Honigland - Hanni Münzer - E-Book

Honigland E-Book

Hanni Münzer

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Beschreibung

Mit »Honigland« startet SPIEGEL-Bestsellerautorin Hanni Münzer eine fesselnde historische Romanreihe und knüpft damit an ihre großen Erfolgsromane »Honigtot « und »Marlene« an! Von einem Gutshof in der Nähe Stettins führt Hanni Münzer ihre Hauptfigur Daisy von Tessendorf nach Paris, London und Berlin – und aus dem naiven jungen Wildfang wird eine mutige Frau im Zentrum der Macht. Spannend und authentisch werden dramatische Zeiten in diesem Roman lebendig! Stettin 1928: Heiraten und an der Seite eines adeligen Ehemannes ein komfortables Leben führen? Für die burschikose Daisy von Tessendorf ist das ein Alptraum! Sie will ihren eigenen Weg gehen – wie der aussehen soll, ist ihr allerdings noch nicht so ganz klar. Ihre nicht standesgemäße Freundin, das selbstbewusste Küchenmädchen Mitzi, hat dagegen eine genaue Vorstellung ihrer Zukunft: Sie will nach Berlin und dort eine erfolgreiche Künstlerin werden. Doch politisch dunkle Zeiten ziehen auf, die das Leben beider Frauen in andere Bahnen lenken– voller Gefahren und mit verhängnisvollen Folgen … »Es geht um Liebe und Leidenschaft, um Historie, um Menschen, Geheimnisse, Leid und Glück. Es ist wohl genau diese Mixtur, die Münzers Werke zu Bestsellern macht.« Fürther Nachrichten 

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Den unbekannten Heldinnen gewidmet, deren Geschichten nie erzählt wurden …

 

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Myriam Welschbillig

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: u1 berlin / Patrizia Di Stefano

Covermotiv: Richard Jenkins und ullstein bild / Heinz Fremke

 

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

DRAMATIS PERSONAE

historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

Zitat

Ich träumte …

Prolog

TEIL 1

Daisy im Honigland

Kapitel 1

Gut Tessendorf, Pommern, Juni 1928

Kapitel 2

August 1928

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Die Unvergänglichkeit des Weizens

Kapitel 7

Das geflügelte Herz

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Das Gewicht von Ochsen

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Nichts ist anziehender als ein verbotener Ort

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Wie stürmt man eine Burg?

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Eva Dotterblume und der Zitronenfalter

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Nachwort

Danksagung

Leseprobe Band 2

HONIGSTAAT

Prolog

Oktober 1966

Literaturnachweise/Quellennachweise

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

DRAMATIS PERSONAE

historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

Die Bewohner von Gut Tessendorf:

Marguerite (Daisy) von Tessendorf, eine junge Frau, die die Wolken spüren will

Ludwig (Louis) von Tessendorf, Daisys Bruder und bester Freund

Violette von Tessendorf, ihre jüngere Schwester

Yvette von Tessendorf, ihre französische Mutter

Kuno von Tessendorf, ihr weltfremder Vater

Hagen von Tessendorf, Sohn Kunos aus erster Ehe. Ein Maulheld.

Elvira von Tessendorf, seine Frau

Sybille von Tessendorf, Großmutter von Daisy, Louis und Violette. Führt die Familie vom Rollstuhl aus mit eiserner Hand.

Waldo von Tessendorf, Sybilles exzentrischer Schwager

Winifred und Clarissa von Tessendorf, Waldos unverheiratete Schwestern

Franz-Josef, Sybilles vornehmer Kammerdiener

Hermine (»Mitzi«) Gotzlow, Daisys beste Freundin

Theres Stakensegel, Mitzis Tante und gelegentliche Heimsuchung, Kochmamsell

Stanislaus »Zisch«Krejčínejznámíjšítující,übellauniger Stallmeister

Nereide, Daisys geliebte Stute

Monsieur Fortuné, Yvettes Mops

 

Andere:

Willi Hauschka, Louis’ Freund

Antoine de Saint-Exupéry*, Pilot und Schriftsteller

Marie la Sainte, Pariser Bordsteinschwalbe

Henry Prudhomme Roper-Bellows, ein britischer Gentleman

Hugo Brandis zu Trostburg, Diplomat

Eugen Mendel senior, Advokat

Martin Mendel junior, auch Advokat

Adelaide Kulke, eine Seelsorgerin

Bertha Schimmelpfennig, gen. die rote Olga

Lotte Schimmelpfennig, ihre Schwester und angehendes Filmsternchen

 

Reichskanzlei und Diverse

Paul von Hindenburg*

Wedige von der Schulenburg*, Hindenburgs Adjutant

Albert Speer*, Hitlers Architekt

Adolf Hitler*

 

SS-Mannen und Diverse

Hermann Göring*, Reichstagspräsident

Joachim von Ribbentrop*, Sekthändler

Hubertus von Greiff, Hauptmann der Polizei

Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: NEIN!

Kurt Tucholsky

Ich träumte vom Gesang der Amsel am Morgen,

doch was ich hörte, war die Stille.

Ich träumte vom Mond in seinem silbernen Glanz,

doch was ich erblickte, war das Dunkel.

Ich träumte von der Sonne an einem leuchtenden Himmel,

doch das, was ich fühlte, war Leere.

Ich träumte den Traum vom Honigland.

Ich träumte den Traum vom Ende der Nacht.

Prolog

Jedes Leben ist auf seine Weise einzigartig. Unsere Erwartungen hingegen ähneln einander: unvergängliche Liebe, ein schönes Heim, gesunde Kinder und möglichst wenig Stürme. Wer träumt nicht davon?

Deshalb Hand aufs Herz: Wenn Ihnen das Schicksal die Wahl zwischen einem ruhigen und einem turbulenten Leben ließe, wie würden Sie sich entscheiden?

Falls Sie zu Ersterem tendieren, würde ich fast dazu raten, dieses Buch mit meiner Geschichte zurück ins Regal zu stellen. Ich will Sie keinesfalls auf einem wilden Ritt durch mein abenteuerliches Leben aus dem Sattel stürzen.

Als ich 1911 auf einem herrschaftlichen Rittergut in Westpommern geboren wurde, herrschten in Europa Kaiser, Könige und ein Zar. Die Menschen waren Untertanen, die Frauen meiner Gesellschaftsschicht dienten als bloßes Beiwerk, fest eingeschnürt in Korsette und Konventionen, und für Mädchen galten strenge Regeln – die ich alle gebrochen habe. Meine Erziehung umfasste sittsames Benehmen und Konversation, Musik (Harfe, Klavier, Gesang), Sprachen und Geschichte, ein bisschen hiervon, ein bisschen davon, im Ganzen wurde mir ein Fingerhut Allgemeinwissen zugestanden. Ich lernte, damenhaft zu schreiten, wie man mustergültig einen wehrlosen Helgoland-Hummer zerschnippelt und unauffällig vornehm eine Gräte in die Serviette spuckt. Vom Leben wusste ich nichts. In meiner Generation wurden wir für ein Leben an der Seite eines Ehemanns präpariert. Zweckmäßig wird uns dafür eine Aussteuerkommode mit Geschirr und Bettwäsche bereitgestellt, wofür wir auf diversen Veranstaltungen wie Zuchtstuten herumgereicht werden, um uns einen Gatten zu angeln, der ein paar Nachkommen zeugt, Stammhalter bevorzugt. Ende der Geschichte. Meine hingegen beginnt damit erst.

Das Dilemma ist, dass ich selbst lange Zeit brauchte, um mich überhaupt für irgendetwas zu entscheiden. Natürlich wusste ich genau, was ich wollte. Bloß, dass es jeden Tag etwas anderes war. Mein Kopf steckte in den Wolken, und ich ließ mich gerne treiben, sagte manchmal Ja, um die Erwartungen anderer zu erfüllen. Meine eigenen Erwartungen erforschte ich nicht. Erst spät lernte ich, dass Entscheidungen bestimmen, wer wir sind. Wer wir sein wollen.

Zu dieser Zeit wurde ich bereits in das unmittelbare Weltgeschehen hineingezogen, und ich bin ihnen allen begegnet: den Großen, den Kleinen und den Kleinkarierten, der kaiserlichen Familie, dem alternden Hindenburg, dem Hitler und seinen Satelliten, ich wurde zur Spionin, habe Leben gerettet und Leben genommen. Ich traf Künstler, Fantasten und Abenteurer, ich lebte in Berlin, Rom und Paris. Dabei kannte ich weder meinen Weg noch das Ziel. Aber am Ende kam ich dennoch an: Die Liebe hat mich geführt.

Dies ist meine Geschichte.

TEIL 1

Daisy im Honigland

Kapitel 1

Gut Tessendorf, Pommern, Juni 1928

Marguerite von Tessendorf, von allen Daisy genannt, nahm in undamenhafter Hast die breite Treppe, schwenkte nach rechts und überrannte dabei fast das Stubenmädchen mitsamt dem Wäschekorb. Ohne innezuhalten, rief Daisy ihr ein »Pardon« zu und fegte weiter den Flur entlang, der in den Westflügel führte. Dort riss sie eine Tür auf, schlug sie hinter sich zu und lehnte sich schwer atmend dagegen.

Ihr älterer Bruder Louis blickte von seinem Schreibtisch hoch. »Oje, Daisy! Was hast du jetzt wieder angestellt?« Allzu beunruhigt wirkte er nicht, er war die temperamentvollen Auftritte seiner sechzehnjährigen Schwester gewohnt.

»Ich habe mich verlobt!«, platzte es aus ihr heraus.

»Potzblitz! Wer ist denn der Glückliche?«

»Hugo«, wisperte Daisy und sah gar nicht glücklich aus.

