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Der Südkoreaner Kim ist gerade 20 geworden und beginnt in Berlin zu studieren. Seinen Eltern gelang einst die Flucht aus Nordkorea in den demokratischen Süden. Yun ist ebenfalls 20. Sein Vater ist nordkoreanischer Diplomat in Deutschland. Am Rande einer Diskussionsrunde in der Studentenschaft geraten Kim und Yun aneinander. Während der eine für eine freie und offene Gesellschaft eintritt, ist der andere ein glühender Verehrer seines großen Führers. Die Affäre spitzt sich zu, als sich beide in dieselbe Frau verlieben. Die Ehre verlangt von den Tae Kwon Do-Kämpfern, ihren Konflikt im sportlichen Wettkampf auszutragen. Da ihre Stile der Kampfkunst im Vollkontakt nicht vergleichbar sind, einigen sie sich auf ein Reglement, dessen Härte sie zuvor nie gespürt haben. Ihre Interpretationen des Tae Kwon Do wollen sie im brutalen K1-System auf die ultimative Probe stellen. Während die Spannungen zwischen ihren Heimatländern einen neuen Krieg befürchten lassen, gehen sie an ihre Grenzen und bereiten sich auf einen Kampf vor, der entgegen dem Himmel zu verlaufen verspricht ...
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Prolog
Im fremden Bienenstock
Die Faust des Volkes
Freundlicher Feind und feindlicher Bruder
Kunterbande in Gefahr
Kinder der Kaderschmiede
Spartanisch aber...
An der Schwelle des Krieges
Gekreuzte Tritte
Extrem und schizophren
What the fuck?! Was zum Teufel?!
Liebe, Schmerz und Zorn
In Ehre fordern
Intermezzo
Das fliegende Bein
Die leere Hand
Der Weg ist das Ziel
Feindbilder
Ein schwarzer Freitag
Rettungsteams
Liebe und Hass
In der Arena
Runde eins
Runde zwei
Runde drei
Zwei Sieger
Epilog
Schlusswort
Über den Autor
www.jasmins-tae-kwon-do.de
Korea. Lasst Euch dieses Wort einmal auf der Zunge zergehen und spürt, wie Euch die drei Silben erfüllen. Ko-Re-A, das ist weit mehr als der Name eines Landes, welches so unglaublich weit weg von uns liegt. Es ist die Umschreibung einer Geschichte. Einer Geschichte des Zaubers und der Faszination einer fremden Welt. Der Welt der asiatischen Kampfkünste. Diese Welt besteht aus einer kaum zu zählenden Anzahl an Kampfstilen. Einer der bekanntesten und zugleich geheimnisumwobensten dieser Stile stammt aus diesem Ko-Re-A.
Hallo und willkommen auf meinem neuen Blog!
Ich heiße Jasmin, Jasmin Feuerbach. Feuerbach, so wie bei Ludwig Feuerbach, dem bekannten Philosophen. Meinem Vater nach sind wir auch tatsächlich mit ihm verwandt, aber belegen kann ich das nicht.
Mein Lebensmittelpunkt liegt in Berlin. Dort studiere ich an der Joseph von Fraunhofer-Universität Medienpädagogik und möchte damit in die Erwachsenenbildung gehen. Meine Leidenschaft ist der Kampfsport. Ich betreibe seit meinem elften Lebensjahr Kickboxen undhabe den 2. Dan (das ist die 2. Stufe des schwarzen Gürtels). Mein Vorbild ist der Weltmeister Matthias Schmidt (Verband: IKBAA, Reglement: K1). Seine Tritttechniken sind von einem anderen Stern. Das kommt daher, weil die Basis dafür das koreanische Tae Kwon Do ist. Das ist eine Kampfsportart, deren Spezialität vielseitige, schnelle und vor allem wirkungsvolle Tritte sind.
