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Große Romantik unter dem Sternenhimmel Camerons Motto war schon immer: höher, schneller, weiter. Doch seit einem Unfall ist der Extremkletterer ständig auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Nur wenn er den Sternenhimmel fotografiert, kann er kurz innehalten. Deshalb ist die Sternen-Fotografie neben dem Klettern seine größte Leidenschaft. Auf dem Weingut seiner Tante trifft er auf Leonor, die als Mental Health Coach arbeitet. Von seinen Freunden lässt er sich überreden, sie zu engagieren. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Leonor ihre Komfortzone verlässt und sich mit ihm in ein Abenteuer stürzt. Er ist ein Adrenalinjunkie, sie will ihm Halt geben – das Finale der Above-Us-Reihe Die Romane sind auch unabhängig voneinander ein großer Lesegenuss.
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Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lena Herzberg
Leonor hat sich schon immer um andere gekümmert. Als ihre Mutter dem Krebs erlag, wurde sie zur Ersatzmutter für ihre jüngere Schwester. Wenn sie nachts in den Sternenhimmel schaut, fühlt sie sich ihrer Mum nah. In ihrem Beruf als Mental Health Coach ist sie erfolgreich. Ihr neuester Klient, der Extremkletterer Cameron, ist allerdings eine harte Nuss. Statt sich ihr zu öffnen, bringt er sie zum Lachen und lässt seinen Charme spielen. Obwohl Leonor sich geschworen hat, Berufliches und Privates nie zu vermischen, spürt sie diese starke Anziehungskraft. Wie lange kann sie Cameron noch widerstehen, bevor die Grenzen verschwimmen?
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Lena Herzberg erzählt ihre Geschichten über die Liebe aus einem idyllischen Städtchen in der Nähe von Frankfurt am Main, wo sie mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihrem Hund Ecki lebt. Lena kommt aus einer Familie, in der Bücher und das Lesen schon immer einen großen Stellenwert hatten. Seit 2016 entführt sie ihre Leserinnen und Leser unter verschiedenen Pseudonymen in weit entfernte Metropolen oder heimelige Kleinstädte. Unter @rosebloom_autorin gibt sie auf Instagram und TikTok Einblicke in ihren Schreiballtag und freut sich darauf, sich dort mit Leserinnen und Lesern auszutauschen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Redaktion: Natalie Röllig
Vignetten: Freepik
Covergestaltung: ZERO Werbegeantur, München
Coverabbildung: Shutterstock
ISBN 978-3-10-491785-6
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1. Cameron
2. Leonor
3. Leonor
4. Cameron
5. Leonor
6. Cameron
7. Leonor
8. Cameron
9. Leonor
10. Cameron
11. Leonor
12. Cameron
13. Leonor
14. Cameron
15. Leonor
16. Cameron
17. Leonor
18. Cameron
19. Cameron
20. Leonor
21. Leonor
22. Cameron
23. Leonor
24. Cameron
25. Leonor
26. Cameron
27. Leonor
28. Cameron
29. Leonor
30. Cameron
31. Leonor
32. Cameron
33. Cameron
34. Leonor
35. Cameron
36. Leonor
Danksagung
[Anzeige Love at first Page]
Ein Widder folgt immer seinem eigenen Weg, egal, was andere sagen.
Der Wind zerrte an mir, als wollte er mich von dem rauen Felsen holen. Ich spürte die Hitze der Mittagssonne auf meinem nackten Rücken, während ich mich Zentimeter für Zentimeter an der steilen Wand der Verdonschlucht nach oben zog. Die rauen Kalksteinfelsen boten mir gerade genug Halt für meine Hände und Füße, die Herausforderung war gewaltig, genau wie ich es liebte. Adrenalin peitschte durch meine Venen, ließ mein Herz kräftig Blut durch meinen Körper pumpen.
Meine Finger krallten sich in die kleinen Vorsprünge, während ich in Gedanken meinen nächsten Zug plante. Ein Fehler, und es könnte mein Ende bedeuten. Ich hielt einen Augenblick inne, schaute zwischen der Felswand und mir nach unten, wo sich die Schlucht ausdehnte und der Fluss Verdon tiefblau in der Sonne glitzerte. Es war ein atemberaubender Anblick, der mein Dopaminlevel noch mehr in die Höhe trieb. Jeder Muskel in meinem Körper war angespannt. Ich nahm jeden Atemzug bewusst wahr.
Ich verlagerte mein Gewicht und schwang mich ein Stück nach oben, versuchte, den nächsten Vorsprung zu fassen zu bekommen. Doch plötzlich gab dieser unter mir nach. Ich krachte seitlich gegen den rauen Felsen, der brennend meine Haut zerkratzte. Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Ich hing nur noch an einer Hand, mein Körper schwankte bedrohlich über dem Abgrund. Und ich spürte es ganz genau, als die Panik sich wie eiskalte Finger meine Wirbelsäule nach oben kämpfte, in meinen Kopf eindrang, mir zuflüsterte, dass dies mein letzter Moment sein würde. Unter mir befand sich nicht nur die Schlucht, sondern auch scharfe Felsen, die aus dem Wasser ragten. Ein Sturz würde bedeuten, dass ich zuerst auf diesen zerschellen und dann ins kalte Wasser stürzen würde – eine tödliche Kombination.
Die Realität erfasste mich wie der Wind, der immer stärker an mir zog. Mein Leben tauchte in Schnappschüssen vor meinem geistigen Auge auf. Meine Freunde Weston und Ambrose, meine Eltern, mein großer Bruder, meine Tante Elvi.
Doch ich schüttelte sie ab. Diese Bilder würden mich nicht von dem abhalten, was ich liebte. Jedes Mal, wenn ich es schaffte, eine Felswand zu bezwingen, fühlte ich mich ein Stück weit freier, ein Stück weit lebendiger, als wäre sie mein Elixier, um jeden Tag überhaupt zu überstehen.
Mit einem Ruck zog ich mich wieder hoch, fand einen neuen Griff, stabilisierte mich. Die Erleichterung wogte nur kurz, denn ich wusste, dass ich noch nicht in Sicherheit war. Aber es war dieser Nervenkitzel, diese Ungewissheit und die Konfrontation mit meinen eigenen Grenzen, die mich erfüllten.
Endlich war der Gipfel in Sicht, und ich zog mich mit aller Kraft nach oben. Ich nutzte den gesamten Schwung und landete mit dem Rücken auf dem harten Steinboden. Schwer atmend schaute ich hoch in den strahlend blauen Himmel Frankreichs und spürte eine seltsame Mischung aus Triumph und blanker Furcht. Nur ein falscher Griff, nur eine falsche Bewegung, und die Schlucht hätte mich verschluckt. Die Natur war mächtig, und hier oben, am Gipfel eines Berges, nachdem ich mit meiner eigenen Kraft eine Steinwand nach oben geklettert war, spürte ich mich ihr verbundener denn je. Ich fühlte mich selbst bewusster denn je.