»Zu Trostburg? Der Diplomat aus Wien? Großmutter rechnet sicher schon die Vermögen unserer Familien zusammen, Vater wird wie stets geistesabwesend nicken, während sich unsere Mutter kopfüber in pompöse Hochzeitsvorbereitungen stürzen wird. Unsere kleine Violette wird sich auf ein neues Kleid freuen, und unser missgünstiger Halbbruder Hagen entzündet eine Kerze, damit du möglichst keine Söhne bekommst, die sein Erbe schmälern.«

»Söhne?« Daisy riss die Augen auf. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ehefrauen bekommen Kinder!«

»In der Regel. Es funktioniert aber auch ohne Trauschein«, bemerkte Louis trocken.

Daisy sah nun aus, als hätte sie vergorene Milch geschluckt. Ihr Blick fiel auf den funkelnden Saphir an ihrem Finger. Und schlagartig fühlte sich die Stelle heiß an, als würde ihr Finger vor Hitze schmelzen. Hektisch versuchte sie, den Ring abzustreifen. Doch das Schmuckstück, das zuvor willig über ihren Finger geglitten war, ließ sich nicht abziehen.

»Hilf mir!«, rief Daisy panisch.

Louis setzte der Qual seiner Schwester ein Ende, indem er in sein Badezimmer eilte und mit einem Stück angefeuchteter Seife zurückkehrte.

Sekunden darauf hielt er das Schmuckstück ins Tageslicht. »Hübsch und teuer. Warum hast du Ja gesagt?«

Daisy zuckte mit der Schulter. »Hugo hatte alles perfekt arrangiert. Ein Picknick am See, Erdbeeren und Champagner. Und vom Baum regnete es Rosenblätter.«

»Wie können aus einem Baum Rosenblätter regnen?«

»Hugo hatte extra seinen Kammerdiener oben platziert.«

»Wie schlau von ihm, er lässt klettern. Wenn das Schule macht. Und weiter?«

»Er ging in die Knie, hielt mir die Schmuckschachtel unter die Nase, und ich sagte Ja, bevor ich richtig begriff, was gerade geschah. Es war wie in einem Traum.«

»Herrje, Daisy! Wie oft habe ich dir das schon gepredigt: Erst denken, dann handeln! Entscheidungen bestimmen, wer wir sind. Selbst die banalste hat Konsequenzen. Oh, und bevor ich es vergesse: Gratulation zu deiner Verlobung, kleine Schwester.« Louis grinste breit.

»Aber ich will ja gar nicht heiraten! Ich will reisen und die Welt sehen!«

»Deswegen würde ich mir keine Sorgen machen«, erklärte Louis pragmatisch. »Hugo ist prädestiniert für eine Diplomatenkarriere. Du wirst ihn auf seinen Reisen begleiten.«

»Aber dann muss ich dahin, wohin man ihn schickt. Am Ende lande ich irgendwo in den Karpaten und zähle Bären!«

»Dann, kleine Schwester, hättest du im richtigen Moment Nein sagen müssen.«

»Danke, das weiß ich jetzt auch«, meinte Daisy deprimiert und ließ sich aufs Bett fallen. Sie tippte auf den sternförmigen Leberfleck an ihrer Wange. Als Kind hatte sie ihn lange Zeit als Makel empfunden, weil der Pfarrer in einer Sonntagsrede Teufelsmale erwähnt und als Zeichen des Bösen gebrandmarkt hatte. Vielleicht stimmte es, dass sie das Unglück anzog. Sie geriet irgendwie von einem Schlamassel in den anderen – als Kind war sie in die Silage und in den Brunnen gefallen, im Winter im Eis des Teichs eingebrochen. Dabei hatte sie stets auch ihre Retter in Gefahr gebracht. Bis heute befiel sie ein Zittern, wenn sie an jenen furchtbaren Tag zurückdachte, als sie mit ihrem Pony Fee gestürzt war und das arme Tier sich das Vorderbein gebrochen hatte. Seither trug sie Fees Hufnagel immer bei sich, als Mahnung und Erinnerung.

Ihrem Vater Kuno, klug, wie er war, blieben die Seelenqualen seiner Tochter nicht verborgen, und er machte das Sternenmal als deren Ursache aus. Er konnte sein kleines Mädchen davon überzeugen, ihr Mal sei keineswegs ein Makel, sondern markiere ihren klügsten Punkt. Sie müsse ihn nur berühren, und schon würden ihr gescheite Gedanken zufließen.

Jetzt dämmerte Daisy, mit der Verlobung eine gewaltige Dummheit begangen zu haben.

»Was mache ich bloß?« Sie senkte den Blick und betrachtete ihre Stiefeletten, als trügen sie die Schuld an ihrem neuesten Desaster. Louis platzierte den Ring auf Ovids Metamorphosen, aus deren Lektüre Daisy ihn so rüde herausgeholt hatte.

»Wo ist Hugo jetzt?«, erkundigte er sich.

»Er spricht in der Bibliothek mit Vater.«

»Dann geh hin und gestehe die Wahrheit.«

»Was denn für eine Wahrheit?«

»Dass du nicht vorhast, dein Leben an einen Mann zu binden. Dass du lieber frei sein willst.«

Daisy kniff ein Auge zu. »Ernsthaft? Das soll ich sagen?«

»Nein, natürlich nicht.« Louis feixte. »Erkläre Hugo, sein Antrag hätte dich überwältigt. Aber du hättest aufgrund deiner Jugend inzwischen Zweifel an deinem Jawort bekommen. Tu geniert und flattere ein wenig mit den Lidern.«

»Ich soll das unschuldige Dummchen spielen?«

»Das bekommst du doch sonst auch glänzend hin.«

»Hmm«, machte Daisy und schnipste ein eingebildetes Staubkorn von ihrem Tweedrock. »Ich fürchte, ich habe Hugo auch ein wenig gekränkt …« Sie flatterte mit den Lidern.

»Oje, was hast du noch verbrochen?«

»Nach dem Ja wollte er mich küssen.« Daisy ahmte seinen schmachtenden Ton nach: »O Daisy, du machst mich zum glücklichsten Mann auf Erden.« Im Normalton fuhr sie dann fort: »Hugo hat seinen Mund geschürzt wie ein Karpfen, ehrlich, es war, als küsste mich ein Fisch. Und sein Schnurrbart kitzelte. Niemand hätte sich da das Kichern verkneifen können.« Daisy sah ihren Bruder eindringlich an. »Am Ende rannte ich ihm davon. Kurz darauf sah ich Hugo mit Vater in der Bibliothek verschwinden. Denkst du, er hält bei ihm um meine Hand an?« Daisy knabberte nervös an ihrem Daumennagel.

»Mit Sicherheit«, bestätigte Louis.

»Was soll ich jetzt bloß tun?«

»Frag nicht mich, frag dich, Daisy! Du musst lernen, für dich selbst einzustehen. Eine Entscheidung ist eine Entscheidung, egal ob falsch oder richtig.«

»Aber keine treffen zu wollen ist doch auch eine Form der Entscheidung, nicht wahr?«

»Sicher, aber das ändert nichts an deiner misslichen Situation. Außer, du heiratest Hugo.«

»Unmöglich!«, sagte Daisy aus tiefster Überzeugung.

Pferdegetrappel und das Quietschen von Rädern kündeten von der Ankunft einer Kutsche. Daisy stürzte zum Fenster, und beim Anblick des Einspänners erhellte sich schlagartig ihre Miene. »Großmutter ist zurück! Sie wird das mit Hugo für mich regeln.«

Louis rang resigniert die Hände. »Himmel, Daisy. So lernst du nie, für das einzustehen, was du verbockt hast.«

»Aber ich tue Großmutter damit einen Gefallen. Unser aller Schicksal zu lenken ist ihr Lebensinhalt, nicht wahr?«

»Du bist unverbesserlich.«

Kapitel 2

August 1928

Kein Ding sieht so aus, wie es ist. Am wenigsten der Mensch, dieser lederne Sack voller Kniffe und Pfiffe.

Wilhelm Busch

Franz-Josef, wissen Sie, wo meine Schwester Daisy steckt?«, erkundigte sich Louis beim Butler seiner Großmutter Sybille.

»Sie wollte mit ihrer Staffelei zur Obstwiese, Herr Graf.«

Louis hatte es schon längst aufgegeben, den vornehmen Butler seiner Großmutter darauf hinzuweisen, dass er kein Graf war. Franz-Josef verharrte eisern in seiner Rolle als ehemaliger Haushofmeister in der Wiener Hofburg, und er trat ebenso standesbewusst auf wie sein Namensvetter, der verstorbene österreichische Kaiser. Mit derselben Entschlossenheit hielt er daran fest, seine Herrschaft Sybille von Tessendorf mit »Durchlaucht« anzureden, und im Gegensatz zu ihrem Enkelsohn hatte die nichts daran auszusetzen. Darüber hinaus fungierte Franz-Josef als Sybilles drittes Auge und Ohr. Es entging ihm nichts. Sei es ein nächtlich umherschleichender Diener auf dem Weg zum Stubenmädchen, ein Fleck auf der Silberplatte oder das Geschwisterpaar Louis und Daisy, das einen Streich ausheckte.

Louis bedankte sich für die Auskunft und verließ das Haus über die Terrasse. Am Fuß der Treppe zum Garten lief er seiner Schwester Violette in die Arme. Sie trug ihr weißes Tenniskleid und schwang einen Schläger. »Louis! Spielst du eine Partie mit mir?«

»Das geht gerade nicht. Ich muss mit Daisy reden.«

»Immer hast du Zeit für Daisy, aber nie für mich«, schmollte die Zwölfjährige.

»Na schön.« Er gab nach, denn so ganz unrecht hatte sie nicht. »In einer halben Stunde, in Ordnung? Bis dahin kannst du ein paar Aufschläge üben.« Ein strahlendes Lächeln war seine Belohnung.

Daisy hatte ihre Staffelei in den Schatten eines Apfelbaums gerückt. »Also wirklich, Nereide«, hörte Louis sie mit ihrem Pferd schimpfen. »Kannst du nicht wenigstens eine Minute ruhig stehen?« Aber die hübsche Trakehner Stute fand das Fallobst weitaus interessanter, als ihrer Herrin Modell zu stehen. Emsig stöberte sie im Gras umher, so weit es ihre Schleppleine erlaubte.

