Gesten, Gang und Mimik. Und so hängt die Glaubwürdigkeit von Politik weitgehend davon ab, ob die Politiker ihre Inhalte durch Auftreten zu legitimieren vermögen. Sie bieten der Öffentlichkeit ein Bild von sich an - ist es durch ihr Leben gedeckt?
Das interessierte mich, nachdem ich an Richard Nixon wie auch am eigenen Leib erlebt hatte, dass es offenbar nicht ausreichte, die nötigen Begabungen für bestimmte Positionen zu besitzen - man musste ihnen auch charakterlich und menschlich gewachsen sein. Gab es so etwas Altväterliches wie sittliche Integrität überhaupt noch? Was waren das für Menschen, die Politik zum Beruf machten? Was trieb sie an? Von welchen hohen Träumen und tiefen Ängsten, Ehrgeiz und Trieben, Hemmnissen und Prägungen wurden sie bestimmt? Willy Brandt, der während seiner jungen Jahre in Oslo lange Gespräche mit dem politisch engagierten Psychoanalytiker Wilhelm Reich geführt hatte, wunderte sich später häufig, dass die seelischen Probleme und die neurotischen Störungen von Politikern in der öffentlichen Diskussion in Deutschland so wenig erörtert wurden. Man frage viel zu wenig, »wie es zu bestimmten Fehlentscheidungen oder zu bestimmtem Fehlverhalten kommt. Man nimmt sie einfach so hin, als Faktum«, sagte Brandt 1989 in einem Interview. Das sei ein Fehler. Es werde so getan, als ergebe sich alles aus politischen Erwägungen, aus parteipolitischen Interessen oder aus sachlichen Notwendigkeiten. Brandt: »Daß die Beweggründe eines Politikers sich häufig aus dessen Struktur mehr ergeben als aus den eingespielten politischen Regeln, das, finde ich, wird viel zu wenig beachtet.«
Muss man, um das erkennen zu können und beurteilen zu dürfen, ausgebildeter Psychoanalytiker sein? Im Studium der Psychologie bin ich über die Köhlerschen Affenversuche nicht hinausgekommen, der Statistikkurs hatte mich vergrault. Auf der Psycho-Couch eines Analytikers habe ich nie gelegen. Mit Hilfe verschiedener Methoden der humanistischen Psychologie und durch langjährige Sitzungen in Selbsterfahrungsgruppen glaube ich mir aber so viel Menschenkenntnis angelernt und anerlitten zu haben wie meine Großmütter in der Alltagspraxis ihrer Großfamilien. So gerüstet habe ich mich teilnehmend dem politischen Personal in Bonn und Berlin genähert. Wie sehr dabei mein Blick auf die Befragten durch die eigene Befindlichkeit bestimmt war, ist mir im Nachhinein erst so recht deutlich geworden.
Natürlich nahm ich die Personen, über die ich schrieb, als Individuen ernst. Auch habe ich ihre sozialen Rollen, ihre Herkunft und ihre Lebensgeschichte sorgsam zu recherchieren versucht. Doch die jeweilige Sehweise auf den anderen - ob meine Aufmerksamkeit sich auf Fassaden, Identitäten oder Inszenierungen konzentrierte - hatte mit meiner persönlichen Biografie zu tun, mit dem jeweiligen Stand meiner Selbsterkundung.
Wichtig blieb mir jedoch immer, dass Berufspolitiker Handeln und Verantwortung nicht nur darstellen, sondern dass sie als gewählte Vertreter des Volkes auch wirklich entscheiden und für ihr Handeln verantwortlich sind. »Entscheidend kommt es am Ende immer wieder auf die Person in der Politik an«, hat der politische Praktiker Richard von Weizsäcker bekräftigt. »Sie kann Fehlentwicklungen korrigieren. Zweifellos kann sie aber auch Gefahren heraufbeschwören.«
Weizsäcker - inzwischen Bundespräsident a. D. - versuchte im Februar 2003 im Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt aktuelle Antworten auf Fragen zu finden, die 1919 Max Weber zum ersten Mal öffentlich formuliert hatte: Was ist ein Politiker? Was treibt ihn? Was betreibt er? Einen Beruf? Max Weber selbst - Jurist, Historiker, Soziologe - war im Revolutionswinter 1919 gerade mit seinem Versuch gescheitert, ein Mandat der Deutschen Demokratischen Partei für die Nationalversammlung der Weimarer Republik zu erhalten. Aber aus Sorge um das Gelingen der jungen Demokratie in Deutschland ließ er nicht nach in seinem Bemühen, die bürgerliche deutsche Abneigung allem Politischen gegenüber zu bekämpfen. Bis heute kommt niemand, der sich ernsthaft mit dem Politikbetrieb und den politischen Profis befasst, an seinen Maßstäben vorbei.
