Holzfällen - Thomas Bernhard - E-Book

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Thomas Bernhard

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Beschreibung

Holzfällen ist die Geschichte einer »Erregung«, die Geschichte eines »künstlerischen Abendessens« in Wien, in der Gentzgasse. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, sitzt auf dem Ohrensessel und beobachtet die Gesellschaft, die auf den Schauspieler des Burgtheaters wartet, der versprochen hatte, gegen halb zwölf zu diesem Essen zu kommen.

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Thomas Bernhard

Holzfällen

Eine Erregung

Suhrkamp Verlag

Da ich nun einmal nicht imstande war, die Menschen vernünftiger zu machen, war ich lieber fern von ihnen glücklich.

Voltaire

Während alle auf den Schauspieler warteten, der ihnen versprochen hatte, nach der Aufführung der Wildente gegen halbzwölf zu ihrem Abendessen in die Gentzgasse zu kommen, beobachtete ich die Eheleute Auersberger genau von jenem Ohrensessel aus, in welchem ich in den frühen Fünfzigerjahren beinahe täglich gesessen war und dachte, daß es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Einladung der Auersberger anzunehmen. Zwanzig Jahre hatte ich die Auersberger nicht mehr gesehen und ausgerechnet am Todestag unserer gemeinsamen Freundin Joana habe ich sie auf dem Graben getroffen und ohne Umschweife habe ich ihre Einladung zu ihrem künstlerischen Abendessen, so die auersbergerischen Eheleute über ihr Nachtmahl, angenommen. Zwanzig Jahre habe ich von den Eheleuten Auersberger nichts mehr wissen wollen und zwanzig Jahre habe ich die Eheleute Auersberger nicht mehr gesehen und in diesen zwanzig Jahren hatten mir die Eheleute Auersberger allein bei Nennung ihres Namens durch Dritte Übelkeit verursacht, dachte ich auf dem Ohrensessel, und jetzt konfrontieren mich die Eheleute Auersberger mit ihren und mit meinen Fünfzigerjahren. Zwanzig Jahre bin ich den Eheleuten Auersberger aus dem Weg gegangen, zwanzig Jahre habe ich sie nicht ein einziges Mal getroffen und ausgerechnet jetzt habe ich ihnen auf dem Graben begegnen müssen, dachte ich; daß es tatsächlich eine verheerende Dummheit gewesen ist, gerade an diesem Tag auf den Graben zu gehen und auch noch, wie es meine Gewohnheit geworden ist allerdings seit ich aus London nach Wien zurückgekommen bin, auf dem Graben mehrere Male hin und her zu gehen, wo ich es mir hätte ausrechnen können, daß ich die Auersberger einmal treffen muß, und nicht nur die Auersberger, sondern auch alle anderen von mir in den letzten Jahrzehnten gemiedenen Leute, mit welchen ich in den Fünfzigerjahren einen intensiven, wie die Auersberger zu sagen pflegten, intensiven künstlerischen Verkehr gehabt habe; den ich aber schon vor einem Vierteljahrhundert aufgegeben habe, also genau zu dem Zeitpunkt, in welchem ich von den Auersberger weg nach London gegangen bin, weil ich mit allen diesen Wiener Leuten von damals gebrochen habe, wie gesagt wird, sie nicht mehr sehen und mit ihnen absolut nichts mehr zu tun haben wollte. Auf den Graben gehen heißt ja nichts anderes, als direkt in die Wiener Gesellschaftshölle zu gehen und gerade jene Leute zu treffen, die ich nicht treffen will, deren Auftauchen mir auch heute noch alle möglichen Körper- und Geisteskrämpfe verursacht, dachte ich auf dem Ohrensessel sitzend, und ich hatte aus diesem Grunde schon in den letzten Jahren meiner Wienbesuche von London aus den Graben gemieden und bin andere Wege gegangen, auch nicht auf den Kohlmarkt, selbstverständlich auch nicht auf die Kärntnerstraße, die Spiegelgasse habe ich gemieden genauso wie die Stallburggasse und die Dorotheergasse und ebenso die von mir immer gefürchtete Wollzeile und die Operngasse, auf welcher ich so oft in die Falle gerade jener Menschen gegangen bin, die ich immer am meisten gehaßt habe. Aber in den letzten Wochen, dachte ich auf dem Ohrensessel, hatte ich aufeinmal ein großes Bedürfnis gehabt, gerade auf den Graben und auf die Kärntnerstraße zu gehen, wegen der guten Luft und dem mir aufeinmal angenehmen vormittägigen Menschenwirbel gerade dort und gerade auch auf dem Graben und auf der Kärntnerstraße, wahrscheinlich, weil ich endlich und entschieden dem monatelangen Alleinsein in meiner Währinger Wohnung, meiner mich ja schon stumpfsinnig machenden Isolation