Ihr fragt Euch jetzt sicher, was Ihr in Zukunft in meinem Blog erwarten könnt. Zugegeben: Der Titel ist etwas sperrig, aber ich habe mir lange und gründlich überlegt, wie ich den Blog überschreiben soll und warum ich ihn gerne so und nicht anders benennen möchte. Unter „Tae Kwon Do“ verstehe ich nicht nur die Kampfkunst, welche in letzter Zeit auch immer stärker meinen eigenen Stil im Kickboxen prägt, sondern die Philosophie, den Lebensweg weise und gewaltfrei mit Fuß und Faust zu bestreiten. Hier kommt nun wohl doch die Neigung meines Vorfahren zur Philosophie durch, wenn ich auch im Gegensatz zu ihm nichts mit Religionskritik am Hut habe.
Auf meinem Blog soll es um Kampfkunst und vor allem, um deren Bedeutung als Sport gehen. Neben Kommentaren zu Profi- und Amateurkämpfen will ich mit Euch persönliche Einblicke in verschiedene Kampfkünste teilen. Den Schwerpunkt werden dabei das Kickboxen und das Tae Kwon Do bilden. Wie aber der Titel des Blogs schon beinhaltet, soll es auch um meinen Lebensweg mit dem Kampfsport gehen. In den jetzt fast 23 Jahren, die ich erst auf dieser Welt bin, durfte ich bereits einige außergewöhnliche Dinge erleben. Meine Erfahrungen möchte ich gerne mit Euch teilen.
Warum? Das ist ganz einfach. Ihr sollt die Möglichkeit bekommen, nicht die gleichen Fehler wie ich machen zu müssen. Manchmal muss man nur den Mut haben, die Entscheidungen zu treffen und zu sich selbst zu stehen. Wenn man das nicht tut, dann übernehmen andere gerne die Initiative für einen. Das habe ich auch im Kampfsport so gelernt.
Hält man sich nicht an diese Lehre, dann bekommt man im Kampf schnell etwas auf die Nase. Das ist auch im Leben so. Vergisst man die Regel, kann das zu großen Verstörungen führen und wirklich ... wirklich viel Ärger bedeuten.
Ich habe jedenfalls bis vor Kurzem nicht den Mut gehabt, zu mir selbst zu stehen, und das hat viele total überflüssige Probleme provoziert. Leider kann ich das im Nachhinein nicht mehr gutmachen. Mein Blog soll aber anderen helfen, weniger Angst zu haben und im richtigen Moment offen zu sein. Geht Euren Weg gewaltfrei mit Fuß und Faust!
Die Geschichte, die mir passiert ist, hat mit Kampfsport und zwei sehr interessanten Kerlen zu tun. Damit Ihr die Ereignisse richtig versteht, müsst Ihr wissen, dass sie beide Koreaner sind. Hier ist es wieder: Ko-Re-A.
Der eine kommt aus dem Norden, der andere aus dem Süden. Wer weiß, wie verschieden ein Hamburger und ein Münchener sein können, der hat noch keine Vorstellung davon, was die unterschiedliche Herkunft für einen Koreaner bedeutet. Damit Ihr nicht selbst anfangen müsst zu recherchieren, kommt hier nun ein kurzer Überblick für Euch.
Korea ist geografisch gesehen eine Halbinsel und liegt, von China aus betrachtet, im Südosten. Im Norden grenzt diese Halbinsel nicht nur an China, sondern auch mit einem kleinen Stück an Russland. Im Süden ist Japan als Nachbarstaat am nächsten gelegen. Schon seine Lage ist bedeutend für Korea, war es doch immer von mächtigen Staaten umgeben. Häufig wurde es von eben diesen kontrolliert.
Noch bis 1895 stand das koreanische Königreich unter der Vorherrschaft Chinas. Danach entstand für kurze Zeit ein Kaiserreich Korea. 1905 eroberten die Japaner Korea und erklärten es 1910 zu ihrer Kolonie und damit zu einem Teil Japans. Während der Besatzungszeit versuchten die Japaner, Korea eng an sich zu binden, und unterdrückten die Bräuche und Lebensweise der Koreaner. Das galt auch und gerade für die traditionellen Kampfkünste auf der Halbinsel, welche durch japanische Einflüsse verdrängt werden sollten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 wurde Korea unabhängig. Wie auch bei uns in Deutschland gab es jedoch zwei Besatzungszonen der Siegermächte. Den Norden kontrollierte Russland, beziehungsweise die Sowjetunion, den Süden hielten die USA, also die Amerikaner. Die Grenze am 38. Breitengrad wurde rein willkürlich und ohne Mitsprache der Koreaner gezogen.