Louis musste schmunzeln und schaute Daisy über die Schulter. Die gespannte Leinwand zeigte zwar kaum mehr als eine vage Skizze, und trotzdem war es eindeutig Nereide, die darauf Gestalt annahm.

»Heute naturalistisch unterwegs? Hast du dem Expressionismus abgeschworen?«

»Wenn sie nicht aufpasst, male ich ihr ein drittes Auge auf die Stirn wie bei einem Zyklop. Und ein fünftes Bein«, grummelte Daisy. Sie steckte ihr Zeichengerät weg. »Komm, das wird heute nix mehr, und allmählich wird es zu warm. Gehen wir einen Happen essen? Ich bin halb verhungert.«

»Wie kann das sein? Wir haben gerade erst gefrühstückt.«

»Aber das war um sieben Uhr!«

»Eben, und jetzt ist es halb zehn.«

Daisy seufzte. »Meinem Magen zufolge ist es längst Mittagszeit.« Sie ging zu ihrem Pferd und band es los. »Du hattest genug, du Vielfraß. Ab auf die Koppel.« Nereide protestierte mit einem leichten Schnauben, folgte ihr jedoch willig.

Louis packte Daisys Staffelei zusammen und schlenderte neben ihr her. Sie blickte schräg zu ihm rüber. »Warum hast du mich gesucht?«

»Wegen Hugo, ich …«

»Was? Ist er da?« Daisy blieb abrupt stehen.

»Nein. Und wenn du mich ausreden ließest, hättest du dir den Schreck erspart. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«

***

Zehn Tage später lag Daisy mit der Flinte im Anschlag im Schilf und wartete darauf, dass ihr das Mittagessen vor die Kimme geriet. Seit einer Woche waren Louis und sie nun mit ihren Faltbooten auf der Havel unterwegs, ihr Proviant ging zur Neige, und sie hatte mittlerweile so viel angelfrischen Fisch konsumiert, dass es sie wenig gewundert hätte, wären ihr Flossen gewachsen. Sie hatte nie vorgehabt, Louis auf seiner lange geplanten Tour durch die Brandenburger Seenlandschaft zu begleiten. Gewiss, sie mochte frische Luft, den Wald und die freie Natur, zog es jedoch in der Regel vor, all diese Annehmlichkeiten auf dem Rücken ihres Pferdes zu genießen. Nach dem Skandal um die gelöste Verlobung mit Hugo Brandis zu Trostburg hatte Louis sie jedoch zu dieser Bootstour überreden können. Tatsächlich taten ihr der Tapetenwechsel und die räumliche Distanz wohl. Es lüftete ihren Kopf aus. Trotzdem hielt Hugo noch einen großen Teil davon besetzt, sie musste nur seinen Namen denken, und ihr Magen verschlang sich zu einem Knoten.

Außerhalb der Familie hätte niemand von ihrer Ver- und Entlobung erfahren müssen, doch Hugo hatte es kaum erwarten können, die Verlobung überall hinauszuposaunen. Anders als von Daisy angenommen, dachte ihre Großmutter gar nicht daran, ihr aus der Patsche zu helfen.

»Bist du deppert?«, hatte die gebürtige Wienerin angemerkt, die rechte Augenbraue hochgezogen. »Wer Ja sagt, kann auch Nein sagen. Entweder du heiratest den Mann, oder du erklärst ihm, dass du ihn nicht willst. Du hast dir dein Problem selbst geschaffen, Marguerite. Löse es auch selbst. Servus.« Servus bedeutete stets Rauswurf, und Daisy hatte sich wohl oder übel getrollt.

Die Angelegenheit in Ordnung zu bringen erwies sich jedoch als weit schwieriger als angenommen. Denn Hugo Brandis zu Trostburg weigerte sich, Daisys Sinneswandel hinzunehmen. Jegliches Argument, welches sie gegen ihre Heirat ins Feld führte, wischte er sogleich vom Tisch. Brachte sie vor, sie fühle sich noch zu jung, um jetzt schon eine Ehe einzugehen, lächelte er und sagte, da müsse sie sich nicht sorgen, älter würde sie schließlich von allein, und deshalb sei es klug, sie überließe ihm, dem Erfahreneren, die Entscheidung, da sie selbst so unentschlossen sei. Wandte sie ein, sie liebe ihn nicht, erwiderte er, die Liebe würde mit der Zeit entstehen, sobald sie ihn und seine Vorzüge besser kennenlerne. Erklärte sie, das würde nicht geschehen, weil Liebe niemals ein Umstand von Vorzügen sei, entgegnete er, in diesem Falle würde seine Liebe für sie beide genügen. Daisy brandete gegen eine Mauer aus männlicher Arroganz und Ignoranz, die in einer Verlobungsanzeige in der auflagenstarken Berliner Illustrierten Zeitung gipfelte, die Hugo ohne ihr Wissen in Auftrag gegeben hatte.

Noch am selben Tag trudelten erste Glückwünsche von Verwandten und Bekannten zu dieser Verbindung ein. Daisy konnte es nicht fassen. Als Hugo gut gelaunt erschien, im Glauben, alles stehe zum Besten und seine Verlobte sei ihm dafür dankbar, dass er klare Verhältnisse geschaffen habe, ging ihm Daisy fast an die Gurgel.

Selbst Hugo dämmerte es dann, dass Daisy sich nicht nur ein wenig zierte. Sein Gleichmut fiel von ihm ab.

»Du hysterische Ziege! Du hast mich mit der Verlobungsanzeige der Lächerlichkeit preisgegeben!«

»Ach, jetzt bin ich schuld?«, entgegnete Daisy hitzig. »Ich bin es schließlich nicht gewesen, die zum Anzeiger gerannt ist! Schon allein, wie du dich jetzt aufführst, zeigt mir, dass ich gut beraten bin, dich nicht zu heiraten. Du bist kein nobler Mann.«

»Ach, und wer berät dich in dieser Frage? Etwa dein verzärtelter Dichter-Bruder?«

Sie warfen sich noch vieles an den Kopf. Auch eine venezianische Vase fiel dem Streit zum Opfer. Daisys Temperament kannte viele Ausprägungen.

Allerdings konnte auch diese hässliche Szene nicht an Hugos Überzeugung rütteln, dass er der beste Mann für sie sei und Daisy das mit der Zeit schon noch begreifen würde. So einfach wurde sie ihn nicht los, und die nächsten Wochen verfolgte er sie regelrecht.

 

Hätte Daisy es nicht besser gewusst, sie hätte vermutet, Hugo habe in Hagen von Tessendorf, Louis’ und ihrem Halbbruder aus der ersten Ehe ihres Vaters Kuno, einen Verbündeten. Aber Hagens primäres Interesse galt seinem eigenen hohlen Ich. Wahrscheinlich verdiente sich einer der zahlreichen Dienstboten etwas dazu, indem er Hugo mit Informationen über sie fütterte. Unangemeldet kam Hugo nach Tessendorf, passte sie bei ihrem morgendlichen Ausritt ab, und sie konnte keine Gesellschaft und keinen Tanztee mehr besuchen, ohne dass er ebenfalls dort auftauchte, sich als ihr Verlobter aufspielte und in dieser Eigenschaft nicht von ihrer Seite wich.

Mutter Yvette nahm die Tochter schließlich beiseite. »Chérie«, erklärte sie mit ihrem charmanten französischen Akzent, »du hast ’Ugos Eitelkeit verletzt.«

»Was kann ich tun, Maman?«

»Nichts. Du kannst nur abwarten und darauf hoffen, dass bald eine andere Frau deine Stelle einnehmen wird. Oder ein neuer Mann in dein Leben tritt, der ’Ugo Paroli bieten kann. Meiner Erfahrung nach kann ein Mann es viel eher akzeptieren, wenn er durch einen anderen ersetzt wird, als wenn die Frau ihn nicht will.«

Und deshalb lag Daisy nun inmitten der Brandenburger Einsiedelei am Rande eines Weihers auf der Lauer. Eine Wildente rückte in ihr Visier. Sie spannte den Hahn, krümmte bereits den Finger, als hinter ihr ein Zweig vernehmlich knackte. Daisy zuckte zusammen, der Schuss ging los und verfehlte sein Ziel beträchtlich. Die Ente ergriff quakend die Flucht.

Daisy rollte herum und fand sich einer jungen Frau mit Rucksack und geschultertem Gewehr gegenüber. Dichtes dunkles Haar umrahmte ein frisches und freundliches Gesicht. »Verzeihung«, sagte die Fremde. »Ich habe Sie nicht erschrecken wollen. Aber ich wäre beinahe über Sie gestolpert.«

»Keine Ursache. Die Ente freut’s. Und ich kriege keine nassen Füße.« Daisy rappelte sich auf und zupfte diverses Grün von ihrer Kleidung.

»Pardon, ich bin Margret«, stellte sich die Frau ihr vor.

Daisy musste grinsen. »Angenehm, und ich bin Marguerite. Was führt Sie in die Einsamkeit, Margret. Außer der Jagd?«

»Unsere Hochzeitsreise«, erteilte Margret bereitwillig Auskunft. »Mein Mann und ich sind mit unseren Booten vom Spandauer Schiffskanal aus gestartet.«

»Oh, von dort sind wir auch losgefahren!«, rief Daisy.

»Sind Sie ebenfalls mit Ihrem Mann unterwegs?«

»Nein, mit meinem Bruder Louis. Um der Wahrheit Genüge zu tun, dieser Ausflug ist sein Einfall gewesen. Ich glaube nicht, dass ich für ein Leben unter freiem Himmel geschaffen bin. Die Stechmücken sind einfach grauenvoll.« Daisy schlug nach einer Schnake, die summend ihren Kopf umschwirrte.