entkommen, entgehen wollte. Ich habe es in den letzten Wochen immer als Geistes- und Körperberuhigung empfunden, die Kärntnerstraße und den Graben entlang und also den Graben und die Kärntnerstraße hin und wieder zurück zu gehen; meinem Kopf hat dieses Hinundhergehen genauso gut getan, wie meinem Körper; als ob ich in letzter Zeit dieses Hinundhergehen auf dem Graben und auf der Kärntnerstraße wie nichts notwendig gehabt hätte, lief ich tagtäglich in den letzten Wochen die Kärntnerstraße und den Graben hinauf und wieder herunter; auf der Kärntnerstraße und auf dem Graben war ich aufeinmal, offen gesagt, nach monatelanger Geistes- und Körperschwäche, wieder in Gang und zu mir gekommen; es erfrischte mich, wenn ich die Kärntnerstraße hinauflief und den Graben und wieder zurück; nur dieses Hinundherlaufen, habe ich dabei immer gedacht, und es ist doch mehr gewesen; nur dieses Hinundherlaufen, sagte ich mir immer wieder, und es hat mich tatsächlich wieder denken und tatsächlich wieder philosophieren, mich wieder mit Philosophie und mit Literatur beschäftigen lassen, die in mir schon so lange Zeit unterdrückt, ja abgetötet gewesen waren. Gerade dieser lange krankmachende Winter, den ich unglücklicherweise, wie ich jetzt denke, in Wien und nicht, wie die vorausgegangenen, in London verbracht habe, hat in mir alles Literarische und alles Philosophische abgetötet gehabt, dachte ich auf dem Ohrensessel; durch dieses Hinundherlaufen auf dem Graben und auf der Kärntnerstraße habe ich es mir selbst wieder möglich gemacht, und ich führte tatsächlich diesen meinen Wiener Geisteszustand, den ich aufeinmal als einen sozusagen geretteten Geisteszustand bezeichnen durfte, auf diese Graben-Kärtnerstraßentherapie zurück, die ich mir verordnet hatte ab Mitte Jänner. Diese entsetzliche Stadt Wien, dachte ich, die mich tief in die Verzweiflung und tatsächlich wieder einmal in nichts als in Ausweglosigkeit gestürzt hat, ist plötzlich der Motor, der meinen Kopf wieder denken, der meinen Körper wieder wie einen lebendigen reagieren läßt; von Tag zu Tag beobachtete ich in Kopf und Körper diese fortschreitende Wiederbelebung alles dessen, das in mir den ganzen Winter über schon abgestorben gewesen war; hatte ich den ganzen Winter Wien die Schuld an meinem geistigen und körperlichen Absterben gegeben, so war es jetzt dasselbe Wien, dem ich meine Wiederbelebung verdankte. Ich saß auf dem Ohrensessel und lobte also die Kärntnerstraße und den Graben und führte meine geistige und körperliche Wiederherstellung auf diese meine Kärntnerstraßen- und Grabentherapie zurück, auf nichts sonst und ich sagte mir, daß ich naturgemäß für diese erfolgreiche Therapie einen Preis zu zahlen habe und dachte, daß die Eheleute Auersberger auf dem Graben getroffen zu haben, der Preis ist für diese gelungene Therapie und ich dachte, daß dieser Preis ein sehr hoher Preis ist, daß ich aber auch einen viel höheren Preis hätte zu bezahlen gehabt unter Umständen, denn ich hätte ja noch viel schlimmere Leute auf dem Graben treffen können, als die Auersbergerischen, denn, alles in allem betrachtet, sind die Auersbergerischen nicht die schlimmsten, wenigstens nicht die allerschlimmsten; aber schlimm genug ist es doch, gerade die Eheleute Auersberger auf dem Graben getroffen zu haben, dachte ich auf dem Ohrensessel. Ein starker Mensch und ein ebenso starker Charakter, dachte ich, hätte ihre Einladung abgelehnt, ich aber bin weder ein starker Mensch, noch ein starker Charakter, im Gegenteil, bin ich der schwächste Mensch und der schwächste Charakter und mehr oder weniger allen Leuten ausgeliefert. Und ich dachte wieder, daß es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Einladung der Eheleute Auersberger angenommen zu haben, denn ich wollte ja mein ganzes Leben nichts mehr mit den Eheleuten Auersberger zu tun haben und ich gehe über den Graben und sie sprechen mich an, sagen, ob ich vom Tod der Joana gehört habe, daß sich die Joana aufgehängt habe und sage zu, nehme ihre Einladung an. Daß ich mich einen Augenblick auf die schamloseste Weise sentimental gemacht habe, dachte ich und daß die Eheleute Auersberger diese meine Sentimentalität sofort ausgenützt haben und dachte, daß sie den Selbstmord unserer gemeinsamen Freundin Joana genauso ausgenützt haben für eine Einladung, die ich ebenso