Offenbar hatte Weber vor allem den Idealtypus des homo politicus im Sinn, weniger den gemeinen Berufspolitiker. Und doch trifft die Grundbeschreibung auch diesen: »Kampf um die eigene Macht und die aus dieser Macht folgende Eigenverantwortung für seine Sache ist das Lebenselement des Politikers.« Webers Forderungen an einen Menschen, der dafür gerüstet sein möchte, »seine Hand in die Speichen der Geschichte legen zu dürfen«, heißen Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Auch die berühmte Geduld für »starkes langsames Bohren von harten Brettern« verlangt er vom Politiker sowie die Einsicht: »Politik wird mit dem Kopf gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele.«
Diese Qualifikationen gehören seither zum Pflichtrepertoire der Selbstbeschreibung politischer Profis.

Traumtänzer

Besonders angesehene Leute waren Politiker nie. Schon der französische Historiker und Politiker Alexis de Tocqueville, der während der Revolution von 1848 in der Französischen Nationalversammlung saß und unter der Diktatur des Louis Napoleon seine Erinnerungen schrieb, machte aus seiner Abscheu vor dem Opportunismus, der platten Verlogenheit und der Mittelmäßigkeit seiner Politikerkollegen kein Geheimnis. Sie besäßen »die wertvolle und in der Politik manchmal unerlässliche Gabe«, höhnte er, »ihre Überzeugungen ihren augenblicklichen Begierden und Interessen anzupassen, und gelangen so dazu, auf verhältnismäßig anständige Weise ziemlich unehrenhaft zu handeln«. Der deutsche Volkswirtschaftler Werner Sombart sprach vor dem Ersten Weltkrieg geradezu mit Ekel von der »unseligen Spezies der Berufspolitiker« als von einer Art unehrlichen Gewerbetreibenden - »geistig öde, ethisch verlogen, ästhetisch roh«. Und Thomas Mann hieß 1918 in den Betrachtungen eines Unpolitischen den Politiker »ein niedriges und korruptes Wesen«, das in geistiger Sphäre eine Rolle zu spielen keineswegs geschaffen sei.
An diesem Negativ-Image hat sich bis heute nicht viel geändert. In der Skala der Traumberufe, die im Jahr 2000 bei den Männern von Spitzensportlern und bei den Frauen von Stewardessen angeführt wurde, kamen Politiker nicht vor; bei einer Rangfolge von »ehrlichen Berufen« - mit Pastoren, Apothekern und Polizisten an der Spitze - landeten Bundestagsabgeordnete ein Jahr später knapp vor Autoverkäufern und Immobilienmaklern am Schluss. Niemand schien besonders überrascht über die Parteispenden-Skandale; die Erwartung an die Sachorientierung der Politiker, an ihre politische Leidenschaft für die Lösung der Probleme des allgemeinen Wohls scheinen auf ein Minimum gesunken. Filz und Vetternwirtschaft, Absahnermentalität und egoistisches Versorgungsdenken werden den Parteien und ihren professionellen Vertretern nahezu selbstverständlich zugerechnet. Und nach einer Umfrage von 2003 fanden 80 Prozent der Bundesbürger, das Ansehen von Politikern sei seit der Bundestagswahl im Jahr davor »eher gesunken«.
Die Zahl der Berufspolitiker in der Bundesrepublik Deutschland ist geringer, als ihre öffentliche Wirkung und die allgemeine Empörung über sie vermuten lässt. Hans Herbert von Arnim, einer der unermüdlichsten Kritiker des politischen Personals, kommt auf 16 826 Frauen und Männer, die als Politiker ihren Lebensunterhalt verdienen - unter Berücksichtigung von gut 2000 Abgeordneten aus 16 Landtagen, 603 Bundestagsabgeordneten, 99 deutschen Vertretern im Europäischen Parlament, einer Bundesregierung und 16 Länderregierungen samt Ministern und Staatssekretären, der direkt oder indirekt gewählten hauptamtlichen Bürgermeister, Dezernenten und Landräte, sowie der fest angestellten Mitarbeiter der Parlamentarier. Nicht in dieser Zahl enthalten sind die fest angestellten Funktionäre der Parteien.
Ich habe mir angewöhnt, von der »politischen Klasse« zu sprechen, wenn ich die Polit-Profis meine, wobei ich den Begriff beschreibend benutze, nicht, wie vielfach üblich, denunziatorisch als Ausdruck verbalen Widerstandes gegen eine neue Privilegienstruktur. Denn die polemisch geführte Debatte über Pensionsansprüche, Nebeneinkünfte, Luxusreisen, Dienstwagen und Bonusmeilen scheint mir oft in klischeehafter Banalität die eigentlichen Probleme zu verdunkeln. Ich halte eher die gesellschaftliche Isolierung und den häufig ärgerlichen Mangel an Sachund Weltkenntnis dieser Generalisten »mit Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft« - wie Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Mehrheit der Abgeordneten einmal charakterisierte - für eine gefährliche Entwicklung.
