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Sarah, die Kampfkünstlerin und überzeugte Linksextremistin, ist die Tochter reicher Eltern und Soziologiestudentin aus Frankfurt am Main. Andreas, der Neonazi und Straßenschläger, ist Maurer aus einfachen Verhältnissen in Frankfurt an der Oder. Am Rande einer gewalttätigen Auseinandersetzung im Dresden des Jahres 2015 sind die beiden kurz davor sich gegenseitig umzubringen. Dummerweise spielt das Schicksal ihnen einen bösen Streich. Sie sind nämlich genetisch perfekt aufeinander abgestimmt. So kommt es, dass sie zunächst zusammen auf dem Boden einer verlassenen Lagerhalle und schließlich in einem Hotelbett landen. Hätte das ungleiche Sexpaar so nicht schon genug Schwierigkeiten, schaltet sich zu allem Überfluss auch noch das Bundesamt für Verfassungsschutz ein. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise kommen so Ereignisse ins Rollen, welche Sarahs und Andreas' Leben für immer verändern werden …
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Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2022
How to fuck a Nazi
von Konrad Gladius
How to fuck a Nazi
Die Satire für ein gespaltenes Land
von Konrad Gladius
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2022 Konrad Gladius
Titelbild von Regina Kallasch
ISBN Softcover: 978-3-347-65954-4
ISBN Hardcover: 978-3-347-65956-8
ISBN E-Book: 978-3-347-65966-7
ISBN Großschrift: 978-3-347-65973-5
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel I – Von Schlägern und Aktivisten
Kapitel II – Kampf der Geschlechter
Kapitel III – „Auf deinen Lehrmeister hören du sollst…“
Kapitel IV – Bulldozer außer Kontrolle
Kapitel V – Im Dienste der Republik
Kapitel VI – Das Liebesnest der Terroristen
Kapitel VII – In diplomatischer Mission auf neutralem Boden
Kapitel VIII – Die Kampfkunst der Liebe
Kapitel IX – Mutters Sohn
Kapitel X: Die beste Freundin
Kapitel XI – Die Eltern der Braut
Kapitel XII – Es lebe die Freiheit
Kapitel XIII – Eine Hymne für das Volk
Kapitel XIV – Ein Nazi unter Juden
Kapitel XV – Rollenspiele
Kapitel XVI – Anschlag in Köln
Kapitel XVII – Lebensschuld
Kapitel XVIII – Christian Schwarz, Neonazi
Kapitel XIX – Von der Last, ein Kriegsheld zu sein
Kapitel XX – Weihnachten mit einer Jüdin
Kapitel XXI – Verbotene Liebe
Kapitel XXII – Keile in Köln
Kapitel XXIII – Elternsorgen
Kapitel XXIV – Liebeskummer und offene Rechnungen
Kapitel XXV – Der Schicksalstag
Epilog
Schlusswort und Warnhinweise
Ein Witz, den man erklären muss …
Über den Autor
Prolog
Gegensätze. Wie verhält es sich damit? Ziehen sie sich an so wie im Magnetismus oder stoßen sie sich ab wie in der Politik? Das Verständnis des menschlichen Wesens ist die Suche nach der Erkenntnis des Verhältnisses der Gegensätze.
Weiblich und männlich, links und rechts, reich und arm. Jedes Gegensatzpaar für sich ist schon eine genaue Betrachtung, eine eigene Geschichte wert. Gerne glauben wir daran, dass der arme Straßenkehrer am Ende die reiche Prinzessin für sich gewinnt. Nun, im wirklichen Leben ist es nicht immer so. Aber manchmal, manchmal üben die größten Gegensätze eine geradezu magische Anziehungskraft aufeinander aus.
Doch was sind große Gegensätze? Dinge oder Umstände, von denen wir glauben, dass sie so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht, haben bei näherer Betrachtung mehr gemein, als wir erahnt hätten. So wie die Nacht nicht ohne den Tag sein kann, so vermögen Extreme oft nicht ohne einander zu existieren. Ohne Machos keine Feministinnen. Ohne Männer keine Frauen. Und ohne Neonationalsozialisten keine Antifaschisten.
Machos und Feministinnen haben eine innere Überzeugung von der zumindest moralischen oder psychologischen Überlegenheit des eigenen Geschlechts. Männer können einfühlsam wie Frauen sein, während die Damen der Schöpfung ihren Mann zu stehen wissen. Und die politischen Extreme? Sie haben die nahezu gleichen Methoden, mit ihren Gegnern umzugehen. Sie glauben daran, einem höheren, universellen Recht zu dienen, und sehen das Kollektiv als wichtiger an als eine Einzelperson.
Was passiert, wenn zwei Extreme, die nicht gegensätzlicher sein könnten, aufeinandertreffen? Werden ihre Abstoßungsenergien sie zerstören oder verbinden sie sich aufgrund ihrer versteckten Gemeinsamkeiten? Dieser Frage sollten wir einmal nachgehen. Dafür bietet sich ein Rückblick in das Jahr 2015 an. Auf dem Höhepunkt der sogenannten „Flüchtlingskrise“ trafen in Deutschland Gegensätze in einer Weise aufeinander, die niemand vorherzusagen gewagt hatte …
Kapitel I – Von Schlägern und Aktivisten
Am 19. Oktober im Jahre des Herrn 2015 versammelten sich zwei Heerscharen. Es waren nicht irgendwelche Heere. Nein. Es trafen die Guten und die sehr Guten auf dem Feld der Ehre aufeinander. Das Schlachtfeld trug den Namen „Dresden“ und die Schlacht sollte als „Jahrestag des PEGIDA-Bündnisses“ in die Geschichte eingehen. Die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ standen einer breiten Koalition „Gegen Rechts!“ gegenüber. Rund 1.900 unparteiische Kampfesrichter, als Männer der Stadt Polizisten genannt, sollten über den tadellosen Ausgang der Schlacht wachen. Mehr als 40.000 Streiter marschierten auf. Wie sich diese auf die beiden Seiten verteilten? Darüber disputieren immer noch die Chronisten. Einen Vorteil an Mannstärke für die Getreuen PEGIDAs vermochten jedoch auch die Herolde der vermeintlichen „Lügenpresse“ nicht zu verschweigen. Für diese war klar, dass auf der einen Seite „Schläger“ für den Schutz des Abendlandes und auf der anderen Seite „Aktivisten“ für das gleiche Ziel, aber mit abweichendem Feindbild marschierten. Nun ja, die Wahrheit ist wahrscheinlich viel komplizierter.
Die Schlacht sollte mit Worten, Rufen und Liedern ausgetragen werden. Nicht jeder schien mit dieser Wahl der Waffen zufrieden und so erwarteten alle „gewaltsame Zusammenstöße“.
Wenn so viele Menschen auf engem Raum entschlossen aufeinandertreffen, werden Kräfte freigesetzt, die Großes bewirken können. Das Große beginnt häufig unscheinbar im Kleinen. In der direkten Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen steckt dabei das größte Potenzial. Urgewalten gleich, die Dinge ins Rollen bringen. Von so einem Aufeinandertreffen wollen wir jetzt hören.
***
Eigentlich war ihm PEGIDA schon immer zu lasch gewesen. Die „Waschlappen“ waren bereit, einfach zu viel zu akzeptieren. Seiner Meinung nach gehörten „die schwulen Volksverräter von Politiker“ für ihre „Verbrechen am Deutschen Volk“ mindestens gevierteilt. Diese Hinrichtungsart hatte er einmal in einem Fantasy-Comic gesehen und allein die Vorstellung zauberte immer wieder ein Lächeln auf seine Lippen. Alle „Kanaken, Bimbos und Schlitzaugen“ müssten nach seiner Ansicht das Land verlassen. Wer nicht freiwillig ging, sollte erschossen werden. Das entsprach seiner Weltsicht. Die Weltsicht von Andreas Krupp, der am 3. Oktober, zusammen mit dem wiedervereinigten Deutschland, seinen 25. Geburtstag gefeiert hatte. Andreas war mit seinem Freund Hans und ein paar Kameraden nach Dresden gefahren. Er hatte sich extra Überstundenzeitausgleich dafür genommen. Das würde ein langer Abend werden.