1948 entstanden zwei unterschiedliche Staaten auf der Halbinsel. Die „Demokratische Volksrepublik Korea“ wurde nördlich des 38. Breitengrades ausgerufen und folgt einem sozialistischen Staatsmodell. Im Süden bildete man die „Republik Korea“, welche die Regierungsform einer westlichen Demokratie haben sollte, lange Zeit aber eine Militärdiktatur war.
Soweit erinnert die Entwicklung in Korea an die bei uns in Deutschland (wobei Westdeutschland natürlich nie vom Militär beherrscht wurde). Doch dann gab es eine total unterschiedliche Wendung zu unserer Geschichte in Europa. Während die Bundesrepublik und die DDR sich im Großen und Ganzen in Ruhe ließen und ihre Geschicke von den Besatzungsmächten bestimmt wurden, ging man in Korea andere Wege. Beide neuen Staaten sahen sich als rechtmäßige Vertreter des gesamten koreanischen Volkes. Man war auch bereit, darum zu kämpfen.
Am 25. Juni 1950 passierte die Nordkoreanische Volksarmee die Grenze am 38. Breitengrad und der Koreakrieg begann. Während die Vereinten Nationen (UNO) mit Truppen aus mehreren Mitgliedsstaaten unter Führung der Amerikaner auf der Seite des Südens kämpften, erhielt der Norden Unterstützung von China und Russland. Die Kämpfe dauerten bis zum 27. Juli 1953. Bis zu vier Millionen Menschen kamen ums Leben. Wie viele es genau waren, weiß niemand. Beinahe die ganze Industrie Koreas wurde zerstört. Es gab aber keinen Friedensschluss, sondern nur einen Waffenstillstand. Eigentlich befinden sich die beiden Staaten immer noch im Krieg. Gegenseitige Provokationen waren ein fester Teil ihrer Beziehung zueinander. Häufig fehlte nicht viel und das Kämpfen und Töten hätte von vorne begonnen.
Während sich der Süden in den darauffolgenden Jahrzehnten zu einer modernen Industrienation entwickelte, und 1987 schließlich auch eine wirkliche Demokratie wurde, blieb der diktatorisch geführte Norden zurück. Die Teilung verfestigte sich. Das ist sehr gut daran zu erkennen, dass es in beiden Staaten sogar unterschiedliche Bezeichnungen für „Korea“ gibt. In Nordkorea wird das Land „Choson“ genannt. Das kommt vom ersten koreanischen Königreich „Go-Joseon“ und der späteren Joseon-Dynastie. In Südkorea spricht man dagegen von „Hanguk“, was in etwa „Han-Reich“ bedeutet. Dieser Begriff geht auf die historischen Staaten Byeonhan, Mahan und Jinhan zurück. Sie bildeten zusammen den Bund „Samhan“, also „drei Han“.
Furcht und Misstrauen kennzeichneten die gegenseitige Wahrnehmung. Dieses Empfinden betraf alle Lebensbereiche, auch den der Kampfkünste.
Korea hat eine über Jahrtausende zurückreichende eigene Kampfkunsttradition. Der bekannteste traditionelle Stil ist das Taekkyon. Diese auf Tritte basierende Kampfsportart wurde während der japanischen Besatzungszeit unterdrückt. Die Japaner sahen es lieber, wenn die Koreaner Judo oder Karate übten. Damit wurden die ursprünglichen Kampfkünste auf der Halbinsel fast ausgelöscht.