Politik als Beruf, das hieß und heißt in Deutschland praktisch, dass die meisten Akteure in keinen anderen Beruf wechseln können, weil sie nichts anderes gelernt haben als jenen Teil von Politik, den die Amerikaner politics nennen, was - im Gegensatz zu policy - nur die Tricks und Fertigkeiten des parteipolitischen Ränkespiels meint, nicht Inhalte, Programme oder gar Visionen. »Das sind doch fast alles Traumtänzer«, spottet der greise Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis über die gestern und heute Regierenden. »Der Wirklichkeitsverlust unserer führenden Politiker, und das begann bei Kohl, ist tief beängstigend.« Ihren Politikstil empfindet er als unernst, bei niemandem kann Hennis »große sachliche Kenntnisse« ausmachen. Gerade die fatale Neigung der politischen Führungseliten, ihre Ohnmacht angesichts der hoch differenzierten und komplexen gesellschaftlichen Probleme hinter selbstgewissen Posen und beruhigenden Formeln verstecken zu wollen, entlarvt den Anspruch nur allzu oft als öffentliche Lüge.
Glücklich sind die Betroffenen damit selbst nicht. Ein Minister, der sicher ist, dass die Leute ihm ein Eingeständnis seiner Machtlosigkeit nicht honorieren würden, hat mir sein Dilemma so beschrieben: »Da sitzt du schon am frühen Morgen im Auto, hörst Radio, liest Zeitung, telefonierst und wartest, dass irgendwo irgendwas schief läuft. Nie weißt du: Wann passiert die Riesensauerei? Wann machst du den zentralen Fehler, wo du abrutschst. Dann musst du handeln, oder besser: Du musst so tun, als ob du das Problem lösen könntest. Meist kannst du ja gar nix machen. Entscheidend ist also, welche Erscheinung du von dir in die Welt setzt, dass du also Handlungen vortäuschst. Denn das fragen doch immer gleich alle: Hat er gehandelt? Und je weniger konzeptionell du bist, desto mehr Fiktion musst du liefern. Das wird dann zur Masche.«
War das immer so? An großen Ereignissen und Veränderungen hat es in den letzten zwanzig Jahren gewiss nicht gefehlt. Aber machten die Politiker mehr oder gar anderes, als sowieso geschah? Gut - Helmut Kohl bei der Euro-Einführung, Gerhard Schröder beim Nein zum Irak-Krieg. Aber sonst? Management des Betriebs, Verwaltung des Zustands. Wochenlang bin ich in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder bei Wahlkämpfen mit den Kandidaten durch das Land gehetzt - mit Helmut Kohl und Johannes Rau, mit Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping, mit Gerhard Schröder und Edmund Stoiber, Joschka Fischer, Angela Merkel und Guido Westerwelle. Manchmal war das nicht unspannend, unterhaltsam fand ich es immer, abwechslungsreicher jedenfalls als den Alltag in Bonn. Aber aufregend, leidenschaftlich, elektrisierend? Da waren routinierte Manager der Macht unterwegs, die es verstanden, noch das kleinste Karo in große Worte umzumünzen und dazu ein betroffenes Gesicht zu machen. Aber Ziele, die mich bewegt hätten, Hoffnungen, die mein Engagement gefordert hätten, Projekte, die mein Herz angesprochen hätten? Fehlanzeige.
Das Auftreten der ersten beiden Bundeskanzler, die ich Ende der Sechzigerjahre in Washington erlebte, Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt, war deutlich bestimmt durch ihr persönliches Schicksal inmitten der deutschen Geschichte. Während wir jüngeren Korrespondenten aus der Bundesrepublik froh waren über jede Minute, die Kiesinger über seine in Washington lebende Enkelin »Fröschle« schwätzte, weil er in dieser Zeit nicht nach seiner Nazi-Vergangenheit gefragt werden konnte, mokierte sich der Emigrant und Antifaschist Willy Brandt über die vielen Nazi-Filme im US-Fernsehen, wenn Fragen zur neuen Rechten in Westdeutschland kamen. Und abends erzählte er im kleinen Kreis, wie Fritz Erler und er bei ihrem ersten Amerika-Besuch während der kommunistenfresserischen McCarthy-Zeit einmal um vier Uhr morgens angeheitert am Weißen Haus vorbeigefahren seien und - im offenen Wagen stehend - die Internationale gesungen hätten.
Es gibt eine unheilvolle deutsche Tradition fehlender Einfühlung in die eigene Befindlichkeit, die vom Wilhelminismus bis zu den Nazis den seelischen Untergrund von Generationen prägte. »Affektive Entwirklichung« nennt der Psychoanalytiker Tilman Moser diese Verschüttung biografischer Wahrheiten, die sich in allen Bereichen des Lebens auswirkte - auch, wenn nicht gar vor allem, in der Politik. Doch die historischen Ereignisse der Hitler-Barbarei und der »Scheiße des Krieges«, wie Helmut Schmidt bis heute gern sagt, waren so intensiv und verheerend, dass sie - trotz der kollektiven Tabuisierung des Persönlichen - die innersten Lebensbezirke der Zeitgenossen berührten. Die persönliche Existenz der Weimarer Generation, der Soldaten und Flakhelfer, ihr Blick auf Welt und Menschen, wurde davon für immer geprägt.