Dennoch verengte mir die Panik, die immer noch nicht abgeflacht war, die Kehle und ließ mich noch schwerer atmen. Früher hatte ich diese nie gespürt. Respekt, definitiv, aber niemals diese blanke Angst, die meine Muskeln für einige Atemzüge lähmte.
Ich setzte mich auf, schaute über das atemberaubende Panorama. Weit in der Ferne konnte ich die Gipfel der französischen Alpen erkennen, majestätisch und in sanfte Blautöne gehüllt, deren schneebedeckte Spitzen in der Sonne glänzten. Der Himmel war weit und offen, ein endloses Blau, das nur hier und da von einigen zarten, weißen Wolken durchzogen war.
Rundherum erstreckten sich weite Wälder und grüne Täler, ein Mosaik aus Farben und Formen, das die Schönheit der Provence in ihrer ganzen Pracht offenbarte. Das leise Rauschen des Flusses und das gelegentliche Zwitschern von Vögeln waren die einzigen Geräusche, die die Stille durchbrachen.
Ich nahm mir einen Moment, um die Ruhe und die frische Luft zu genießen. Langsam ließ ich den Blick über die spektakuläre Aussicht schweifen. Doch ich spürte es immer noch. Das Wummern meines Herzens. Das Zittern meiner Hände, das einfach nicht aufhören wollte. Verdammt.
Um mich abzulenken, zog ich mein Smartphone aus der Tasche meiner Hose und öffnete den Chat mit meinen Freunden Ambrose und Weston. Ich schickte ihnen ein Foto von dem Ausblick und tat weiterhin so, als wäre alles wie immer. Als würde mich die Angst vor einem erneuten Absturz nicht jeden Tag ein bisschen weiter in den Abgrund drängen, der unter mir klaffte. Abwartend, wann ich erneut einen falschen Schritt machen würde.
Für den Zwilling ist Wissen der Schlüssel zu allem.
Die Straße schlängelte sich immer höher auf den kleinen Berg, auf dem unser Ziel lag. Ich steuerte meinen Wagen durch die letzte Kurve, als das Weingut endlich in Sicht kam. Es fühlte sich an, als ob wir in eine andere Welt eintauchten. In eine Welt, die so ganz anders war als mein Wohnort Birmingham oder auch London, wo meine kleine Schwester Gemma mittlerweile mit ihrem Freund Ambrose lebte.
»Ist es nicht wunderschön?«, flüsterte sie ehrfürchtig, als die Sonne über einem der Berge strahlte und das gesamte Gebiet in warmes Licht tauchte. Ich konnte nur noch nicken. Keine Ahnung, wann ich mir das letzte Mal eine wirkliche Pause von meinem Job gegönnt hatte, aber als Gemma vorschlug, ein Mädelswochenende auf dem Weingut mit angrenzendem kleinen Hotel und Wellnessbereich zu verbringen, musste ich nicht lange überlegen. Es gehört der Tante eines der besten Freunde von Ambrose, bot eine spektakuläre Atmosphäre und erstreckte sich über sanfte Hügel vor endlosen Reihen der Weinreben, die im frischen Frühlingsgrün leuchteten. Zwischen den Reben sah ich einzelne Arbeiter, und auch auf dem Hof, auf den wir nun einbogen, herrschte geschäftiges Treiben.
Das Haupthaus war ein altes Steinhaus, das perfekt in die Gegend von Südwales passte. Seine cremefarbene Fassade schimmerte in der frühen Mittagssonne, und die grünen Fensterläden waren weit geöffnet. Links befand sich ein moderner Anbau, der laut meiner Recherche anhand der Webseite das kleine Hotel beherbergte, und bot durch die Glasfassade des unteren Stockwerkes eine gelungene Kombination aus traditionellem Charme und Moderne.
Rechts vom Haupthaus lag der Wellnessbereich mit einem Außenpool, den man jedoch von hier nicht erkennen konnte. Vor dem Haus waren weiße Stehtische mit Hussen aufgestellt worden, und ich konnte mir vorstellen, wie dieser Ort durch die Gäste und Besucher mit Leben erfüllt wurde.
Es war beeindruckend, dass Elvi Morrison dieses gigantische Anwesen allein betrieb. Ich konnte es kaum erwarten, sie kennenzulernen.
Wir suchten uns einen der freien Parkplätze am Rand des Hofes und stiegen aus dem Auto. Die Luft war erfüllt vom süßen Duft der Weinreben und der späten Frühlingsblumen, die überall blühten und mich sofort in ihren Bann zogen.
Gemma grinste mich an. Ihr wildes, rotblondes Haar leuchtete im Licht der Sonne. Meine kleine Schwester war schon immer ein Wildfang gewesen, das komplette Gegenteil von mir. Abenteuerlustig, ständig auf der Suche nach etwas Neuem. Niemals hätte ich angenommen, dass sie wirklich irgendwann nach ihren endlosen Reisen rund um den Globus sesshaft werden würde, aber Ambrose hatte es geschafft, ihr ein Zuhause zu geben. Etwas, das mir nie gelungen war. »Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass es dir gefallen wird«, sagte sie und riss mich aus meinen Gedanken. Ich atmete tief durch und versuchte, diese alte Melancholie von mir abzuschütteln.
»Okay, ich kann zugeben, dass du recht hattest«, sagte ich lächelnd und ging zum Kofferraum, um ihn zu öffnen. »Das Wochenende wird sicherlich sehr entspannend.«
Gemma nahm mir ihre kleine Reisetasche ab. In dem Moment zerriss ein dröhnendes Motorgeräusch die besinnliche Stille, und ich drehte mich überrascht in die Richtung um. Es passte so gar nicht in die ruhige Idylle dieser Gegend.
Ein schwarzes Motorrad fuhr auf den Hof. Der Fahrer trug eine dunkle Lederjacke über einer Jeans und steuerte auf uns zu. Ich umfasste den Griff meines Trolleys fester, als er knapp vor uns stehen blieb, den Motor abstellte und sich aufrichtete. Obwohl ich sein Gesicht hinter der verspiegelten Scheibe seines Visiers nicht erkennen konnte, fühlte es sich an, als ob er mich direkt anschaute. Bis Gemma plötzlich auf ihn zustürmte. Er stieg ab und drückte sie fest an sich. Mir fiel auf, wie groß er tatsächlich war und wie der dicke Stoff der Jacke seine breiten Schultern betonte.
Wenn ich mich nicht irrte, war das Cameron, Ambroses Freund und Neffe der Weingutbesitzerin. Gemma hatte mir erzählt, dass er fast den gesamten Winter hier verbracht hatte und seiner Tante mit dem Gut half, was ich ziemlich nett fand.