„PEGIDA grüßt Florian Silbereisen“ stand auf einem Plakat.
„Die haben wohl einen Lattenschuss“, dachte Andreas.
Er ließ seine muskelbepackten Schultern zur Entspannung kreisen. Muskelbepackt war ohnehin eine gute Umschreibung für den Maurer aus Frankfurt an der Oder. Mit seinen 1,94 und 119 Kilogramm Körpergewicht war Andreas eine wahrhaft beeindruckende Gestalt. Nicht alles an ihm dürften Muskeln gewesen sein, aber als dick konnte man ihn nicht bezeichnen. Mit einem Kreuz, das fast nicht mehr durch die Tür passte, und Händen zum Bratpfannenrollen erweckte er in vielen öffentlichen Situationen den Eindruck, nur von Zwergen umgeben zu sein. Wie bei seinesgleichen üblich, hatte er seinen Schädel kahl rasiert. Von Natur aus besaß er mittelblonde Haare, wie man noch an seinen Augenbrauen zu erkennen vermochte. Die braunen Augen lagen oberhalb recht hoher Wangenknochen, was den Umstand belegte, dass Andreas nicht ganz so sehr germanischer Abstammung war, wie er gerne gehabt hätte. Denn Andreas war ein Rassist. Er war ein Nationalist. Andreas war Nationalsozialist. Und zwar einer der gewaltbereiten Sorte. Politische Aktivitäten bestanden für ihn daraus, auf eine Demonstration zu gehen, sich einige Antifa-Gegner zu suchen und diese nach Strich und Faden zu vermöbeln. Hier kam ihm seine Erfahrung als Freistilringer und sein Dienst bei der Bundeswehr zugute. Er verfügte über einen eigenen Straßenkampfstil, der brutale Ringertechniken mit Faustschlägen verband. Die Zeit beim Militär hatte ihn „gestählt“, wie er zu sagen pflegte. Einer „linken Zecke“ hatte sich Andreas bisher noch nie geschlagen geben müssen.
Ohnehin schien dieser Neonazi bereits auf den ersten Blick ein harter Brocken zu sein. Sein markantes Kinn und der stabile Unterkiefer wären eine gute Basis für einen Profiboxer gewesen. Der breite Nasenrücken verstärkte für jeden Gegner den Eindruck, es mit einem fleischgewordenen Albtraum zu tun zu haben.
Durch die Lautsprecheranlage dröhnte der Hinweis von PEGIDABegründer Lutz Bachmann, keine Hunde mit zur Veranstaltung zu bringen. Ebenso betonte der Frontmann der Bewegung, dass auf dem Gelände vor der Dresdner Oper alkoholische Getränke verboten seien. Andreas zog unter der schwarzen Bomberjacke eine Flasche Hefeweizen hervor, drückte den Kronkorken mit dem Daumen weg und schleuderte diesen dabei in Richtung der die Veranstaltung sichernden Polizisten. Dann nahm er einen kräftigen Schluck, wohl wissend, dass er mitten in einem Pulk anderer Neonazis und Hooligans nicht darauf angesprochen werden würde.
Nun, die Klassifizierung „Neo“ benutzten zu dieser Zeit nur Beamte und Soziologen. Eine Unterscheidung in Nationalsozialisten vor 1945 und danach hatte sich im allgemeinen Sprachgebrauch längst erledigt. Gleichzeitig wurde das Prädikat „Nazi“ umso eifriger verteilt. Das ärgerte nicht zuletzt Andreas. Aber er hatte ohnehin eine besondere Vorstellung von politischen Ideologien. Die HOGESA, die „Hooligans gegen Salafisten“, waren ihm sehr sympathisch. Sie standen bereit, die Fäuste zu ballen und dafür zu sorgen, dass die „Invasoren“ ein paar auf die Fresse bekamen. Die Mehrheit von ihnen besaß jedoch kein echtes Bewusstsein für die „Nationaldemokratie“ oder gar den Nationalsozialismus. Eigentlich schade, befand er.
Das meiste zur Politik lernte Andreas von seinem Kumpel Hans. Hans und er kannten sich schon aus der Grundschule. Mit 1,85 Größe und 85 Kilogramm Gewicht auf der Waage blieb Hans eine geradezu schmächtige Erscheinung neben Andreas. Der gelernte E-Techniker, der viel lieber Mediengestalter geworden wäre, bildete das politische Zentrum ihrer kleinen Nazigruppe in Frankfurt an der Oder. Hans hatte immer den Überblick, wo und warum etwas wie lief. Das schätzten alle an dem eigentlichen Blondschopf mit den blauen Augen, der offenbar dem gleichen radikalen Friseur wie Andreas vertraute.
Andreas fuhr sich kurz mit dem Finger über den breiten Nasenrücken und kramte dann seine Stoffmütze unter dem Kapuzenpulli hervor. Es wurde langsam kühler und so galt es gemäß der soldatischen Pflicht zur Gesunderhaltung, den Kopf zu bedecken. Er langweilte sich. Hier würde es wohl zu keiner Auseinandersetzung mit den „Weicheiern von den Linken“ kommen. Aber es tat gut, in einer großen Menschenmenge zu stehen und für das vermeintlich gleiche Ziel zu kämpfen. Und so brüllte Andreas auch aus voller Kehle mit, als es schließlich hieß:
„Wir sind das Volk!“
***
Dieses Rufen traf auch auf das Ohr einer Aktivistin, die sich zu jenem Zeitpunkt nicht auf dem Opernplatz, sondern etwas abseits auf dem Anmarschweg der Teilnehmer hinter der Polizeiabsperrung aufhielt. Sarah Stahl, geboren am 17. Juni 1993 in Frankfurt am Main, war das Paradebeispiel einer Antifaschistin. Die Studentin der Sozialwissenschaften hegte große Sympathien für den Maoismus und war eine Freundin des auch von den GRÜNEN seinerzeit propagierten Weltbilds. Sie vertrat überdies die Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht hatte, an jedem Punkt dieses Planeten zu leben. Ebenso glaubte die einzige Tochter reicher Eltern an eine „UmFAIRteilung“ des Reichtums in der Welt. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, einige Annehmlichkeiten ihres Elternhauses zu genießen, bis dieser wichtige Schritt von der Menschheit endlich einmal getan würde.
Ihre Zukunft sah sie in der Jugendarbeit mit „vom kapitalistischrassistisch-patriarchalen Dreckssystem benachteiligten Migrant*innen“. Bis dahin war es ihr eine besondere Freude, mit ihrer Antifa-Gruppe nach Dresden zu fahren und sich den „Nazihorden“ entgegenzustellen. In Anbetracht dessen, dass sie es gewohnt war, bei der zahlenmäßig stärkeren Gruppe zu stehen, war diese „Aktion“ eine neue Erfahrung für die athletische 1,82 Frau mit den hellbraunen, schulterlangen Haaren, die sie mit einem Tuch zu einem sorgsam verfilzten Pferdeschwanz gebunden hatte. Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig, aber zu kantig, um von einer echten Schönheit zu sprechen. Auch wenn Sarah sich mit ihrer weiblichen Figur definitiv nicht verstecken musste. Am auffälligsten blieb ihre schöne, gerade Nase, die sicherlich von jedem Taschentuchwerbefachmann für die Zielgruppe „schönheitsbewusste Damen von 16 bis 55“ in Betracht gezogen worden wäre. Ihre blau-grünen Augen waren in diesem Moment auf den Anführer ihrer kleinen, hessischen Truppe „Antifaschist*innen“ gerichtet: Julius-Alexander.
Julius-Alexander verkörperte den Inbegriff von Sarahs Beuteschema. Er war etwa so groß wie sie, hatte hellblonde Haare und türkisfarbene Augen, brachte etwas weniger auf die Waage als sie und war somit alles andere als breit gebaut. Sarah konnte sich nicht helfen, aber auf solche Männer stand sie total. Irgendwie weckten sie einen Beschütz-mich-Bemutterungs-Instinkt in ihr.