Danach rückten in die politischen Ämter der Bundesrepublik junge Deutsche ein, die weniger von ihren persönlichen Erfahrungen als von ihren Ambitionen und Karriereträumen beflügelt wurden. Für sie wurde Politik mehr und mehr zur bloßen Laufbahn, zu einem Aufstiegskanal für Emporkömmlinge. Die von Max Weber erwartete »geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens, und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein«, von der die Alten gezeichnet blieben, verdünnte sich bei ihren Nachfolgern zum scheelen Seitenblick auf den Konkurrenten beim Gerangel um öffentliche Erfolge.
Mit vielen bin ich mitgewachsen. Ich sah, wie die Erfahrungen des Aufstiegs ihr Misstrauen schärfte. Sie kannten sich aus mit der Angst vor eigenen Fehltritten und der Heimtücke anderer. Das machte sie »beinhart«, wie Gerhard Schröder bekannte, und zynisch. Jeder kämpft gegen jeden. Die Zweckbündnisse der Politik zerbrachen bei veränderter Lage. Im glücklichsten Fall blieben den politischen Stars ein paar private Freundschaften. »Jeder, der Erfolg hat - und das heißt auch, sich durchsetzen -, wird Gegner hinterlassen, Enttäuschungen produzieren, auch Wut. Dann heißt es, er geht über Leichen«, rechtfertigte sich Joschka Fischer. Der grüne Vizekanzler und Außenminister schwelgt in Bergsteiger-Bildern, um die extremen Belastungen zu beschreiben, die Politiker auf der letzten Etappe ihres Weges zum Gipfel aushalten müssen. Mit fast kindlicher Bewunderung, die vor sich selbst keineswegs Halt macht, beschreibt er strahlend die Strapazen auf dem Marsch zum Gipfel. Kanzlerschaft, Regierung - das sind für Fischer die Achttausender der Politik. Bis auf 7000 Meter brächten es viele Talente, höhnt Fischer mit genüsslichem Schaudern. Auf den letzten Metern aber sieht er viele fest gefrorene Politikerleichen in der Wand hängen. Er selbst aber hat es geschafft, er sieht sich auf dem Mount Everest: »Da ist die Luft dünn und der Wind eisig.«
Um sich gegen Verletzungen zu wappnen, lernen Spitzenpolitiker, sich emotional zu reduzieren. Vielleicht ist das die Voraussetzung dafür, ins politische Hochgebirge aufzusteigen. Sie spalten ganze Bereiche ihrer Persönlichkeit ab, verweigern das Nachdenken über Fehler und Niederlagen, wehren Selbstzweifel ab, suchen Schuldige anderswo und klammern sich so an eine durchsetzungsfähige Siegerversion von sich selbst.
Aber sind die wirklich mächtig, die es bis ganz oben geschafft haben? Gewiss, die üppige Ausstattung ihres Arbeitsplatzes suggeriert Macht. Denn die Luftwaffenjets, die gepanzerten Limousinen, die Leibwache und die Suiten in Luxushotels, die den Spitzenleuten in ihren demokratischen Ämtern ein kinohaftes Königsleben ermöglichen, sind ja keine Attrappen. Mag auch der Luxus der Sicherheit geschuldet sein und der Funktionalität des Amtes - verführerisch ist er trotzdem. Alles signalisiert: Wichtig! Very important person! Überrascht erkannte der PDS-Fraktionschef Gregor Gysi nach zehn Jahren Parlamentszugehörigkeit in der kapitalistischen Bundesrepublik die Kehrseite: »Politiker sind oft hilflos, ohnmächtig, überfordert.« Allerdings geständen sich die meisten die Begrenztheit ihrer Wirkungsmöglichkeiten nicht ein, ergänzte er. Im Gegenteil: »Politiker sind an dem trügerischen Bild, das über sie existiert, sogar interessiert.«
Kann es verwundern, wenn der eine oder andere sich womöglich unersetzlich findet mit der Zeit? Stets sitzen sie in der ersten Reihe, immer wollen sie das Beste, Applaus ist ihnen sicher. Schnell haben sie herausgefunden, welche Gesten und welche Floskeln beim Publikum ankommen. Und sie werden ihrer eigenen Erfolgstiraden nie überdrüssig. Sie gefallen sich immer aufs Neue, wenn sie sich im Radio noch einmal hören oder in der »Tagesschau« sehen: Guck, da bin ich schon wieder. Sollten sie es nicht selbst registrieren, hilft die Umgebung. »Hans-Dietrich, du bist im Fernsehen«, gellte mütterliches Triumphgeschrei durch die Genscher-Villa im Bonner Vorort Pech, sobald der Außenminister während seiner Amtszeiten über den Bildschirm flimmerte.