blitzartig angenommen habe, obwohl es vernünftiger gewesen wäre, ihre Einladung abzulehnen; aber dazu hatte ich keine Zeit, dachte ich auf dem Ohrensessel, sie hatten mich von hinten angesprochen und gesagt, was ich schon wußte, daß sich nämlich die Joana aufgehängt habe, in Kilb, in ihrem Elternhaus, und daß sie mich einladen zu einem Abendessen, zu einem durch und durch künstlerischen Abendessen, wie die Eheleute Auersberger ganz ausdrücklich betonten, alles Freunde von früher, sagten sie. Sie waren ja tatsächlich schon wieder im Weggehen von mir, als sie die Einladung ausgesprochen haben, dachte ich und sie waren schon ein paar Schritte weitergegangen, als ich ja gesagt habe, also zugesagt habe, zu ihrem Abendessen in die Gentzgasse zu kommen, in diese scheußliche Wohnung. Die Eheleute Auersberger hatten mehrere in Packpapier eingepackte Schachteln berühmter Innenstadtgeschäfte an ihren Armen hängen und sie hatten dieselben englischen Mäntel angehabt, die sie schon vor dreißig Jahren angehabt hatten zu Einkaufszwecken in der Inneren Stadt, alles an ihnen war, wie gesagt wird, nobel abgewetzt. Tatsächlich hat ja auf dem Graben nur die Auersberger gesprochen, ihr Mann, der Komponist in der Webern-Nachfolge, wie gesagt wird, hat die ganze Zeit nichts zu mir gesagt, mit seinem Schweigen hat er mich aber durchaus verletzen wollen, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel. Sie hätten noch keine Ahnung, wann das Begräbnis der Joana in Kilb sei, sagten sie. Ich selbst war kurz bevor ich an diesem Tag auf die Straße gegangen war, von der Kilber Kindheitsfreundin der Joana verständigt worden, daß sich die Joana aufgehängt habe; zuerst hatte diese Freundin, eine Kilber Gemischtwarenhändlerin, am Telefon nicht sagen wollen, daß sich die Joana aufgehängt hat, sie sei gestorben hatte die Freundin am Telefon gesagt, aber ich hatte ihr auf den Kopf zugesagt, daß die Joana nicht gestorben sei, sondern sich umgebracht habe, auf welche Weise, wisse sie, die Freundin, sicher, sage es mir nur nicht; die Leute auf dem Land haben noch mehr Hemmung wie die in der Stadt, klar zu sagen, daß sich ein Mensch umgebracht hat, sie tun sich am schwersten, zu sagen, auf welche Weise; ich hatte sofort gedacht, die Joana hat sich aufgehängt, tatsächlich hatte ich am Telefon ja auch zur Gemischtwarenhändlerin gesagt, die Joana hat sich aufgehängt, das hatte die Gemischtwarenhändlerin verblüfft, sie hatte nur ja gesagt. Leute wie die Joana hängen sich auf, hatte ich am Telefon gesagt, sie stürzen sich nicht in einen Fluß oder vom vierten Stock hinunter, sie holen sich einen Strick, knüpfen ihn geschickt und lassen sich in die Schlinge fallen. Ballerinen, Schauspielerinnen, hatte ich zur Gemischtwarenhändlerin am Telefon gesagt, hängen sich auf. Daß ich so lange nichts von der Joana gehört hatte, dachte ich auf dem Ohrensessel, war mir ja schon die längste Zeit verdächtig gewesen, ob sie nicht eines Tages Selbstmord machen wird, die Betrogene, die Verlassene, die Verhöhnte, die tödlich Verletzte, hatte ich in letzter Zeit oft gedacht. Aber ich hatte vor den Auersbergerischen auf dem Graben so getan, als wüßte ich nichts vom Selbstmord der Joana und ich spielte ihnen meine totale Überraschung, gleichzeitig Erschütterung vor, obwohl ich um elf Uhr vormittag auf dem Graben von dem Unglück nicht mehr überrascht und auch nicht mehr erschüttert gewesen war, denn ich hatte davon schon um sieben Uhr früh erfahren gehabt und ich hatte tatsächlich den Selbstmord der Joana durch das mehrmalige Aufundabgehen auf dem Graben und auf der Kärntnerstraße schon ertragen können, aushalten können in der kalt-frischen Grabenluft. Tatsächlich wäre es besser gewesen, der auersbergerischen Mitteilung vom Selbstmord der Joana die Wirkung der totalen Überraschung zu nehmen, indem ich nämlich gleich hätte sagen sollen, ich wisse längst, daß sich die Joana umgebracht habe, selbst wie sie sich umgebracht habe, die genauen Umstände, dachte ich, hätte ich ihnen sagen sollen und sie damit um ihren Mitteilungstriumph bringen, den sie tatsächlich auf die gemeinste Weise ausgenützt und also genossen haben, wie ich feststellte vor dem offenen Knizegeschäft; anstatt so zu tun, als wisse ich überhaupt nichts vom Tod der Joana, die Rolle des absolut Überraschten, Vordenkopfgestoßenen, mit der grauenhaften Nachricht Überfallenen spielend, versetzte ich die Auersbergerischen in die Verzückung plötzlicher Unheilsbringer, was gar nicht meine Absicht gewesen sein konnte naturgemäß, was ich aber durch Ungeschicklichkeit selbst verursacht hatte, indem ich vorgab, vom Selbstmord der Joana zu dem Zeitpunkt des Zusammentreffens mit den Auersbergerischen nichts zu wissen, nicht das geringste; die Ahnungslosigkeit spielte ich die ganze Zeit, während ich, mehr oder weniger schon alles über den Selbstmord der Joana wissend, mit den Auersbergerischen zusammengestanden war. Ich wußte nicht, woher sie wußten, daß sich die Joana aufgehängt hat, wahrscheinlich eben auch von der Gemischtwarenhändlerin aus Kilb und sicher hatte ihnen die Kilber Freundin dasselbe gesagt wie mir, aber nicht so viel wie mir, dachte ich, denn sonst hätten die Auersbergerischen zu mir viel mehr gesagt, als sie zu mir gesagt haben über den Selbstmord der Joana. Selbstverständlich werden sie auf dem Begräbnis in Kilb sein, sagte die Auersberger, dachte ich, und sie sagte es so, als wäre es mir gar nicht selbstverständlich, zum Begräbnis der Joana zu gehen, als mache sie mir schon gleich jetzt den Vorwurf, daß ich, obwohl ja genauso wie sie mit der Joana so viele Jahre, ja Jahrzehnte auf das innigste befreundet gewesen, möglicherweise nicht auf das Begräbnis der Joana gehen, mich dem Begräbnis der mit uns allen befreundeten Joana tatsächlich sogar aus Bequemlichkeit entziehen könnte und die Art und Weise, wie sie sagte, was sie zu mir sagte, dachte ich, war ja tatsächlich im Grunde eine beleidigende gewesen, wie, daß die Auersberger mich zwar auf dem Begräbnis der Joana in Kilb sehen werde, unabhängig davon, mich aber schon heute und jetzt und hier auf dem Graben für den nächsten Dienstag, also dem Begräbnistag der Joana, zu ihrem sogenannten künstlerischen Abendessen in der Gentzgasse einlade, auch. In Wahrheit habe ich die Joana durch den Auersberger kennen gelernt, auf einem Geburtstagsfest für den Mann der Joana auf dem Sebastiansplatz im Dritten Bezirk vor über dreißig Jahren; es war ein sogenanntes Atelierfest gewesen, zu dem beinahe alle Wiener Künstler, die einen Namen hatten, gekommen waren. Joanas Mann war ein sogenannter Tapisseriekünstler, also ein Teppichweber, ursprünglich Maler, der Mitte der Sechzigerjahre einmal den großen Preis der Biennale von São Paulo bekommen hat für einen seiner Teppiche. Alles hätten sie erwartet von der Joana, nur nicht, daß sie Selbstmord machen wird, sagten die Eheleute Auersberger auf dem Graben und bevor sie weiterliefen mit ihren Paketen, meinten sie, daß sie sich alles von Ludwig Wittgenstein gekauft hätten, um sich die nächste Zeit mit Wittgenstein zu befassen. Wahrscheinlich haben sie Wittgenstein in dem kleinsten ihrer Pakete, das auf dem rechten Unterarm der Auersberger hing, dachte ich. Und wieder dachte ich, daß es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Einladung der Auersbergerischen Eheleute anzunehmen, wo mir ja überhaupt alle derartigen Einladungen verhaßt sind und solchen zu künstlerischen Abendessen gehe ich ja schon so viele Jahrzehnte aus dem Weg, denn ich habe sie bis in meine Vierzigerjahre zur Genüge aufgesucht und gründlich kennen gelernt und ich kenne kaum etwas Abstoßenderes. Tatsächlich haben sich diese auersbergerischen Einladungen nicht geändert, dachte ich, auf dem Ohrensessel sitzend, sie sind wie in den Fünfzigerjahren, wie vor dreißig Jahren,