Endlich löste er den Verschluss seines Helmes und zog ihn sich vom Kopf. Ein freches Grinsen ließ ein Grübchen erscheinen, während er sich an Gemma wandte. »Hey, da seid ihr ja!« Er lehnte sich ein Stück zu ihr herunter. »Ich habe den ganzen Winter auf euch gewartet, das kannst du mir glauben.«
Neugierig musterte ich ihn, seine muskulöse Statur, seine gebräunte Haut ungeachtet des vergangenen Winters. Er musste generell viel an der frischen Luft sein. Seine aschblonden Haare waren zerzaust und reichten ihm bis knapp zur Schulter, seine Lippen waren voll und geschwungen. Trotz langer Wimpern ließen seine ausgeprägten Wangenknochen ihn maskulin wirken. Dazu der Dreitagebart und das freche Funkeln in den warmen, braunen Augen … okay, ich konnte nicht abstreiten, dass er mehr als attraktiv war. Wenn auch ein völlig anderer Typ Mann als der, den ich sonst bevorzugte. Ich mochte es in meinen Beziehungen ruhig, gesittet, und Anzugtypen, die wissen, was sie wollen. Erwachsene Männer, keine Jungs, die das Leben nicht ernst nahmen. Gemma hatte mir ein wenig von Cam erzählt, und soweit ich das beurteilen konnte, war er genau diese Art von kleiner Junge.
Vielleicht war es auch mein Job, der mich dazu brachte, sofort skeptisch zu sein. Als Mental Health Coach hatte ich es oft mit Menschen zu tun, die auf den ersten Blick charmant und zugänglich wirkten, aber tief in sich drin kämpften sie mit Dämonen, die sie meisterhaft verbargen. Cams selbstbewusstes Auftreten erinnerte mich an einige meiner Klienten, die ihre Unsicherheiten und Ängste hinter einer Maske aus Witz und Leichtigkeit versteckten. Diese Maske zu durchschauen und ihnen zu helfen, sich ihren wahren Gefühlen zu stellen, war die Herausforderung. Und vielleicht sah ich in Cam ein weiteres solcher Projekte, das mich unbewusst in Alarmbereitschaft versetzte.
»Na komm schon, hier gibt es so viele Menschen, und vor allem Frauen, du warst ganz bestimmt nicht alleine«, erwiderte Gemma.
Er hängte lachend seinen Helm an den Lenker seines Motorrads. Erst dann schien ihm aufzufallen, dass ich ebenfalls anwesend war. Als sein Blick meinen traf, spannte sich mein Körper für einen Moment an. Ich hatte kein Problem damit, neue Menschen kennenzulernen, allein durch meinen Job blieb das nicht aus, dennoch war da etwas, das ich sofort spürte, sobald Cameron seine Aufmerksamkeit auf mich richtete. Etwas, das ich nicht greifen konnte, was mein Herz auf unangenehme Art und Weise rasen ließ. Vielleicht war es auch nur diese Art von spontaner Unvorhersehbarkeit, die ihn umgab und wie der komplette Kontrast zu mir und meinem Leben wirkte.
Ich erinnerte mich daran, wie oft Gemma mich gewarnt hatte, nicht jeden zu analysieren, doch Gewohnheiten waren schwer abzulegen. Vielleicht war ich voreingenommen, doch mein Instinkt mahnte mich, vorsichtig zu sein.
»Und du musst Gemmas wunderschöne Schwester sein«, sagte er, trat einen Schritt auf mich zu und streckte mir die Hand hin. Er war ein Charmeur. Bestimmt wickelte er jede Menge Frauen um den kleinen Finger, weil er genau wusste, wie er auf sie wirkte.
Ich straffte die Schultern und ergriff seine Hand. »Leonor«, erwiderte ich höflich lächelnd.
»Leo würde besser zu dir passen«, gab er grinsend zurück und ließ mich immer noch nicht los. Die Spannung zwischen uns war fast mit Händen zu greifen.
»Leo nennen mich nur meine engsten Vertrauten«, sagte ich und wusste selbst nicht, wieso ich bei ihm umgehend eine Abwehrhaltung einnahm. Vielleicht weil es sich jetzt bereits so anfühlte, als kämpfte seine Sorglosigkeit mit meinen Prinzipien. Geschäftsbeziehungen mit meinen herausforderndsten Klienten begannen oft mit genau diesem Gefühl. Auf den ersten Blick war er Gemma unglaublich ähnlich, und nicht nur einmal hatten wir uns aufgrund ihrer Gedankenlosigkeit und weil sie in den Tag hineinträumte, in die Haare bekommen. »Für alle anderen bleibt es bei Leonor.« Ich entzog ihm endlich meine Finger und umfasste wieder den Griff meines Rollkoffers.
Cams Art, mich sofort in eine Vertrautheit zu drängen, die er sich noch nicht verdient hatte, brachte mich zusätzlich in Rage. Menschen wie er, die dachten, sie könnten jede Situation mit einem Lächeln und einem lockeren Spruch meistern, machten mich misstrauisch. Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, was er wirklich verbarg.
Irgendetwas funkelte in seinen Augen auf, und sein Lächeln verblasste nicht eine Sekunde. Es wirkte, als könnte nichts ihn aus der Ruhe bringen. Für einen Moment versank ich in seinem tiefen Blick, der mich zu durchdringen schien. Ich räusperte mich und wandte mich ab. Energisch schloss ich die Kofferraumklappe, die immer noch offen stand, um etwas zu tun zu haben.
»Ihr bleibt das ganze Wochenende?«, hörte ich ihn hinter mir fragen.
»Ja, mindestens! Vielleicht gibt mir mein grummeliger Boss ja noch ein oder zwei Tage mehr«, erwiderte Gemma.
Cam lachte, weil er wusste, dass sie in Ambroses Buchladen arbeitete. »Da bin ich mir nicht sicher, vielleicht musst du einiges an Überzeugungsarbeit leisten. Aber wollten er, Weston und Nova nicht ohnehin Sonntagabend vorbeikommen?«
»Ja, das wird toll!«
Ich schulterte meine Handtasche, verriegelte mein Auto und drehte mich wieder zu den beiden um. Cams Blick fiel sofort auf mich und den Koffer. »Ich mach das«, sagte er. Sanft nahm er mir den Griff des Trolleys aus der Hand und schnappte sich dann noch Gemmas Reisetasche vom Boden. »Als Willkommensgeschenk«, raunte er und wandte sich noch mal an mich. »Übrigens …«, flüsterte er mir zu, »für dich Cam, falls du dich gefragt haben solltest, wie du mich nennen darfst.«
Ich wollte etwas erwidern, doch da drehte er sich um, lief auf das Haus zu und ließ mich einfach stehen. Perplex schaute ich ihm hinterher und hörte ein leises Kichern, ehe ich meine kleine Schwester anschaute.