Margret nickte mitfühlend, aber auch ein wenig belustigt.

Daisys Gespür für Menschen war wenig ausgereift. Dennoch begriff sie, dass Margret bei der Wahl zwischen den Annehmlichkeiten der Zivilisation und dem, was die Natur zu bieten hatte, sich jederzeit für Letzteres entschieden hätte. »Bitte denken Sie jetzt nicht falsch von mir. Ich mag die Seen, die Wälder, den endlosen Himmel und die Weite. Aber diese drückende Einsamkeit! Sie sind der erste Mensch, dem ich seit einer Woche begegne. Ach, ich vermisse mein Pferd«, schloss Daisy mit einem Stoßseufzer.

Ihr Gegenüber lachte hell auf. »Albert und ich mögen beide diese Einsamkeit. Genau darum sind wir hier.«

»Ja, Sie sind ja auch frisch verheiratet!« Daisy biss sich auf die Unterlippe. »Das war jetzt ungehörig, oder? Bitte stören Sie sich nicht an meinem Geplapper. Ich trage mein Herz auf der Zunge. Das sagt jeder.«

»Ich mag das. Es ist erfrischend.«

»Ha! Erklären Sie das mal meinen beiden Tanten. Die finden mich einfach unmöglich.«

Den Abend verbrachten sie zu viert am Lagerfeuer, grillten Forellen, die Louis geangelt hatte, während Daisy auf Entenpirsch lag, und buken Kartoffeln in der Glut, an denen sie sich die Finger verbrannten. In Gesellschaft schmeckte Daisy sogar der Fisch wieder. Sie verstand sich mit Margret, und sie entdeckten einiges an Gemeinsamkeiten wie die Liebe zum Theater.

Albert und Louis hingegen schwelgten zunächst in der Liebe zur Natur und der Glückseligkeit, die ihnen das einfache Leben in Zelt und Hütte verschaffte. Nachdem sie eine Zeit lang das Grandiose der Einsamkeit beschworen hatten, wandte sich ihr Gespräch Alberts Beruf zu. Er hatte kürzlich in Berlin beim bekannten Architekten und Hochschullehrer Heinrich Tessenow eine Stelle als Universitätsassistent angetreten. Louis lauschte Alberts Ausführungen mit großer Begeisterung. Dieser Mann hatte Visionen!

Am nächsten Morgen trennten sich die Zufallsbekanntschaften voneinander. Sie tauschten Adressen aus und versprachen sich, in Kontakt zu bleiben.

Kapitel 3

Die Bösen, das sind immer die anderen.

Annemarie Sadler

Nach drei Wochen in freier Natur rebellierte Daisy. Sie sehnte sich nach Lärm und Zivilisation, nach Ausritten auf Nereide, nach Lachen und Herumalbern mit Mitzi und nicht zuletzt nach warmem Pflaumenkuchen mit Sahne. So kehrten sie früher als geplant nach Gut Tessendorf zurück und gerieten mitten hinein in eine gewaltige Aufregung. Im Herrenhaus war eingebrochen worden!

Der Dieb hatte nachts das Fenster der Schreibstube aufgehebelt und sich mit der Geldkassette des Rentmeisters Otto Hauschka aus dem Staub gemacht. Aus dem Geld der Kasse wurden die meisten Dinge des täglichen Bedarfs bestritten. Ob Küchenmamsell Theres Stakensegel einen neuen Kochtopf benötigte oder Louis ein Fässchen Tinte und Briefmarken, sie mussten sich den Betrag bei Hauschka abholen.

Daisy kannte Rentmeister Hauschka als einen Mann, der allen Widrigkeiten des Lebens mit unerschütterlicher Gelassenheit begegnete, sei es die Maul- und Klauenseuche, eine brennende Scheune oder die wilden Streiche seines Sohnes Willi. Aber nun war er außer sich. Ihrer Familie diente er seit dreißig Jahren zuverlässig als Verwalter aller Tessendorf-Güter, und im Einvernehmen mit Patriarchin Sybille von Tessendorf zog er bereits seinen Sohn Willi für diese verantwortungsvolle Position heran.

Freilich war schon früher das ein oder andere auf dem Gut abhandengekommen. Aber nie zuvor hatte sich ein Räuber ins Haus geschlichen und Geld entwendet. Die Polizei ermittelte.

Clarissa und Winifred von Tessendorf, die Schwestern von Daisys verstorbenem Großvater Wilhelm, hatten die Schuldigen indessen längst ausfindig gemacht: fahrendes Volk. Acht bunt bemalte Wagen parkten zu einem Kreis gruppiert auf dem Dorfanger. Sie kamen in jedem September, ausgenommen die Jahre des Krieges. Abends würde das fahrende Volk ein großes Lagerfeuer entzünden. Wenn die Glut heiß genug brannte und Funken in den Nachthimmel stiegen, holten die Männer ihre Geigen hervor, die jungen Frauen ihre Tamburine, und der Tanz begann. Schon jetzt fieberte Daisy dem Moment entgegen, sich wie im Vorjahr barfuß unter sie zu mischen.

»Die sind das gewesen, die Zigeuner!« Sofort bei ihrer Ankunft hatte sich Clarissa auf Daisy gestürzt.

»Unmöglich, dass man ihnen erlaubt hat …« Winifred rang vor Empörung nach Luft.

Clarissa sprang wie gewohnt für sie ein: »Ja, unmöglich, dass man sie auf der Dorfwiese ihr Lager aufschlagen lässt! Fast unter unseren Augen. Was hat sich der Bürgermeister nur dabei gedacht!«

»Ja, was hat er sich nur dabei gedacht? Der Mann ist untragbar. Er gehört seines Amtes enthoben!«, echote Winifred.

Die Schwestern, die ihr Leben der Mildtätigkeit widmeten, waren selten milde in ihrem Urteil.

Daisy gab meist nichts auf das Gerede der Echo-Schwestern. Aber heute entfachten sie ihren Ärger. »Auch unter den Zigeunern stehlen nur die Diebe! Denkt mal darüber nach, liebe Tanten!« Sie knickste schief und folgte Louis rasch ins Haus.

Wie die Tanten dachten viele, und die bunten Wagen wurden als Erstes von den Polizisten durchsucht. Auch einige Dorfbewohner beteiligten sich daran, unter ihnen Willi Hauschka, der Sohn des Rentmeisters.

»Unsere Polizei ist ein Haufen unfähiger Idioten«, beschwerte sich Willi noch zwei Tage darauf bei Louis. Die Jugendfreunde hatten am Tessensee flache Steine aufgelesen und sie über die Oberfläche tanzen lassen, sich danach voll bekleidet ins Wasser gestürzt und waren bis zum Bootshaus um die Wette geschwommen. Jetzt lagen sie nackt auf den sonnenwarmen Stegplanken, während ihre Kleider trockneten.

»Was sollen sie deiner Ansicht nach tun?«, fragte Louis träge. Die Wärme lag angenehm auf seiner Haut und ließ seine Gedanken langsamer fließen.

»Sie hätten sich auch die Häuser im Dorf vornehmen müssen!« Willi setzte sich auf. Er fand noch einen flachen Stein, aber anstatt diesen geschmeidig über die Oberfläche hüpfen zu lassen, schleuderte er ihn wütend ins Wasser.

Louis drehte sich bäuchlings zu ihm. »Komm, Willi«, meinte er beschwichtigend. »Es wurde nur Geld entwendet und kein Mord begangen. Soll die Polizei etwa wie marodierende Soldateska in die Häuser einfallen?«

»Sonst sind die Prügelbullen doch auch nicht zimperlich.«

»Meinst du nicht, du nimmst die Sache ein wenig zu persönlich? Zumal es nicht euer eigenes Geld gewesen ist.« Louis formulierte vorsichtig und sprach in versöhnlichem Ton. Seit Jahresbeginn war zunehmend eine Spannung zwischen ihn und Willi getreten, deren Ursächlichkeit sich ihm entzog. Sie hatten fast ihre gesamte Kindheit gemeinsam verbracht und waren zusammen mit der fast gleichaltrigen Daisy und ihrer Freundin Mitzi auf dem Gut aufgewachsen. Im Sommer badeten sie zu viert im See, stauten Bäche und fingen Kaulquappen, kletterten auf Bäume und bauten sich am Rand der Lichtung der schlafenden Riesen eine Hütte im Wald. Oder Willi und er spielten Banditen, die zwei Prinzessinnen entführten, wobei sie sich meist mit Mitzi in die Haare gerieten, die viel lieber ein Räuber als eine schwache Prinzessin sein wollte, während Daisy dies Joppe wie Hose fand. In den langen Wintern lieferten sie sich ausgelassene Schneeballschlachten, fuhren Schlitten oder liefen Schlittschuh auf dem Tessensee und schlugen Löcher ins Eis, um zu angeln. Sie hingen beisammen wie ein vierblättriges Kleeblatt. Doch als die Schwelle des Erwachsenwerdens näher rückte, gingen die heranwachsenden Jungen und Mädchen immer häufiger getrennte Wege. Willi hatte seinen Anteil an der Entfremdung von den Mädchen, weil er sich darin gefiel, Daisy und Mitzi zu provozieren – fast, als müsse er ihnen gegenüber plötzlich seine Männlichkeit beweisen. Louis sah sich des Öfteren veranlasst, zwischen den dreien zu schlichten.

»Mein Vater ist bestohlen worden!«, riss Willi jetzt Louis rüde aus dessen Gedanken. »Wie zur Hölle sollte ich das nicht persönlich nehmen?« Er sprang auf und fuhr in seine Hose.

»Was tust du?« Louis blinzelte hoch zu seinem Freund, fast ein wenig benommen vom Sommer der Erinnerung.

»Nach was sieht’s denn aus? Ich gehe!« Willi stapfte wütend davon, sodass der hölzerne Steg unter seinen nackten Sohlen erzitterte.