wo sie mich am Ende tatsächlich nurmehr noch nicht nur angeödet, sondern halbverrückt gemacht haben. Zwanzig Jahre sind dir die Eheleute Auersberger verhaßt, dachte ich auf dem Ohrensessel und dann triffst du sie auf dem Graben und nimmst ihre Einladung an und gehst tatsächlich zu dem angegebenen Zeitpunkt in die Gentzgasse. Und du kennst alle diese zu diesem Abendessen Eingeladenen und gehst trotzdem hin. Und ich dachte, daß es besser gewesen wäre, an diesem Abend und meinetwegen auch noch die ganze Nacht Pascal oder Gogol oder Dostojewskij oder Tschechow zu lesen, als auf dieses abstoßende künstlerische Abendessen in der Gentzgasse zu gehen. Die Eheleute Auersberger haben deine Existenz, ja dein Leben zerstört, sie haben dich in diesen entsetzlichen Geistes- und Körperzustand Anfang der Fünfzigerjahre hineingetrieben, in deine Existenzkatastrophe, in die äußerste Ausweglosigkeit, die dich letztenendes damals sogar nach Steinhof gebracht hat und du gehst hin. Hättest du ihnen nicht im entscheidenden Moment den Rücken gekehrt, wärst du von ihnen vernichtet gewesen, dachte ich. Sie hätten dich zuerst zerstört und dann vernichtet, wenn du ihnen nicht im entscheidenden und im allerletzten Moment davongelaufen wärst. Wenn ich nur ein paar Tage länger in ihrem Haus in Maria Zaal geblieben wäre, dachte ich auf dem Ohrensessel, es hätte meinen sicheren Tod bedeutet. Sie hätten dich ausgequetscht, dachte ich auf dem Ohrensessel, und weggeworfen. Du triffst deine grauenhaften Zerstörer und Umbringer auf dem Graben und bist einen Augenblick sentimental und läßt dich in die Gentzgasse einladen und gehst auch noch hin, dachte ich auf dem Ohrensessel. Und daß es besser gewesen wäre, dachte ich wieder, meinen Pascal oder meinen Gogol oder meinen Montaigne zu lesen oder den Satie oder den Schönberg selbst auf dem alten, verstimmten Klavier zu spielen. Du läufst auf den Graben, um frische Luft einzuatmen und dich wiederzubeleben und läufst gerade in die Hände deiner ehemaligen Zerstörer und Vernichter. Und du sagst ihnen auch noch, wie du dich freust auf ihren Abend, auf ihr künstlerisches Abendessen, das doch nur abgeschmackt sein kann, wie alle Abende, wie alle Abendessen bei ihnen, an die du dich erinnerst. Nur ein charakterloser Dummkopf kann eine solche Einladung annehmen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Dreißig Jahre ist es her, daß sie dich in die Falle gelockt haben und daß du in ihre Falle hineingegangen bist, dachte ich auf dem Ohrensessel. Dreißig Jahre ist es her, daß sie dich tagtäglich erniedrigt und daß du dich ihnen auf gemeine Weise unterworfen hast, dachte ich auf dem Ohrensessel, dreißig Jahre, daß du dich ihnen mehr oder weniger auf die niederträchtigste Weise verkauft hast. Dreißig Jahre, daß du ihnen den Narren gemacht hast, dachte ich auf dem Ohrensessel. Und genau sechsundzwanzig Jahre ist es her, daß du ihnen (im letzten Moment) entkommen bist. Und zwanzig Jahre hast du sie nicht mehr gesehen und gehst aufeinmal völlig ahnungslos auf den Graben und läufst ihnen in die Hände und läßt dich von ihnen in die Gentzgasse einladen und gehst auch noch hin in die Gentzgasse und sagst auch noch, daß du dich auf ihr künstlerisches Abendessen freust, dachte ich auf dem Ohrensessel. Fortwährend redete die Auersberger von dem grandiosen Schauspieler, der in dieser Wildente den Höhepunkt seiner Karriere erreicht habe, die Gäste, die schon zwei Stunden vor Mitternacht gekommen waren, von einer Viertelstunde auf die andere vertröstend mit einer Champagnerflasche nach der andern, die sie in die ihr von allen diesen mehr oder weniger widerlichen Leuten hingehaltenen Gläser leerte. Sie hatte das gelbe Kleid an, das ich schon kannte, möglicherweise hatte sie dieses gelbe Kleid für mich angezogen, dachte ich, denn ich hatte ihr vor dreißig Jahren immer Komplimente gemacht wegen dieses Kleides, das mir damals so