Der Blick für die kleinen Schwierigkeiten des Alltags verliert sich. Alles scheint möglich. In der Umgebung von Macht halten alle Zerrspiegel der Täuschung bereit. Die zeigen einen öffentlichen Helden. Für die Betroffenen ergibt das eine seltsame Diskrepanz. Auf der einen Seite wird der Spitzenpolitiker zum Prominenten schlechthin. Völlig entindividualisiert, geistert er als glorreiche Schablonen-Figur durch die öffentliche Landschaft, die mit einem normalen Lebewesen nicht mehr vergleichbar scheint. »In der Politik gibst du die Souveränität über dich auf«, hatte Gregor Gysi schon geahnt, bevor er in Berlin Senator wurde, »du verfügst nicht mehr über dich: nicht über dein öffentliches Bild, nicht über dein Image, nicht über deine Zeit.«
Das blieb so. Aber zusätzlich lernte Gysi jetzt die andere Seite kennen: Als Medienversion des Helden wurde er ganz persönlich für alles haftbar gemacht, was in der Welt passierte. Auf dem Bildschirm ist er der, um den sich alles dreht, im Positiven wie im Negativen. Als die Firma Herlitz in Berlin Pleite machte, standen die Arbeitslosen bei Gysi vor der Tür, nicht bei den Banken. Und die Kameraleute waren dabei.
So ist es überall. In allen politischen Institutionen, Gremien oder Parteien sind sämtliche Handlungen und Charaktere auf den politischen Hauptdarsteller ausgerichtet: Er muss - möglichst mit Taten, auf jeden Fall aber mit Worten - den Dingen einen Sinn geben, Orientierung schaffen. Das ist eine Überforderung, die schmeichelt und nervt. Sie putscht die Akteure auf und deformiert sie zugleich. »Die gesamte Gesellschaft nimmt teil an den Verletzungen«, sagt Angela Merkel, »man ist sozusagen auf dem öffentlichen Markt.«

Sucht ist Ersatz

Umgekehrt werden die Politiker mit der Lebenswirklichkeit ihrer Bürger ebenfalls vor allem durch Fernsehbilder konfrontiert. Was widerfährt ihnen denn noch persönlich? Längst ist der politische Betrieb für die meisten Akteure zum Ersatz für das richtige Leben geworden - und damit zur Einbruchstelle von süchtiger Deformation. Denn Ersatz ist das Wesen der Sucht. Drogen ersetzen das Eigentliche: Anerkennung, Sinn, Glück, Glauben, Liebe, Sicherheit.
Meine an Richard Nixon - und natürlich auch an mir selbst - gewonnenen Erfahrungen halfen mir beim Verständnis der Barschel-Affäre und des Möllemann-Endes, des Lafontaine-Rücktritts und der Geltungsgier Helmut Kohls. Aber nicht nur die Extremfälle, sondern der Alltag des politischen Betriebes mit seiner zunehmend um sich selbst drehenden Hektik, der »Machtvergessenheit und Machtversessenheit« (Richard von Weizsäcker) der Parteien und der Realitäts- und Lebensfremdheit vieler Akteure erschienen mir süchtig. Je intensiver ich mich mit dem Suchtphänomen befasste, während ich gleichzeitig weiter hauptberuflich das Geschehen aus der Nähe beobachtete - ab 1975 in Bonn, seit 1989 in Berlin -, desto auffälliger wirkten die Überschneidungen. Wenn der Nutzen des Drogenkonsums in der Entlastung von Ohnmachtsgefühlen, Kränkungen und Selbstwertzweifeln besteht - wo wäre der Unterschied? Wahrgenommen, bemerkt und anerkannt zu werden, ist das Hauptziel jedes Süchtigen. Es ist auch das Bestreben jedes Politikers in der Medienwelt.
Alle wollen sie bemerkt und gemocht und am Ende natürlich gewählt werden. Das Fernsehen habe die Politik nicht nur deshalb so tief greifend verändert, glaubt Altkanzler Helmut Schmidt, weil es die Politiker zur Oberflächlichkeit verführt: »Es macht sie auch sympathiesüchtig.« Die Versuchung zum Opportunismus, ohnehin immer eine Gefahr für die demokratisch gewählten Vertreter des Volkes, werde übermächtig. Schmidt: »In der Demokratie werden Sie nämlich nur gewählt, wenn Sie sich ausreichend angenehm machen.« Das heißt: Der Politiker sagt Dinge, von denen er glaubt, dass seine Zuhörer sie denken. Vor allem sagt er nicht, was sie nicht hören wollen. In diesem Zusammenspiel zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern wird die Suchtgefahr am deutlichsten - die Wähler werden zu Co-Abhängigen, wie es in der Therapiesprache heißt, zu Komplizen der von sich selbst und ihren Privilegien Berauschten, die ihnen zum Dank dafür die Welt schönreden.