***

Etwa zur gleichen Stunde sah sich Daisy mit dem langjährigen Stallmeister Stanislaus Zisch in eine Auseinandersetzung verstrickt. Der Tscheche hieß nicht wirklich Zisch. Aber sein eigentlicher Name war länger als ein Lindwurm, gespickt mit einer Unzahl von s und z und ein unüberwindliches Hindernis für normale Zungen. Menschen begegnete Zisch grundsätzlich mundfaul, und wenn Worte unvermeidlich wurden, konnte nach seiner Auffassung das Wesentliche auch im Streit gesagt werden. Ein ruhiges Gespräch mit ihm erwies sich genauso als ein Ding der Unmöglichkeit, wie ihn in ein Automobil zu zwingen, die er allesamt für Ausgeburten der Hölle hielt. Er redete im Grunde nur mit seinen Pferden, dies allerdings mit einer erstaunlichen Ruhe und Sanftheit.

In der Pferdewelt galt Zisch als Koryphäe. Sein Ruf reichte weit über Westpommern hinaus, weshalb auch seine beständige Übellaunigkeit in Kauf genommen wurde. Die Besitzer von hoffnungsvollen Pferden nahmen oftmals weite Wege auf sich, um seine Expertise einzuholen. Zisch wusste alles über Pferde, aber nichts über Menschen. Sie waren ihm gleich. Außer, sie störten ihn bei der Arbeit. Dann wurde er ungemütlich.

Daisy mochte den Stallmeister. Sie hatte kaum das Laufen gelernt, da trugen ihre ersten tapsigen Schritte sie in den Stall. Es war Zisch gewesen, der das furchtlose Kleinkind das erste Mal auf den Rücken eines Pferdes hob. Daisy hatte sich an den warmen Pferdeleib geschmiegt und sofort gewusst: Sie gehörte an diesen Ort. Sie wollte unter diesen scheuen, sanften Geschöpfen leben, ihrem leisen Schnauben lauschen und sich in ihren Frieden hüllen. Vielleicht bestand darin das höchste Maß des Glücks: etwas zu finden, nach dem man nicht gesucht hatte, und plötzlich wurde man Teil eines Wunders. Daisy war noch viel zu klein, um diese Erfahrung als solches zu begreifen. Dafür gab es Tränen, Schreie und wütendes Strampeln, als Zisch sie wieder herunterheben musste, weil das Kindermädchen, dem Daisy kurzzeitig entwischt war, völlig außer Atem in der Stalltür erschien.

Zisch würde vermutlich nicht einmal unter Folter eingestehen, wie sehr sich Daisy in sein Herz geschlichen hatte, denn sie liebte Pferde, diese sensiblen Geschöpfe, genauso wie er.

Ihr heutiger Streit drehte sich wie so oft um Daisys Stute Nereide, genauer gesagt um deren Ernährung. Zisch vertrat die Meinung, Daisy verwöhne Nereide mit zu vielen Leckerbissen.

»Es war nur ein Apfel. EIN APFEL!«, verteidigte sich Daisy.

»Es geht nicht um Apfel!«, zischte Zisch. »Du dich nie an Stallzeiten halten! Pferde brauchen Ruhe! Keine Störung, wenn fressen!«

So ganz unrecht hatte er da nicht. Zisch, der als Husar lange beim Militär gedient hatte, führte den Stall wie eine Kaserne und hatte feste Besuchszeiten durchgesetzt, an die sich jeder zu halten hatte. Dennoch war Daisy mitten in die Fütterungszeit hineingeplatzt, als die Pferde gerade ihre Extraration Hafer bekamen.

Sie sah ein, dass es wenig Sinn hatte, sich wegen eines Apfels zu zanken. Man konnte ja sehen, wozu das in der Vergangenheit schon geführt hatte … Andererseits wollte sie sich nicht aus ihrem Paradies vertreiben lassen. Daher verlegte sie sich auf ihren treuesten Hundeblick: »Bitte, Zisch, ich war immerhin ganze drei Wochen fort und habe viel nachzuholen. Ich brauche das.«

»Hä? Was?« Zisch kniff ein schwarzes Kieselsteinauge zu.

»Na, die Pferde! Den Geruch nach Stall und Leder und Stroh!« Theatralisch öffnete Daisy die Arme. »Das alles hier!«

Nun verengten sich beide Augen. Für jedermann, der Zisch kannte, das Signal, sich schleunigst außer Reichweite zu begeben. Aber so schnell wollte Daisy nicht klein beigeben. Sie hob kämpferisch ihr Kinn und bot dem Stallmeister Paroli.

Mit einer flinken Bewegung pflückte Zisch von einer nahen Schubkarre einen Pferdeapfel und drückte Daisy das noch dampfende Teil in die verblüffte Hand. »Hier, nimm einfach nächstes Mal Pferdeapfel mit zum Schnüffeln. Und jetzt raus!«

Kapitel 4

Will dir den Frühling zeigen, der hundert Wunder hat.

Der Frühling ist waldeigen und kommt nicht in die Stadt.

Rainer Maria Rilke

Der Winter wich dem Frühling. Während sich in Daisys Wahrnehmung die Zeit in den Herbst- und Wintermonaten verlangsamte und an manchen Tagen zum völligen Stillstand kam, beschleunigten sich die Tage im Frühling in einem Tempo, das sie kaum je Atem schöpfen ließ.

Denn der Frühling bedeutete die geschäftigste Zeit auf dem Hauptgut Tessendorf und den vier angeschlossenen Gütern Molensee, Ohlendorf, Dietzau und Wissow. Die Inspektoren sichteten die Winterschäden und veranlassten die entsprechenden Reparaturen. Die Felder wurden bestellt, es wurde gepflügt, geeggt und die neue Saat ausgebracht. Die Obstbäume wurden geschnitten, die Wälder ausgeholzt, der Fischteich gesäubert. Dreschmaschinen, Traktoren und Zapfwellenbinder wurden generalüberholt und der Stromgenerator in der Mühle durch ein moderneres Modell ersetzt. Der Park erhielt ebenso eine Frühjahrskur, Gärtner schnitten Ilex und Buchsbaum, rechten Laub, harkten Beete und rückten dem Moos zu Leibe. Frühjahrspflanzen, die zur Überwinterung in den Gewächshäusern gelagert hatten, wurden neu in die Erde verbracht. Auch die Menschen reckten sich nun wie das erste Grün, das Licht suchend durch die Erde brach, und sie schmiedeten Pläne für den Frühling und Sommer.

Auf Gut Tessendorf stand in diesem Jahr eine besondere Jubiläumsfeier an. Feste besaßen auf dem Land eine hohe Bedeutung. Sie waren Begegnung, Vergnügen und Belohnung zugleich, es wurden Geschäfte eingefädelt, während man über Politik debattierte und dazu eine Menge Zigarrenrauch in die Luft paffte. Und nicht zuletzt dienten Feste als Heiratsmarkt.

Während die Männer am Festtag bestenfalls den gereinigten Smoking oder die Galauniform hervorholten, ein Bad nahmen, sich rasierten und vielleicht noch die Haare schneiden ließen, löste bei den Damen die Einladung zu einem Ball hektische Betriebsamkeit aus. Bei den Vorbereitungen wurde nichts dem Zufall überlassen. Jede Dame wollte glänzen, und das ging nur in einem neuen Kleid.

Daisys französische Mutter Yvette stellte grundsätzlich hohe Ansprüche an ihre Garderobe. Es genügte ihr nicht, in das nahe gelegene Stettin zu fahren, das über durchaus ansprechende Modesalons verfügte. Selbst die pulsierende Metropole Berlin fand keine Gnade vor ihren Augen. Wenn es um Couture ging, pflegte Yvette zu sagen: »Pah, Berlin? C’est provincial!« Für sie kamen nur die weltbesten Modeschöpfer infrage. Und diese waren nun einmal in ihrer Heimatstadt Paris zu finden. Mindestens zweimal pro Jahr packte sie ihre Koffer für eine Fahrt in die französische Hauptstadt.

Mit der anstehenden Festlichkeit wurde der fünfundsiebzigste Geburtstag von Sybille von Tessendorf, Yvettes Schwiegermutter, begangen. Schon lange vor dem Tod ihres Mannes Wilhelm von Tessendorf im Jahr 1918 hatte Sybille die Zügel des Familienunternehmens, der Stettiner Helios-Werft und Lokomotive AG, übernommen und hielt sie seither fest in der Hand. Anlässlich ihres Jubiläums hatte sich die gesamte Hautevolee aus Gesellschaft und Politik auf Gut Tessendorf angesagt. Und auch wenn es noch nicht von offizieller Seite bestätigt worden war, so galt es doch als ein offenes Geheimnis, dass Reichspräsident Paul von Hindenburg persönlich die Laudatio auf die Vorstandsvorsitzende eines so wichtigen Unternehmens wie die Helios-Werft AG halten würde.

Daisy war die häufigen Reisen ihrer Mutter gewohnt, und die Abschiede wurden ihr versüßt durch die Vorfreude auf deren Rückkehr. Nicht nur, dass es Geschenke geben würde, sie durfte überdies nach Lust und Laune in den neuen Sachen ihrer Mutter stöbern. Daisy hatte noch kaum lesen können, da buchstabierte sie bereits die Namen der berühmtesten Pariser Couturiers und Parfümeure wie Patou, Chanel und Guerlain. Am liebsten mochte sie jedoch einen mit ägyptischen Motiven bestickten Beutel aus Gobelin. Nach der Entdeckung des sagenhaften Grabes des Tutanchamun hatte das orientalische Design die Modewelt im Sturm erobert.

Zu den wundersamen Gaben aus Paris gehörten stets auch luftige Baisers und Macarons aus Mandelmehl, verpackt wie Schmuckstücke in kunstvolle Kartons. Die kleine Daisy naschte für ihr Leben gern.

