How to Be Perfect - Michael Schur - E-Book

How to Be Perfect E-Book

Michael Schur

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Beschreibung

Was heißt es, ein guter Mensch zu sein? Wie treffen wir die moralisch richtigen Entscheidungen? Die unterhaltsamste Einführung in die Ethik, seit es Menschen gibt, von Sitcom-Genie und Drehbuchautor Michael Schur. - Von Deontologismus bis Utilitarismus: die Lösung für jedes moralische Dilemma - Wie wir alle zu perfekten oder zumindest guten Menschen werden - Entscheidungen und Handlungen reflektieren: warum Fehler dazu da sind, um aus ihnen zu lernen - Philosophisches Wissen aus 2400 Jahren: beim nächsten Partytalk smart erscheinenDarf ich ein Kunstwerk bewundern, obwohl der Künstler ein schlechter Mensch war? Wieviel Geld sollte ich an Wohltätigkeitsorganisationen spenden? Warum sollte ich meinem Gegenüber nicht grundlos ins Gesicht schlagen? Die Welt wird immer komplexer, die ethisch richtigen Entscheidungen zu treffen immer schwieriger. Wie kann es im 21. Jahrhundert dennoch gelingen, ein guter Mensch zu sein? Und warum sollten wir das wollen? Mit viel Humor und Tiefgang liefert Sitcom-Genie Michael SchurAntworten: Er zieht das gesammelte Wissen kluger Philosophen aus drei Jahrhunderten heran, um existentielle Fragen zu erörtern und moralische Dilemmata aufzulösen. Eine Einführung in die Ethik voller Esprit und Witz, die uns ganz nebenbei zu besseren Menschen macht. »Liebenswürdig, wohlüberlegt und unglaublich witzig.« Steve Carell

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Seitenzahl: 468

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Michael Schur

How to Be Perfect

Die Antwort auf (fast) jede moralische Frage

Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Röser

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Was heißt es, ein guter Mensch zu sein? Wie treffen wir die moralisch richtigen Entscheidungen? Die unterhaltsamste Einführung in die Ethik, seit es Menschen gibt, von Sitcom-Genie und Drehbuchautor Michael Schur.

Von Deontologismus bis Utilitarismus: die Lösung für jedes moralische Dilemma

Wie wir alle zu perfekten oder zumindest guten Menschen werden

Entscheidungen und Handlungen reflektieren: warum Fehler dazu da sind, um aus ihnen zu lernen

Philosophisches Wissen aus 2400 Jahren: beim nächsten Partytalk smart erscheinen

Darf ich ein Kunstwerk bewundern, obwohl der Künstler ein schlechter Mensch war? Wie viel Geld sollte ich an Wohltätigkeitsorganisationen spenden? Warum sollte ich meinem Gegenüber nicht grundlos ins Gesicht schlagen? Die Welt wird immer komplexer, die ethisch richtigen Entscheidungen zu treffen immer schwieriger. Wie kann es im 21. Jahrhundert dennoch gelingen, ein guter Mensch zu sein? Und warum sollten wir das wollen? Mit viel Humor und Tiefgang liefert Sitcom-Genie Michael Schur Antworten: Er zieht das gesammelte Wissen kluger Philosophen aus drei Jahrhunderten heran, um existentielle Fragen zu erörtern und moralische Dilemmata aufzulösen. Eine Einführung in die Ethik voller Esprit und Witz, die uns ganz nebenbei zu besseren Menschen macht.

 

»Liebenswürdig, wohlüberlegt und unglaublich witzig.« Steve Carell

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Widmung

Einleitung

Bevor wir loslegen noch ein paar Fragen, die sich Leser*innen vielleicht stellen:

Teil eins

Erstes Kapitel: Soll ich meinem Freund grundlos eine reinhauen?

»Ein Fluss aus Gold«

Und wann kommt die Haltestelle »Guter Mensch«?

Was sind Tugenden?

Woher kriegen wir diese Tugenden?

»Wann haben wir diese Tugenden wirklich ›erlangt‹?«

Die goldene Mitte: Wie man weniger nervtötend wird

Ein guter Rat: unnötige Grausamkeit vermeiden

Zweites Kapitel: Soll ich zulassen, dass diese außer Kontrolle geratene Straßenbahn, die ich steuere, fünf Menschen totfährt, oder soll ich einen Hebel umlegen und damit vorsätzlich eine (andere) Person töten?

Utilitarismus – alles dreht sich ums Ergebnis

Nein. Utilitarismus ist (in vielen Fällen) nicht die Antwort

Zwei weitere Probleme des Utilitarismus’: Hedonisten und Killersheriffs

Genug auf dem Utilitarismus herumgehackt – blicken wir auf das Positive!

Drittes Kapitel: Soll ich meine Freundin anlügen und ihr sagen, dass mir ihre hässliche Bluse gefällt?

Der kategorische Imperativ: die deutscheste Idee aller Zeiten

Der kategorische Imperativ II: Wenn das Sequel ausnahmsweise mal besser ist als das Original

Die richtige Maxime finden: beinahe unmöglich

Dürfen wir nicht mal einen Mörder anlügen?

Viertes Kapitel: Muss ich meinen Einkaufswagen in dieses Einkaufswagenstationsdings zurückbringen? Ich meine, das ist ganz da hinten …

Also bitte, seid vernünftig

Okay, schon kapiert. Jetzt sag mir einfach, ob ich den verdammten Einkaufswagen zurückbringen muss. Bitte. Ich hab’s eilig

»Ich bin, weil wir sind«

Nur das Nötigste tun: für manche (offenbar) immer noch zu viel

Teil zwei

Fünftes Kapitel: Soll ich in ein brennendes Haus laufen und versuchen, die Eingeschlossenen zu retten?

Moralische Perfektion: eine Mahnung zur Vorsicht

Opfere nicht dein ganzes Leben für irgendeinen Violinisten

Sechstes Kapitel: Ich habe gerade etwas Selbstloses getan. Was springt für mich dabei raus?

Der unstillbare Durst der Menschheit nach goldenen Orden

Punkt für die Utilitaristen

Ein philosophischer Eintopf

Siebtes Kapitel: Ja, ich habe dein Auto angefahren. Aber scherst du dich überhaupt um Hurrikan Katrina?

Okay, ich hab’s verbockt, aber was ist mit den ganzen Sachen, die du verbockt hast?

Will mir hier irgendjemand zur Seite springen?

Achtes Kapitel: Wir haben ein paar gute Taten vollbracht, reichlich Geld für gute Zwecke gespendet und sind im Allgemeinen wirklich nette und moralisch anständige Menschen – dürfen wir uns dafür drei kostenlose Käseproben vom Kostenlose-Käseproben-Teller im Supermarkt nehmen, obwohl auf dem Schild steht: »Nur ein Stück pro Kunde«?

Moralische Erschöpfung: Der wichtigste Begriff, den ihr in diesem Buch lernen werdet

Moralisches »Fünfe gerade sein lassen«

Schlechte Autorin, noch schlechtere Philosophin

Schwarzfahrende Ninjas: ein Fallbeispiel

Kleines Opfer, große Belohnung

Teil drei

Neuntes Kapitel: Du hast ein neues iPhone? Wie toll. Wusstest du, dass in Südasien Millionen von Menschen hungern?

Jedes Paar Slipper ist ein Menschenleben: Die Geschichte des Peter Singer

Der nervigste Fehler in unserer Zeit: gut gemeint und schlecht gemacht

Zehntes Kapitel: Dieser Burger ist ethisch problematisch. Aber er ist auch ziemlich lecker. Darf ich ihn noch essen?

Nette kleine moralische Überraschung: Alles, was wir lieben, ist schlecht

Erstes Szenario: Die Katze kann das Mausen lassen, tut es aber nicht

Szenario 2: Die Katze kann das Mausen nicht lassen, oder vielleicht ist sie bloß nie dazu gekommen und inzwischen tot

Die Verteidigungsstrategie »übrig gebliebenes Hähnchennugget«

Wenig überraschend: Snyder verliert schon wieder

Elftes Kapitel: Ethische Entscheidungen sind so schwierig. Können wir sie nicht einfach … nicht treffen?

Jean-Paul Sartre, berühmter Optimist

Albert Camus, der nicht-existenzialistische Existenzialist

»Wir hatten keine Wahl!«

Ich habe einem Barista siebenundzwanzig Cent Trinkgeld gegeben, und jetzt brüllen mich auf X alle an, nur weil ich Milliardär bin! Da kann ich ja nicht mal mehr das Butterkrebssushi genießen, das mein Privatkoch für meinen Luftschifftrip zu den Niederländischen Antillen zubereitet hat! Das ist doch nicht fair!!

Das Leben ist hart (für manche mehr, für manche weniger)

Das Losglück

Die Glücksgötter fordern Tribut

Der Schleier des Nichtwissens: Schaffen wir etwas fairere Bedingungen

Vergesst niemals das Portal

Dreizehntes Kapitel: Ich hab Mist gebaut. Muss ich um Entschuldigung bitten?

Jetzt kommt der Teil mit den vielen Schimpfwörtern (aus gutem Grund)

Zum Schluss: Also, Kinder: Was haben wir gelernt?