In Wahrheit sind die Politiker den Bürgern ziemlich ähnlich. Dass die Bereitschaft, rücksichtslos - und möglichst am Finanzamt vorbei - in die eigene Tasche zu wirtschaften und egoistisch auf den eigenen Vorteil zu pochen nur eine Eigenart der politischen Klasse wäre, lässt sich gewiss nicht behaupten. »Politikverdrossenheit und ihre permanente Beschwörung halte ich in den meisten Fällen für eine unernste Luxushaltung des verbrämten ›Ohne mich‹, einen billigen Freibrief zum Meckern«, schrieb der Philosoph und Theologe Richard Schröder, der 1990 SPD-Fraktionsvorsitzender in der frei gewählten Volkskammer war.
Es geht um Wirklichkeit. Die krasse Realität ist für niemanden uneingeschränkt erfreulich. Für den Politiker aber, der gewählt wird, um den Bürgern ein möglichst erfreuliches Leben zu gestalten oder wenigstens vorzugaukeln, ist eine verunsichernde Realität besonders bedrohlich. Also versucht er, sie zu schönen: Ängste zu leugnen, Störungen abzuwehren und sich selbst zu bestätigen. Das macht ihn zum Dienstleistungspolitiker. Tatsachen verwandelt er in Ansichtssachen, durch symbolische Politik ersetzt er, was an Handlungen unterbleibt. Verändert werden solle weniger die äußere Welt, sagt der Soziologe Claus Offe, »als das Bild, das wir uns von ihr machen, und die Erwartungen, die wir an sie richten«. Macht hat, wessen Wirklichkeitsversion von der Mehrheit der Wähler geteilt wird. Im Idealfall könnten Politiker ihren Wählern natürlich zumuten, das Störende zu akzeptieren. Das wäre staatsmännisch. Im schlimmsten Fall lenken sie die Wut ihrer Klientel auf Sündenböcke. Das wäre Demagogie. Im Normalfall aber rühren Politiker nicht an Themen, die den Leuten Einsichten oder Einbußen abverlangen. Immer häufiger entwickelt sich so eine wechselseitige Manipulation, mit der sich Politiker und Wähler in ihrer Gemütsruhe bestätigen. Das macht die Bürger immer verdrossener, die Politiker immer unfreier.
Dass ich über meine Beobachtungen und Erfahrungen zu diesem Thema ein Buch schreiben würde, stand für mich seit zwanzig Jahren fest. Ich habe so lange gewartet, weil ich wusste, dass ich mich selbst als Süchtiger zu erkennen geben müsste, sollte die Charakterisierung der Politiker als potenzielle Erfolgs-Junkies nicht denunzierend wirken. Und sozusagen offiziell als trockener Alki outen wollte ich mich erst, wenn ich für den Spiegel, der mich in meiner Notzeit vorbildlich geschützt und gestützt hatte, nicht mehr im politischen Tagesgeschäft tätig sein würde. Denn natürlich hat der Sucht-Begriff ja auch heute noch einen diffamierenden Beigeschmack: Er enthält einen moralischen Vorwurf gegenüber angeblich Willensschwachen, Undisziplinierten, wenn nicht gar Verwahrlosten. »Ob etwas als Sucht bezeichnet wird, und wie sehr die Sucht verurteilt wird, hängt davon ab, wer sie hat«, schreibt die Psychoanalytikerin Thea Bauriedl. »Die Sucht der Herrschenden und der ›Normalen‹ wird nicht oder nur vorsichtig als solche benannt und zumeist mit irgendeinem ›Sachzwang‹ entschuldigt.«
Natürlich weiß ich, dass es vieler Reformen und Veränderungen im institutionellen Umfeld der Parteien, Parlamente und des Staates und der Medien bedürfte, um Politikern ihre innere Freiheit zu sichern. Letztlich ist aber auch in diesem Gewerbe jeder selbst - wie jeder Workaholic, jeder Computer-Freak oder jeder fröhliche Zecher - dafür verantwortlich zu erkennen, wann süchtige Entgleisungen sein Leben zu beherrschen beginnen. Die zunehmende Fülle der öffentlichen Äußerungen zu diesem Thema deutet darauf hin, dass sich viele Polit-Profis der psychischen Unfallgefahr an ihrem Arbeitsplatz bewusst zu werden beginnen.