In dieser Zeit lernten etliche Koreaner Karate und einige herausragende unter ihnen begannen, im Süden den Stil an ihre Bedürfnisse anzupassen. Die Koreaner sind es gewohnt, Hügel und Berge zu Fuß zu überwinden. Zur Zeit der Unabhängigkeit von Japan hatte der durchschnittliche Bewohner der Halbinsel sicherlich eine ausgeprägte Beinmuskulatur. Wie schon das traditionelle Taekkyon wurde auch das „koreanische Karate“ daher auf der Betonung der Tritttechniken begründet. Am 11. April 1955 kreierte einer der frühen Meister hierfür den Namen „Tae Kwon Do“. Die drei Teile der Bezeichnung stehen für Fußtechnik (Tae), Handtechnik (Kwon) und den Weg, also die Art zu Kämpfen, (Do). „Do“ kann aber auch die Art zu Leben umschreiben. Es geht um Weisheit, Disziplin und Respekt, um auf diese Weise den Weg zum äußeren und inneren Frieden zu gehen. Daher habe ich wie beschrieben ja meinen Blog so benannt.
Die neue Kampfkunst wurde in Südkorea zum nationalen Schatz erklärt und verbreitete sich von dort aus in die ganze Welt. Aufgrund vieler Streitereien wurden zwei Dachverbände gegründet. Die „International Taekwon-Do Federation (ITF)“, die ihr Hauptquartier bald ins Ausland verlegte, und die „World Taekwondo Federation (WTF)“, die sich erst kürzlich in „World Taekwondo“ umbenannte. Auch wenn sie grundsätzlich denselben Kampfsport betreiben, unterscheiden sie sich in Details. Das für Laien Offensichtlichste dabei ist, dass sie den Stil in lateinischer Schrift unterschiedlich schreiben. Wie Ihr gesehen habt, verwende ich gerne „Tae Kwon Do“ und betone so jede Silbe. Bei der ITF wird es aber „Taekwon-Do“ geschrieben und in der WT(F) schreibt man „Taekwondo“ als ein Wort.
Vertreter der ITF besuchten 1981 Nordkorea, wo seitdem ihre Version des Taekwon-Do mit großem Einsatz betrieben wird. Im Süden wurde das als Landesverrat betrachtet und führte zu einer Vertiefung der Spannungen zwischen WTF (heute WT) und ITF.
Kommen wir nun zurück zu den beiden Koreanern, von denen ich Euch unbedingt noch mehr erzählen muss. Die Geschichte, die ich nun berichten werde, ist untrennbar mit dem Tae Kwon Do, den großen Weltverbänden und dem Konflikt zwischen Nord- und Südkorea verbunden. Alles begann im April 2017, während der Einführungswoche für die frischen Erstsemester an meiner Uni. Unter den neuen Studenten befand sich auch ein Südkoreaner. Der Arme hatte es am Anfang wirklich schwer mit dem Zurechtfinden ...
Im weitläufigen Foyer des Auditorium maximum, des großen Vorlesungsgebäudes der Joseph von Fraunhofer-Universität zu Berlin, ging es zu wie in einem Bienenstock. Die unterschiedlichen Fachbereiche hatten hier ihre Infostände aufgebaut und Hunderte von Studenten liefen, scheinbar planlos und lautstark miteinander diskutierend, durcheinander. Große Menschenansammlungen und dichtes Gedränge waren für den Asiaten nichts Ungewöhnliches. Geschickt schlängelte er sich durch die verschiedenen Studentengruppen und ließ den Blick der dunkelbraunen Augen über die Flut von Schildern und Plakaten gleiten. Seine für einen Asiaten überdurchschnittliche Größe von fast 1,80 half ihm dabei, nicht gänzlich im Gewühl verloren zu gehen. Doch was er suchte, fand er dennoch nicht.