Danksagung

Diese Geschichte geht uns alle an.

Albert Camus, Die Pest

Mach es so gut, wie du kannst, bis du es besser weißt. Wenn du es besser weißt, mach es besser.

Maya Angelou

Vor Zigtausenden Jahren, nachdem der primitive Mensch die Grundlagen in Sachen Evolution, Feuer zähmen, gegen Tiger kämpfen und so was erledigt hatte, fing irgendwo eine kleine Gruppe von Menschen an, von Ethik zu reden. Sie setzten einen Teil ihrer kostbaren Zeit und Energie dafür ein, sich mit der Frage zu befassen, warum Menschen Dinge tun, und suchten nach Wegen, wie sie diese Dinge besser, gerechter und fairer tun könnten. Ihre Worte wurden von anderen Menschen aufgegriffen und dann wieder von anderen, und immer so weiter, bis zum heutigen Tag – was bedeutet, dass auf dieser Welt seit Zigtausenden Jahren ununterbrochen ein sehr langes Gespräch über Ethik geführt wird.

Die meisten Menschen, die ihr Leben diesem Gespräch widmeten, taten das nicht für Geld, Ruhm oder Ehre – wenn man es darauf abgesehen hat, ist die akademische Welt (genauer gesagt, die Philosophie) nicht unbedingt der beste Ort. Sie taten es, weil ihnen Ethik etwas bedeutete. Weil sie überzeugt waren, dass es sich lohnt, den grundlegenden Fragen darüber nachzugehen, wie wir uns auf der Erde verhalten sollen, um für uns und für alle anderen bessere Wege zu finden und zu beschreiben. Dieses Buch widme ich in größter Dankbarkeit allen, die sich an diesem bemerkenswerten und zutiefst menschlichen Gespräch beteiligt haben.

Außerdem widme ich es J.J., William und Ivy, die mir am meisten bedeuten.

Einleitung

Heute habt ihr den Entschluss gefasst, gute Menschen zu sein.

Den Grund dafür kennt ihr selbst nicht so genau – ihr seid einfach heute Morgen voller Kraft, Elan und Optimismus aufgewacht, obwohl es die Welt doch auf Teufel komm raus darauf anzulegen scheint, euch die Laune zu verderben, und als ihr aus dem Bett sprangt, wart ihr entschlossen, heute ein kleines bisschen besser zu sein als gestern.

Das sollte ja wohl nicht allzu schwer sein. Ihr bräuchtet nur ein paar Kleinigkeiten an eurer Lebensweise zu ändern. Ihr geht aus dem Haus und seht einen Plastikbecher auf der Straße liegen, ihr hebt ihn auf und werft ihn in einen Abfalleimer. Das ist ein gutes Gefühl. Gestern wärt ihr an dem Müll vielleicht einfach vorbeigegangen, aber nicht mehr heute! Heute seid ihr bessere Menschen. Im Supermarkt greift ihr ein bisschen tiefer in die Tasche, um Eier aus Freilandhaltung und Milch von anständig behandelten Kühen zu kaufen. Der Gedanke an die Kühe, die auf einer Weide glücklich Biogras wiederkäuen, statt in Anbindehaltung eingepfercht zu sein, bringt euch zum Lächeln. Dann fällt euch ein Artikel über die Auswirkungen der Rindfleischproduktion auf den Klimawandel ein, den ihr gelesen habt, woraufhin ihr sogar das Rinderhack links liegen lasst und stattdessen Gemüsebratlinge mitnehmt. Jetzt sind die Kühe sogar noch glücklicher, sie sind nämlich nicht tot.

Ihr macht das ganz toll heute. Euer neues Ich rockt total.

Ihr joggt noch eine flotte Runde um den Block (wegen der Gesundheit), helft einer alten Dame über die Straße (wegen der Freundlichkeit), seht euch eine Dokumentation an (wegen des Wissens) und lest die Nachrichten (wegen der bürgerlichen Pflichten). Was für ein fantastischer Tag.

Aber dann liegt ihr im Bett und starrt an die Decke. Irgendetwas macht euch zu schaffen. Wie viel »Gutes« habt ihr denn tatsächlich bewirkt? Ihr hattet das Gefühl, etwas Gutes zu tun, aber letztes Jahr hattet ihr ja auch das Gefühl, es wäre okay, bei der Weihnachtsfeier im Büro diesen Hut mit Zebraprint zu tragen, und wir wissen alle, wie das ausgegangen ist.

Jetzt stellt euch mal vor, ihr könntet die Gute-Taten-Buchhalterin des Universums anrufen und einen umfassenden, in Zahlen abgefassten Bericht darüber anfordern, wie gut ihr wart. Sie tippt die Daten eures »Tages der guten Taten« in den Computer ein, und als er das Ergebnis ausspuckt, hat sie schlechte Nachrichten für euch.

Der Plastikbecher, den ihr in den Müll geworfen habt? Landet am Ende im Meer und wird Teil einer Müllinsel so groß wie der Bundesstaat Texas, die alles Leben im Pazifischen Ozean bedroht. (Darüber habt ihr vor dem Schlafengehen etwas in den Nachrichten gelesen, aber nicht gedacht, dass das irgendetwas mit euch zu tun haben könnte.) Die Gemüsebratlinge wurden von sehr weit weg in den Supermarkt bei euch um die Ecke geliefert und haben daher einen mächtig großen CO2-Fußabdruck, und die Kühe, die ihr euch vorgestellt habt, stehen in Wirklichkeit doch eingepfercht in einem Stall, weil die juristischen Definitionen von »bio« und »Weidehaltung« nämlich erbärmlich lasch sind, was wir einer obskuren, von Agrarlobbyist*innen verfassten Gesetzgebung verdanken. Es sind traurige Kühe.

Es wird noch schlimmer: Eure Joggingschuhe stammen aus einer Fabrik, in der die Arbeiter*innen nur vier Cent pro Stunde bekommen. Der Filmemacher, dessen Doku ihr euch angesehen habt, ist ein perverser Widerling und schnüffelt in der U-Bahn an den Haaren von Fremden – gut gemacht, ihm ’nen Zehner zuzuschustern –, und der Streamingdienst, auf dem die Doku lief, gehört zu einem multinationalen Mischkonzern, der unter anderem Killerdrohnen für die nordkoreanische Luftwaffe produziert. Ach ja, und die alte Dame, der ihr über die Straße geholfen habt, sammelt Nazi-Memorabilia. »Aber sie sah so nett aus«, sagt ihr. Von wegen. Heimlicher Nazi. Sie war sogar gerade unterwegs, um sich neuen Nazi-Kram zu kaufen – dafür habt ihr sie über die Straße begleitet.

Na toll. Jetzt fühlt ihr euch mies. Ihr wolltet gut sein – im Rahmen eurer bescheidenen Möglichkeiten –, und die Welt hat euch eins auf die Nase gegeben. Und ihr seid wütend. Immerhin habt ihr es gut gemeint und euch Mühe gegeben – das sollte doch etwas wert sein, oder etwa nicht? Obendrein seid ihr entmutigt. Wesentlich mehr zu tun, könnt ihr euch nicht leisten, weil ihr nämlich keine Milliardäre seid, die einfach eine riesige Stiftung gründen können. Und wer hat schon die Zeit, das Geld und die Energie, über Ethik nachzudenken, wo wir uns im Alltag schon mit so viel Zeug herumschlagen müssen?

Kurz gesagt: Gut zu sein ist gar nicht möglich. Schon der Versuch war sinnlos. Wir sollten es einfach aufgeben, uns mit Cheeseburgern voller Hormone vollstopfen und unseren Müll direkt in den Pazifik schmeißen.

Das war ein nettes Experiment, und jetzt?

Die meisten Menschen halten sich selbst für »gut« und möchten auch so wahrgenommen werden. Folgerichtig würden viele (sofern sie die Wahl haben) lieber »etwas Gutes« als »etwas Schlechtes« tun. Aber die Welt ist verwirrend und kompliziert und voller verzwickter Entscheidungen, Stolpersteine und Fallgruben – und voller mieser Ratschläge vermeintlich vertrauenswürdiger Freund*innen wie der blöden Wendy, die meinte, der Zebra-Hut wäre so hässlich, dass er schon wieder süß wäre, und wir sollten ihn unbedingt kaufen. Da lässt sich nicht immer so leicht erkennen, was gut und was schlecht ist. Und selbst wenn wir das vertrackte Labyrinth unseres Alltags gemeistert haben und tatsächlich gut sind, sind wir doch nur ein Mensch, einer von acht Milliarden, die auf diesem Planeten leben, und reichlich viele davon scheint es nicht im Mindesten zu jucken, ob sie gut oder schlecht sind. Bei all den korrupten Politikern, hinterhältigen CEOs, Leuten, die die Kacke ihrer Hunde nicht vom Gehweg räumen, schlimmen Diktatoren und der beknackten Wendy (Warum tut die so was? Macht es ihr Spaß, andere unglücklich zu machen?) muss man sich ja fast fragen, ob ein einzelner guter Mensch überhaupt eine Rolle spielt. Oder, wie ich es ausdrückte, als ich anfing, mich mit diesem ungeheuren, vertrackten, verworrenen Wust von Moralphilosophie zu befassen:

Was soll ich denn, bitte schön, tun?