»Was?«, fragte ich.
»Ach, nichts. Nur … ich weiß, was für eine Wirkung er auf Frauen hat, allerdings dachte ich, dass du dagegen immun bist«, erklärte sie grinsend. »Aber das …«
»Ach, sei still, da ist rein gar nichts«, entgegnete ich fauchend und schob mich an ihr vorbei. Hinter mir hörte ich immer noch ihr Lachen.
Nein. Da war rein gar nichts. Nicht einmal ein Fünkchen.
Als ich mein Zimmer betrat, hielt ich für einen Moment inne, um die einzigartige Atmosphäre auf mich wirken zu lassen. Das Zimmer war eine perfekte Mischung aus modernem Komfort und dem rustikalen Charme, der das gesamte Weingut durchzog. Eine der Wände zeigte das ursprüngliche, graue Steinmauerwerk des Gebäudes, große Fenster mit schweren, hölzernen Rahmen boten einen atemberaubenden Blick auf die Weinberge und ließen viel natürliches Licht herein.
Das hohe Kingsizebett war groß und einladend mit einer gestickten weißen Bettdecke und einer Fülle an Kissen. Moderne Beistelltische aus Glas und schwarz lackiertem Metall standen im Kontrast zu den dunklen Eichenholzmöbeln. Überall im Raum gab es indirektes, warmes Licht, und das Badezimmer war ein wahrer Tempel aus dunklen Fliesen, einer ebenerdigen Dusche und einem breiten Waschtisch.
Ich fühlte mich sofort wohl und trat an das Fenster, schob den schweren Samtvorhang ein Stück zur Seite, um auf die grünen Hügel schauen zu können. Noch immer glitten meine Gedanken für einen Moment zu Cameron. Cam. Wie auch immer.
Er schien ein Charmeur zu sein, jemand, der leicht mit Menschen umgehen konnte und wahrscheinlich viele Frauen kannte. Dennoch konnte ich nicht abstreiten, dass er auch auf mich eine gewisse Anziehung ausübte, die immer noch an mir nagte. War ich selbst nicht auch gerade auf der Suche nach etwas Lockerem? Statt etwas, das mich von meinen Plänen und Zielen abhielt? Und wäre Cam daher nicht genau die Art von Mann, auf den ich mich gefahrlos einlassen konnte? Aber nein, er war der beste Freund von Ambrose. Früher oder später würden wir uns erneut über den Weg laufen, und ich konnte mir etwas Besseres vorstellen als unangenehme, peinliche Gespräche, nachdem man eine einzige Nacht miteinander verbracht hatte. Außerdem gehörten die nächsten beiden Tage nur meiner Schwester, der Entspannung und mir. Es war viel zu lange her, dass wir wirklich etwas gemeinsam unternommen hatten.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Ich durchquerte den Raum, um sie zu öffnen.
»Sind nicht auch die Zimmer großartig?«, fragte Gemma und stürmte herein, schmiss sich ohne Umschweife auf mein Bett und zerknitterte meine Laken. Ich zog eine Augenbraue nach oben und machte hinter ihr wieder zu. Dann setzte ich mich in einen der cremefarbenen Ledersessel und überschlug die Beine. Gemma faltete einen Flyer auf und tippte auf den Infotext. »Also pass auf, ich dachte, wir verlieren keine Zeit! In einer Stunde wären noch zwei Massagetermine im Wellnessbereich frei, danach könnten wir schwimmen, die Ruhe genießen, einen Saunabesuch machen. Und Cam hat mir eben geschrieben, gegen sechs Uhr heute Abend gibt es einen kleinen offiziellen Empfang, an dem jeder teilnehmen darf, der hier ist. Es wird eine Weinverkostung, ein paar Snacks und Livemusik geben. Hört sich doch toll an! Und wir können Elvi kennenlernen!«
Ich nickte, denn das klang tatsächlich nach einem guten Plan. »Na gut, lass mich nur kurz auspacken, dann können wir rübergehen.«
»Soll ich dir helfen, deine Klamotten fein säuberlich in die Schränke zu sortieren?«, zog mich Gemma auf.
Ich verdrehte die Augen. Sie war der Typ, der auch in einem zweiwöchigen Urlaub von zerknitterten Sachen aus einer Reisetasche lebte, die Art von Reisender, die Backpacking und Camping einem Aufenthalt in einem Hotel immer vorziehen würde.
Gott, wir waren so grundverschieden, und dennoch war Gemma alles, was ich neben meiner Arbeit und meinen Freunden hatte. Sie war mehr als das alles zusammen.
Deswegen konnte ich nicht verhindern, dass ich ein wenig lächeln musste. »Nein danke, dann darf ich alles noch einmal zusammenlegen, ich mach das schon.«
»Weißt du, Ambrose hat mir ein paar Tricks gezeigt, er ist ein genauso großer Pedant wie du«, gab sie grinsend zurück.
»Dass er es mit dir aushält, ist mir immer noch ein Rätsel«, sagte ich und stand auf, um mich neben sie auf das Bett fallen zu lassen. Es war mir alles andere als ein Rätsel, denn Gemma war liebevoll, aufmerksam, offen, und sie liebte mit ihrem gesamten Herzen, öffnete es für die Menschen, die ihr etwas bedeuteten, sperrangelweit. Auch da waren wir verschieden. Ich liebte im Stillen, wenn ich es schaffte, dass jemand überhaupt so weit an mich herankam. Aber so waren wir nun mal, diese Unterschiede machten uns doch als Menschen aus, oder nicht?
Nebeneinanderliegend schauten wir an die Decke, in die tatsächlich kleine LEDs eingefasst waren und wie ein Sternenhimmel wirkten. Plötzlich spürte ich Gemmas Finger, die nach meinen tasteten.
»Lass dich auf die Ruhe und die Entspannung hier ein, okay, auch wenn es dir Workaholic schwerfällt, abzuschalten«, sagte Gemma leise. »Du hast es dir verdient. Es war ohnehin überfällig, dass ich das einmal für dich tue.«
Ich kämpfte immer noch mit dem Loch in meinem Innern, das auch nach all den Jahren nicht aufhören wollte, zu brennen. Dennoch nickte ich, damit Gemma diesen Kampf nicht mitbekam. Ich versteckte mich hinter der Maske, die ich seit Jahren trug, damit sie dachte, dass ich alles unter Kontrolle hätte, selbst wenn es nicht so ist.