Kim Dang, so hieß der 20 Jahre alte Austauschstudent aus der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, hatte noch bis vor einer viertel Stunde dem Einführungsvortrag der Vizepräsidentin der Universität gelauscht. Den Ausführungen zu folgen war ihm leicht gefallen. In den letzten zehn Jahren hatte er in seiner Heimat eine Schule des Goethe-Instituts besucht. Das Deutsche beherrschte er deshalb mindestens so sicher wie Englisch. Wegen hervorragender Leistungen in Mathematik und Germanistik hatte er sogar eines der begehrten Auslandsstipendien bekommen. Doch hier und heute, im April 2017, fühlte er sich einfach nur verloren.
Wieder rempelte ihn eine Studentin leicht an, als diese sich an ihm vorbei drängte, um zu einigen Kommilitonen zu gelangen. Erneut warf der Asiate einen Blick auf das Display seines Smartphones. Er fasste sich, unterstützt von einem tiefen Atemzug in die halblangen, schwarzen Haare, die er sich seit dem Aufbruch aus der Heimat hatte wachsen lassen. Irgendetwas konnte mit dem Plan auf der Website der Universität nicht stimmen. Er irrte nun schon minutenlang in diesem Bereich umher und fand keine Spur des Infostands „Informatik und Computerwissenschaften“. Befand er sich vielleicht doch im falschen Gebäude?
Ein Stoß gegen die rechte Seite brachte den jungen Mann fast aus dem Gleichgewicht. Er stolperte ein paar Schritte nach links und sah noch aus den Augenwinkeln, wie ein augenscheinlich südamerikanischer Student mit beeindruckendem Bauchumfang ungerührt weiterging, als ihm ein Pappkarton gegen den Kopf geschlagen wurde.
„Tschuldigung“, sagte die rothaarige Studentin mit der grünen Strickjacke und den auffälligen Birkenstock-Sandalen ohne den Anklang eines ehrlichen Bedauerns, ehe sie den mit beiden Händen festgehaltenen Karton auf ihrem Kopf weiter in Richtung eines Infostands balancierte.
„Also echt ... Muss das denn sein?!“, rief eine tiefe Stimme direkt neben dem sein Gleichgewicht außergewöhnlich schnell wieder findenden Kim.
Den Ausruf hatte ein Bär von einem Mann getätigt, wie der ausländische Student sogleich feststellte. Er musste nach oben schauen, denn der Rufer war über 1,90 groß. Dessen Gesicht wurde von einer breiten Nase und einem ebensolchen Kinn beherrscht. Der etwas längere dunkelbraune Vollbart unterstrich den ersten Eindruck, des Asiaten.
„Alles okay bei dir?“, fragte der Bär mit einer Bassstimme, die Verständnis und Mitgefühl mitschwingen ließ.
„Ja, danke“, kam als Antwort.
„Echt ... gerade nach den Semesterferien tun viele so, als müsste man auf niemanden mehr Rücksicht nehmen“, sagte der Großgewachsene und funkelte mit seinen blaugrünen Augen der Kartonträgerin hinterher. „Du siehst verloren aus. Wohin willst du denn?“
„Ich suche den Infostand vom Fachbereich ‚Informatik und Computerwissenschaften‘“, antwortete der Koreaner.
„Hah! Das trifft sich gut. Ich bin von dort. Was wirst du studieren?“
„Ich bin für Informatik und Computertechnik eingeschrieben.“
„Noch besser!“, sagte der große Mann und klatschte dabei in die Hände. „Das studiere ich nämlich auch. Schon im vierten Semester. Komm‘ ich bring dich hin.“
„Danke“, erwiderte Kim.
„Ich bin übrigens der Klaus Stern.“
„Kim Dang“, sagte der Asiate und deutete eine Verbeugung an.
Während sie sich durch das Gewühl drängten, schüttelte der Koreaner die ihm dargebotene Hand des Deutschen. Der Händedruck war kraftvoll, aber nicht unangenehm. Unter der voluminösen Erscheinung musste sich ganz offensichtlich auch Einiges an Muskulatur verbergen. Auffällig war an Klaus zudem noch eine kreisrunde Kopfbedeckung, welche er auf seinem Hinterkopf trug. Sie war dunkelblau und weiß bestickt. Kim hatte so etwas schon einmal im Fernsehen gesehen, konnte sich aber nicht mehr an den Zusammenhang erinnern.