außerordentlich gefallen hatte an ihr, während es mir jetzt überhaupt nicht mehr gefiel, im Gegenteil, tatsächlich geschmacklos vorgekommen ist, das jetzt einen schwarzen Samtkragen hatte, anstatt eines roten vor dreißig Jahren. Immer wieder sagte die Auersberger die Wörter grandioser Schauspieler und hinreißende Wildente mit jener Stimme, die mir auch vor dreißig Jahren auf die Nerven gegangen war, nur hatte ich damals, vor dreißig Jahren, geglaubt, diese mir auf die Nerven gehende Stimme sei eine interessante Stimme, während ich diese Stimme jetzt nurmehr noch als vulgär und widerwärtig empfand. Wie die Auersberger der bedeutendste Schauspieler überhaupt und der erste aller lebenden Schauspieler sagte, war für mich nichts als abstoßend. Ich hatte ihre Stimme nie leiden können, aber jetzt, da diese Stimme auch noch alt und brüchig geworden war und andauernd auch noch einen hysterischen Unterton hatte, tatsächlich auch, wie gesagt wird, in höchstem Maße ausgesungen und verbraucht war, empfand ich sie als auf die Dauer unerträglich. Mit dieser Stimme hat die Auersberger einmal Purcell gesungen, dachte ich, das Liederbuch der Anna Magdalena Bach, und ihr Mann, mein Freund, der Komponist in der Webern-Nachfolge, wie die Experten immer gesagt haben, hat sie so auf dem Steinway begleitet, daß mir, ehrlich gesagt, die Tränen gekommen sind. Damals war ich zweiundzwanzig Jahre alt und in alles, das Maria Zaal und die Gentzgasse gewesen ist, verliebt und schrieb Gedichte. Jetzt ekelte mich aber vor den widerlichen Bildern, die ich selbst vor dreißig Jahren ungeniert mitgemacht habe. Alle vierzehn Tage wechselte ich damals mit den Eheleuten Auersberger von Maria Zaal in die Gentzgasse und zurück, jahrelang, bis zum Äußersten, dachte ich auf dem Ohrensessel und ich hatte in der kürzesten Zeit mehrere Gläser Champagner getrunken. In Beobachtung der Auersberger dachte ich auf dem Ohrensessel, daß sie dich auf dem Graben angesprochen hat, nicht ihr Mann, und du hast ihre Einladung sofort angenommen. Sie haben dich von hinten angesprochen, dachte ich, wahrscheinlich hatten sie dich schon eine Weile von hinten beobachtet und sind hinter dir hergegangen in Beobachtung und haben dich im entscheidenden Moment blitzartig angesprochen. Ich selbst habe ja vor Jahren, dachte ich auf dem Ohrensessel, den seit dreißig Jahren nur noch betrunkenen Auersberger dabei beobachtet, wie er mit einer mir nicht bekannten etwa vierzigjährigen, tatsächlich verkommenen, ja ganz offensichtlich verwahrlosten Frau mit langen Haaren und abgetretenen Lederstiefeln durch die Rotenturmstraße gegangen ist, habe den Auersberger hinter ihm her gehend beobachtet, alles an ihm und an seiner Begleiterin mehr oder weniger durch und durch beobachtet und habe die ganze Zeit gedacht, ob ich ihn ansprechen solle oder nicht und habe ihn schließlich nicht angesprochen, mein Instinkt hat mir gesagt, du darfst ihn nicht ansprechen, sprichst du ihn an, macht er eine widerliche Bemerkung und zerstört dich auf Tage und ich habe ihn auch nicht angesprochen, habe mich beherrscht, ihn beobachtend bis auf den Schwedenplatz hinunter, wo er mit dieser Frau in einem alten abbruchreifen Haus verschwunden ist. Die Scheußlichkeit seiner Beine habe ich die ganze Zeit beobachtet, die in grobgestrickten grauen Trachtenstutzen steckten, seinen von nichts als von Perversität rhythmisierten Gang, seinen haarlosen Hinterkopf. Er paßte sehr gut zu seiner total verkommenen Begleiterin, einer Künstlerin wahrscheinlich, ausgemergelten Sängerin, arbeitslosen Kellerschauspielerin, wie ich damals dachte, dachte ich im Ohrensessel. Ich erinnerte mich im Ohrensessel, daß ich mich von Ekel geschüttelt umdrehte Richtung Stephansplatz, als die beiden in dem Abbruchhaus auf dem Schwedenplatz verschwunden waren, tatsächlich hatte ich meine Abscheu gegenüber den beiden so weit getrieben, daß ich mich, um zu übergeben, an die