»Natürlich habe ich das verdient«, erwiderte ich schnell und schaute sie an. »In meiner Teenagerzeit hast du mir viele schlaflose Nächte beschert, da will ich an diesem Wochenende so viel Wellness, wie ich nur kriegen kann.«
Als ich in ihre moosgrünen Augen schaute, erinnerte ich mich sofort an den Tag, als sie als sechzehnjähriges, trauerndes Mädchen zu mir gezogen war. Zu einer Einundzwanzigjährigen, die keine Ahnung hatte, wie das Leben wirklich funktionierte, und die der Schmerz des Verlustes ihrer Mum selbst auffraß. Doch all das war ewig her, genau genommen zwölf Jahre. Wir waren andere, erwachsen. Diese Tage lagen hinter uns, und Gemma hatte sich endlich das beständige Leben in London aufgebaut, das sie verdiente, mit einem Mann, der sie schätzte, unterstützte und liebte. Mehr hatte ich mir nie gewünscht.
Im Kopf eines Zwillings herrscht ein Wirbelwind von Ideen.
Auch der Wellnessbereich war wirklich einmalig. Ich konnte mir vorstellen, hier deutlich länger als nur ein Wochenende zu verbringen. Vielleicht würden wir das zur Tradition machen und mindestens einmal im Jahr zusammen herfahren.
Nachdem uns Gemma eine wunderbare Massage organisiert hatte, fühlte ich mich in einen der übergroßen Bademäntel eingekuschelt mehr als wohl. Eine leichte Schläfrigkeit überkam mich, während ich auf einer der Liegen vor dem Außenpool lag. Die Sonne hatte bereits so viel Kraft, dass es sich gut aushalten ließ, es war aber nicht so heiß, dass man unbedingt Schatten suchen musste. Nach einem tristen, nasskalten Winter in Birmingham war das wie ein Streicheln für die Seele.
Ich streckte mein Gesicht mit geschlossenen Augen noch weiter den wärmenden Strahlen entgegen und hörte das Plätschern des Wassers, während Gemma einige Runden im Pool zog. Doch da begannen sich bereits wieder die Gedanken in meinem Kopf zu drehen. Ideen zu Maßnahmen mit aktuellen Kunden, was ich alles noch für Papierkram in meinem Büro zu Hause liegen hatte, wen ich Montagmorgen alles anrufen musste, welche Videocalls auf mich in der nächsten Woche warteten. Ich seufzte tief und öffnete die Augen. Dann ließ ich meinen Blick über den mit hüfthohen Büschen abgetrennten Außenbereich wandern, über die anderen Handvoll Menschen, die sich hier als Gäste tummelten, bis ich hinüber zu den Weinbergen schaute. In der Ferne erkannte ich die Arbeiter, die fleißig zwischen den Reihen der jungen Weinreben hantierten. Die Weinberge waren nicht allzu weit entfernt, aber weit genug, um die Geräusche von dort nur gedämpft zu hören. Auch wenn ich mich nicht besonders gut mit den Aufgaben auf einem Weingut auskannte, nahm ich an, dass der Frühling zur Vorbereitung einer neuen Saison diente, zumindest schien allerhand zu tun zu sein. Die Arbeiter bewegten sich geschickt zwischen den Reben, in ihren Händen hielt jeder von ihnen eine Art Schere oder kleine, motorisierte Sägen, mit denen sie die alten Triebe beschnitten.
Ich beobachtete, wie einige von ihnen ein Mittel zwischen den Pflanzen verteilten, in einem anderen Teil des Weinbergs sah ich eine Gruppe von Arbeitern, die mit einer Art Bindemaschine junge Reben an Drahtgestelle banden. Ein kleiner Traktor fuhr langsam entlang der Reihen, und ich war fasziniert von dem Anblick dieser geschäftigen Szene, fühlte mich in dem Moment allerdings noch nutzloser als zuvor, während ich hier lag und einfach rein gar nichts zu tun hatte.
Der Trecker hielt in einiger Entfernung an, aber ich konnte dennoch klar erkennen, wie ein Mann aus dem Fahrerhaus stieg, der mir nur zu bekannt vorkam. Cam sprang von der kleinen Tritthilfe auf den Boden und sprach mit einem der Arbeiter, hob den Saum seines Shirts und strich sich Schweiß und Dreck vom Gesicht, wodurch ich den Ansatz seiner Bauchmuskeln erkennen konnte. Grundgütiger. Ich wandte den Blick ab, nur um daraufhin wieder zu ihm zu spähen. Die Entfernung war groß genug, dass ich keine einzelnen Worte verstehen konnte, aber ich sah ganz genau, wie er zu einer der Reben ging, um abgeschnittene Äste aufzuheben, die er in den Anhänger des Traktors schmiss. Da er ein Shirt trug, konnte ich das Spiel seiner Oberarmmuskeln erkennen, und mir fiel auf, wie sehr mich sein bloßer Anblick anzog. Wie lange war es her, dass ich mich auf jemanden eingelassen hatte? Ich hatte keine Ahnung, ein paar Monate, über ein Jahr vielleicht. Hin und wieder gab es einen Mann in meinem Leben, doch nichts, was mich auf langfristige Sicht binden konnte. Generell das Wort binden … was sollte das überhaupt bedeuten? Dass man ab diesem Moment kein eigenständiger Mensch mehr war, sondern nur noch gemeinsam durchs Leben schritt? Während ich mir für meine kleine Schwester jemanden gewünscht hatte, der an ihrer Seite war, kam das in meinem aktuellen Leben für mich nicht in Frage.
»Hey!« Ich zuckte zusammen, als mich einige Tropfen des kalten Wassers trafen. Gemma hatte sich mit den Unterarmen am Poolrand abgestützt und grinste mich an. »Du siehst aus, als ob du nachdenkst.«
»Und das ist verboten?«
»An diesem Wochenende schon, zumindest wenn es sich um deine Arbeit dreht«, sagte Gemma und folgte meinem Blick von gerade eben. Ich presste die Lippen aufeinander und wartete auf den Moment, in dem sie sah, wen ich beobachtet hatte. »Aha«, murmelte sie. Ihr Lächeln wurde nur breiter, als sie mich danach wieder anschaute. »Jetzt weiß ich, dass deine Gedanken rein gar nichts mit deiner Arbeit zu tun hatten. Gedanken in dieser Richtung sind natürlich völlig okay.«
»Sei nicht albern«, erwiderte ich beschämt.
Gemma stemmte sich aus dem Wasser und trat neben meine Liege an ihre. Sie nahm sich das große Handtuch, das darauf lag, und wickelte sich ein, ehe sie sich selbst fallen ließ.
»Cam ist nett. Er sucht nichts Ernsthaftes, aber man kann viel Spaß mit ihm haben.« Ich zog eine Augenbraue hoch, und Gemma lachte. »Freundschaftlichen natürlich. Ambrose war immer meine Nummer eins.«
»Das will ich gar nicht abstreiten.« Mittlerweile hatten wir uns kennengelernt, als Gemma und Ambrose nach ihrer langen Reise durch verschiedene Länder und Städte der Welt für ein Wochenende zu mir nach Birmingham gekommen waren. Er war ein angenehmer, kluger Mann, der Gemma auf Händen trug. Es hatte mich definitiv erleichtert, dass er anders war als die Kerle, die sie mir vorher immer vorgestellt hatte. Doch vielleicht waren es auch oft die Unterschiede, die uns anzogen und uns ergänzten.