Nicht jeder im häuslichen Umfeld billigte Yvettes Luxusreisen, und es kam vor, dass Daisy Bemerkungen aufschnappte, in denen die Worte Verschwendung und Vergnügungssucht Erwähnung fanden. Zu den Missgünstigen zählten ihr Halbbruder Hagen, seine Frau Elvira und, o Wunder, die Großtanten Clarissa und Winifred. Deren Lebenselixier bestand vorwiegend aus Mirabellenlikör, Empörung und fortwährendem Geschwätz. So konnten sich die ältlichen Fräuleins auch endlos über die unmöglichen, geklecksten Gemälde echauffieren, die Yvette in Paris erworben hatte und die ihre privaten Räumlichkeiten schmückten. Daisy hingegen liebte diese verrückten Bilder, deren Schöpfer Namen wie Picasso, Braque oder Magritte trugen. Darunter hatten es ihr zwei besonders angetan: Da war zum einen die Frau mit den zwei Gesichtern, die eine Hälfte lachend, die andere weinend, und das hüftlange Haar bestand aus Hunderten winziger blauer Schmetterlinge. Das andere zeigte ein verwundetes Herz, in unzähligen Pünktchen hingetupft unter Verwendung jedes denkbaren Rottons, von der hellen Farbe unreifer Kirschen bis hin zum satten Ton reifer Himbeeren. Es blutete in Richtung Boden, als wollte es aus dem Gemälde verschwinden. Es berührte Daisy schon als Kind bis tief in die Seele hinein, dieses blutende Herz. Wenn sie lange genug davor verharrte, konnte sie es pochen hören, und dann regte sich ihr eigenes Herz in ihrer schmalen Brust und antwortete ihm in stummer Zwiesprache. Als Yvette den Zauber bemerkte, der für ihre Tochter von dem Bild ausging, sagte sie: »Das ist Kunst, Chérie. Kunst muss bewegen. Und manchmal zielt sie dabei mitten in unser Herz.«

Daisys Vater Kuno besaß hierzu keine Meinung, er interessierte sich weder für Kunst noch für Klatsch und zum Leidwesen seiner Mutter Sybille auch nicht für das tessendorfsche Familienimperium. Er hatte im Großen Krieg gekämpft und war als ein anderer Mensch heimgekehrt. Über seine Erlebnisse sprach er nie, aber seither sah er die Welt mit neuen Augen. Als jüngerer Sohn derer von Tessendorf war ihm ursprünglich die Bewirtschaftung der umfangreichen Ländereien bestimmt gewesen, wozu er ein Studium der Forstwirtschaft absolviert hatte. Seiner Neigung für naturwissenschaftliche Forschung widmete er auch fortan sein Leben. Seine besondere Passion galt den Vögeln. Er vermochte Dutzende ihrer Stimmen nachzuahmen. Und ebenso hegte er eine Vorliebe für Insekten und Weichtiere. Seit Kurzem züchtete er Purpurschnecken, von denen er immer welche in einem Marmeladenglas mit sich herumschleppte. Er studierte sie eingehend, um später ein Buch über diese faszinierenden Wesen zu schreiben. Er versuchte sich an vielem. Daisys Vater zog die Stille dem Lärm der Menschen vor und verbrachte viel Zeit in der ehemaligen Hütte des Wildhüters, die er für seine Zwecke hergerichtet hatte. Es gab wenig, was ihn aus seiner selbst gewählten Gelehrtenisolation hervorlocken konnte.

Diskreten oder weniger diskreten Bemerkungen bezüglich der Ausgaben seiner Gattin für Parisreisen, Kunst und Kleider begegnete er mit stets gleichlautender Antwort: »Wenn es ihr doch Freude bereite …« Kuno billigte ausnahmslos alles, was zum Glück seiner zweiten, weitaus jüngeren Frau beitrug.

Und nun wollte seine Frau erstmals die beiden Töchter mit in ihre Heimatstadt nehmen. An einem Tag im April des Jahres 1929 rief Yvette Daisy und Violette zu sich, um ihnen die frohe Botschaft zu verkünden.

Die Schwestern führten spontan einen Freudentanz auf. »Wir fahren nach Paris, wir fahren nach Paris!« Die hellen Mädchenstimmen scheuchten Sybilles Leonberger auf, die bellend in ihren Jubel einstimmten. Das Heidenspektakel schreckte selbst Monsieur Fortuné, Yvettes Mops, auf. Für gewöhnlich der bewegungsfaulste Hund unter der Sonne, bequemte er sich auf die kurzen Beine und steuerte einige gemächliche Pirouetten bei, um sich daraufhin wieder auf dem samtenen Kissen niederzulassen.

Yvette genoss die Unbeschwertheit ihrer Mädchen. Sie verdrängte die trüben Erinnerungen an ihre eigene Jugend in Paris, und bei Tage gelang ihr das mühelos. Nur in manchen Nächten, an der Schwelle zum Morgen, wenn der Mensch am verletzlichsten ist und empfänglich für die Schatten, brachen die früheren Ängste über sie herein. Dann waren ihr die Toten näher als die Lebenden. Aber sie hatte jetzt ein gutes Leben, une bonne vie, und sie gedachte, es mit beiden Händen festzuhalten.

»Maman, bekomme ich ein Ballkleid von Mademoiselle Chanel? Mit einem richtigen Ausschnitt und Handschuhen aus Satin bis zum Ellenbogen? Und bitte, darf ich eine Frisur wie Daisy haben? Ohne Zöpfe und Haarbänder?«, sprudelten Violettes Wünsche aus ihr hervor.

»Wir werden sehen. Aber zuerst müsst ihr mir beide etwas versprechen. Setzt euch.« Yvette wies auf ein zierliches Sofa und nahm selbst in einem elegant geschwungenen Sessel Platz. »Es gibt Regeln, die ihr beide während unserer Reise zu befolgen habt. Das Deutsche Reich hat den Krieg verloren, und in Paris ist das noch nicht vergessen.«

»Was denn für Regeln? Der olle Krieg ist elf Jahre vorüber!« In Violettes Augen war das eine Ewigkeit, und es schien ihr unbegreiflich, was das mit ihr zu tun hatte.

»Hört mir genau zu, mes filles. Es war das Deutsche Kaiserreich in Union mit der Donaumonarchie, die einst diesen furchtbaren Weltkrieg begonnen haben. Es fällt schwer, dies zu vergessen, wenn man Väter, Söhne und Brüder im Krieg verloren hat oder sie als Krüppel nach Hause hat heimkehren sehen. Der Krieg schafft tiefes Leid. Und manchmal entstehen Wut und Hass auf die Verantwortlichen. Darum möchte ich, dass ihr euch in Paris nicht als Deutsche zu erkennen gebt. Während unserer gesamten Reise werden wir Französisch reden. Im Hotel Ritz logiere ich stets unter meinem Mädchennamen Poisson. Als meine Töchter werde ich euch dort ebenfalls unter diesem Namen anmelden. Compris?«

»Ich soll mich als französische Mademoiselle ausgeben? Aber das ist magnifique!«, rief Violette begeistert, sprang erneut auf und drehte sich wie ein Kreisel.

»Das ist kein Spiel, Violette!«, erklärte Yvette streng. »Du wirst dich benehmen und meine Anweisungen befolgen. Du und Daisy, ihr werdet keinen Fuß ohne mich aus dem Hotel setzen. Das müsst ihr mir hier und jetzt versprechen!«

Violette und Daisy sahen sich erschrocken an. So energisch wurde ihre Mutter nur sehr selten, und daher beeilten sie sich, ihr zu versichern, dass sie sich selbstverständlich an die Regeln halten würden.

***

»Marguerite, bitte lege jetzt die Schachtel mit dem Konfekt fort, du hattest bei Weitem genug. Violette, wenn du dein Gesicht noch länger an die Scheibe drückst, wirst du eine platte Stelle auf deiner Nasenspitze behalten«, mahnte Yvette auf Französisch.

»Was?«, entfuhr es Violette prompt auf Deutsch. Sie bemerkte ihren Fauxpas sofort und korrigierte sich: »Comment?«

Ihr Ausrutscher war nicht weiter schlimm, weil sie das Erste-Klasse-Schlafabteil für sich hatten.

»Du musst konzentriert bleiben!«, mahnte Yvette.

»Ja, Maman.« Violette senkte den Kopf, um sich gleich wieder der Aussicht zuzuwenden. Nach einem Tag und einer Nacht im Zug hatten sie nun die Peripherie von Paris erreicht, Orte wie Goussainville, Villiers-le-Bel und Sarcelles glitten vorüber, eine Ansammlung von Bauernhäusern, Scheunen und Kirchen, unterbrochen von frisch bestellten Feldern und Weiden.

Violette zappelte vor Aufregung.

Daisy erging es kaum anders. Sie hatte den Baedeker studiert und sich mit ihrem phänomenalen Gedächtnis, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, den Stadtplan und die Liste der Sehenswürdigkeiten eingeprägt. Durch die Erzählungen ihrer Mutter war die französische Stadt ihrem Herzen schon lange nahe. Dennoch wurde sie nun von dem Gefühl der Vertrautheit überrascht, das der Anblick der ersten Pariser Vororte in ihr auslöste. Als wäre sie schon einmal hier gewesen, als sei dies hier nicht ihr erster Besuch, sondern eine Heimkehr.

Auf ihre Mutter traf genau das zu. Ohnehin ein dem Leben zugewandter Mensch, trat nun ein Leuchten in ihr Gesicht, als hätte sich in ihrem Inneren eine Flamme entzündet. Wie schön meine Maman ist … Yvettes Aussehen, ihr Gespür für Eleganz und Stil riefen allgemein Bewunderung hervor. Doch für das Kind Daisy war ihre Mutter eine sanfte Stimme und warme Haut, Geborgenheit und Urvertrauen. Tiefere Gedanken wie diese bewegten Daisy erst seit Kurzem. Doch sie ertappte sich immer häufiger dabei, auch hinter die Dinge schauen zu wollen.