Julius-Alexander und sie waren vier Monate lang ein Paar gewesen. Dann kam es anlässlich der Einweihung der neuen Zentrale der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main zur wunderbaren „Schlacht der fünf Finger“. Als „Finger“ wurden seinerzeit die verschiedenen Aktivistengruppen mit ihren unterschiedlichen Stör- und Angriffsaufgaben bezeichnet. Dort hatte sich Sarah durch besonderen Einsatz hervorgetan. Danach gab es ein intensives Gespräch. Julius-Alexander wurde die Bestie unheimlich, in die sich Sarah im Straßenkampf verwandeln konnte. Sie analysierten die Beziehungssituation genau und kamen zu dem Schluss, dass ihnen eine Beziehungspause guttun würde. Das bedeutete vor allem vorerst keine sexuellen Aktivitäten mehr. Sarah fand das grundsätzlich vernünftig und richtig. Menschen sollten sich nicht einfach einem animalischen Trieb hingeben, sondern diese Ausdrucksform der Liebe bei vollem Bewusstsein und vor allem im gegenseitigen Einvernehmen genießen. Heute war sie jedoch überraschend stark daran interessiert, die Beziehungspause zu beenden. Das „Einvernehmen“ Julius-Alexanders setzte sie stillschweigend für nach der Demo voraus. Nicht umsonst wurde er von allen Genossen stets „J-A“ gerufen. Das mochte er eigentlich lieber amerikanisch-englisch betont wissen, aber die deutsche Version umschrieb viel besser seine Reaktion auf ihre Forderungen – immer.
In Gedanken verloren hätte sie fast den Einsatz für die nächsten „Schämt euch!“-Rufe verpasst, mit denen die linken Gruppen einige ältere Herrschaften bedachten, die als verspätete Nachzügler auf dem Weg zur PEGIDA-Kundgebung waren. Sie rückte ihre Jeansjacke zurecht und fiel passend in die „Haut ab!“-Rufe ein. Am liebsten hatte sie jedoch die „Say it loud, say it clear!– Refugees are welcome here!“-Sprechchöre. Diese zeigten am besten die Einstellung, zu der die Menschen noch erzogen werden mussten. Nun ja. Nicht alle waren lernwillig. Darauf war sie aber vorbereitet.
***
Dieses Jubiläum des PEGIDA-Bündnisses war für die Organisatoren auf der einen Seite ein großer Erfolg. Auf der anderen Seite gab es für sie auch einige Ärgernisse.
Größter Aufreger für alle blieb sicherlich die Rede des türkischstämmigen Schriftstellers Akif Pirinçci. Der Mann, der mit Katzenkrimis Berühmtheit erlangt hatte, machte bereits seit einiger Zeit mit einer sehr blumigen Sprache seiner Wut über die vorherrschende Politik im Allgemeinen und die Zuwanderungs- und Integrationspolitik im Besonderen Luft. Es sollte also nicht verwundern, dass seine Rede, die vielmehr einer Lesung seines aktuellen Buchprojekts glich, nicht für allzu sensible Gemüter bestimmt schien. Er bezeichnete die Politik der Bundesregierung als den Versuch einer „Umvolkung“ von Politikern, die „Gauleiter gegen das eigene Volk“ seien, und unterstellte diesen, charmant-indirekt, die Deutschen am liebsten ins KZ zu stecken.
Während PEGIDA-Frontmann Lutz der Auftritt wegen der Wortwahl und seiner Länge so unangenehm war, dass er diesen abbrach, ereiferten sich Sarah und die Ihren über den Inhalt. Die Fraktion um Andreas herum hingegen hatte ein ganz anderes Problem: Wieso zum Geier durfte so ein „Kanake“ überhaupt bei der größten Versammlung des Volksdeutschen Widerstands sprechen?!
***
An jenem Montagabend trafen an verschiedenen Stellen gewaltbereite Teilnehmer der beiden Demonstrationsgruppen aufeinander. Die Polizei vermochte in vielen Fällen Schlimmeres zu verhindern. Sogar Wasserwerfer kamen zum Einsatz, um die Gruppen am Ufer der Elbe zurückzudrängen. Doch die Ordnungshüter besaßen nicht die Fähigkeit der Omnipräsenz. Das wussten auch Andreas und seine Kameraden. Zusammen mit 18 Mann hatte er sich zu fortgeschrittener Stunde vom Hauptgeschehen an den Rand der Innenstand abgesetzt. Dort, in der Passage einer Einkaufsmeile, wurden sie fündig. Ein gutes Dutzend Linksautonomer bog um die Ecke und es war weit und breit kein Polizist zu sehen.
Hans hatte die Parole ausgegeben, dass bei „Feindkontakt“ die klare Provokation genutzt werden sollte.
„Deutschland den Deutschen!“, drang deshalb sogleich aus 19 Kehlen mehr schlecht als recht synchron, wussten die Schreier doch, dass Gesangskunst für die Wirkung vollkommen unerheblich war.
Andreas vermochte sich ein Grinsen nicht zu verkneifen. Wie gut es jedes Mal wieder funktionierte! Die Linken ließen sich viel zu leicht provozieren. Nie hatte er selbst zuerst handgreiflich werden müssen. Meist reichte seine Anwesenheit, um Autonome zum Angriff zu verleiten. Sie waren der festen Überzeugung, eine Art heiliges Recht auf ihrer Seite zu haben. Dies legitimierte sie dazu, jeden mit allen Mitteln zu bekämpfen, der nicht ihrer Ansicht schien. Er musste schließlich der Böse sein und hatte demnach keinerlei Anspruch, sich zu beschweren. Was Andreas übersah, war die Tatsache, dass seine Kameraden, und schlussendlich ebenfalls er, es ebenso hielten.
Wie dem auch sei, die Antifa ließ man einfach kommen. Das hatte den Vorteil, dass man sich anschließend bei der Polizei auf Notwehr berufen durfte. Das Ergebnis war dasselbe: Die Linken bekamen die Hucke voll. Zumindest bisher immer, wenn Andreas auf der anderen Seite stand.
***
„Scheiß Nazi-Schweine!“ Mag kein allzu kreativer Schlachtruf gewesen sein, aber bei diesem Zeichen gingen die Antifaschisten auf die Neonazis los. Andreas hatte sich wie immer einen Platz in der vordersten Schlachtreihe gesichert. Zunächst wogte es einige Sekunden hin und her, dann fasste sich der erste „Gegendemonstrant“ ein Herz und griff den „PEGIDA-Sympathisanten“ Andreas an. Eine mutige, jedoch geradezu selbstmörderische Aktion.
Die rechte Gerade fing Andreas am Ellbogen des Angreifers mit der linken Hand auf und ließ seine Rechte gegen die Rippen des Mannes krachen. Im fahlen Licht der Einkaufsmeile sah Andreas, dass die „Linken“ Tücher vor ihre Gesichter gezogen hatten. Wie erbärmlich. Sie wollten nicht zeigen, wer sie waren. Schon war der nächste Gegner heran, er hielt etwas in der ausgestreckten Linken.
„Pfefferspray!“, schoss es Andreas durch den Kopf.
Er ließ von seinem ersten Widerpart ab und drückte mit der Rechten die Hand des Bewaffneten ruckartig nach oben. Anschließend fasste er mit der Linken unter dem Arm des Kontrahenten hindurch und verschränkte beide Arme hinter dessen Hals. Dann zog er zu. Seine Arme, die wie Schraubstöcke sein konnten, taten ihr Werk und der Mann röchelte.