Die Frage, wie man ein moralisch besseres Leben führen kann, treibt die Menschen schon seit Jahrtausenden um,Fußnote 1 aber noch nie war sie schwerer zu beantworten als heute, wo wir tagtäglich vor einer Flut an großen und kleinen Herausforderungen stehen und uns unmögliche Entscheidungen, komplizierte Konsequenzen und deren unbeabsichtigte Folgen zu überrollen drohen. Ein »moralischer Mensch« zu sein, verlangt außerdem harte Arbeit und tägliche Selbstprüfung. Wir müssen einen Weg finden, nicht nur einmal im Monat gut zu sein, sondern die ganze Zeit. Damit uns das Ganze nicht heillos überfordert, habe ich in diesem Buch versucht, den ganzen undurchsichtigen Morast auf vier einfache Fragen einzudampfen. Vier Fragen, die wir uns jedes Mal stellen können, wenn wir auf ein kleineres oder größeres moralisches Dilemma stoßen:

Was tun wir?

Warum tun wir es?

Können wir etwas anderes tun, das besser wäre?

Warum ist das besser?

 

Im Grunde ist die Suche nach den Antworten auf diese Fragen also die Quintessenz von Moralphilosophie und Ethik,Fußnote 2 und nachdem die Gute-Taten-Buchhalterin des Universums fast nur schlechte Nachrichten für uns bereithielt, gibt es jetzt auch eine gute: Über genau diese Fragen haben Philosoph*innen sehr lange nachgedacht, und sie haben Antworten für uns – oder zumindest Theorien, die uns zu unseren eigenen Antworten führen können. Und wenn wir uns nicht davon abschrecken lassen, dass viele dieser Philosoph*innen entsetzlich schwierige Texte geschrieben haben, von denen man augenblicklich Kopfschmerzen kriegt, können wir uns mit diesen Theorien wappnen, sie bei unseren Entscheidungen anwenden und heute schon ein bisschen bessere Menschen sein als gestern.

 

Mein Interesse an der Moralphilosophie erwachte während der Arbeiten an einer Fernsehserie namens The Good Place. Wenn ihr sie gesehen habt, werden euch viele Begriffe in diesem Buch bekannt vorkommen; wenn ihr sie nicht kennt – (a) wie könnt ihr mich so beleidigen! (b) nee, Quatsch, war nur Spaß, und (c) keine Sorge. Die Absicht dieses Buches ist es nämlich, euch mit auf die Reise zu nehmen, die ich selbst hinter mir habe: von jemandem, der so gut wie nichts über das Thema wusste, zu jemandem, der ein Buch darüber schreiben kann (oder der zumindest einen Verlag davon überzeugen konnte, dass er es kann). Meine große Begeisterung für Ethik hat einen einfachen Grund: Fast jede unserer Handlungen hat eine ethische Komponente, ob uns das bewusst ist oder nicht. Und deshalb sind wir es uns selbst schuldig, zu lernen, was Ethik ist und wie sie funktioniert, damit wir nicht ständig alles falsch machen. Wir bewohnen diesen Planeten zusammen mit anderen Menschen, auf die sich unser Handeln auswirkt, und wenn uns diese Menschen nicht völlig egal sind, sollten wir lernen, die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen.

Außerdem gefällt mir an Ethik, dass sie kostenlos ist.Fußnote 3 Man braucht keinen Erlaubnisschein, um sich ethisch zu verhalten, und muss keine Jahresgebühr entrichten, um gute Entscheidungen zu treffen. Wenn wir uns die Welt als ein Museum vorstellen, sind ethische Richtlinien sozusagen ehrenamtliche Museumsmitarbeiter*innen, die schweigend und mit auf dem Rücken verschränkten Händen in ihren grünen Jacketts dastehen. Wir laufen durch das Museum und betrachten Kunstwerke (oder, in dieser Metapher, moralisch verwirrende Situationen), und manches davon kapieren wir sofort und manches so gar nicht, weil es nur abstrakte, durcheinandergewirbelte Formen sind. Und wenn wir nicht wissen, wie wir ein Kunstwerk interpretieren sollen, können wir einfach die freundliche Dame im grünen Jackett fragen, was wir da vor uns haben und was es bedeutet – und sie erklärt es uns. Kostenlos! Natürlich könnten wir auch einfach nachdenklich nicken und so tun, als würden wir es verstehen – eine uralte Tradition, im Leben genau wie im Museum –, aber schon im nächsten Raum wartet noch mehr Verwirrendes auf uns, also können wir uns genauso gut schon jetzt Hilfe holen, um zu kapieren, womit wir es zu tun haben.

Bevor wir loslegen, habe ich noch eine gute Nachricht für euch. Wenn wir uns überhaupt mit diesen Theorien beschäftigen und diese Fragen stellen, haben wir einen wichtigen Schritt bereits getan: Wir haben beschlossen, uns Gedanken darüber zu machen, ob unser Tun gut oder schlecht ist. Und das bedeutet: Wir haben entschieden, dass wir bessere Menschen werden wollen.

Das an sich ist schon viel wert. Man braucht sich nur kurz umzuschauen, um unzählige Leute zu sehen, denen eindeutig nichts an moralischem Verhalten liegt und die es daher gar nicht erst versuchen. Einerseits kann man es ihnen kaum verdenken. Wenn wir nämlich danach streben, moralisch redliche Akteure auf dieser Welt zu sein (eine extravagante Formulierung für »versuchen, das Richtige zu tun«), sind wir zum Scheitern verurteilt. Wir können uns noch so reinhängen – wir werden es vergeigen. Immer wieder. Wir werden Entscheidungen treffen, die wir für gut und richtig halten, nur um dann herauszufinden, dass sie schlecht und falsch waren. Wir werden etwas tun, von dem wir glauben, dass es keine Auswirkungen auf andere hat, nur um zu erfahren, dass es natürlich doch welche hat, und hui, dann haben wir ein Problem. Wir verletzen die Gefühle unserer Freund*innen, schaden der Umwelt, unterstützen böse Konzerne und helfen versehentlich einem Nazi in Gestalt einer alten Dame über die Straße. Wir werden scheitern und scheitern und noch mal scheitern. Immer und immer wieder. Es ist wie ein Test, den wir jeden Tag aufs Neue ablegen, ob wir das nun wollen oder nicht, und wir werden garantiert durchfallen – manchmal scheint selbst eine 3+ in unerreichbarer Ferne zu liegen. Bei alledem kann es passieren, dass es uns sinnlos vorkommt, uns überhaupt Gedanken um unser Handeln zu machen – oder wie man so schön sagt: uns nicht alles am Arsch vorbeigehen zu lassen.

Aber wenn wir uns diese Gedanken machen, dann hat unser Scheitern mehr Bedeutung und einen höheren potenziellen Wert. Denn wenn uns etwas an richtigem Handeln liegt, werden wir herausfinden wollen, warum wir gescheitert sind, und das erhöht unsere Erfolgschancen in der Zukunft. Scheitern ist schmerzhaft und peinlich, aber es ist auch die Art, wie wir Menschen dazulernen – es heißt schließlich »Versuch und Irrtum«, und nicht »ein perfekter Anlauf, wir landen einen Volltreffer und fertig ist die Laube«. Und außerdem, mal ehrlich: Die Alternative dazu, sich um ein ethisches Leben zu bemühen, ist doch keine wirkliche Alternative. Sollen wir die Fragen nach unserem Verhalten einfach ignorieren? Es in moralischer Hinsicht nicht so genau nehmen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das der richtige Weg sein soll. Wenn uns irgendetwas in diesem Leben wichtig ist, dann sollte es uns auch am Herzen liegen, ob unser Handeln gut oder schlecht ist. (Später wird uns eine Gruppe sehr deprimierender Franzosen begegnen, die glaubten, wir seien nur kleine Fleckchen Nichts auf einem dummen Felsbrocken im All – und selbst die wollten nicht, dass wir die Ethikflinte ins Korn werfen.) Dieses Buch ist mein Reisebericht aus den Gefilden der Moralphilosophie, aber es handelt auch davon, Scheitern als notwendiges und nützliches Nebenprodukt unserer Bemühungen zu akzeptieren – oder sogar zu begrüßen: ausprobieren, dazulernen, besser werden.

Wir werden also die Frage stellen, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten sollte. Bei der Beantwortung werden uns Theorien helfen, von denen einige 2400 Jahre alt und andere praktisch erst gestern aufgekommen sind. Wir werden einfach loslegen und diese Ideen und Theorien vorstellen: Was sie besagen, was sie von uns fordern und wie sie uns zu besseren Menschen machen wollen. Dann geben wir ein bisschen mehr Gas, wenden das Gelernte auf kniffligere und komplexere Problemstellungen an und treffen unterwegs noch auf ein paar neue Ideen. Und am Ende dieses Buches wissen wir haargenau, was in jeder erdenklichen Situation zu tun ist, damit wir das nachweislich größtmögliche Maß an moralisch Gutem hervorbringen. Wir werden perfekt sein, und alle anderen werden voller Staunen und Bewunderung zu uns aufblicken. Unsere Freund*innen werden so was von neidisch sein.