Wand vor dem Aidakaffeehaus gedreht hatte; aber da schaute ich in einen der Aidakaffeehausspiegel und sah direkt in mein eigenes verkommenes Gesicht und sah meinen eigenen verkommenen Körper und es ekelte mich vor mir selbst viel mehr, als mich vor dem Auersberger und seiner Begleiterin geekelt hatte und ich drehte mich wieder um und ging, so schnell ich konnte, auf den Stephansplatz und auf den Graben und auf den Kohlmarkt und schließlich in das Café Eiles, um mich auf einen Haufen Zeitungen zu stürzen, um die Begegnung mit dem Auersberger und seiner Begleiterin und die Begegnung mit mir selbst zu vergessen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Dieser Trick mit dem Café Eiles glückte immer, ich trat ein, holte mir einen Stoß Zeitungen und beruhigte mich. Und es mußte nicht unbedingt das Café Eiles sein, auch das Museum und das Bräunerhof hatten immer ihre Wirkung getan. Wie andere in den Park oder in den Wald, lief ich immer ins Kaffeehaus, um mich abzulenken und zu beruhigen, mein ganzes Leben. So hatten die Eheleute Auersberger wahrscheinlich schon die längste Zeit genauso mich beobachtet gehabt, bevor sie mich schließlich angesprochen haben, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie ich damals auf dem Weg durch die Rotenturmstraße den Auersberger beobachtet hatte, mit der gleichen Rücksichtslosigkeit wahrscheinlich, mit der gleichen Infamie, mit der gleichen Unmenschlichkeit. Wir lernen viel, wenn wir Leute von hinten beobachten, die nicht wissen, daß wir sie beobachten und die wir, solange als möglich, von hinten beobachten und solange als möglich in dieser rücksichtslosen und infamen Beobachtung nicht ansprechen, dachte ich auf dem Ohrensessel, wenn wir uns noch dazu beherrschen können, sie überhaupt nicht anzusprechen, sondern die Fähigkeit haben, uns ganz einfach umzudrehen und von ihnen im wahrsten Sinne des Wortes abzugehen, wie ich damals am Ende der Rotenturmstraße und also auf dem Schwedenplatz die Fähigkeit und die Schläue gehabt habe, mich umzudrehen und von ihnen abzugehen. Diese Beobachtungsvorgangsweise ist genauso für Menschen anzuwenden, die wir lieben, wie für die, die wir hassen, dachte ich auf dem Ohrensessel sitzend, die Auersberger beobachtend, die fortwährend auf die Uhr schaute und die Gäste vertröstete, die mit dem Nachtmahl solange warten müssen, dachte ich, bis der Schauspieler aufgetreten ist. Tatsächlich habe ich den erwarteten Schauspieler einmal vor vielen Jahren auf dem Burgtheater in einer dieser ekelhaften englischen Gesellschaftspossen gesehen, in welchen die Dummheit nur dadurch erträglich ist, weil sie englisch und nicht deutsch oder österreichisch ist und die auf dem Burgtheater im letzten Vierteljahrhundert immer wieder mit entsetzlicher Regelmäßigkeit gespielt werden, weil sich das Burgtheater in diesem letzten Vierteljahrhundert vor allem auf die englische Dummheit spezialisiert und das Wiener Burgtheaterpublikum an diese Spezialisierung gewöhnt hat und er ist mir tatsächlich als Burgschauspieler in Erinnerung, als ein Schauspieler also, ein sogenannter Wiener Publikumsliebling und Burgtheatergeck, der in Grinzing oder in Hietzing eine Villa hat und auf dem Burgtheater jener österreichischen theatralischen Dummheit den Narren macht, die nun schon seit einem Vierteljahrhundert auf dem Burgtheater zuhause ist, als einer jener geistlosen Brüller, die aus der sogenannten Burg in diesem letzten Vierteljahrhundert unter Mitwirkung aller an ihr engagierten Direktoren eine theatralische Dichtervernichtungs- und Schreianstalt der absoluten Gehirnlosigkeit gemacht haben. Das Burgtheater ist künstlerisch schon so lange bankrott, dachte ich auf dem Ohrensessel, daß gar nicht mehr ausgemacht werden kann, wann dieser künstlerische Bankrott eingetreten ist und die Schauspieler, die auf dem Burgtheater auftreten, sind die allabendlich auf dem Burgtheater auftretenden Bankrotteure. Aber einen solchen dramatischen Schreihals zu einem Nachtmahl einzuladen, zu einem sogenannten künstlerischen Abendessen, dachte ich auf dem Ohrensessel, die Auersberger und ihre Gäste beobachtend, ist für ein solches Ehepaar, wie die Auersberger in der Gentzgasse, immer noch eine österreichische Großartigkeit als ganz spezielle österreichische Perversität, wie ich auf dem Ohrensessel dachte, und wie groß tatsächlich diese Großartigkeit für die Auersbergerischen gewesen ist an diesem Abend, erfuhr ich dadurch, daß mit dem auersbergerischen Nachtmahl über eine geschlagene Stunde länger, als angekündigt, gewartet worden war, nämlich solange, bis der Schauspieler um halbein Uhr läutete und mit seinem schamlosen Burgtheatergehuste in die Gentzgassenwohnung der Auersberger eingetreten ist. Schauspieler habe ich insgeheim immer gehaßt und die Burgschauspieler haben immer meinen ganz besonderen Haß auf sich gezogen, abgesehen von diesen ganz großen, wie die Wessely und die Gold, die ich zeitlebens innig geliebt habe, und der an diesem Abend von den auersbergerischen Eheleuten in die Gentzgasse eingeladene Burgschauspieler ist sicher einer der widerwärtigsten, die mir jemals begegnet sind. Als gebürtiger Tiroler, der sich im Laufe dreier Jahrzehnte mit Grillparzer in die Herzen der Wiener gespielt hat, wie ich einmal über ihn gelesen habe, verkörpert er für mich ein Musterbeispiel von Antikünstler überhaupt, dachte ich auf dem Ohrensessel, ist er der Prototypus des durch und durch phantasielosen und also völlig geistlosen Poltermimen, wie er auf dem Burgtheater und also in Österreich überhaupt immer beliebt gewesen ist, einer dieser grauenvollen Pathetiker, wie sie auf dem Burgtheater allabendlich scharenweise über jede dort aufgeführte Dichtung mit ihrem pervers-provinziellen Händeringen und ihren brutalen Sprechkeulen herfallen und sie zertrümmern und vernichten. Alles wird von diesen Leuten auf dem Burgtheater seit Jahrzehnten mit ihrer mimischen Brachialgewalt vernichtet, dachte ich auf dem Ohrensessel, nicht nur der zarte Raimund, nicht nur der nervöse Kleist wird auf dem Burgtheater seit Jahrzehnten zertrümmert und vernichtet, selbst der große Shakespeare fällt da, wo man sich einbildet, die gesamte Theaterkunst in die Ewigkeit hinein gepachtet zu haben, den Burgtheaterschlächtern zum Opfer. Aber hier, in diesem Land, dachte ich auf dem Ohrensessel, ist tatsächlich der Burgschauspieler das Höchste und mit einem Burgschauspieler auch nur sozusagen über die Gasse bekannt sein oder einen solchen Burgschauspieler im Hause und zum Nachtmahl zu haben, empfindet der Österreicher, insbesondere aber der Wiener, als eine Außerordentlichkeit ohnegleichen, was ihn, den Österreicher und besonders den Wiener, wie ich auf dem Ohrensessel dachte, für mich auf abstoßende Weise immer lächerlich macht; sagt er, er sei mit einem Burgschauspieler bekannt, oder sagt er, es sei ein Burgschauspieler zu einem seiner Nachtmähler gekommen. Die Burgschauspieler sind kleinbürgerliche Popanze, die von der theatralischen Kunst nicht die geringste Ahnung haben und die aus dem Burgtheater längst ein Siechenhaus ihres dramatischen Dilettantismus gemacht haben. Nicht umsonst hatte ich mir schon in den Fünfzigerjahren diesen Ohrensessel, der noch immer auf demselben Platz stand, ausgesucht, denn in diesem Ohrensessel, den die Auersbergerischen inzwischen überziehen haben lassen, sehe ich alles, höre ich alles, entgeht mir nichts, dachte ich. In meinem schwarzen, viel zu eng gewordenen sogenannten Begräbnisanzug, den ich mir vor genau dreiundzwanzig Jahren in Graz gekauft habe, auf dem Weg nach Triest, und den ich auf dem Begräbnis der Joana, das erst am späten Nachmittag in Kilb zuende gegangen war, getragen hatte, saß ich da und dachte, daß ich wieder einmal im Begriff bin, mich gegen meine Überzeugung gemein und niederträchtig zu machen, indem ich die auersbergerische Einladung zu ihrem Nachtmahl angenommen und nicht abgelehnt habe, indem ich auf dem