Zwei Meter neben ihm sah er einen Kameraden zu Boden gehen. Was diesen getroffen hatte, vermochte Andreas nicht zu erkennen. Wer ihn erwischt hatte, aber schon. Die Gestalt bewegte sich blitzschnell und verpasste dem nächsten Nazi einen seitlich ausgeführten Tritt in die Magengegend, der seine Wirkung nicht verfehlte. Es war eine Frau, daran bestand kein Zweifel. Die Silhouette und die Kampflaute passten nicht zu einem Kerl. Ihr Gesicht hatte sie auch hinter einer Maske versteckt. Andreas ließ von seinem Opfer ab und machte Anstalten zu der Frau zu gelangen. Mit Damen zu kämpfen, widerstrebte zwar seiner Erziehung, aber so eine „linke Nutte“ galt es zu klatschen.
Ein auffällig schlanker Antifaschist versperrte Andreas den Weg und trat dem Hünen wie ein thailändischer Kickboxer in die Rippen. Den Tritt hatte er nicht kommen sehen, doch die Wirkung konnte er leicht wegbeißen. Es fiel ihm dagegen etwas schwerer, seinen Gegner zu fassen zu bekommen. Als Andreas jedoch unter den Faustangriffen wegzutauchen vermochte und die Körpermitte des Kontrahenten umfasste, hob er den Mann wie eine Stoffpuppe auf seine Schulter und katapultierte ihn hinter sich in ein nahe gelegenes Gebüsch.
Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie die linke Kampffurie einen weiteren Gegner mit einer wilden Schlagserie auf das Pflaster schickte. Dies hatte sie jedoch so abgelenkt, dass der Fußtritt von Paul, dem Nazi aus der sächsischen Schweiz, sein Ziel fand und offenbar mit Wirkung ihren Oberschenkel traf. Der Frau entfuhr ein dumpfer Schrei. Im selben Moment revanchierte sich die Dame mit einem geraden Stoßtritt gegen Pauls Brust und sorgte so dafür, dass er wie ein Käfer auf dem Rücken zu liegen kam.
„Achtung! Bullen!“, rief da eine Männerstimme.
Interessanterweise zeigte sich nun erneut eine Parallele zwischen den verfeindeten Kampfgruppen. Beide waren nicht sonderlich darauf erpicht, mit der Staatsmacht in Kontakt zu treten. Zusammen mit zwei Kameraden versperrte er in diesem Moment der „Nutte“ den Weg zurück zu ihresgleichen. Sie gab Fersengeld in die Nacht hinein. Polizeisirenen und ein Gewirr von Rufen begleiteten ihre Flucht.
„Die kauf ich mir!“, zische Andreas, wurde aber von Hans festgehalten.
„Mensch, die ist es nicht wert!“, rief sein Freund aus Kindertagen und schaute ihn etwas besorgt an. „Lass uns abhauen!“
„Nein“, brüllte Andreas und riss sich los. „Die Antifa-Schlampe knall ich heute weg!“
Entgegen der Fluchtrichtung seiner Kameraden lief er in die Nacht und seinem Ziel hinterher.
***
Andreas war kein geübter Läufer. Schon bei der Bundeswehr hatte er das Marschieren und kurze Sprints bevorzugt. Allein eiserner Wille trieb ihn durch die nächtlichen Straßen von Dresden. Seine Beute war alles andere als langsam. Er gestand sich ein, dass er sie ohne den Wirkungstreffer gegen ihren Oberschenkel sicherlich schon längst verloren hätte. So schloss er jedoch stetig auf. Ihm dämmerte, dass er bei diesem Alleingang Gefahr lief, einem Rudel Antifaschisten in die Arme zu laufen. Viele rote Füchse sind des braunen Bären Tod und so. Das war ihm allerdings herzlich egal.
Zeit, daran weitere Gedanken zu verlieren, hatte er ohnehin nicht. Seine Beute flüchtete über eine Hauptverkehrsstraße und er hinterher. Fast hätte ihn bei dieser Aktion ein weißer Kleinbus erwischt. Aber der Fahrer schaffte es noch, voll auf die Bremse zu treten, und dann war Andreas auch schon vorbei. Die Frau drehte sich einige Male um und versuchte, ihren Schritt wieder zu beschleunigen. Offenbar kam ihr ihre Maske ganz gelegen. Andreas merkte, wie die kalte Nachtluft in seinen Lungenflügeln zu brennen begann. Er erinnerte sich an seine militärische Ausbildung und daran, dass Schmerzen nur Informationen des Körpers, aber keine zwingende Handlungsanweisung waren. So versuchte er, durch die Nase zu atmen, und rannte weiter in Richtung Norden hinter der Frau her. Seine Stirn war schweißgebadet. Er entledigte sich der Mütze und schleuderte das durchweichte Stoffteil von sich. Die Kühle auf seinem Schädel hatte zur Folge, dass Andreas zu denken begann.
Zu Andreas Überraschung versuchte die Frau nämlich nicht, um Hilfe zu rufen. Entweder hatte sie damit schon schlechte Erfahrungen gesammelt oder sie fühlte sich in keiner Weise in Gefahr. Andreas kam zu einer erschreckenden Erkenntnis: Die Antifa-Schlampe wollte ihn vielleicht in eine Falle locken!
Lange würde er ihr ohnehin nicht mehr nacheilen können, wenn sie dieses Tempo beibehielt. Sie hatten mittlerweile die Innenstadt verlassen. Die Bebauung wurde industrieller. Vor ihnen tauchten Lagerhallen auf, die in der Vergangenheit besser ausgesehen hatten. Auf eine offenbar leer Stehende hielt die Frau zu. Die Eingangsverriegelung schien schon lange nicht mehr benutzt worden zu sein. Sie öffnete die Tür und verschwand in der Halle. Mit einem metallenen Klacken schloss sich der Zugang wieder. Andreas verlangsamte seinen Schritt.
„Die Maus sitzt in der Falle“, dachte er sich.
Er erreichte die Tür, griff nach der Klinke und hielt kurz inne. Vielleicht lag er falsch. Vielleicht begab er sich gerade in die Höhle einer Löwin …
Kapitel II – Kampf der Geschlechter
Durch die schmutzigen Fenster und Oberlichter fiel der schwache Schein der Straßenlaternen in die ehemalige Auto- und Buswerkstatt. Mehr Licht benötigte Sarah nicht, um sich zurechtzufinden. In den Regalen standen und lagen noch einige alte Farbeimer und verrostete Werkzeuge. Sarah stürzte zum Nächstgelegenen und suchte nach einer passenden Waffe. Sie konnte das schwere Stück Metall nicht genau erkennen, daher wog sie es in der Hand. Hielt sie es, ragte es nur ein wenig aus ihrer Faust heraus und war damit ein passabler „Palmstick“, um ihre Schläge zu unterstützen. So bewaffnet ging sie hinter einem Stapel alter Reifen in Deckung.
„Komm nur, du scheiß Nazi“, dachte sie. „Dich mach' ich fertig!“
Sie griff sich an den immer noch tauben Oberschenkel und fasste den Entschluss, hier lebend herauszukommen, egal was passieren würde. In diesem Moment flog die Tür auf und die bullige Glatze kam herein. Sein Atem ging in heftigen Stößen, während er die Halle mit seinen Blicken absuchte. Sarah atmete kontrolliert, um nicht gehört zu werden. Er schnaufte einige Male und machte sich langsam daran, den Raum zu durchstreifen, die Handflächen auf Schulterhöhe erhoben.
***
Andreas fluchte innerlich:
„Diese verdammte, rote Schlampe! Der reiß' ich den Kopf ab!“ Irgendwo hier musste sie sich verstecken und er wollte verflucht sein, wenn er sie nicht „klatschen“ sollte. Vorsichtig musterte er jedes Detail auf seinem Weg durch die Halle, sehr darauf bedacht, sie zuerst zu entdecken. Nach den Ereignissen der vergangenen halben Stunde mochte er kein Risiko mehr eingehen. Wann hatte je eine linke Zecke alleine vier seiner Kameraden umgeschickt? Nein, ein leichter Gegner war diese Frau sicherlich nicht. Es würde ihm viel Anerkennung einbringen, wenn er sie erwischte. In der Vorfreude dieses Gedankens schwelgend, bemerkte er den folgenden Angriff fast zu spät. Im letzten Moment gelang es ihm, die angewinkelte Rechte noch hochzureißen, und so wurde er von dem Schlag nicht an der Schläfe, sondern am Oberarm getroffen. Ein beißender Schmerz durchfuhr ihn und er brüllte auf. Da war Eisen im Spiel! Das Miststück hatte eine Waffe! Mit einer Hand hielt sie sich an seiner Schulter fest und mit der anderen wollte sie erneut zuschlagen. Andreas aber konnte mit der Linken ihr Handgelenk greifen. Er nutzte die Rechte, um ihre Taille zu umfassen, und riss sie mit einem Ruck an sich heran.