»Woran denkst du, mon amour?«, erkundigte sich Yvette.

»An dich und wie wunderhübsch du bist, Maman«, bekannte Daisy offen.

»Wie lieb von dir, ma puce«, erwiderte sie. Ma puce, mein Floh. Weil Daisy als Kind niemals hatte still sitzen können. Nun ja, sehr viel hatte sich seitdem nicht geändert.

»Ich wünschte, ich wäre so schön wie du, Maman«, brach es da aus Violette heraus. Anders als ihre Schwester Daisy war sie nicht mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein gesegnet. Violette geriet in letzter Zeit allzu schnell aus der Fassung, reagierte aufmüpfig, wollte alles auf einmal, stand sich selbst im Weg, verhedderte sich im Überschwang der Gefühle, wollte und wollte … Ja, was wollte sie überhaupt?

»Aber mon cher enfant, du bist hinreißend!«, erwiderte Yvette zärtlich. »Sieh nur deine Haut! Wie aus Sahne! In deinem Alter hatte ich ein Gesicht voller Pusteln und bin nur so herumgelaufen.« Yvette zog ihren modischen Topfhut bis unter die Nase, sodass lediglich ihr kirschroter Mund darunter hervorlugte.

»Und ich habe diese doofen Sommersprossen! Und den Leberfleck an der Wange.« Auch Daisy zog nun ihren Hut tief ins Gesicht. Violette kicherte. So rasch, wie sie aus dem Lot geriet, fand sie auch wieder zu sich selbst zurück.

»Mädchen, schaut doch! Wir fahren schon durch Saint-Denis! Willkommen in Paris!«, rief Yvette mit derselben Aufregung, die ihre Töchter empfanden.

Kurz darauf ruckelte der Zug in den Pariser Bahnhof Gare du Nord, und kaum eine Stunde später nahmen sie Quartier im Hotel Ritz am Place Vendôme. Daisy und Violette hatten bereits im luxuriösen Berliner Adlon gewohnt, kannten die mondänen Bäder an der Ostsee genauso wie die alte Kaiserstadt Wien und das goldene Prag. Aber das hier war Paris! Das pulsierende Herz von Kunst, Kultur und Mode, ein Mythos, der die berühmtesten Künstler und Literaten dieser Erde anzog und inspirierte. Paris war mehr als eine gewöhnliche Ansammlung von Straßen und Gebäuden, Paris war ein Versprechen. Dazu lag über der Stadt der Frühling und setzte einen besonderen Zauber frei: l´amour.

Yvette bat ihren Fahrer, einen kleinen Umweg über die Champs-Élysées zu nehmen, um den Mädchen Napoleons Triumphbogen zu zeigen, der zwar nicht ganz so breit war wie das Brandenburger Tor, dafür aber mit doppelter Höhe prunkte. Sie drehten dazu eine Runde um den Place de la Concorde, in dessen Mitte der Obelisk von Luxor in den Himmel ragte, und von dort erhaschten sie auch einen ersten Blick auf die Lebensader der Pariser, die Seine, auf der sich eine große Anzahl Kähne und Boote tummelte. Sofort bestürmten Daisy und Violette ihre Mutter, eine Flussfahrt zu unternehmen. Doch die Seine und ihre Boote rückten gleich wieder in den Hintergrund, als sich vor ihren Augen die Umrisse des Eiffelturms abzeichneten.

Hatten sich Violette und Daisy schon im Zug die Nasen platt gedrückt, so fühlten sie sich nach der Fahrt in der Limousine wie trunken von all den Sehenswürdigkeiten, von denen sie bisher nur gehört oder gelesen hatten.

Ihre Mutter lächelte. Niemand konnte Wirkung und Anziehungskraft von Paris besser nachvollziehen als sie. Paris, das war Magie.

Kapitel 5

Die mutigste Handlung ist immer noch, selbst zu denken. Laut!

Coco Chanel

Der Eiffelturm musste vorerst warten.

Rue Cambon 31 war das erste Ziel, das Yvette dem Fahrer am folgenden Morgen nannte. Dort befanden sich die Ateliers von Gabrielle Chanel, Yvettes bevorzugter Modeschöpferin. Mademoiselle Chanel oder Coco, wie sie sich selbst nannte, hatte die Mode revolutioniert und die Frauen von ihren Miederzwängen befreit. Sie schenkte ihnen eine neue Form der Körper- und Bewegungsfreiheit. Jahrhundertelang hatten die Frauen sich gesellschaftlichen Normen unterworfen, sich in Korsette zwingen lassen und dabei vergessen, dass es nichts gab, was die Freiheit ihres Denkens einschränken konnte – niemand, außer die Frauen taten es selbst.

Die drei Tessendorf-Damen verbrachten den gesamten Vormittag in der Rue Cambon. Grazile Mannequins führten ihnen die neueste Kollektion vor, und Yvette traf ihre Auswahl unter den Tageskleidern und Kostümen. So unvergleichlich schön die gezeigten Modelle waren, Daisy und Violette warteten in fiebriger Erregung auf den Durchgang mit der Abendmode. Beim Frühstück hatte ihre Mutter die Bombe platzen lassen: Anlässlich des Geburtstagsballes ihrer Großmutter würden auch sie beide das erste Mal Pariser Couture tragen!

Nachdem das letzte Modell an ihnen vorbeidefiliert und hinter dem samtenen Vorhang verschwunden war, begann die Beratung. Mademoiselle Chanel skizzierte einige Vorschläge für sie und nahm anschließend selbst Maß.

Daisys Taille, sie hatte es bereits befürchtet, ließ zu wünschen übrig. Zwischen der ihrer Schwester und ihrer eigenen lagen vierzehn Zentimeter! Daisy schielte zu der verspiegelten Theke hinüber, auf der eine kleine Auswahl mit Leckerbissen für die Kundinnen bereitstand. Immer, wenn sie sich vor der Aufmerksamkeit ihrer Mutter sicher wähnte, hatte sie sich bedient. Beschämt dachte sie an das zweite Croissant, das sie in ihrer Handtasche aus dem Hotel herausgeschmuggelt und erst vorhin in der Garderobe verputzt hatte. Daisy verfluchte ihren ständigen Appetit und ihre mangelnde Disziplin. Dabei begegnete sie den aufmerksamen Augen der Modeschöpferin und fand einen Hauch von Belustigung darin. Chanels Stimme allerdings war davon nichts anzumerken, als sie ihr versicherte: »Keine Sorge, Mademoiselle Marguerite, Rundungen sind immer en vogue. Ich werde für Sie ein Kleid entwerfen, das Ihre Figur umschmeicheln wird wie Wasser! Jede Frau ist schön, wenn sie sich ihrer selbst gewiss ist und den Kopf hoch trägt.«

Daisy erlag sofort der Faszination dieser Frau. Wie sicher und selbstbewusst die Chanel auftrat, mit einer Zigarette im Mundwinkel, so, als würde sie niemals an sich zweifeln! Sie verdiente ihr eigenes Geld und behauptete sich in einer Welt, in der die Männer seit jeher die Regeln bestimmten.

Am Ende des Tages erwarb Daisy bei Mademoiselle Chanel mehr als nur eine neue Garderobe. Sie nahm vor allem die Erkenntnis mit, dass es keine Grenzen gab, außer, man setzte sie sich selbst.

Sie verließen das Modeatelier und ergatterten den letzten Tisch in einem Straßencafé an der Rue Saint-Honoré. Das milde Wetter lockte halb Paris auf die Straßen. Yvette bestellte café, der in winzigen Tassen serviert wurde, dazu amuse-bouches: duftiges, ofenwarmes Baguette, drei Sorten Paté und ein Töpfchen schwarze Oliven. Daisys Hand fasste sofort nach einem der köstlichen Appetithäppchen, aber ihre Mutter hinderte sie daran durch einen leichten Klaps ihres Fächers: »Von wegen. Nicht eine Olive! Du bist bis heute Abend auf Diät gesetzt.«

»Aber Maman!«, protestierte Daisy. »Es ist Mittagszeit, und ich bin hungrig!«

»Du hattest schon bei Weitem genug, Chérie. Denk nicht, mir sei entgangen, dass du heute früh das halbe Buffet leer geräumt hast. Vom Croissant in deiner Handtasche will ich gar nicht erst sprechen. Bon sang, du musst über den Magen eines Wals verfügen …« Yvettes Stimme klang sanft wie eh und je, umso gewichtiger wog darin der Tadel. Daisy seufzte, trank ihren café und beschränkte sich darauf, ihre Umgebung zu bestaunen: Sie fand sich in jener Verzauberung gefangen, in dem sich alles im perfekten Einklang fand. Als sei die Welt über Nacht schöner geworden.

Und während in Tessendorf eben erst die Tulpen ihre Kelche öffneten, blühten in Paris entlang der Boulevards bereits die Kastanien schaumweiß, und ihr betörender Duft erschien Daisy so weich wie die Seide in den Ateliers von Mademoiselle Chanel. Auf den Bürgersteigen tummelten sich die Passanten, und gerade lenkten zwei berittene Gendarmen Daisys Blick auf sich, weil die Pferde sie sofort an Nereide denken ließen. Immerhin wusste sie ihre seit Kurzem trächtige Stute zu Hause bei Zisch in den besten Händen. Mit einem kleinen Lächeln folgte sie dem Weg einer jungen Bediensteten mit weißer Schürze und Häubchen, die einen kunstvoll getrimmten weißen Pudel an der Leine führte. Beide, Spaziergängerin und Tier, hielten den Kopf stolz erhoben, was Daisy an die Worte von Mademoiselle Chanel erinnerte, dass jede selbstbewusste Frau schön sei. Daisy straffte sich, reckte das Kinn und fühlte sich … schön. Prompt errang sie die Aufmerksamkeit eines jungen Schornsteinfegers, der fröhlich pfeifend seine Leiter schulterte. Als er Daisy bemerkte, zog er seinen Zylinder mit großer Geste und zwinkerte ihr völlig ungeniert zu. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte ein Musiker sein Akkordeon ausgepackt und stimmte ein Chanson an. Am nachhaltigsten beeindruckten Daisy jedoch die zahllosen schicken Pariserinnen, Frauen von scheinbar müheloser Eleganz, denen es gelang, am Arm ihres Kavaliers aufzutreten, als verkündeten sie: »Oui, du darfst mich begleiten, aber die Richtung bestimme ich.«

Daisy wünschte, ihre Freundin Mitzi könnte jetzt hier sein und dieses Erlebnis mit ihr teilen. Doch Mitzi konnte weder mit ihr ausreiten noch mit ihr durch die Straßen flanieren, sie konnte keine Kleider im Atelier Chanel anprobieren oder mit ihr den Eiffelturm besichtigen. Denn Mitzi war auf Gut Tessendorf das Küchenmädchen, und Küchenmädchen reisten nicht nach Paris.