Nee, Quatsch, wir werden trotzdem noch ständig scheitern. Aber noch mal: Das ist okay. Also lasset das Scheitern beginnen. Oder, um es mit Samuel Beckett zu sagen:

Try again. Fail again. Fail better.

Versuchen wir es wieder. Scheitern wir wieder. Scheitern wir besser.1

Bevor wir loslegen noch ein paar Fragen, die sich Leser*innen vielleicht stellen:

Brauche ich irgendwelche Vorkenntnisse in Moralphilosophie, um dieses Buch zu lesen?

Nein. Ich wollte ein Buch schreiben, das jede und jeder verstehen kann, egal ob mit dem Thema bereits vertraut oder nicht. Es ist als Einführung für relative Laien gedacht – so wie ich es war, als ich anfing, mich mit dem Thema zu befassen.

Dann bist du also gar kein Philosoph? Oder Professor? Du hast nicht mal einen Abschluss?

Nein. Ich bin einfach irgendjemand. Aber genau darum geht es. Wer auch immer dieses Buch in Händen hält, ist einfach nur »irgendjemand« – »eine Person, die darüber nachdenkt, wie sie sich verhalten soll« oder »jemand, dem ein Freund ein Buch darüber geschenkt hat, wie man ein besserer Mensch wird, und dem erst jetzt dämmert, dass das ein versteckter Hinweis gewesen sein könnte«.Fußnote 1

Wenn ich etwas über Moralphilosophie lesen will, warum sollte ich dann dein Buch lesen und nicht eine Abhandlung von jemand Schlauerem – einer Professorin zum Beispiel?

Also, erstens ist das unhöflich. Aber was wichtiger ist: Ich habe mich sehr eingehend mit diesen Themen beschäftigt und mit ein paar extrem klugen und lustigen Menschen darüber diskutiert, um die Inhalte so zu vermitteln, dass man nicht sofort Kopfschmerzen davon bekommt. Ich will das Feld der Moralphilosophie nicht revolutionieren, ich will nur die Grundlagen unter die Leute bringen, damit wir sie aufs echte Leben anwenden können.

Okay, du bist also einfach nur irgendjemand. Was fällt dir eigentlich ein, über mich zu urteilen?

Tja, ich dachte mir, dass diese Frage kommt. Also, passt auf: Dieses Buch soll niemandem von euch in irgendeiner Form ein schlechtes Gewissen machen, weil ihr in eurem Leben so viel saudämlichen Mist gebaut habt. Und ganz bestimmt soll es nicht den Eindruck erwecken, als hätte ich in meinem Leben keinen saudämlichen Mist gebaut, das habe ich nämlich, und ich tue es noch. Niemand ist perfekt. (Und wie wir in Kapitel 5 sehen werden, ist »moralische Perfektion« nicht nur unmöglich, sondern schon allein das Streben danach eine ziemlich schlechte Idee.) Das Ziel ist, wie gesagt, uns mit unserem unausweichlichen Scheitern anzufreunden und es uns zunutze zu machen – zu lernen, wie wir aus unseren Fehlern etwas Positives ziehen, statt in Schuldgefühlen zu schmoren und dazu verdammt zu sein, dieselben Fehler immer und immer wieder zu machen.

Ich bin so ein oberschlauer Professor, und ich bin sauer, weil hier nur die Arbeiten einiger großer Philosoph*innen behandelt werden. Wie kannst du die Werke so vieler wichtiger Denker*innen übergehen?

Moralphilosophie gibt es seit mehreren Tausend Jahren, und jede neue Theorie nimmt in irgendeiner Form auf frühere Bezug. Manchmal kämpft man sich durch einen schwierigen philosophischen Schinken und stößt auf einen sechzigseitigen Exkurs, in dem der Autor oder die Autorin einen anderen schwierigen Schinken bespricht, und wenn man sich durch diesen Schinken noch nicht durchgebissen hat, ist man völlig verloren, legt mit glasigen Augen das Buch weg und schaut sich stattdessen lieber eine Folge von Bachelor an.Fußnote 2 Hätte ich die gesamte Moralphilosophie abdecken wollen, hätte ich sechzig Jahre nur mit Lesen verbracht und wäre dann gestorben. Aber ich habe Frau und Kinder und schaue gern Basketball und so was. Ganz zu schweigen davon, dass mir manche der philosophischen Texte, die ich tatsächlich zu lesen versucht habe, einfach komplett unverständlich waren. Eine Zeit lang war ich ganz begeistert von Metaphysik, die auf die alten Griechen zurückgeht und Fragen über die elementaren Bedingungen der Existenz stellt. Ich schlug ein Buch des deutschen Philosophen Martin Heidegger auf, das Einführung in die Metaphysik hieß, und gleich der erste Satz sieht (für euch vereinfacht) so aus:

Warum (1) gibt (2) es (3) Dinge (4)?Fußnote 3

(1) Vielleicht ist »warum« nicht einmal die richtige Frage, wir sollten lieber fragen »wie?« oder »zu welchem Zweck?«.

(2) Offensichtlich setzen wir a priori voraus, dass es tatsächlich Dinge »gibt«.

(3) Hier schreibt Heidegger wörtlich »überhaupt«, was in seiner Bedeutung so schwammig ist, dass ich es weglasse, was eine tragische und folgenschwere Missdeutung von Heideggers Aussageabsicht nach sich zieht.

(4) Anstelle von »Dinge« könnte man eher »loci der Existenz« schreiben, oder Heideggers »Seiendes«, oder vielleicht auch ein neues Wort, das ich gerade erfunden habe, es heißt »Blärf« und hat keinerlei Bedeutung, ist aber in seiner nonsensischen Nichtbedeutung das treffendste Wort, um damit die Grenze zwischen dem Nichts und dem Etwas zu bezeichnen.

Okay, das ist ein bisschen übertrieben, aber wirklich nur ein bisschen. Später fand ich heraus, dass Heidegger im Grunde ein Faschist war, insofern habe ich mich wohl richtig entschieden.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum ich manches aufgenommen und anderes weggelassen habe: Die Werke, die in diesem Buch vorkommen, sind schlicht und einfach die, die mir gefallen haben, zu denen ich einen Bezug herstellen konnte. Bei denen mir ein Licht aufging, so richtig mit aufleuchtender Glühbirne wie im Comic. Diese Art von persönlichem Bezug ist in der Philosophie besonders wichtig, weil sie so ein riesiger, artenreicher Urwald an Ideen ist. Kein Forscher, keine Forscherin kann den ganzen Wald im Alleingang kartografieren, und so fühlt man sich zu manchen Denker*innen hingezogen und zu anderen nicht, und der Grund dafür ist ganz simpel, wie sehr wir uns von ihnen angesprochen fühlen.

Mein Verständnis von Ethik (und damit der Dreh- und Angelpunkt dieses Buches) konzentriert sich auf drei Theorien – Tugendethik, Deontologie und Utilitarismus –, die derzeit als die »Großen Drei« der westlichen Moralphilosophie gelten. Dieser Fokus hat zur Folge, dass einige der berühmtesten Denker der Geschichte wie Lao-Tse, David Hume oder John Locke außen vor bleiben, deren Schriften zwar allesamt Überschneidungen mit den Theorien der Großen Drei aufweisen, aber nicht unbedingt wesentlich für sie sind. Weil The Good Place außerdem säkular sein sollte, habe ich einen Bogen um religiöse Denker wie den heiligen Thomas von Aquin oder Søren Kierkegaard gemacht. Falls die Ideen in diesem Buch euer Interesse wecken sollten und ihr euch einen Kompass schnappen und selbst in den Dschungel aufbrechen wollt, werden eure persönlichen Favoriten höchstwahrscheinlich genau die Denker*innen werden, die ich weitgehend ignoriert habe. Und dann könnt ihr selbst ein Buch darüber schreiben, warum eure Philosoph*innen besser sind als meine.

Ich bin ein anderer oberschlauer Professor, und ich muss sagen, Sie haben [irgendetwas] voll-kom-men missverstanden. Wie konnten sie [das und das] nur so himmelschreiend falsch lesen?

Im Jahr 1746 wurde Dr. Samuel Jackson von einigen britischen Buchhändlern gebeten, ein exaktes Wörterbuch der englischen Sprache zu verfassen.1 In den darauffolgenden acht Jahren tat er genau das: Er schrieb ein komplettes Wörterbuch. Und benutzte dafür nichts weiter als seinen eigenen Kopf.Fußnote 4 Als er fertig war, kam eine verärgerte Frau zu ihm und fragte, wie er bloß »Fessel« als »Knie eines Pferdes« habe definieren können2, wo sie doch in Wahrheit zum Fuß gehöre. Johnson antwortete: »Unwissenheit, gnädige Frau. Reine Unwissenheit!« Falls ich also irgendetwas falsch dargestellt habe, ist das der Grund: reine Unwissenheit!

Wäre es nicht schlau gewesen, sich Hilfe zu holen? Zum Beispiel eine richtige Philosophin oder einen richtigen Philosophen?