Nach meinem Eindruck ist die Flucht in die Sucht ganz und gar keine Spezialität der politischen Klasse. Eher halte ich die Politiker in dieser Hinsicht wirklich für »Volksvertreter«, Mandatsträger einer Suchtgesellschaft. Ihre Besonderheit ist freilich erstens, dass ihre berufsbedingte »Sehstörung« nicht Privatangelegenheit bleibt, sondern unser aller Leben beeinflusst. Und dass zweitens die Verführungen zur Deformation für sie in jüngster Zeit weitaus zahlreicher und wirksamer geworden sind als die Bildungschancen. Eppler: »Die wachsende Übermacht der Medien über die Politik, des Verkaufens über das Erarbeiten, des Scheinens über das Sein, der Inszenierung über die Aktion machen Deformation immer wahrscheinlicher, Reifung immer erstaunlicher.«
Doch unmöglich ist das Erstaunliche nicht.
I
Die Berliner Republik

Das Raumschiff

Politiker tun sich schwer mit dem richtigen Leben. Nicht nur haben sie Schwierigkeiten, es zu bewältigen, es macht ihnen schon Mühe, es überhaupt zu erkennen. Kein Wort habe die Union »zur realen Lage« in der Bundesrepublik gesagt, empörte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder Dezember 2002 im Bundestag. Höhnisch fragte er den CSU-Sprecher Michael Glos: »Über welches Land reden Sie eigentlich?« Und für die Grünen nahm sich die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt die CDU-Vorsitzende vor: »Frau Merkel, haben Sie denn keine Möglichkeit mehr, die Realität in diesem Lande wahrzunehmen?« Prompt lederte die an die Adresse des Bundeskanzlers zurück: »Sie haben ja langsam einen Tunnelblick in Bezug auf das, was die Realität in diesem Lande ausmacht.« Und ihr Parteifreund Steffen Kampeter assistierte: »Sie liefern ein absolutes Zerrbild nicht nur von der Wirklichkeit, sondern vor allem von den angeblichen Erfolgen Ihrer Regierungsarbeit. Sie haben in Ihrer Rede jedweden Bezug zur Wirklichkeit vermissen lassen.«
Eigentlich war das, im Gebäude des Berliner Reichstages, eine typische Bonner Debatte. Dort am Rhein, in der idyllischen Provinz, war es ja realistisch gewesen, einander Wirklichkeitsverlust vorzuwerfen. Dort galt es sozusagen als ausgemacht, dass die »wahre Wirklichkeit«, wie Kanzler Schröder zu sagen pflegt, bei den Menschen draußen im Lande zu Hause war, aber nicht zwischen den lieblichen Vorgärten im Villenviertel rund um das Kanzleramt, wo sich die drittgrößte Industriemacht der Erde vor der Weltpolitik wegduckte. Ex-Justizminister Jürgen Schmude (SPD) hatte mich, als ich ihm in den Monaten nach der deutschen Vereinigung allzu ungeduldig auf politische Konsequenzen aus der radikal veränderten Situation zu drängen schien, einmal an die Fenster im obersten Stockwerk des Abgeordnetenhochhauses »Langer Eugen« geführt und auf das romantische Panorama des Siebengebirges gedeutet. »Sie müssen doch zugeben«, spottete er, »dass man dahinter den Osten beim besten Willen nicht erkennen kann.«
Das Treibhaus hatte Wolfgang Koeppen in einem frühen Roman die provisorische Hauptstadt am Rhein genannt. In dem schwülen Klima zwischen Drachenfels und Venusberg gediehen vor allem Eitelkeit und selbst gezüchtete Aufgeregtheiten der angereisten Politiker, die zu den rheinischen Menschen wenig Zugang fanden. »Bonn war eine kleine Stadt, die im politischen Leben nicht wirklich vorkam«, fand vierzig Jahre später Wolfgang Thierse, der Parlamentspräsident, der sich damals, wie auch heute noch, vom Kollwitzplatz im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg aus zur Arbeit in den Bundestag aufmachte - bis 1999 nach Bonn, seither nach Berlin Mitte. »Berlin aber hat selber so viel Gewicht, dass die Stadt und ihr Leben die Politik in ihrer Bedeutung relativieren können.«
Die Politik in ihrer unrelativierten Bedeutung - das meinte die nimmermüde, um sich selbst zirkulierende politische Klasse, den Insider-Betrieb der nahezu ausschließlich mit ihrer eigenen Bedeutung beschäftigten Bescheidwisser und Wichtigtuer von Ministern, ehemaligen Ministern, künftigen Ministern und journalistischen Ministermachern, von Parlamentariern, Lobbyisten, Diplomaten, Pressesprechern, Redenschreibern und Beamten, denen in Bonn niemand entrinnen konnte. Mein erster Karneval begann mit einem in Mullbinden gewickelten Bettler, der greinend auf dem Parkplatz unseres Bonner Redaktionsbüros saß und »um’ne Mark für’n Kölsch« barmte. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn als Norbert Blüm identifizierte.
Für den damals noch grünen Großbürger Otto Schily gehörten solche Episoden zu den Trostlosigkeiten einer provinziellen Tristesse, die er nur schwer aushielt. Er fand »die sterilen Aufgeregtheiten, die verschnulzten Sprechweisen« und »hausbackenen Rituale« ebenso unerträglich, wie die »entsetzlichen Zusammenrottungen, die in Bonn als Feste ausgegeben werden und hauptsächlich als Staffage für die Werbung von Brauereien und Würstchenfabrikanten dienen«.