Daisy selbst bedeutete der Standesunterschied nichts. Die schlaue Mitzi hingegen wusste, dass man sich nur Schwierigkeiten einhandelte, wenn man sich zwischen den Welten bewegte.

Daisys Aufmerksamkeit wurde nun auf einen der Cafétische gelenkt, der eben frei wurde und sogleich wieder von vier Personen belegt war. Die neuen Gäste trugen schicke Anzüge mit Krawatte und Hut, zündeten sich sofort Zigaretten an und lehnten sich mit unübertroffener Nonchalance in ihren Stühlen zurück, als sei es ihre Raison d’être, hier zu sitzen und ihre Gauloises zu paffen. Daisy blinzelte. Einmal, zweimal, bis ihr aufging, dass es sich durchweg um Frauen handelte. Natürlich, dies waren echte Garçonnes! Frauen, die auf Heirat und Mutterschaft pfiffen und ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben führten.

Eine der Garçonnes hob ihr Monokel und musterte Daisy, als wollte sie ihr zurufen, bonjour, du lustiger kleiner Vogel.

Daisy schämte sich, weil sie beim Starren erwischt worden war. Neben ihr stieß Violette sie an. »Hast du die gesehen?«, wisperte sie. »Die sind aber komisch gekleidet. Und die eine trägt sogar Bart!«

Daisy, erpicht, ihr Wissen weiterzugeben, erklärte ihr, dies seien Garçonnes, die ihre traditionelle Rolle als Frau ablehnten.

»Verstehe ich nicht«, meinte Violette. »Sie lehnen die Männer ab, um sich dann wie sie anzuziehen und Bärte anzukleben?«

Yvette hatte es gehört und lachte herzlich. »Mon amour«, sagte sie, »das Konzept der Freiheit ist selten einfach und die Forderung danach stets ein zweischneidiges Schwert. Der Franzose kann davon ein Lied trällern.«

»Was?«, fragte Violette irritiert.

»Es geht um Mut, Epinette, nicht um Gleichheit.«

»So ist es!«, ergänzte Daisy eifrig. »Garçonnes tragen Männeranzüge, um zu zeigen, dass jeder Mensch das sein kann, was er gerne sein möchte.«

»Also, ich will ganz sicher eine Frau sein und schöne Kleider tragen«, erklärte Violette. »Und ich habe bestimmt nicht vor, mir einen Bart sprießen zu lassen.«

Bevor die drei Tessendorf-Damen in ihr Hotel zurückkehrten, unternahmen sie noch einen ausgedehnten Spaziergang. Daisy hatte es bereits im Atelier bereut, dass sie am Morgen ihre nagelneuen Spangenschuhe angezogen hatte. Zu ihrem Glück gab es auf dem Weg alle naselang etwas zu bestaunen, was ihre energische Mutter daran hinderte, ihr übliches Tempo vorzulegen.

Die Sonne vergoldete bereits die Dächer von Paris, als sie ins Ritz zurückkehrten. Heute würden sie auswärts dinieren. Während sich ihre Mutter zum Umkleiden in den eigenen Schlafraum zurückzog, begaben sich die Schwestern in ihr gemeinsames Zimmer. Paris bei Nacht, da wollten sie beide glänzen. Jedes mitgebrachte Kleidungsstück wurde hervorgezerrt und einer kritischen Betrachtung unterzogen. Nicht lange, und der gesamte Inhalt ihres Überseekoffers ergoss sich wie ein bunter Wasserfall über das Bett, Strümpfe und Strumpfgürtel baumelten malerisch von Stuhllehnen, Hüte und Taschen besetzten den Rest. Violette hüpfte leicht bekleidet durchs Zimmer, kramte hier, kramte dort, um zuletzt eine hektische Suche in Daisys Schminkköfferchen zu beginnen.

»Wo ist dein rosa Lippenstift?«

»In meinem ägyptischen Beutel.« Daisy saß im Frisiermantel vor dem Spiegel und bürstete ihre Locken.

»Und wo ist der?«

Daisy zuckte mit den Schultern und deutete vage zum Badezimmer. Violette fand das Gesuchte, öffnete die Verschnürung und rief: »Igitt, der ist ja voller Krümel!« Ungeachtet dieser Tatsache kippte sie den Inhalt auf das Bett. Neben einem schmalen Büchlein purzelten eine bestickte Börse, ein Taschentuch, ein paar Münzen, Haarspangen und Bonbonpapier heraus sowie Daisys Talisman, der rostige Hufnagel ihres Ponys Fee.

»Wirklich, Daisy«, schalt Violette, »das ist keine Handtasche, das ist eine Müllhalde! Und kein Lippenstift!«

»Oh, da fällt mir ein, ich habe ihn schon herausgenommen. Er liegt hier auf dem Schminktisch.«

Violette tauchte hinter ihrer Schwester im Spiegelbild auf. »Ach«, seufzte sie herzergreifend, »ich würde alles für deine dichten Locken geben! Mein Haar ist nur dünn und glatt. Ich sehe aus wie ein Dackel.«

»Was für komische Einfälle du immer hast!«, rief Daisy betont munter, um ihre Schwester aufzuheitern. »Ich würde sofort mit deinem glatten Haar tauschen. Dann hätte ich es mir längst zu einem Bubikopf kürzen lassen. Aber mit meinem widerspenstigen Gekringel sähe ich dann aus wie ein Staubwedel. Und schau nur, wie grazil deine Taille ist!«, seufzte Daisy. Sie griff mit Daumen und Zeigefinger in ihr eigenes Bauchröllchen.

»Aber das könntest du schnell ändern und den Speck loswerden, wenn du weniger in dich hineinstopfen würdest! Mein Haar hingegen«, Violette fasste nach einer Strähne und hielt sie demonstrativ hoch, »bleibt fad, wie es ist. Und das ständige Hantieren mit dem Brenneisen macht es bestimmt nicht besser. Kein Mann wird sich je für mich interessieren. Alle drehen sich immer nur nach dir und Mutter um!«

»Das redest du dir ein, Violette. Wenn du weniger mit dir selbst beschäftigt gewesen wärst, hättest du gestern bemerkt, dass der Liftboy bei unserer Ankunft kaum die Augen von dir hat wenden können. Er hat dich geradezu angeschmachtet.«

»Der Liftboy? Pah, was soll ich denn mit einem Liftboy?« Violette schüttelte den Kopf, als sei ihre Schwester nicht ganz bei Trost. Doch bevor sie sich abwandte, sah Daisy, dass ihre Worte auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Im Mundwinkel ihrer Schwester nistete ein winziges, verträumtes Lächeln.

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Die Pariser liebten die Intimität kleiner, verräucherter Restaurants. Die Brasserie La Coupole stellte allerdings das genaue Gegenteil dar. Inmitten des trubeligen Künstlerviertels Montparnasse gelegen, galt das größte Lokal von Paris als Tempel des Art déco, und sein Name war Programm: Zwar speiste man als Gast nicht unter einer Kuppel, aber der spektakuläre, zwei Stockwerke hohe Raum wusste diese Illusion dennoch zu erzeugen. Das Etablissement hatte seine Tore erst im Vorjahr geöffnet und zog die Kulturschaffenden jeglicher Couleur an – Literaten, Musiker und selbstverständlich die zahlreichen Maler des Montparnasse, die erfolgreichen und die erfolglosen, von denen nicht wenige an den grün gestrichenen Wänden Nachweise ihres künstlerischen Schaffens hinterlassen hatten. Es wurde gemunkelt, dass die beiden Inhaber Fraux und Lafon so manches Bild im Austausch für Speis und Trank erhielten.

Der Ober trug Frack und ein bleistiftdünnes Lippenbärtchen und geleitete sie mit den Bewegungen eines Dirigenten zum Tisch. Sie bestellten Meeresfrüchte, dazu Weißwein und als Aperitif Champagnercocktails. Ein Kellner rollte einen Servierwagen vorbei, auf dem sich Teller mit Profiteroles türmten. Die leckere Nachspeise verlockte Daisy. Rechtzeitig besann sie sich jedoch ihrer eigenen Röllchen und sah sich zur Ablenkung weiter verstohlen um. Dies sollte ein Speiserestaurant sein? Es kam ihr vielmehr vor, als hätten sie eine große Theaterbühne betreten, auf der sich die Darsteller gegenseitig an Exotik und Sinnesfreuden übertrafen. Zwei Tische weiter küsste sich eben ein junges Paar ungeniert vor aller Augen. Eine solche Freizügigkeit wäre auf einer Gesellschaft zu Hause unvorstellbar gewesen. Die anwesenden Herren bevorzugten Smoking oder weiße Anzüge und paradierten nicht wie daheim in Uniform, die Damen kleideten sich in raffinierte Roben. Daisy saugte alle Eindrücke gierig in sich auf, bis ihre Mutter Yvette sich zu ihr hinüberbeugte und, ihre Lippen wegen des hohen Geräuschpegels sehr nah an Daisys Ohr, sagte: »Starr die Leute nicht so an, Chérie!«