Oh, das habe ich! Und zwar Professor Todd May, der seit vielen Jahren als Wissenschaftler tätig ist und einige ausgezeichnete Bücher über Moralphilosophie geschrieben hat. Er hatte schon den Autor*innen von The Good Place geholfen, zu kapieren, wovon diese ganzen Philosophen eigentlich reden, und war bereit, quasi ein Auge auf mich zu haben, damit ich den wissenschaftlichen Teil zumindest nicht so schlimm verbocke, dass mich die Ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-Enkel*innen von Jeremy Bentham verklagen. Wenn ich es mir also recht überlege: Sollte es in diesem Buch Probleme mit der »richtigen« Philosophie geben, liegt es doch nicht an meiner Unwissenheit. Es liegt an Todd. Gebt ihm die Schuld.Fußnote 5

Teil eins

In dem wir diverse Theorien aus den drei wichtigsten Denkschulen der letzten 2400 Jahre kennenlernen, die uns sagen, wie man ein guter Mensch wird, und noch jede Menge anderes cooles Zeug, alles auf knapp 100 Seiten.

Erstes Kapitel

Soll ich meinem Freund grundlos eine reinhauen?

Nein, sollt ihr nicht. War das eure Antwort? Wunderbar. Ihr macht das ganz großartig.

Wenn ich für eine Studie tausend Personen fragen würde, ob sie es okay fänden, einem Freund grundlos eine reinzuhauen, würde ich darauf wetten, dass jede dieser tausend Personen Nein sagt.Fußnote 1

Er ist unser Freund, und er hat nichts falsch gemacht, deshalb sollten wir ihn nicht schlagen. Aber das Verrückte ist: Wenn wir fragen, warum wir das nicht tun sollen, werden wir uns mit der Antwort schwertun, obwohl es doch so selbstverständlich erscheint.

»Weil … na ja, weil das schlecht wäre.«

Selbst diese simple, gestammelte Erklärung hat etwas Ermutigendes. Sie bedeutet nämlich: Wir sind uns des ethischen Elements dieser Handlung bewusst und haben erkannt, dass sie … na ja, schlecht wäre. Aber um bessere Menschen zu werden, brauchen wir eine tragfähigere Antwort. Eine echte Ethiktheorie, die uns erläutert, warum es schlecht ist, kann uns in Situationen weiterhelfen, die weniger eindeutig sind – was auf so ziemlich jede Situation zutrifft.

Ein naheliegender Ansatz wäre zu sagen: Ein guter Mensch macht so etwas eben nicht, ein schlechter schon, und wir wollen gute Menschen sein. Der nächste Schritt wäre, genauer zu definieren, was einen »guten Menschen« eigentlich ausmacht, und das ist kniffliger, als man auf den ersten Blick meint. Die ursprüngliche Idee hinter The Good Place war, dass eine »schlechte« Frau nach dem Tod durch einen klerikalen Irrtum im Paradies landet. Auf sie wartet ein ewigwährendes Idyll, umgeben von den allerbesten Menschen, die je auf dieser Welt gelebt haben – Menschen, die in ihrer Zeit auf Erden Landminen geräumt und Armut bekämpft haben, während diese selbstsüchtige und herzlose Frau immer nur Müll produziert, ihre Mitmenschen angelogen und verängstigten alten Leuten skrupellos wirkungslose Medikamente verkauft hat. Um nicht aufzufliegen und sich ihren Platz im Paradies doch noch zu verdienen, will sie nun versuchen, ein »guter« Mensch zu werden. Ich fand die Idee witzig, musste aber bald erkennen, dass ich keine Ahnung hatte, was es eigentlich heißt, »gut« oder »schlecht« zu sein. Einzelne Handlungen konnte ich als »gut« oder »schlecht« einordnen:

teilen – gut

morden – schlecht

Freunden helfen – gut

Freunden grundlos eine reinhauen – schlecht

… doch was lag diesen Verhaltensweisen zugrunde?

Wie sieht eine allumfassende, einheitliche Theorie davon aus, was »gute« und »schlechte« Menschen sind? Auf der Suche nach der Antwort habe ich mich heillos verirrt – und so kam ich zur Moralphilosophie, was dazu führte, dass ich die Serie produzierte, was wiederum dazu führte, dass ich dieses Buch schrieb, in dem ich jetzt mehr als 20 Seiten lang zu erklären versuche, warum es nicht in Ordnung ist, euren Kumpel aus heiterem Himmel eine zu verpassen.

Philosoph*innen haben viele verschiedene Definitionen von »gut und schlecht« gefunden, und einer Reihe davon werden wir in diesem Buch begegnen. Einige nähern sich den Begriffen »gut« und »schlecht« über Handlungen. Sie sagen, gutes Handeln gehorche bestimmten Prinzipien, die wir erkennen und dann befolgen können. Andere sagen, eine gute Handlung sei stets jene, die am meisten Freude und am wenigsten Leid hervorbringt. Eine Philosophin behauptet sogar, Gutes entstehe dadurch, dass wir so egoistisch wie nur irgend möglich handelten und uns einzig um uns selbst sorgten (das sagt sie allen Ernstes). Die erste Theorie aber, von der hier die Rede sein wird – die älteste der Großen Drei –, ist unter der Bezeichnung Tugendethik bekannt und befasst sich mit der Frage, über die ich gleich zu Anfang stolperte: Was macht jemanden zu einem guten oder einem schlechten Menschen? Die Tugendethik definiert einen guten Menschen als jemanden, der bestimmte positive Eigenschaften – eben »Tugenden« – besitzt, die er sich im Lauf der Zeit angeeignet und verfeinert hat, sodass er sie nicht einfach nur hat, sondern genau im richtigen Maß hat. Klingt easy, oder?

Allerdings schwappt uns dann direkt die nächste Welle an Fragen entgegen: Welche Eigenschaften sind das? Woher bekommen wir sie? Und woher wissen wir, dass wir sie haben? So etwas passiert einem in der Philosophie ziemlich oft: Sobald man eine Frage stellt, muss man erst einmal einen Schritt zurücktreten und fünfzig andere stellen, damit man auch sicher weiß, dass man dierichtige Frage stellt und warum man sie stellt. Und dann muss man zu diesen Fragen weitere Fragen stellen. So geht man Schritt für Schritt immer weiter zurück, wodurch sich der Blick immer mehr weitet und die Fragen immer grundsätzlicher werden, bis irgendwann ein deutscher Faschist wissen will, warum überhaupt etwas »ist«.

Davon abgesehen könnte man sich fragen, ob eine allgemeine Definition eines »guten Menschen« überhaupt möglich ist, denn, wie der Autor Philip Pullmann schrieb: »Die Menschen selbst sind zu komplex für solche simplen Etiketten.«1 Jede*r von uns ist ein hochindividualisiertes Produkt aus Natur und Erziehung – ein vielschichtiges Knäuel von angeborenen Charakterzügen, Lektionen von Lehrerinnen, Eltern und Freunden sowie Lebensweisheiten von ShakespeareFußnote 22 und aus Fast-&-Furious-FilmenFußnote 333 44 Gibt es eine vollständige Liste dieser Eigenschaften, die wir alle genau im richtigen Maß besitzen müssen, damit jede*r Einzelne von uns »gut« ist? Um das zu beantworten, müssen wir alles vergessen, was wir bisher gelernt haben – wir müssen uns sozusagen auf die Werkseinstellungen zurücksetzen, uns in unsere Bestandteile zerlegen und neu zusammensetzen – und zwar mit einer tragfähigeren Vorstellung davon, was wir hier eigentlich machen und warum. Und dafür wenden wir uns an Aristoteles.

»Ein Fluss aus Gold«

Aristoteles lebte von 384 bis 322 v.Chr. und schrieb viele wichtige Sachen über viele wichtige Sachen. Wenn ihr mal unzufrieden mit euch und euren popeligen Leistungen sein wollt, stöbert ein bisschen in seinem Wikipedia-Eintrag. Obwohl Schätzungen zufolge nicht einmal ein Drittel seiner Schriften erhalten geblieben sind, decken sie die Themen Ethik, Politik, Biologie, Physik, Mathematik, Zoologie, Meteorologie, Seele, Gedächtnis, Schlaf und Träume, Rhetorik, Logik, Metaphysik, Politik, Musik, Theater, Psychologie, Kochen, Wirtschaft, Badminton, Linguistik, Politik und Ästhetik ab. Die Liste ist so lang, dass ich Politik dreimal hineinschmuggeln konnte, ohne dass ihr es gemerkt habt, und ihr habt wahrscheinlich nicht mal gezuckt, als ich behauptet habe, er hätte über Badminton geschrieben, was es im vierten Jahrhundert vor Christus garantiert noch nicht gab. (Ich glaube auch nicht, dass er je etwas übers Kochen geschrieben hat, aber wenn ihr mir erzählen würdet, er hätte irgendwann mal eine Viertausend-Wörter-Schriftrolle über die Zubereitung des perfekten Parmesanhähnchens rausgehauen, würde ich mit keiner Wimper zucken). Sein Einfluss auf die westliche Ideengeschichte kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Cicero bezeichnete Aristoteles’ Schreibstil sogar einmal als »einen Fluss aus Gold«5, was extreeem cool ist, wenn das ein berühmter Staatsmann und Rhetoriker über eure Schreibe sagt. (Wobei: Nimm mal ne Schippe runter, Cicero. Das klingt ein bisschen nach Schleimerei.)