***
Die Aktion kam für Sarah vollkommen überraschend. Auf einmal wurde sie an das Monster herangerissen und damit nahezu handlungsunfähig. Sie hatte nicht erwartet, dass er so stark sein würde. Sein Druck raubte ihr den Atem. Ihre improvisierte Waffe fiel klirrend zu Boden. Ein Ellenbogenschlag mit der Waffenhand erstarb an seiner linken Deckungshand, die geschickt zu ihrem rechten Oberarm gerutscht war. Er zog sie noch näher an sich heran und klemmte ihren Arm zwischen seiner Schulter und seinem Kopf ein. Bevor Sarah ihre Linke zu einem Befreiungsangriff nutzen konnte, kam ihr in den adrenalingestreckten Millisekunden des Kampfes, die für sie wie eine Ewigkeit wirkten, eine erschreckende Erkenntnis.
ES GEFIEL IHR!
Diese Todesnähe, die Gefahr der Auseinandersetzung und die geradezu übermenschlich starken Hände des Mannes weckten in ihr ein Empfinden, das sie in dieser Situation weder erwartet noch überhaupt für möglich gehalten hätte. Ihr Widerstand war bereits geschwächt, als die nun freigewordene Linke ihres Gegners um ihren Kopf herumwanderte und ihren Rücken mit einem Zug am Kinn über seine Hüfte überstreckte. Der Griff ließ ihre Maske verrutschen, sodass ihr Schrei nicht durch Stoff gefiltert wurde. Offenbar hatte ihr Kontrahent das Ziel, sie an sich zu zerdrücken.
***
„Was für ein Weib!“, schoss es Andreas durch den Kopf.
Nicht nur, dass sie deutlich größer war als andere Frauen, sie musste auch sehr sportlich sein. Den meisten Menschen hätte er mit diesem Griff den Rücken verzerrt und hier spürte er nur Muskeln, die flexibel seine Kraft dämpften. Sie war definitiv noch kampffähig und würde ihm die Augen auskratzen, wenn er jetzt einen Fehler begehen sollte. Aus der Schutzposition, in die er seinen Kopf gebracht hatte, warf er einen Blick auf ihr Gesicht. Ihr Mund war unterhalb der Maske deutlich zu erkennen. Unter den bebenden Lippen sah er schöne, gerade Zähne. Ohne einen Gedanken und einem inneren Programmfehler folgend, bewegte er seinen Kopf wenige Zentimeter abwärts und küsste seine Gegnerin. Als sich ihre Zungen kurz berührten, war der Kampf vorbei …
***
Halten wir diese Szene für einen Moment an und vergegenwärtigen uns, was gerade passiert. Ein Mann und eine Frau kämpfen miteinander mit der klaren Absicht, sich schwer zu verletzen oder vielleicht sogar zu töten. Die Frau ist keinesfalls ein Opfer, sondern ein würdiger Gegner. Das Erlebnis ist eine hoch intime Angelegenheit. Sex und Gewalt sind im Gehirn sehr eng verbunden. Dass es, wie hier bei den beiden geschehen, einmal zur falschen Aktion greift, also „balzen“ anstatt „kämpfen“, ist die logische Konsequenz.
Wir Menschen können unsere Höhlenvorfahren nicht ganz verschweigen. Wie in jedem Pudel irgendwie ein Wolf steckt, so hat jeder domestizierte Mann in sich noch den Trieb, eine Frau mit seiner Kraft zu beeindrucken, zu packen und zur Fortpflanzung in die Höhle zu schleppen. Ebenso hält auch manche Topmanagerin im hintersten Winkel ihrer Seele nicht nach dem strahlenden Ritter, sondern nach dem Höhlenmenschen Ausschau, der sie mit starken Armen davonträgt. Um Irritationen vorzubeugen: Dieses archaische Paarungsritual führt nicht zu einer Vergewaltigung. Dazu hatten und haben „normale“ Männlein und Weiblein nämlich keine Lust, aber es eignet sich als Vorspiel. Danach sollte es zärtlicher weitergehen. Wer diese Ausführung für ausgemachten Unsinn hält, der könnte grundsätzlich richtig liegen. Nur geben die mannigfaltigen Paarungsfantasien der Gattung Mensch, die auf ganz ähnliche Aktionen hinauslaufen, und Pornoindustrie, Sexualtherapeuten und institutionalisierte Feministinnen ernähren, einige verdächtige Hinweise in diese Richtung. Damit das Geschehen aber in geordnete Bahnen gelenkt wird, hat sich vor Jahrmillionen die Biochemie etabliert und die schlägt nun bei unserem Versuchspaar voll zu.
Mit dem Zungenkontakt kommt es nämlich zwischen Sarah und Andreas zum Speichelaustausch. In der Mundflüssigkeit befinden sich winzig kleine Botenstoffe, welche die perfide und hundsgemeine Eigenschaft besitzen, über uns die Kontrolle zu haben. Ob jemand zu uns passt, erkennen wir ärgerlicherweise nicht an einem Vergleich unserer Social Media-Profile, sondern an einem direkten Abgleich der gegenseitigen Erbanlagen. Wenn die zusammenpassen, dann stimmt eben die Chemie!
Im Fall der beiden Kampfverschlungenen hat das Schicksal ihnen einen argen Streich gespielt. Ihnen quasi im Sportunterricht vor allen die Hosen heruntergezogen und davon ein virales Internetvideo gedreht. Ausgerechnet der Mensch, der unter mehr als sieben Milliarden Individuen genetisch am besten zu ihnen passt, ist wechselseitig für sie der Inbegriff des Bösen, der negativen Gegenwelt. Nur ziehen sich Gegensätze ja wie eingangs erwähnt an und auf den zweiten Blick gilt zudem: Gleich und gleich gesellt sich gern. Dieser Aspekt ist für eine lange, glückliche Beziehung von großer Bedeutung. Das werden wir noch näher betrachten dürfen …
***
Der Hüne lockerte seinen Griff, sodass Sarah sich hochzuziehen vermochte. Schnell brachte sie einige Meter Abstand zwischen sich und ihn. Sie riss sich die Maske ganz vom Kopf und atmete in tiefen Zügen. Aus seinem Blick war unschwer zu lesen, dass er mindestens ebenso erstaunt schien wie sie. Sie musterte seine Statur, die kräftigen Arme und das markante Gesicht unter der Glatze und kam zu dem Entschluss, dass er ein attraktiver Mann war. Ein wirklich, wirklich attraktiver Mann.
„Und was nun?“, fragte ihr Blick nach ein paar Atemzügen.
„Weiß nicht“, antwortete er ebenso stumm.
Sie musste es einfach wissen. Mit zögerlichen Schritten kam sie wieder näher und wechselte dabei mit ihrem Blick ständig zwischen seinen Händen und seinen Augen. Als sie nahe genug heran war, nahm sie sein Gesicht langsam und vorsichtig, so als ob sie ihn nicht verscheuchen wollte, in ihre Hände und küsste ihn erneut. All ihre Sinne und auch ihre Seele spürten es. Da war eine Verbindung, die ohne ein Wort auskam und sich einfach richtig anfühlte. In ihr regten sich Gefühle, die sie so nicht für möglich gehalten hätte, und sie spürte, dass es ihm ebenso erging. Nach einer endlos wirkenden Zeit legte er vorsichtig seine Hände auf ihre Hüften und jetzt war es um Sarah geschehen. Sie löste sich aus seiner Umarmung und entledigte sich ihrer Stiefel. Dann öffnete sie ihre Jeans und streifte Hose und Slip ab. Das Ziel ihres Begehrens tat es ihr gleich und so konnte sie in dem schwachen Lichtschein sein aufgerichtetes Gemächt sehen. Sie deutete auf eine alte Decke in einem Regal.