Graben für einen Augenblick weich und schwach geworden bin und alles in mir verleugnet habe, daß ich an diesem Abend und in dieser Nacht nicht allein meinen Charakter, sondern gleich alles in mir auf den Kopf gestellt habe. Nur in Anbetracht des Selbstmordes der Joana hat es zu diesem für mich verheerenden Kurzschluß kommen können, selbstverständlich hätte ich die Einladung der Auersberger abgelehnt, wäre ich nicht durch den Selbstmord der Joana auf geradezu vernichtende Weise konsterniert gewesen, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, wie mich die Eheleute Auersberger eingeladen haben auf dem Graben mit der für sie charakteristischen abrupten Direktheit und überfallsartigen Unverschämtheit, die mich an ihnen schon immer abgestoßen gehabt hat. Fast alle zu dem Nachtmahl Gekommenen hatten noch ihre schwarzen Begräbniskleider an, dachte ich auf dem Ohrensessel, nur ein oder zwei hatten sich für das Nachtmahl umgezogen, also fast alle waren in Schwarz erschienen, tatsächlich so wie ich von den Strapazen in Kilb, wo es ausgerechnet während der Begräbniszeremonie stark geregnet hatte, erschöpft. Und der Inhalt ihrer von mir nur in Bruchstücken aufgenommenen Unterhaltung war natürlich nichts anderes gewesen, als das Begräbnis der Joana, ihr Lebensunglück, in das sie der Mann, der sie schon sieben oder acht Jahre vor ihrem Selbstmord Richtung Mexiko verlassen hat, gestürzt hatte. Die vereinzelt da und dort an den Wänden der Auersberger hängenden Tapisserien jenes Mannes, der, wie sie alle sagten, den Selbstmord der Joana auf dem Gewissen habe, verdüsterten, ihren Schöpfer anklagend, die Szene, die ohnehin nur notdürftig beleuchtet gewesen war von schwachen, dem Empire nachempfundenen Lampen. Ausgerechnet mit der besten Freundin seiner Frau sei der Tapisserist, so hörte ich es mehrere Male in dem Gentzgassenhalbdunkel, nach Mexiko durchgegangen und habe die unglückliche Joana alleingelassen. Ausgerechnet nach Mexiko und ausgerechnet in dem Moment, in welchem es die Joana tödlich treffen mußte. Alleingelassen die Zweiundfünfzigjährige in dem Sebastiansplatzatelier ohne den geringsten finanziellen Rückhalt, mehr oder weniger ohne alles. Mehrere Male wurde gesagt, daß es verwunderlich sei, daß sich die Joana nicht im Atelier auf dem Sebastiansplatz, sondern in ihrem Elternhaus in Kilb, also nicht in der Großstadt, sondern auf dem Land aufgehängt habe. Die Sehnsucht nach dem Elternhaus habe sie nach Kilb getrieben, so hörte ich es mehrere Male, aus Wien weg nach Kilb, aus dem Großstadtmorast in die Landidylle. Nicht ohne perversen Unterton hatte ich tatsächlich die Wörter Großstadtmorast und Landidylle gehört, ich glaube, es war der Auersberger gewesen, der diese Wörter immer wieder ausgesprochen hat, während ich auf dem Ohrensessel seine Frau beobachtete, die von Zeit zu Zeit immer wieder in ihr hysterisches Lachen ausgebrochen ist, wenn sie versuchte, die Leute bei Stimmung zu halten bis zum Auftreten des Burgschauspielers. Die Gentzgassenwohnung ist eine Dritterstockwohnung, sieben oder acht Zimmer, vollgestopft mit josefinischen und biedermeierlichen Möbeln, machen sie aus; in ihr hatten die Eltern der Auersberger gewohnt; ihr Vater war ein mehr oder weniger schwachsinniger Arzt, der aus Graz stammte, der hier in der Gentzgasse seine Ordination hatte, ohne jemals irgendeine medizinische Karriere zu machen, die Mutter der Auersberger war eine Steiermärkerin, eine unförmige Frau, ein pausbäckiges Kleinlandadelsgeschöpf, das infolge einer ihr von ihrem Mann verordneten Influenzatherapie schon mit vierzig sämtliche Haare für immer verloren hat und sich deshalb schon sehr früh aus allem Gesellschaftlichen zurückgezogen hat. Im Grunde lebten die Eltern der Auersberger in der Gentzgasse vom Vermögen der Frau, das diese aus den steiermärkischen Gütern ihrer Eltern geerbt hatte. Die Frau kam für alles auf, der Mann als Arzt verdiente nichts.