Für dieses Buch werden wir uns allerdings ausschließlich mit Aristoteles’ Interpretation der Ethik befassen. Seine wichtigste Arbeit zu diesem Thema ist die Nikomachische Ethik, benannt nach seinem Vater Nikomachos, oder nach seinem Sohn Nikomachos, womöglich auch nach einem völlig anderen Nikomachos, den er lieber mochte als den Vater und den Sohn. Um zu erklären, was jemanden zu einem guten Menschen macht – im Unterschied dazu, was ein solcher Mensch tut –, sind mehrere Schritte notwendig. Aristoteles muss definieren, (1) welche Eigenschaften ein guter Mensch haben sollte, (2) in welchem Ausmaß er sie besitzen sollte, (3) ob jeder Mensch über die Voraussetzungen für diese Eigenschaften verfügt, (4) wie wir diese Eigenschaften erwerben, und (5) wie es aussehen (oder sich anfühlen) wird, wenn wir sie dann haben. Das ist eine lange Liste, und es wird ein wenig Zeit und Geduld fordern, seine Argumente nachzuvollziehen. Später werden wir einigen Denker*innen begegnen, deren Theorien sich gut in ein paar Sätzen zusammenfassen lassen. Die aristotelische Ethik ist eher so was wie ein Bummelzug mit vielen, vielen Haltestellen. Aber es ist eine vergnügliche Fahrt.

Und wann kommt die Haltestelle »Guter Mensch«?

Es mag seltsam erscheinen, zuerst die letzte Frage aus dem vorigen Abschnitt zu behandeln, aber genau das macht Aristoteles. Als Erstes definiert er unser höchstes Ziel, den Sinn und Zweck unseres Daseins, das, wonach wir streben – so wie eine junge Schwimmerin olympisches Gold als »maximalen Erfolg« bezeichnen würde. Aristoteles zufolge ist Glück das telosFußnote 4, das Ziel der menschlichen Existenz. Seine Argumente dafür finde ich ziemlich solide. Manches von dem, was wir tun, dient einem anderen Zweck – zum Beispiel arbeiten wir, um Geld zu verdienen, oder wir machen Krafttraining, um stärker zu werden. Und manches Gute, wie Gesundheit, Ehre oder Freundschaft, wünschen wir uns, weil sie uns glücklich machen, aber Glück ist der unangefochtene Platzhirsch auf der Liste unserer Wünsche – es hat keinen anderen Zweck als sich selbst. Glücklich sein wollen wir einfach nur, um … es zu sein.6

Genau genommen benutzt Aristoteles im griechischen Original das nebulöse »eudaimonia« (Eudämonie), was manchmal mit »Glück« und manchmal auch mit »Glückseligkeit« übersetzt wird.Fußnote 5 Ich mag »Glückseligkeit« lieber, weil es einfach mehr hermacht als »Glück«. Wir sprechen hier vom höchsten Ziel eines jeden Menschen, und eine glückselige Person klingt erfüllter, vollständiger und eindrucksvoller als eine glückliche Person. Glücklich bin ich oft, aber eben nicht direkt glückselig. Zum Beispiel kann ich mir kaum glücklichere Momente vorstellen, als mir ein Basketballspiel anzusehen und dazu eine Packung Erdnussbutterkekse zu vernichten, aber ist das Glückseligkeit? Ist das die höchste Stufe der Erfüllung, die mir möglich ist? Ist das wirklich das Ende der Fahnenstange meines persönlichen Potenzials? (Mein Kopf will auf diese rhetorischen Fragen unbedingt mit »Ja!« antworten, aber das wäre wohl ziemlich traurig für mich, also werde ich mich hier durchsetzen müssen.) Diese Schwierigkeit hat Aristoteles vorausgesehen und durch die Erklärung aufgelöst, wahres Glück unterscheide sich von Freude (wie wir sie mit Hedonismus verbinden), weil der Mensch über ein Gehirn und die Fähigkeit zur Vernunft verfüge. Demnach braucht man für die Art Glück, die er meint, rationales Denken und Charaktertugenden, und nicht einfach nur, um ein völlig wahlloses Beispiel zu nennen, ein NBA-Endspiel und eine Großpackung Erdnussbutterkekse.7

 

Wenn der Begriff Glückseligkeit für euch noch nicht so richtig greifbar wird, stellt euch Folgendes vor: Ihr habt begeisterte Jogger*innen doch bestimmt schon mal vom »Runner’s High« reden gehört. Das sei (behaupten sie) ein euphorischer Zustand, den sie gegen Ende eines langen Laufs erreichen und in dem sie plötzlich keine Müdigkeit oder Anstrengung mehr spüren, weil sie eine höhere Ebene erreicht haben und sich jetzt wie übermenschliche Laufgött*innen fühlen, die nur so über die Strecke fliegen, getragen von der reinen Freude am Laufen. Dazu gibt es Zweierlei zu sagen: Erstens sind diese Menschen schamlose Lügner. Man kann beim Laufen keine höhere Ebene der Freude erreichen, weil man beim Laufen überhaupt keine Freude empfinden kann, weil es am Laufen nämlich absolut nichts Erfreuliches gibt. Laufen ist grässlich, und niemand sollte es tun, es sei denn, ein Bär ist hinter einem her. Und zweitens entspricht Aristoteles’ Begriff der Glückseligkeit in meiner Vorstellung einer Art »Runner’s High« bezogen auf die Gesamtheit des menschlichen Daseins – ein Gefühl von Vollkommenheit, das uns durchströmt, wenn wir jeden Aspekt des Menschseins auf die Kette gekriegt haben.

Für Aristoteles besteht der Zweck des Lebens in Glückseligkeit – so wie es der Zweck einer Flöte ist, schöne Musik hervorzubringen, und der Zweck eines Messers, Sachen klein zu schneiden. Das klingt doch toll, oder? #LivingOurBestLives? Einfach total super sein. Aristoteles ist ein Marketingtalent, und sein Pitch holt uns alle ab: Theoretisch kann jede und jeder von uns diesen Supermenschenstatus erreichen. Aber dann kommt’s: Um glückselig zu sein, müssen wir Tugenden erwerben. Viele davon. Und alle genau im richtigen Maß und Verhältnis.

Was sind Tugenden?

Wir können uns Tugenden als die Aspekte eines Menschen vorstellen, die wir bewundern oder mit »dem Guten« in Verbindung bringen; im Grunde also die Eigenschaften, wegen derer man jemanden zum Freund haben will. Wie Tapferkeit, Mäßigung, Großzügigkeit, Ehrlichkeit, Seelengröße und so weiter.Fußnote 6 Aristoteles definiert Tugenden als das, was uns »in einen guten Zustand versetzt und uns unsere Aufgaben gut erfüllen lässt«8. Die Tugenden eines Messers wären also jene Eigenschaften, die es gut im Messersein machen, und die Tugenden eines Pferdes sind jene, durch die es gut im Galoppieren und anderem Pferdekram ist. Die menschlichen Tugenden, die er anführt, machen uns gut im Menschsein. Das mag auf den ersten Blick redundant wirken. Wenn der Tennislehrer in der ersten Stunde zu uns sagt, »die Tugenden eines guten Tennisspielers sind die Eigenschaften, die ihn zu einem guten Tennisspieler machen«, werden wir vermutlich nicken, so tun, als würde unser Handy klingeln und die Stunde dann vorzeitig beenden. Aber die Analogien sind vollkommen logisch:

Die Sache

ihre Tugenden

ihr Zweck

Messer

Schärfe, Klingenstärke, Ausgewogenheit etc.

gut Dinge zerschneiden

Tennisspieler

Wendigkeit, Reflexe, Spielfeldüberblick

rundum großartiges Tennis spielen

Mensch

Großzügigkeit, Ehrlichkeit, Mut etc.

Glückseligkeit/Glück

Wir wissen jetzt also, was wir brauchen (Tugenden), und wir wissen, wozu wir sie brauchen (damit sie uns beim Glückseligwerden helfen). Woher bekommen wir sie nun? Besitzen wir sie vielleicht schon irgendwo? Sind sie womöglich angeboren? Leider gibt es hier keine einfache Lösung. Tugenden zu erwerben ist ein lebenslanger Prozess und echt schwierig. (Ja, das ist ein Dämpfer. Als Eleanor Shellstrop – Kristen Bells Rolle in The Good Place – von ihrem philosophischen Mentor Chidi Anagonye erfahren will, wie sie zu einem guten Menschen werden kann, fragt sie, ob es eine Pille dafür gebe oder was zum Vapen. Schön wär’s!)

Woher kriegen wir diese Tugenden?