„Leg' die unter und dich auf den Rücken!“
Gehorsam kam er ihrem Befehl nach. Ein Umstand, den eine überzeugte Feministin durchaus erregend findet. In einer für Andreas‘ Verhältnisse geradezu genialen, auftragstaktischen Interpretation legte er die Decke vor eine Ansammlung alter Reifen und lehnte sich dort an. Eine gute Entscheidung in Anbetracht dessen, was nun folgen sollte.
Sie stieg über ihn und ließ sich langsam auf sein bestes Stück gleiten, das sie mit ihrer rechten Hand in sich einführte. Auch das fühlte sich richtig an. Sarah hatte schon kurze Beziehungen und Abenteuer gehabt. Aber die physische Kompatibilität mit diesem Mann stellte all ihre Erfahrungen in den Schatten. Seine Hände fanden den Weg zu ihren Brüsten und streichelten ihren Hintern. Wäre der Boden nicht so hart an ihren Knien und die Halle nicht so kalt gewesen, sie wäre direkt zum Höhepunkt gekommen. Auch so dauerte ihr Ritt nicht mal eine Minute, bis sie um ihn und er in ihr explodierte.
***
Andreas ließ beide Hände auf den Pobacken der Kommunistin liegen. Erstens weil ihm ihr Hintern wirklich gefiel und zweitens weil er sie so etwas zu wärmen vermochte. Er roch vorsichtig an ihrem Hals und ihren Haaren und merkte, dass seine Erektion in keiner Weise nachließ.
„Was für ein Weib!“, schoss es ihm erneut durch den Kopf.
„Du kannst noch mal?!“, fragte sie fordernd.
„Ja“, antwortete er unterwürfig.
„Ich will, dass du hinter mich kommst!“, befahl sie.
Sie stand auf und er konnte sehen, wie sein Penis aus ihr herausglitt und diesem eine Ladung Sperma folgte. Sie störte das offensichtlich nicht, als sie sich einige Meter entfernt an einem Regal festhielt, vornüberbeugte und ihm die blanke Kehrseite präsentierte. Andreas kam flink auf die Beine und hinter sie. Er fasste mit der Rechten ihre Hüfte und führte mit der Linken sein bestes Stück in sie ein. Er erkannte sofort, dass sie offenbar gerne an den Hüften und dem Po gepackt wurde, und so hielt er sie dort, während er mit schneller werdenden Bewegungen ihren Wunsch erfüllte. Ihr Stöhnen zeigte ihm, dass es ihr gefiel und er merkte mit erneut wachsender Erregung, dass sie sich nur noch mit einer Hand festhielt und gleichzeitig mit der anderen ihr Lustzentrum selbst stimulierte. Andreas genoss den Anblick ihres festen und üppigen Hinterteils. Ein abschließender, tiefer Stoß und eine warme Ladung verschafften ihm nie erfahrene Erfüllung. Wenige Augenblicke später stöhnte auch sie noch einmal deutlich auf und wurde von einem erneuten Orgasmus geschüttelt.
***
Sie waren beide von der Erfahrung überwältigt und sprachen zunächst kein Wort. Andreas reichte ihr Taschentücher und nutzte selbst eines für seine Männlichkeit. Sarah formte sich eine improvisierte Slipeinlage und zog sich wieder an.
„Das war gut“, sagte sie.
„Ja“, bestätigte er.
„Magst du mitkommen?“, fragte sie.
Andreas nickte, während er seinen Gürtel schloss. Sarah griff seine Hand und führte ihn aus der Halle in die kühle Dresdner Herbstnacht.
***
Herr Strazinski war ein einfacher Mann. In seinen 34 Jahren im Hotelgewerbe hatte er schon so manche seltsamen Gäste erlebt. Er besaß in seiner Erinnerung eine regelrechte Sammlung. Da war zum Beispiel die Sängerin 1998, als er noch im Münchener „Vier-Jahres-Zeiten“ gearbeitet hatte. Die Dame war mehr als einen Kopf größer als er gewesen, hatte einen klaren Bass und hörte in ihrer Jugend wohl auf den Vornamen „Herbert“. Er hatte sie immer zuvorkommend mit „Gnädige Frau“ angesprochen und dafür ein üppiges Trinkgeld erhalten. Oder die Rockband im „Welcome“ in Essen 2006. Der Name der Gruppe fiel ihm nicht mehr ein, aber er wusste noch, wie er die Bardame und seine Chefin sehr vergnügt und leicht zerzaust aus dem Zimmer des Sängers hatte kommen sehen. In den Jahren waren ihm wirklich einige bunte Vögel untergekommen.
Sein Blick wechselte zwischen den „Kampf gegen Rechts“-Aufnähern auf der Jeansjacke der Frau und dem „Thor Steinar“-Kapuzenpulli, den der Mann unter seiner offenen Bomberjacke trug. Ohne Zweifel: eine Autonome und ein Nazi. Die Frau reichte ihm den Anmeldebogen für das Doppelzimmer in dem kleinen Hotel zurück und streckte ungeduldig die Hand aus.
„Schlüssel! Und Mund zu!“, befahl sie.
Strazinski klappte auf Kommando die Kiefer zusammen und reichte wortlos den Schlüssel über die Theke. Dann schaute er den beiden nach, wie sie im Sturmschritt in Richtung erster Stock verschwanden. Seiner Menschenkenntnis zufolge musste das junge Paar schon eine Weile und ausgesprochen innig zusammen sein. Solcherart perfekte, nonverbale Kommunikation verbunden mit synchronisiertem Marschieren erlangten nach seiner Erfahrung meist nur langjährige Ehepaare. Er schüttelte den Kopf. Mit derart weit auseinanderliegenden politischen Grundpositionen ging es zu Hause sicherlich oft hoch her. Er warf einen Blick auf den Anmeldebogen.
„Rosa und Karl Luxemburg aus Berlin“, sagte er zu sich.
Bestimmt. Aber bei diesen entschlossenen Gesichtsausdrücken und der guten Geschichte für seine Sammlung sollte das schon passen.
***
Im Zimmer drehte Sarah erst einmal die Heizung voll auf. Sie liebte es warm. Nackt schlafen, ohne Bettdecke, das war für sie schon als Kleinkind ein Akt der Rebellion gewesen. Sie wandte sich dem Mann zu, der soeben die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, und begann sich in gemessener Geschwindigkeit auszuziehen. Andreas verfolgte wie paralysiert jede ihrer Bewegungen, bis sie sich im Evakostüm aufrecht auf das viel zu weiche Doppelbett kniete und ihn mit dem Zeigefinger der rechten Hand und einem entschlossenen Blick zu sich gebot. Andreas entledigte sich hastig seiner Kleider und kam zu ihr, woraufhin sie ihn auf sich zog, die Beine um ihn schlang und erneut die Seine wurde.
***
Es war 4.45 Uhr, als Andreas merkte, dass er nicht alleine wach war. Er schnaufte einmal kurz zufrieden und schob vorsichtig seinen Arm unter ihrem Nacken hindurch. Sarah genoss die Umarmung und rückte näher an ihn heran.
„Hallo“, sagte Andreas.
„Hallo“, bekam er als Antwort.
„Wie heißt du?“
„Sarah.“
„Andreas.“
Es folgte eine Pause.
„Das war ziemlich heftig“, stellte Andreas fest.
„Ähm … ja.“
„Ich habe noch nie mit einer Frau …“
„Was?!“, rief Sarah ungläubig und verwundert zugleich.
„Nein … ich meine … ich habe noch nie so häufig mit einer Frau geschlafen“, erklärte er und berührte sie dabei gedankenverloren an der Hüfte.