»Und Cam klettert wirklich beruflich?«, fragte ich, weil ich mich daran erinnerte, dass Gemma mir davon erzählt hatte.
»Extremkletterer, ja. Aber genau genommen hat er sich eine Marke aufgebaut. Hauptsächlich nimmt er wohl an irgendwelchen Wettbewerben überall auf der Welt teil, aber nebenbei habe ich mitbekommen, wie er auch Vorträge und Workshops für Jugendliche und Kinder hält. Dazu das Sponsoring für Horizon Athletic und andere Sportbekleidungshersteller. Auch wenn man es auf den ersten Blick nicht glaubt – er ist ziemlich ehrgeizig und arbeitet hart. Vielleicht mittlerweile noch härter als sonst, nach dem …« In dem Moment vibrierte Gemmas Handy, das auf dem Tischchen zwischen uns lag, und sie hielt inne. »Oh, es ist Ambrose, da muss ich rangehen.«
»Klar.«
Sie hielt sich das Smartphone an ihr Ohr und sprang auf, entfernte sich einige Schritte, um in Ruhe telefonieren zu können. Ich nahm mir das Magazin von dem Tisch und zwang meinen Blick auf die Seiten, doch meine Gedanken waren ganz woanders. Seit wann war Cam anders? Was war passiert? Und wieso interessierte es mich so? Wahrscheinlich nur, weil es mich von dem Nichtstun hier ablenkte und davon, ständig über meine Arbeit nachzudenken.
Ich gab es auf und spähte doch wieder zurück. In dem Moment trafen sich unsere Blicke. Cam hob die Hand zum Gruß, und ich erwiderte seine Geste, wusste nicht so recht, wie ich damit umgehen sollte. Hatte meine anfängliche Abwehr seinen Jagdtrieb geweckt und er nur Interesse, weil er herausfinden wollte, wie ich tickte? Oder hatte Gemma ihn sogar auf mich angesetzt? Ich würde es herausfinden.
Am späten Nachmittag waren Gemma und ich in unsere jeweiligen Zimmer zurückgegangen und hatten uns für den Abend fertig gemacht. Ich zog ein bodenlanges, leicht fallendes Kleid aus Chiffon an, das einen hübschen herzförmigen Ausschnitt hatte, dazu föhnte ich meine Haare in lockeren Wellen.
Als ich aus meinem Zimmer trat, kam Gemma ebenfalls aus ihrem. »Oh wow, du siehst toll aus!«, sagte sie und zog die Tür hinter sich zu, ehe sie auf mich zulief.
»Und du erst! Wo hast du das Kleid her?«, fragte ich, denn Gemma trug ein schickes Vintagekleid in dunklem Grün, das ihre rotblonden Haare betonte und eng an ihrer Taille lag.
»Aus einem Secondhandshop in London, ich hab mich sofort verliebt.« Sie drehte sich im Kreis, und der Rockteil bauschte sich um sie herum auf.
»Das kann ich verstehen.«
Gemeinsam liefen wir das Treppenhaus nach unten und hörten bereits die Musik, noch bevor wir auf den Hof traten. Es wirkte wie ein kleines Stadtfest. Neben der Band, die am Rande am Eingang zu einer Art Scheune stand, gab es Kellner und Kellnerinnen, die Snacks und Wein auf Tabletts reichten, einige Kinder spielten Fangen um die herumstehenden Erwachsenen, die sich unterhielten, etwas weiter entfernt bellte ein Hund.
Gemma und ich tauchten in die Menge ein und suchten uns einen Platz an einem der Stehtische. Sofort kam eine Kellnerin auf uns zu und übergab uns jeweils ein Glas Weißwein.
»Das ist wirklich beeindruckend«, meinte Gemma, während sie mit großen Augen über den Hof blickte. Ich nickte und ließ die lebhafte Atmosphäre auf mich wirken. Die Sonne ging soeben hinter einem der Weinberge unter und tauchte alles in goldenes Licht. Mein Blick fiel auf ein flirtendes Pärchen, das an einem der anderen Tische stand. Ich sah die breiten Schultern des Mannes, der seinen Kopf zu ihr absenkte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, was sie zum Kichern brachte. Natürlich erkannte ich, um wen es sich dabei handelte. Schon bei unserer ersten Begegnung hatte ich gemerkt, dass er eine charismatische Ausstrahlung hatte, die ihn umgab wie ein Magnetfeld. Er wusste genau, wie er seine Worte und Blicke einsetzen musste, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es war, als hätte er ein ungeschriebenes Handbuch über den perfekten Flirt gelesen und beherrsche jede Seite daraus. Ich hatte genug Erfahrungen mit solchen Typen gemacht, um sie auf Anhieb zu erkennen. Sie genossen die Jagd, liebten den Nervenkitzel, aber sobald sie ihr Ziel erreicht hatten, verschwand das Interesse ebenso schnell, wie es gekommen war. Er zog sich zurück und drehte sich ein Stück, so dass ich sein Gesicht sehen konnte. Das schelmische Grinsen, das Funkeln seiner Augen, während er den Blick fest auf die Frau gerichtet hielt, ihr seine gesamte Aufmerksamkeit schenkte. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er charmant auf sie einredete, vielleicht ein paar Komplimente machte und dabei genau wusste, welche Wirkung seine Worte hatten. Es war faszinierend und gleichzeitig abschreckend. In der Vergangenheit hatte ich oft mit Menschen zu tun gehabt, die eine Fassade aufrechterhielten, um ihre Unsicherheiten zu verbergen. Vielleicht war das der Grund, warum ich von Anfang an so abweisend auf Cam reagiert hatte. Ich erkannte in ihm die Merkmale eines Mannes, der sein wahres Ich hinter einem perfekten Lächeln verbarg, und das machte mich vorsichtig.
»Ist hier noch frei?«, fragte jemand und zog meine Aufmerksamkeit ruckartig zurück zu unserem Tisch. Ein Mann in unserem Alter mit dunkelblondem Haar und einem freundlichen Lächeln schaute uns abwartend an, er hielt die Hand einer Frau, die etwas kleiner war als er.
»Ja, natürlich«, erwiderte ich, verbannte den Anblick von gerade eben in die Tiefen meines Hirns und trat einen Schritt beiseite. »Der Tisch ist groß genug für uns alle.«
Er und die Frau an seiner Seite stellten sich zu uns, und Gemma hob ihr Glas, um mit ihnen anzustoßen. Ich hatte ebenfalls kein Problem damit, neue Bekanntschaften zu machen, auch wenn Gemma noch ein Stück extrovertierter war als ich und an jedem Ort, an dem sie neu war, neue Freunde fand. Bekannte hatte ich genug, aber wirkliche Freunde eigentlich nur zwei. Maya und Ethan, denen ich im Laufe des Tages einige Bilder des Weingutes geschickt hatte und mit denen ich vielleicht irgendwann sogar zusammen hierherfahren würde.