Leider kommt nach Aristoteles’ Ansicht niemand schon vollkommen tugendhaft zur Welt – kein Baby besitzt bereits hoch entwickelte Formen dieser großartigen Eigenschaften.Fußnote 7 Aber wir alle werden mit dem Potenzial geboren, sie zu erlangen. Alle Menschen besitzen diese Tugenden in einer Art natürlichem Zustand. »Denn alle Menschen scheinen ja irgendwie von Natur aus [ihre] einzelnen Charaktereigenschaften zu besitzen.«9 Ich stelle mir das als eine Art Einsteigerset für Tugenden vor: einfache Werkzeuge und grobe Baupläne, die den Ausgangspunkt unserer lebenslangen Jagd auf veredelte Tugenden bilden. Nach Aristoteles sind das die rohen Charakterzüge, wie sie auch Kinder und Tiere10 besitzen (die man oft genug kaum voneinander unterscheiden kann, wie wohl jede*r weiß, der oder die schon mal mit einem Haufen Zehnjähriger in einer Spielhalle war.)

Wahrscheinlich erinnern wir uns alle an ein solches Einsteigerset aus unserer Kindheit. Ich zum Beispiel hielt mich schon früh sehr streng an Regeln – oder sagen wir lieber, ich hatte »eine Neigung zur Tugend der Pflichterfüllung«, damit es nicht ganz so strebermäßig klingt. Es erfordert eine ungeheure Überzeugungsarbeit, mich zu irgendeinem Regelverstoß zu bewegen, ganz egal, wie gering die potenzielle Bestrafung sein mag. Mein persönliches Einsteigerset für Pflichterfüllung enthielt reichlich Werkzeuge. Eines davon ist die kleine Stimme in meinem Kopf – die schon da ist, solange ich denken kann. Sie fängt an zu zirpen, sobald irgendjemand gegen eine Regel verstößt, und gibt erst wieder Ruhe, wenn die Regel eingehalten wird.Fußnote 8 In meinem ersten Collegejahr galt in unserem Wohnheim die Regel, dass ab ein Uhr früh keine laute Musik mehr gespielt werden durfte. Wenn ich auf einer Party war, wies mich diese kleine Stimme an, mich zur Stereoanlage durchzudrängeln und die Musik leiser zu stellen – sogar in fremden Wohnheimen. Weil das eben die Regel war. Ihr könnt euch vorstellen, wie beliebt ich auf Partys war.Fußnote 9

Aber wie gesagt: Dieses Einsteigerset ist nur unser Potenzial für Tugenden. Und es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Potenzial und seiner Verwirklichung. Ihr könnt euch das so vorstellen: Manchmal sagen wir, jemand sei mit einer bestimmten Eigenschaft »geboren« – sie ist die »geborene Anführerin«, er ist ein »geborener Dudelsackspieler«, oder sonst was. Damit meinen wir eigentlich, dass jemand ein natürliches Talent hat. Und oft sagen wir es voller Bewunderung, weil uns diese Fähigkeit selbst nicht von Natur aus leichtfällt. Wir sind überhaupt noch nie auf die Idee gekommen, Dudelsack zu spielen. Wenn also unser Freund Rob diese schlaffe, bizarre Gerätschaft aus dem Schrank holt und zum Leben erweckt, schreiben wir sein Talent irgendeiner inneren, unzugänglichen Veranlagung zu, die er wie durch Magie von Geburt an besitzt. Und wenn Rob dann ein Dudelsack-Vollstipendium für die Ohio State University bekommt, denken wir: »Rob hat sein angeborenes Talent genutzt, um seiner Bestimmung zu folgen.« Außerdem denken wir: »Die Ohio State vergibt Dudelsackstipendien?« Und dann: »Was will Rob mit so einem Abschluss bloß anfangen? Wie will er seine Miete bezahlen – auf schottischen Beerdigungen spielen?«

Rob ist nicht mit The Bonnie Banks of Loch Lomond in B-Dur auf den Lippen zur Welt gekommen. Er hatte einfach ein Talent fürs Dudelsackspielen, auf diese mysteriöse Art, wie andere eine Begabung für Mathe, Malerei oder Baseball haben, was irre cool ist, wenn es einen selbst oder die eigenen Kinder betrifft, und irre nervig bei anderen Leuten oder deren Kindern. Und dann hat Rob mit vielen Jahren Übung aus dieser Begabung eine Fähigkeit entwickelt. Er hatte etwas gefunden, das er mochte und das ihm leichtfiel, und dann eine Million Stunden geübt,Fußnote 10 bis er Profi darin war.

Auf diese Weise entwickeln wir jede unserer Fähigkeiten. Aristoteles sagt, wir werden tugendhaft, indem wir tugendhaft handeln. »Daraus erhellt auch, dass keine der Charaktertugenden uns von Natur aus zukommt. […] Die Tugend des Charakters […] geht auf Gewöhnung zurück. Ebenso werden wir auch gerecht, indem wir Gerechtes tun, besonnen, indem wir Besonnenes, und tapfer, indem wir Tapferes tun.«11 Mit anderen Worten: Wir müssen Freigebigkeit, Mäßigung und Tapferkeit und all die anderen Tugenden üben, genau wie der nervtötende Rob auf seinem nervtötenden Dudelsack geübt hat. Aristoteles’ Plan sieht einen kontinuierlichen Prozess aus Lernen, Erhalten und Wachsamkeit vor. Zwar werden wir mit den Einsteigersets geboren,12 aber wenn wir sie nicht durch Gewöhnung weiterentwickeln, sondern uns als Erwachsene einfach zurücklehnen und darauf ausruhen, dann sind wir dem Untergang geweiht. (Das wäre, als ob jemand sagen würde: »Ich hab als Kind total gern mit Matchbox-Autos gespielt, da setz ich mich jetzt einfach in diesen Formel-1-Ferrari und fahre den Großen Preis von Großbritannien.«) Das Konzept der Gewöhnung unterscheidet sich gar nicht so sehr von »Übung macht den Meister«, das uns von den Musiklehrern und Basketballtrainerinnen in der Schule eingetrichtert wurde: Wir werden besser in etwas, indem wir dieses Etwas tun, und wenn wir es nicht mehr tun, werden wir schlechter.

Diese Gewöhnung, die regelmäßige Arbeit an unseren Tugenden, ist wirklich das A und O. Und das Tolle an Aristoteles’ Verkaufspitch ist, dass er sagt: Gewöhnung funktioniert bei allen Tugenden, selbst bei denen, für die uns keine Begabung in die Wiege gelegt wurde und für die unsere Einsteigersets alte, rostige Werkzeugkisten sind, in denen sämtliche Schraubenzieher fehlen. Das ist wichtig, weil Begabungen allem Anschein nach zufällig verteilt werden. Wir alle haben Dinge, die uns leichtfallen, und solche, in denen wir, um einen philosophischen Fachbegriff zu benutzen, total abstinken. Ich zum Beispiel habe einen furchtbar miesen Orientierungssinn. Wenn ich an einem Ort nicht schon zigtausend Mal war, habe ich keine Chance, mich zurechtzufinden. Und selbst wenn doch, bleibt es Glückssache. Wie oft habe ich mich in meinen sieben Jahren in New York verlaufen – obwohl die Straßen dort nummeriert sind.Fußnote 11

Aus mir würde mit ziemlicher Sicherheit niemals ein guter Navigator werden, da könnte ich so viel üben, wie ich wollte. Bei Tugenden scheint es sich ähnlich zu verhalten – ich hatte eine Begabung für Pflichterfüllung, aber nicht (um nur ein Beispiel zu nennen) für Tapferkeit. Ihr habt vielleicht eine Neigung zur Freigebigkeit, aber nicht zur Mäßigung, eine zum Fleiß, aber nicht zur Sanftmut. Um Glückseligkeit zu erlangen, müssen wir jede dieser Tugenden entwickeln, und Aristoteles verspricht uns, dass wirFußnote 12 dazu in der Lage sind, auch wenn es uns bei manchen davon leichter fällt als bei anderen. Wer genug Arbeit investiert, braucht nicht für alle Zeit auf Seelengröße, Tapferkeit oder eine andere wünschenswerte Eigenschaft zu verzichten, während ich dazu verdammt bin, mich jedes Mal zu verlaufen, wenn ich in einem Parkhaus mein Auto suche.

Gewöhnung ist zwar der wichtigste Bestandteil in Aristoteles’ Ethiksystem, aber nicht der einzige. So wie wir einen Trainer brauchen, um unser Tennisspiel zu verbessern, oder eine Musiklehrerin, um die Flöte zu beherrschen, brauchen wir einen guten Lehrer, der uns im Glückseligwerden unterweist. Die alten Griechen waren richtig besessen davon, wie wichtig Lehrer (oder »weise Männer«) für alles Mögliche seien – Staatsbürgerkunde, Ethik, Wissenschaft … Sokrates lehrte Platon, und Platon lehrte Aristoteles, und Aristoteles lehrte Alexander den Großen,Fußnote 1313 man legte also großen Wert auf die Rolle hervorragender Lehrer (und kluger Freunde), um die Menschen von ungeformten kleinen Klümpchen in die gemeinwohlorientierten, glückseligen Menschen zu verwandeln, die wir sein sollen. Und da sie oftmals selbst Lehrer waren und Akademien gründeten, drängt sich einem förmlich das Bild auf, wie sie sich jedes Mal räuspern und auf sich selbst deuten, wenn sie von der Notwendigkeit weiser Lehrer sprechen.Fußnote 1414 (An einigen Stellen liest sich die Ethik wie eine Werbebroschüre für Aristoteles’ Akademie.)