„In einer Nacht?“
„Überhaupt. … Es war entweder eine Eine-Nacht-Beziehung oder hielt nur eine Woche.“
Sarah bemerkte, dass er in Nazimanier die geläufigen, englischen Begriffe vermied.
„Aber das … es war unglaublich“, sagte Andreas hörbar fassungslos.
„Ja … das war toll. … Du bist ein guter Stecher“, raunte sie.
„Das freut mich. Die anderen Mädels waren da wohl nicht deiner Meinung“, antwortete er im Ton eines Fachmanns.
Sarah merkte, dass diese abfällige Bezeichnung eines männlichen Sexualpartners bei Andreas ihre Wirkung verfehlte. Subtile Hinweise treffen bekanntlich bei Menschen mit XY-Chromosomenkombination, gemeinhin auch als M-A-N-N klassifiziert, nicht so schnell auf fruchtbaren Boden. Bei diesem Exemplar wäre wohl die „Bratpfanne-auf-Kopf-Taktik“ besser geeignet gewesen. Der Sex war klasse. Das musste sich Sarah eingestehen. Aber dieser Kerl schien so sensibel und einfühlsam wie ein Felsbrocken.
„Wie heißt du weiter?“, fragte er.
„Stahl“, die Antwort kam aus Reflex. Keine bewusste Entscheidung initialisierte sie. Sarah hatte ihm das eigentlich nicht verraten wollen.
Es folgte eine Pause und dann … lachte Andreas aus vollem Hals los.
„Was ist?!“, fauchte Sarah an seiner Seite.
Jedem anderen Mann wäre das eine deutliche Warnung gewesen. Aber nicht unserem Maurer aus Frankfurt-Oder. Er machte es nur noch schlimmer und erzürnte seine persönliche Rachegöttin aus dem Westen.
„Sarah, wir müssen einfach heiraten! Ich wäre dann auch für einen Doppelnamen“, sagte er lachend.
„Wieso?“, knurrte sie.
„Na, ich heiße Krupp. Ich heirate also die S.S. und an unserer Wohnungstür steht dann ‚S.A. Krupp-Stahl‘ und keiner …“, sein schallendes Lachen wurde von einem dumpfen Schlag und einem deutlichen Röcheln unterbrochen.
Einer perfiden Laune der Natur folgend haben Frauen meist spitzere Ellenbogen als Männer. So ein spitzer Ellenbogen, der zudem noch zu einer trainierten Kämpferin gehörte, hatte Andreas soeben in seine Seite getroffen und raubte ihm kurz den Atem. Er rollte sich herum und versuchte, den Schmerz wegzuatmen. Sarah indes sprang erbost auf, drückte den Lichtschalter und zog sich hektisch an.
„Du Nazi-Arsch!“, brüllte sie. „Was ist nur über mich gekommen, dich zu ficken! Irgendein Penner von diesen Schlaffies muss was ins Essen gemischt haben. Und … und ich vögle dann dem dümmsten aller Glatzen in Dresden den letzten Rest seines ohnehin beschissen kleinen, schwanzgesteuerten Gehirns raus. Verdammter, verfickter Bullshit!“
Sie griff ihre Jacke und wollte gehen, während sich Andreas sammelte.
„Mmhmmer …“
„Was?!“, brüllte sie.
„Herrscht jetzt da drüben endlich mal Ruhe! Hier wollen Leute schlafen!“, drang eine dumpfe Männerstimme durch die Wand.
Sarah hechtete zur Wand und schlug mit der flachen Rechten mehrfach dagegen.
„Halt dein Maul, sonst komme ich rüber und reiß dir deinen verwichsten Sack ab!“, sprach's deutlich und nur wenige Zentimeter von der Wand entfernt.
Der Drohung folgte ein Tritt gegen das Nachttischchen, welches scheppernd umfiel. Sie wandte sich dem nun fast etwas ängstlich schauenden Andreas zu:
„Was?!“
„MmNummer“, keuchte er. „Ich will deine Nummer.“
„Vergiss es einfach“, erwiderte sie.
Sarah schlüpfte in ihre Jacke und ging schnell zur Tür. Als sie die Klinke berührte, dachte sie kurz nach, schnaufte und drehte sich um.
„Gib mir deine. Ich melde mich … vielleicht“, erklärte sie.
Andreas' Schmerz schien auf einmal verschwunden. Er warf sich über das Bett und nestelte auf dem Bauch liegend sein Smartphone aus der Bomberjacke.
„0-1-6-0-5 …“, diktierte er langsam.
Sarah tippte die Zahlen schnell unter dem Kontakt „Nazi-Arsch“ ein. Danach steckte sie ihr Handy weg und zog drei Zehn-Euro-Scheine aus ihrem Portemonnaie, die sie auf den Boden warf.
„Denk ja nicht, dass ich für irgendwas bezahle. Das ist mein Anteil an den Zimmerkosten“, verkündete sie.
Danach stürmte sie hinaus und ließ die Tür krachend zufallen. Andreas verharrte noch einen Moment und sank dann wieder ins Bett.
„Oh Mann, was für ein Weib …“, sagte er leise.
Kapitel III – „Auf deinen Lehrmeister hören du sollst …“
Samstag, fast zwei Wochen später, ein Stück nord-westlich von Frankfurt am Main.
Sarah kam wieder einmal mehr als eine Viertelstunde zu früh. Normalerweise war sie kein Mensch von übertriebener Termintreue. Ging es aber um diese Sache, so hatte sie sich angewöhnt, nicht zu spät zu kommen. ER schätzte das als Charakterschwäche ein und sie erkannte stets, wie recht ER damit hatte. Viel zu früh da zu sein, war jedoch auch keine Alternative. Also wartete sie einen weiteren Moment im Auto. Immerhin konnte sie so noch einmal ihre E-Mails checken und die Einträge in ihrem Smartphone aktualisieren. Das war ohnehin seit Dresden ihre Lieblingsbeschäftigung. Sie ging alle Kontakte durch und blieb immer wieder an der besonderen Nummer hängen. Dieser Eintrag hatte sich im Laufe der Zeit gewandelt. Aus „Nazi-Arsch“ war zunächst „Blöder Nazi-Arsch“ geworden. Danach „Scheiß, verfickter Nazi-Arsch“ gefolgt von „Elender, fetter, scheiß Nazi-Arsch“ und „Notgeile Nazi-Arsch-Dumpfbacke“. Heute las Sarah nun „Mein süßer, geiler Nazi-Arsch“ auf dem Display.
Sarah seufzte und änderte den Eintrag erneut, dieses Mal in „Mein süßer Nazi“. Danach stieg sie aus dem neuen 3er BMW, warf die Tür zu und ging rüber zu dem beschaulichen Einfamilienhaus mit der blauen Fassade. Ihre Haare hatte sie mit Spangen gebändigt und über dem schwarzen Trainingspullover mit den roten, chinesischen Schriftzeichen trug sie eine ebenfalls schwarze Outdoorsportjacke. Ihre restliche Ausstattung befand sich in dem dazu passenden Sportrucksack. Anzeichen, dass es sich bei Sarah um eine Linksextremistin handelte, vermochte selbst der aufmerksame Beobachter in einem etwas entfernt stehenden, dunklen Fahrzeug nicht zu erkennen. Er verstand es dafür vortrefflich, von ihren Blicken unbemerkt zu bleiben.
***
Sarah klingelte. Sie musste nicht lange warten, bis ihr eine Frau Anfang 40 öffnete. Sie hatte braune von weißgrauen Strähnen durchzogene Haare und war ein deutliches Stück kleiner als Sarah. Ihre Körperstatur um die Leibesmitte herum verriet ebenso wie der Spiellärm aus dem nahen Wohnzimmer, dass sie mehrfache Mutter sein musste.
„Guten Tag, Simo.“
Sarah verbeugte sich kurz höflich und reichte der Älteren, die sie mit dem chinesischen Wort für „Lehrmutter“ bedacht hatte, die Hand.