Als Pressemensch gehörte ich dazu. Das war einfach so in der rheinischen Republik. Für mich bedeutete das eine radikale Umstellung, denn in Washington blieben Auslandskorrespondenten immer außen vor. In Bonn hingegen war Abstand schwerer hinzukriegen als Nähe. Du wusstest, welcher Abgeordnete dir am Sonntag in der Sauna begegnen würde, welcher Botschafter am Samstag, und dass du am Mittwoch dort Richard Stücklen beim Skat zusehen konntest. Beim Schwimmen traf man gegen acht Uhr morgens Richard von Weizsäcker im Godesberger Kurfürstenbad, beim Italiener in Kessenich tafelte Helmut Kohl mit seiner Carbonara-Runde, die rundliche Wirtin Didi bemutterte im »Midi« nahe dem Auswärtigen Amt die Grünen. Norbert Blüm hechelte mit zwei Spiegel-Redakteuren durch die rechtsrheinischen Wälder. An »Ossis Bar« im Bundestagsrestaurant lallte verlässlich der Hannoversche Liberale Detlef Kleinert. Am Gemüsestand des Eifelbauern auf dem Heiderhof starrte ein lebloser Herbert Wehner ins Rheintal hinunter, während seine Frau Greta Gurken einkaufte. Beim Elternabend des Heinrich-Hertz-Gymnasiums saß ich neben Anke Fuchs. Und der freundliche Mensch, der an der Ampel aus dem auf der Nebenspur wartenden Auto winkte, war der Bundespräsident. Seine Frau saß am Steuer, also war »Ritchie« mal wieder seinen Sicherheitsleuten entwischt. Ich winkte zurück. Alles war berechenbar, unüberraschend, freundlich und langweilig. Alle redeten immer so über Politik, dass sie selbst deren Mittelpunkt zu sein schienen.
»Es stimmt ja, wenn immer von dem Raumschiff Bonn die Rede ist«, sagte Björn Engholm, nachdem er vierzehn Jahre als Abgeordneter, Staatssekretär und Minister in der provisorischen Hauptstadt am Rhein verbracht hatte. »Das heißt ja nicht, dass da nur Verrückte oder Autisten leben. Das heißt nur, dass sich Menschen gewissermaßen einschließen und für denselben Zweck unter engsten Bedingungen zusammenleben. Fünf, sechs Tage immer in denselben Strukturen, dreizehn, vierzehn Stunden am Tag.« Es war ein Leben ohne Blutzufuhr, ohne Wärmeaustausch und Energieschübe von außen. Der Beamte, der den Politikern die Info-Mappe mit dem Pressespiegel und den Agenturmeldungen auf den Schreibtisch legte, stellte den einzigen Bezug zur realen Welt her. »Und am Abend«, so Engholm, »geht man in die Kneipe, sitzt wieder mit Kollegen oder Journalisten zusammen. Und redet wieder das Gleiche.«
Auch deshalb war die Politik 1999 umgezogen nach Berlin, um endlich in der Wirklichkeit anzukommen. Bedeutete der Wechsel nicht Risiko statt Behäbigkeit, Vielfalt gegen Einfalt, Offenheit versus »Keine Experimente«? Hofften nicht viele, wie ich, dass den Politikern in der harten, widersprüchlichen, schnellen Millionenstadt, der angeblichen Werkstatt der deutschen Einheit, der größten Baustelle des nach Osten erweiterten Europas, endlich die Augen aufgehen würden für notwendige Veränderungen?
Kein Kanzler außer Konrad Adenauer fühlte sich wirklich wohl in Bonn. Zuletzt hatte der neu gewählte Gerhard Schröder gelangweilte Blicke durch die schusssicheren Scheiben seines Chefbüros in die prächtigen Bäume des Parks hinter dem Kanzleramt am Rhein geschickt. Für ihn war das die grüne Hölle, er kam sich vor »wie im Aquarium«. Der Umzug erschien ihm als Befreiung. Im September 1999 stand er zum ersten Mal in Berlin hinter der mächtigen Panzerglasscheibe seines provisorischen neuen Büros und blickte mit fast kindlicher Freude über die weite, wüste Brache, auf der einmal das Schloss der Hohenzollern gestanden hatte. Die Adresse musste dem Mann, der in einer Baracke am Rande eines dörflichen Fußballplatzes im östlichen Westfalen aufgewachsen war, vorkommen wie aus einem Monopoly-Spiel geklaut: Schlossplatz Nr. 1, Berlin-Mitte. Bis zum Ende der DDR hatte der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker hier residiert. »Berlin«, sagte Schröder, »finde ich doll.«
Gewiss, wenn da das Schloss stände, mit Türmen, Giebeln und