Die Weisheit weiser Lehrer ist allerdings kein Ersatz für die Gewöhnung. Dieser Typ mit den Spielzeugautos, der dachte, er könne jetzt einfach Formel-1-Rennen fahren, würde sich wohl auch nicht besser schlagen, wenn er vorab ein Buch über Drehmoment lesenFußnote 1515 oder sich ein YouTube-Tutorial anschauen würde. Natur, Gewöhnung und Belehrung, schreibt Aristoteles, seien alle notwendig.16 Für die Glückseligkeit reicht es nämlich nicht aus, dass wir diese ganzen Tugenden erkennen und uns aneignen – wir müssen sie auch noch genau im richtigen Maß besitzen. Wir müssen freigebig sein, aber nicht zu freigebig, mutig, aber nicht zu mutig. Das Schwierigste an der Tugendethik ist, dieses Maß zu ermitteln und es dann genau zu treffen. Diese jeweiligen, furchtbar spezifischen Zielzustände bezeichnet Aristoteles als »die Mitte«.

»Wann haben wir diese Tugenden wirklich ›erlangt‹?«

Die Mitte, oder »goldene Mitte«, wie sie oft bezeichnet wird (wenn auch nie von Aristoteles selbst)Fußnote 1617, ist das wichtigste Rädchen in Aristoteles’ Ethikgetriebe. Meiner Meinung nach ist sie außerdem das schönste. Und das sperrigste. Und das eleganteste. Und das, das einen am meisten zur Verzweiflung bringen kann.

Stellt euch diese ganzen wünschenswerten Eigenschaften – Freigebigkeit, Mäßigung, was auch immer – wie eine Wippe vor: Perfekt ausbalanciert, befindet sie sich parallel zum Erdboden. Wenn wir genau in der Mitte sitzen, bleibt alles schön im Lot, ausgeglichen und harmonisch. Dieses ausbalancierte Zentrum, das genau das richtige Maß der entsprechenden Eigenschaft repräsentiert und die Wippe im Gleichgewicht hält, ist die goldene Mitte dieser Eigenschaft. Doch jede Verlagerung in die eine oder andere Richtung stört das Gleichgewicht, eine Seite der Wippe plumpst zu Boden, und wir landen unsanft auf dem Hintern. (In dieser Metapher steht der schmerzende Hintern für unsere Persönlichkeit.) Die beiden Enden der Wippe stehen für (1) einen Mangel an dieser Eigenschaft und, auf der anderen Seite, (2) ein Übermaß an dieser Eigenschaft – viel zu wenig oder viel zu viel. Im extremen Mangel oder extremen Übermaß wird eine Eigenschaft zur Untugend, zum Laster, was wir selbstverständlich vermeiden wollen. Philosophen sprechen hier auch vom Goldilocks-Prinzip. Aristoteles rät uns praktisch, es für jeden Bereich unserer Persönlichkeit zu halten wie Goldlöckchen mit dem Brei: nicht zu heiß, nicht zu kalt … genau richtig.

Nehmen wir als Beispiel die Sanftmut, die Aristoteles als »die Mitte bezogen auf den Zorn«18 bezeichnet:

Denn wer nicht zürnt, worüber er zürnen soll, gilt als töricht, und ebenso wer nicht zürnt, wie, wann und wem er zürnen soll, Denn erFußnote 17 scheint keine Empfindungen und keine Unlust zu kennen; da er nicht in Zorn gerät, wird er sich auch nicht zur Wehr setzen; doch dass man sich beschimpfen lässt und Beschimpfungen der Angehörigen einfach hinnimmt, ist sklavisch.19

Anders ausgedrückt: Ganz ohne Zorn würden wir beim Anblick von Grausamkeit – wenn etwa ein Mobber ein unschuldiges Kind quält – einfach nur mit offenem Mund dastehen, statt mit einem angemessenen Maß an Empörung zu reagieren. Aber mit viel zu viel Zorn würden wir uns den Mobber womöglich packen, ihn mit einem Tritt in den Allerwertesten in den nächstbesten Teich befördern, uns dann seine Familie vorknöpfen, die ebenfalls in den Teich befördern und anschließend ihr Haus niederbrennen. Die goldene Mitte des Zorns – die Aristoteles »Sanftmut« nennt – ist die angemessene Menge an Zorn, vorbehalten den richtigen Situationen, gerichtet auf Menschen, die es verdienen. So wie Faschisten, korrupte Politiker oder jede Person, die irgendwas mit den New York Yankees zu tun hat.Fußnote 18 Also ist »Zorn« die Eigenschaft, und »Sanftmut« ist das kugelsichere Tugendmittelmaß, das wir anstreben.Fußnote 19

Ist das nicht ein schönes Konzept? Alles dreht sich um Harmonie, Ausgewogenheit und Anmut. Es ist Simone Biles’ formvollendeter Abgang vom Schwebebalken, nur eben für philosophische Ideen. Aber kaum denken wir einen Moment länger darüber nach, wird es schon wieder heikel. Zuerst mal: Woher wissen wir, was ein Übermaß und was ein Mangel ist? Woher wissen wir, wann wir im richtigen Maß und aus den richtigen Gründen auf die richtigen Menschen wütend sind? Das ist der häufigste Kritikpunkt an der Tugendethik: Dann brauchen wir also bloß zu arbeiten und zu lernen und zu streben und zu üben, und irgendwie erlangen wir dann wie von Zauberhand dieses theoretisch perfekte Maß jeder Eigenschaft, das sich weder definieren noch messen lässt? Toller Plan. Selbst Aristoteles tut sich manchmal schwer damit, diese Mitte genau zu beschreiben. In Bezug auf die Sanftmut schreibt er: »Es ist nicht leicht festzulegen, wie, wem, worüber und wie lange man zürnen soll und wo die Grenzen des richtigen und falschen Handelns liegen.«20 Und dann zuckt er die Achseln: »So viel ist immerhin klar, dass die mittlere Haltung […] Lob verdient, das Übermaß aber und der Mangel Tadel.«21 Das ganze System erinnert ein bisschen an den berühmten Kommentar des Richters Potter Stewart zu Hardcore-Pornografie: Sie sei zwar schwer zu definieren, aber »Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe«.22

Als Basis für ein ganzes Ethiksystem mag einem das ein bisschen dünn vorkommen. Trotzdem: Irgendwie kapieren wir es schon, oder? Wahrscheinlich können wir uns alle an eine Situation erinnern, in der wir wegen jemandem oder etwas fuchsteufelswild waren und später dachten: »Ähm, da war ich wohl doch zu wütend.« Oder an das Mal, als wir es haben gut sein lassen und uns später das Gefühl beschlich, wir hätten nachdrücklicher den Mund aufmachen sollen. Wenn wir in aller Ruhe über unser Tun nachdenken, wenn wir uns wirklich darauf einlassen, sowohl unser eigenes Handeln als auch das unserer Mitmenschen zu prüfen, dann werden wir schließlich erkennen, was zu viel und was zu wenig und was »genau richtig« war. Wir müssen es »erkennen, wenn wir es sehen«, und das funktioniert nur, wenn wir ständig die Augen offenhalten.

Diese Suche nach Tugenden kann uns auch in anderer Hinsicht nützlich sein. Wenn wir uns Menschen als Anhäufungen solcher Eigenschaften vorstellen, verstehen wir besser, was wir an ihnen mögen und was nicht. Manchmal sagen wir, »Luis ist einfach der netteste Kerl, den man sich vorstellen kann« oder »Diana ist der liebste Mensch der Welt«, aber eigentlich wünschen wir uns bei unseren Freund*innen keine Extreme. (Der wirklich netteste Mensch der Welt wäre doch unfassbar langweilig!) Denkt mal an Personen, mit denen ihr sehr viel Zeit verbracht habt – einen Ex-Freund oder eine Ex-Freundin zum Beispiel. Was ihr an ihnen geliebt habt, waren wahrscheinlich ihre ausgeglichenen Eigenschaften mit Tendenz zur Tugend. (»Damon war immer für mich da, aber er wusste auch, wann ich Zeit für mich allein brauchte.«) Und das, was euch an ihnen aufgeregt hat – wahrscheinlich die Gründe, warum sie jetzt Ex-Freund*innen sind –, waren die Eigenschaften, an denen sie einen großen Mangel oder Überschuss hatten und die sie nicht in Richtung der gewünschten Balance verlagerten. »Damon hat nie Deo benutzt und sich die Zehennägel am Esstisch geschnitten, und wenn er Chips gegessen hat, hat er sich die Hände an meiner Katze abgewischt.«Fußnote 20 Die goldene Mitte finden wir nur durch aktives Suchen – durch Versuchen und Scheitern und wieder Versuchen und Scheitern und durch das Auswerten unserer Fehlschläge und Erfolge.

Die goldene Mitte: Wie man weniger nervtötend wird

Jetzt können wir also endlich den Bogen zurück zu unserer Ausgangsfrage schlagen und eine tragfähigere Antwort liefern.