„Hallo, schön dich mal wieder zu sehen“, sagte die Angesprochene. „Komm' herein. Wie geht es dir?“
Sarah trat ein und sogleich kamen die Kinder der Familie im Alter von vier bis zehn Jahren zum Hauseingang und begrüßten die „Sije“, ihre „ältere Lehrschwester“. Sarah grüßte alle freundlich und tätigte ein paar allgemeine Aussagen zu Universität und Familie. Ihre Kurse liefen in diesem Semester ausnahmslos sehr gut und der Vater hätte sich beim Golfen vor Kurzem den Knöchel verstaucht.
„Dein Sifu ist schon im Kwoon“, sagte die Frau und deutete auf die Treppe.
„Dürfen wir bitte miiittt“, quengelte das jüngere der beiden Mädchen, eine sechsjährige, rotzfreche Blondine.
„Nein, Sarah und Papa haben heute viel vor. Da darf niemand stören.“
So zog Sarah schnell ihre Trainingsschlappen an und ging die Treppe hinunter.
***
Die Kampfkunsttrainingshalle ihres „Lehrvaters“ – den man im chinesischen Dialekt des Kantonesisch als „Sifu“ bezeichnet – war kaum mehr als ein Partykeller mit hoher Decke, in dem einige Trainingsgeräte standen. Durch die Kellerfenster fiel genug Licht herein, um am Tag auf die Deckenlampe verzichten zu können. Der Großmeister des chinesischen Wing Chun Kuen stand an einer Holzpuppe. Einer Konstruktion aus einem Stamm und abgerundeten Holzstücken, welche die Arme und Beine eines Gegners darstellen sollen. Seine Handtechniken und Fußtritte sorgten für ein rhythmisches Klacken. Sarah verneigte sich auf der Türschwelle stehend vor dem Bild eines alten Asiaten, das prominent in der Mitte der gegenüberliegenden Wand hing. Es war der längst verstorbene, chinesische Großmeister Yip Man. Der auf seinem Leben beruhende Kinofilm hatte sie 2009 zu der Kampfkunst und zu diesem Lehrer geführt.
Ihr Sifu war nur unwesentlich größer als sie und sein kurzes, einst vollständig blondes Haar zeigte Ansätze, in Ehren ergrauen zu wollen. Obwohl er schon Mitte vierzig war, hatte sie bisher nur wenige Menschen gesehen, die es schafften, Bewegungen mit der gleichen Dynamik wie er auszuführen. Im Training schien es so, als ob er jede ihrer Aktionen bereits im Voraus erkannte. Das gelbe T-Shirt mit den schwarzen, chinesischen Schriftzeichen und die schwarze Hose mit den breiten, gelben Streifen um die Knie herum passten farblich nicht so ganz zu ihm, aber ausgezeichnet zu dem, wofür er stand. Er inspirierte Sarah regelmäßig durch seinen Unterricht und half ihr, sich in vielen Dingen weiterzuentwickeln. Politisch waren sie nie einer Meinung. Er hatte eine liberale Grundhaltung und so lernte Sarah, kritische Themen besser auszuklammern. Ihr Sifu konnte sehr überzeugend sein.
Als er sie bemerkte, drehte er sich um. Sogleich verbeugte sich seine Schülerin, ohne den Blick von ihm abzuwenden, und legte anschließend vor der Brust die rechte Faust an die linke, flache Hand zu einer Begrüßungsgeste. Er erwiderte die Begrüßung und kam auf Sarah zu, um sie kurz aber herzlich in den Arm zu nehmen.
„Schön, dass du da bist. In letzter Zeit fragen alle im Training, wo denn die Sije steckt.“
„Ich will auch gerne wieder häufiger kommen, nur ist es mit der Uni gerade etwas stressig“, log Sarah vergleichsweise glaubwürdig.
Den wahren Grund bildeten ihre politischen Aktivitäten, die sie unter allen Umständen vor ihrem Sifu geheim halten wollte.
„Soso“, sagte er und vermittelte ihr den Eindruck, ihre Flunkerei genau zu durchschauen. „Dein dritter Lehrergrad wartet auf dich. Wir haben heute einiges vor.“
***
Das Wing Chun Kuen, kurz Wing Chun, ist eine chinesische Kampfkunst, die der Legende nach Anfang des 19. Jahrhunderts von der buddhistischen Nonne Ng Mui entwickelt worden ist. Die Stilbegründerin habe den Kampf zwischen einem Kranich und einer Schlange beobachtet und auf dieser Basis ein vollkommen neuartiges Kampfsystem erschaffen. Forschungen in unserer Zeit haben ergeben, dass es nicht eine, sondern mehrere Begründer des Kampfsystems gegeben haben muss. Zudem waren wohl nicht Tiere, sondern Kampfstile entscheidend. Vermutlich hatten die Entwickler, bei denen es sich um Meister verschiedener chinesischer Stile gehandelt hat, zudem Kontakt zu einer uralten, thailändischen Art des Kämpfens, dem Ling Lom. Diese Interpretation des Kampfes ist dem Wing Chun Kuen heute noch derart ähnlich, dass jener Verdacht zumindest naheliegend ist.
„Wing Chun“ bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie „Ode an den Frühling“ oder „Lobgesang dem Frühling“. „Kuen“ bedeutet „Faust“ und steht damit für einen „Kampfstil“. Während die chinesischen Kampfkünste bei uns meist als „Kung Fu“ bezeichnet werden, was „eine Fähigkeit, die man sich durch harte, aufopferungsvolle Arbeit erwirbt“ beschreibt, verwendet man in China hierfür auch die Bezeichnung „Wu Shu“. Der Begriff umschreibt jene Praktiken, die entwickelt wurden, um sich gegen eine gewaltsame Bedrohung zu verteidigen.
Der von Sarah praktizierte Selbstverteidigungsstil existiert in einer ganzen Reihe von europäischen Schreibweisen, von denen Wing Chun, Ving Tsun und Wing Tsun die gebräuchlichsten sind. Sarahs Sifu verwendete die international am häufigsten übliche: Wing Chun, obwohl er immer vom „Wing Tschun“ sprach. Dies hatte die sonst so kritische Schülerin nie infrage gestellt.
Kurz nach ihrem 15. Geburtstag war Sarah in eine große kommerzielle Kampfkunstschule eingetreten. Das wurde ihr jedoch bald zu unpersönlich. Ihr Vater kam schließlich mit einem Geschäftskontakt an, der auch privat unterrichtete. Ein Probetraining genügte und sie war Feuer und Flamme. Sie hatte ihren Sifu gefunden. Mit finanzieller Unterstützung des lieben Herrn Papa vermochte sie es sich zu leisten, von Anfang an viel Privatunterricht zu nehmen. Verbunden mit einem nicht zu unterschätzenden Talent für diesen Kampfstil kam sie schnell voran und entwickelte eine gute Beziehung zu ihrem Lehrer. Tief in ihrem Inneren verabscheute sie sich dafür, ihm vorzuenthalten, welche Kämpfe sie für die Antifa auszufechten pflegte.
***
In vielen Traditionen des Wing Chun Kuen sind die Lernfortschritte ähnlich wie in japanischen Stilen in Graduierungen dokumentiert. Nach einer von Schule zu Schule unterschiedlichen Anzahl an sogenannten Schülergraden kommen als Äquivalent zu den Schwarzgurten die häufig als „Technikergrade“ bezeichneten, höheren Stufen. Technikergrade, die zudem eine Unterrichtsqualifikation haben, nennt man in einigen Schulen „Lehrergrade“. Als Anwärterin auf den dritten Lehrergrad war Sarah bereits sehr weit in die Grundideen der Kampfkunst vorgedrungen. Besonderer Höhepunkt ihres aktuellen Trainingsprogramms blieb der Umgang mit der schon erwähnten Holzpuppe, die es ihr auch im Kinofilm angetan hatte. Angriffe und Abwehren mit Händen und Füßen werden dabei an dem Trainingsgerät, häufig nach einer festen Abfolge, geübt.
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