»Jack Morrison«, stellte er sich vor und deutete auf die Frau. »Und das ist Lily Evans, meine wunderbare Freundin.«
»Morrison?«, fragte ich und betrachtete ihn, um eine Ähnlichkeit zu jemandem festzustellen, den ich nicht gut und erst seit kurzem kannte.
»Wie Elvi!«, rief Gemma.
Leise lachte Jack. »Genau, sie ist meine Tante.«
»Oh wow, das ist ja ein richtiges Familientreffen hier, oder? Bist du Cams Bruder?«, fragte Gemma.
Jack schüttelte den Kopf. »Cousin, unsere Mütter sind Schwestern, insgesamt hatten unsere Großeltern drei Mädchen.«
»Und die Vorliebe für guten Wein liegt eindeutig in der Familie«, erklärte Lily lächelnd. »Wir haben auch ein Weingut.«
»Ach was?«, erwiderte Gemma begeistert.
»Ja, allerdings in Kent. Jack hat aber alles von Elvi gelernt.«
»Cam ebenfalls«, sagte Jack grinsend. »Aber der hängt lieber todesmutig über Schluchten.«
»Hat da jemand von mir geredet?«, hörte ich eine Stimme hinter mir, und sofort zog sich ein Kribbeln meine Wirbelsäule entlang nach oben bis zu meinem Nacken. Ich spürte, wie Cam näher trat und knapp hinter mir stehen blieb. Langsam drehte ich mich um und musste ein Stück hochsehen. Seine Haare waren noch ein wenig feucht und in einem Manbun gebändigt, mit seinen braunen Augen schaute er mich an, und ich roch seinen frischen Duft, als hätte er gerade eben noch geduscht.
»Hey«, sagte er mit rauer Stimme, die unwillkürlich eine Gänsehaut über meinen Körper schickte. Ich wusste nicht, wie ich mit dieser plötzlichen Nähe umgehen sollte, vor allem, weil er diese gerade eben noch einer anderen geschenkt hatte. Also überspielte ich sie mit einem zurückhaltenden Lächeln und einem kurzen »Hallo«.
»Ich habe nur gesagt, dass du dich zwar mit unserem Familienerbe auskennst, aber lieber dein Leben aufs Spiel setzt«, erklärte Jack.
Cam nahm sich eine der Oliven, die in einer kleinen Glasschüssel auf dem Tisch standen, und steckte sie sich grinsend in den Mund.
»Wer weiß, vielleicht nehme ich irgendwann Elvis Angebot, König dieser Weinberge zu werden, doch an und werde sesshaft.«
Jack lachte und winkte dabei ab. »Na, aber ganz bestimmt.«
»Hat sie dir angeboten, das Weingut zu übernehmen?«, fragte Gemma.
Cam schlang einen Arm um ihre Schultern, was wie eine freundschaftliche Geste wirkte und nicht wie ein Annäherungsversuch.
»Elvi hat keine Kinder, und Cam ist ihr kleiner Lieblingsneffe, wieso auch immer«, erklärte Jack und zwinkerte Cam zu, der daraufhin lachte.
»Du hast doch auch schon alles, was du dir wünschen kannst«, erwiderte Cam. »Dein eigenes Weingut, eine bezaubernde Freundin.« Lilys Lächeln wurde breiter, da er ihr einen intensiven Blick schenkte, und meine Vermutung, dass Cam ein Player war, bestätigte sich umgehend.
Er löste den Arm von Gemma und verlagerte das Gewicht, so dass seine Seite meine streifte. Sofort drehte er den Kopf in meine Richtung und entschuldigte sich leise. »War keine Absicht.«
»Davon bin ich ausgegangen«, gab ich zurück, dennoch merkte ich, wie nah wir wirklich beieinanderstanden. Suchte er meine Nähe, oder war es tatsächlich unabsichtlich?
Ich räusperte mich. »Ich geh mal hinüber zum Buffet und schaue mir an, was es dort gibt. Soll ich jemandem etwas mitbringen?«, fragte ich in die Runde, doch alle außer Gemma winkten ab, der ich einen Teller, bestehend aus allem, zum Probieren mitbringen sollte.
Also schob ich mich an Cam vorbei und tauchte in die Menge der Menschen auf dem Hof ein, ehe ich das Buffet erreichte. Mir lief sofort das Wasser im Mund zusammen, als ich sah, woraus es bestand. Es gab eine kleine Käseauswahl passend zu den Weinen, dazu eine reichhaltige Wurst- und Schinkenplatte, Canapés, frische Salate und knuspriges Brot mit Dips. Alles war frisch und farbenfroh und lud direkt zum Zugreifen ein.
»Gute Wahl«, sagte Cam, als er plötzlich neben mir auftauchte und auf die Platte mit Käse und Trauben deutete, die ich gerade betrachtete. Sofort spannte sich mein Körper erneut an, als ich seine Nähe bemerkte.
»Danke«, antwortete ich und lächelte ihn höflich an, während ich mir eine Traube nahm. »Es sieht alles unglaublich lecker aus.«
Er nickte und nahm sich ebenfalls etwas vom Buffet. »Weißt du, was das Beste an diesen Festen ist?«, fragte er und blickte mich an.
»Was denn?«, wollte ich neugierig wissen.
»Die Gesellschaft«, antwortete er und schenkte mir ein Lächeln, das mein Herz einen Moment lang schneller schlagen ließ. Ich wandte mich ab und entkam dieser Nähe, die er versuchte, aufzubauen. Es dauerte einige Sekunden, während ich seinen Blick auf meinem Profil spürte.
»Kann es sein, dass du mir aus dem Weg gehst?«
»Warum sollte ich dir aus dem Weg gehen, wir kennen uns doch kaum«, entgegnete ich und griff nach einem der Teller und einem Stück Baguette für Gemma.
»Genau das habe ich mich auch gefragt und konnte keine so richtige Antwort finden. Habe ich irgendetwas getan oder gesagt, das dich verletzt hat?«, fragte er und wirkte ernsthaft betreten. Wie sollte ich ihm erklären, dass er irgendetwas an sich hatte, das mich gleichzeitig anzog, aber auch alle meine Alarmglocken schrillen ließ? Ich hatte ja selbst keine Begründung für dieses Gefühl.
»Nein, hast du nicht, tut mir leid, wenn ich dir diesen Eindruck vermittelt habe. Gemma mag dich, du bist sicherlich in Ordnung.«
Cam legte sich eine Hand aufs Herz und verzog das Gesicht. »›Sicherlich in Ordnung‹ hört sich an wie der kleine Bruder von ›Geh mir nicht auf den Nerv‹«, entgegnete er und grinste mich daraufhin an.