Er war ein Gesellschaftsmensch, ein sogenannter Schönling, der in der Faschingszeit alle größeren Wiener Bälle aufsuchte und bis an sein Lebensende die Fähigkeit gehabt hat, seine Dummheit hinter und unter seiner gefälligen Schlankheit zu verbergen. Die Mutter der Auersberger hatte unter ihrem Mann zeitlebens nichts zu lachen gehabt, sie hat sich aber mit ihrer bescheidenen Rolle, die weniger adelig, als durch und durch kleinbürgerlich gewesen war, zufrieden gegeben. Ihr Schwiegersohn, fiel mir auf dem Ohrensessel aufeinmal ein, hatte ihr hin und wieder, wenn er dazu aufgelegt gewesen war, gleich ob in der Gentzgasse oder im steiermärkischen Maria Zaal, die Perücke versteckt, und die Arme hat nicht ausgehen können. Es machte dem Auersberger Spaß, im Zuge des Perückenversteckens, seine Schwiegermutter, wie in Österreich gesagt wird, aus dem Häuschen zu bringen, er hat ihre Perücken, denn schließlich hatte sie sich mehrere zugelegt, auch noch wie er schon an die vierzig Jahre alt gewesen war, versteckt, perverses Zeichen seiner Infantilität. Ich selbst war öfter Zeuge dieses Versteckenspiels in Maria Zaal und in der Gentzgasse gewesen und hatte mich, ehrlich gesagt, damit auch ohne die geringste Scham amüsiert. Besonders an den hohen Fest- und Feiertagen war die Schwiegermutter des Auersberger gezwungen, zuhause zu bleiben, weil ihr Schwiegersohn ihre Perücken versteckt hatte. Erst wenn er dazu Lust hatte, warf ihr der Auersberger die zuerst versteckten Perücken ins Gesicht. Er brauchte die Demütigung seiner Schwiegermutter, dachte ich auf dem Ohrensessel sitzend und ihn im Hintergrund des Musikzimmers beobachtend, wie er seinen dadurch auf geradezu infernalische Weise erzeugten Triumph brauchte. Wie der Auersberger gerade eine kleine Fingerübung auf seinem Klavier praktizierte und dabei den bleichen, vom Alkohol gläsern und stumpfsinnig gemachten Kopf in die Höhe hob und die Zungenspitze aus seinem bläulich angelaufenen Mündchen streckte, stieß mich ab. Giovanni Gabrieli hat er für diesen perversen Augenblick gewählt, dachte ich. Und ich dachte, daß ich in der Zeit, in welcher meine Freundschaft zu den Eheleuten Auersberger die innigste, ja tatsächlich tiefste gewesen ist, sehr oft an dem auersbergerischen Steinway gestanden bin, um in einer, von jetzt aus gesehen perversen Selbstüberschätzung, italienische und deutsche und englische Arien zu singen in der Tatsache, die sogenannte Akademie für Musik und darstellende Kunst Mozarteum in Salzburg absolviert zu haben, ohne diese Tatsache jemals auszubeuten, im Gegenteil, hatte ich doch als ganz und gar aussichtsloser tiefer Baßbariton das Mozarteum absolviert, um dann niemehr auch nur den geringsten Gedanken zu haben, ausübender Musikkünstler sein zu wollen. Aber die Nachmittage in Maria Zaal waren lang und die Gentzgassennachmittage und -nächte genauso und so hatte sich der Auersberger mehr oder weniger täglich an den Flügel gesetzt und ich hatte mich daneben gestellt und wir hatten musiziert, in mehreren Wochen, wie ich mich jetzt auf dem Ohrensessel erinnerte, die ganze klassische italienische und deutsche und englische Arien- und Liederliteratur auf und ab. Der Auersberger, den ich einmal einen Novalis der Töne genannt habe, ist immer ein erstklassiger Klavierspieler gewesen, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, und er brauchte auch jetzt nur zwei, drei Minuten am Steinway zu sitzen, um selbst in besoffenem Zustand diese seine Kunst unter Beweis zu stellen. Aber er ist verkommen, hat alles in ihm, selbst das Musikalische, das ihm einmal das Höchste gewesen war, mit den Jahren seiner krankhaften Trunksucht, verludern lassen, dachte ich, auf dem Ohrensessel sitzend. Wir wissen jahrzehntelang, daß ein Mensch, der uns nahe steht, ein lächerlicher Mensch ist, aber wir sehen es erst plötzlich nach Jahrzehnten, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie ich es jetzt aufeinmal mit aller Deutlichkeit sehe, daß der

Auersberger in der sogenannten Webern-Nachfolge ein lächerlicher Mensch ist, und wie der ununterbrochen betrunkene Auersberger auf seine Weise ein lächerlicher Mensch ist und wahrscheinlich immer gewesen ist, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, ist auch seine Frau ein lächerlicher Mensch, und immer ein lächerlicher Mensch gewesen. In diese lächerlichen Menschen bist du einmal verliebt, ja vernarrt gewesen, sagte ich mir jetzt auf dem Ohrensessel, in diese lächerlichen und gemeinen und niederträchtigen Menschen, die dich aufeinmal nach zwanzig Jahren das erste Mal wieder gesehen haben ausgerechnet auf dem Graben und ausgerechnet an dem Tag, an welchem sich die Joana umgebracht hat und die dich angesprochen haben und in die Gentzgasse eingeladen haben zu ihrem künstlerischen Abendessen mit dem berühmten Burgschauspieler