Ich musste selbst ein wenig lächeln. »So meinte ich das ganz bestimmt nicht«, antwortete ich und griff nach einem Stück Hartkäse. »Kann es sein, dass du gerne Dinge in die Worte anderer interpretierst?«
Plötzlich spürte ich, wie seine Brust meinen Oberarm und meine Schulter streifte. »Nur wenn sie von dir kommen, Leo.« Er sprach meinen Namen aus wie ein Versprechen. Doch so leicht wollte ich es ihm nicht machen. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wieso ich auf dieses Spiel einging, wenn mir doch klar war, dass ihn nur der Reiz in der Eroberung lockte.
Ich drehte den Kopf in seine Richtung und bemerkte erneut, wie nah wir uns waren. »Leonor«, hauchte ich. »Für dich Leonor.«
Für einen flüchtigen Moment schaute er auf meine Lippen. »Es wird nicht mehr lange dauern, da wirst du mich anflehen, dich Leo zu nennen«, raunte er, biss sich grinsend auf die Unterlippe, und noch ehe ich etwas erwidern konnte, wandte er sich ab und lief mit lässigen Schritten zurück zu unserem Tisch. Verdammter Mist. Wieso schlug mein Herz so heftig gegen meinen Brustkorb, dass mir schwindelig wurde? Warum hatte Cam so eine Wirkung auf meinen Körper, wenn wir uns nicht einmal einen Tag kannten?
Und vielleicht hatte Gemma recht und dieses Wochenende sollte rein gar nicht der Arbeit und einzig meiner Entspannung und meinem Vergnügen dienen.
Für den Widder ist jede Herausforderung eine Chance, sich zu beweisen.
Gott, schon lange hatte ich keine Frau mehr getroffen, die mich so gereizt hatte wie Gemmas Schwester Leonor. Leo.
Der Name passte ausgesprochen gut zu ihr. Auf den ersten Blick wirkte sie zurückhaltend und geerdet, doch ich hatte den Sturm in ihren Augen gesehen, als wir gemeinsam bei dem Buffet gestanden hatten und ich ihre Nähe in mich aufgesogen hatte. Ihr Duft hing immer noch in meiner Nase, und ich musste mich stark zusammenreißen, ihn nicht noch tiefer zu inhalieren, während wir gemeinsam mit Jack, Lily und Gemma auf dem Hof standen.
Wir lachten, unterhielten uns über unsere Jobs, unsere Leben. Gerade hatte Gemma eine charmante Geschichte über Ambrose und seinen Buchladen Whispering Pages sowie ihre Kennenlernstory erzählt, als Jacks Blick auf mich fiel.
»Sag mal, gibt es nicht gerade im Frühling einige Wettbewerbe? Ist Daniel nicht auch jetzt im Land unterwegs?« Daniel war mein Bruder, und da er Geschäftsführer eines großen Sportbekleidungsherstellers und einer meiner Sponsoren war, trafen wir uns hin und wieder auf Events. Er war das komplette Gegenteil von mir, liebte Zahlen, Analysen und seine teuren Anzüge. Dennoch hatten wir ein enges Verhältnis, und ich freute mich jedes Mal, wenn wir uns trafen. Daran lag meine diesjährige Zurückhaltung also nicht. Es gab einen anderen Grund, weshalb ich mich hier seit dem Winter versteckte und so tat, als wäre ich unverzichtbar für Elvi. Ich war es nicht, das wusste ich genauso gut wie Jack.
»Ist es nicht auch so, dass der Frühling wichtig für ein Weingut ist?«, fragte ich Jack. »Also wieso bist du hier und gehst mir auf die Nerven?«, erwiderte ich betont entspannt, auch wenn es in mir anders aussah. Jack und ich starrten uns für einen Augenblick an. Ich mochte meine Familie, konnte eigentlich ganz gut mit ihm, dennoch war er ein Besserwisser und tat so, als wäre er als Kind in einen Trank aus Weisheit gefallen.
Ich spürte, wie Leonor ihr Gewicht neben mir verlagerte. Sie hatte feine Antennen, wenn sie diesen kleinen Stimmungsumschwung bemerkte, und aus einem unerfindlichen Grund hatte ich feine Antennen, wenn es um sie ging. Wenn sie sich unwohl fühlte, musste ich das ändern.
»Was sagt ihr, habt ihr Lust auf eine kleine Tanzrunde?«, fragte ich deshalb ausweichend und schaute Gemma, Leo und Lily an.
Gemma und Lily waren sofort begeistert dabei, und ich nahm ihre Hände und ging mit ihnen rüber zu der Scheune, vor der eine provisorische Tanzfläche errichtet worden war. Ein wenig bedauerte ich, dass Leo nicht mitgekommen war. Während wir uns im Takt der schnellen Musik bewegten, wanderte mein Blick immer wieder automatisch zu ihr. Jack erzählte ihr etwas, das das höfliche Lächeln auf ihrem Gesicht zum Erlöschen brachte, und ich fragte mich, was es gewesen war. Ich ärgerte mich darüber, dass ich Jack gezeigt hatte, wie sehr mich seine Bemerkung aus der Bahn geworfen hatte, denn so hatte er etwas, an dem er sich wahrscheinlich das ganze Wochenende aufhängen konnte.
Vielleicht war er schon in unserer Kindheit immer etwas neidisch auf mich gewesen, denn nach dem Tod seiner Mum und der Übernahme ihres Weingutes konnte er mit Anfang zwanzig nicht so durch die Welt reisen, wie er es gerne getan hätte, und so, wie ich es immer noch tat.
Vielleicht wartete Lily deshalb nach über zehn Jahren Beziehungszeit immer noch auf einen Antrag. Wenn Jack sie heiratete und sie irgendwann Kinder bekommen würden, hätte er dann das Gefühl, sich ganz zu binden und nie wieder weggehen zu können?
Würde es mir ebenfalls so gehen, selbst wenn ich die richtige Frau an meiner Seite hätte? Und wie wusste man, wer richtig für einen war? Ich hatte keine Ahnung. Zwar wollte ich Liebe und verlässliche Partnerinnen für meine Freunde, aber nicht für mich selbst. Ich konnte keiner Frau zumuten, bei jeder meiner Klettertouren um mich zu bangen, und wollte mich auch selbst weiterhin frei fühlen. Irgendwie verstand ich ihn also, auch wenn es Lily gegenüber mehr als unfair war, die sich Jahr für Jahr Hoffnungen machte.
Ich nahm Lilys Hand und drehte sie eine Extrarunde im Kreis. Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte ausgelassen. Dann sprang ich zu Gemma, die ich an der Taille fasste und nach oben in die Luft drückte, ehe ich sie wieder hinunterließ.