***
Tatsächlich war der Koreaner bisher im falschen Teil des Foyers herumgeirrt. Der Stand des Fachbereichs „Informatik und Computerwissenschaften“ befand sich auf der Südseite des Gebäudes. Dort erhielt er eine Willkommenstasche, die allerlei vermeintlich nützliche Dinge enthielt. Neben einigen Willkommensgeschenken der verschiedenen Institute, wie einem USB-Stick, Kugelschreiber und Notizblock, fand sich auch eine mit „Wegweiser“ überschriebene Broschüre in der Stofftasche. Kim blätterte sogleich in ihr herum, was Klaus ein Lächeln in sein bärtiges Gesicht zauberte.
„Zeitverschwendung, wenn du mich fragst“, erklärte er.
„Was du brauchst, ist ein Mentor. Bei uns bekommt jeder im ersten Semester einen zugewiesen.“
„Okay“, sagte Kim.
„Wo kommst du her?“
„Aus Seoul, Korea.“
„Ach, du bist gar nicht aus Deutschland? Dein Deutsch ist der Hammer, Kim.“
„Danke“, erwiderte der ausländische Student und verkniff sich darauf hinzuweisen, dass Kim sein Nachname war, den er nach asiatischem Brauch vorweggestellt hatte. Eine solche Korrektur empfand er in jenem Moment als unhöflich.
„Mit Korea verbinde ich einiges. Ich trainiere seit ein paar Jahren Taekwondo und da bleibt es nicht aus, dass man sich für dessen Herkunftsland interessiert. Lernst du auch Taekwondo?“
„Ja“, antwortete Kim und verlagerte dabei mehrfach sein Gewicht vom linken auf den rechten Fuß.
„Cool. Welchen Gürtel hast du denn?“
„Du meinst, welche Graduierung ich erreichen durfte?“
„Genau.“
„Kurz bevor ich mich auf das Studium vorbereitet habe, wurde mir die Ehre zu Teil, den zweiten Dan zu erwerben“, antwortete Kim.
Für den Koreaner hatte das keine besondere Bedeutung.
In seinem Alter war diese Stufe des schwarzen Gürtels in der Heimat der Kampfkunst sogar eher gewöhnlich. Kim erinnerte sich in jenem Moment daran, dass er sich nie viel aus Graduierungen gemacht hatte. Die Meister mussten ihn regelmäßig zu den Prüfungen drängen.
„Donnerwetter, Alter!“, rief Klaus und nahm dabei mit geweiteten Augen den Kopf zurück. „Ich bin gerade einmal beim rot-schwarzen Gurt. Du trainierst schon auch das WTF-Taekwondo?“
„Selbstverständlich“, verkündete Kim und sein Blick mit den heruntergezogenen Mundwinkeln und der in Falten geworfenen Stirn zeugte davon, dass ihm eine abweichende Vorstellung hochgradig unangenehm sein musste.
„Cool!“, sagte Klaus und unterstrich die Bemerkung, indem er seine große, rechte Faust einmal einen Halbkreis vor dem eigenen Brustkorb ausführen ließ.
Kim versuchte, die Geste einer konkreten Taekwondo-Technik zuzuordnen, erkannte dann aber schnell, dass es nur eine Marotte des Deutschen sein musste.
„Jungs!“, meinte Klaus an die Besetzung des Infostands gewand. „Tragt mich bitte als Kims Mentor ein. Ich glaube, das passt.“
Kim Dang lächelte. Das sah er in jenem Moment genauso wie sein neuer Freund.
***
Kim schwirrte eine derart gewaltige Menge an Informationen in seinem Kopf herum, dass er einige Mühe hatte, diese zu ordnen. Auch wenn Klaus als erfahrenerer Informatikstudent gewohnt war, Daten in Strukturen zu bringen, überforderte er den koreanischen Stipendiaten eindeutig mit seinen vielen gut gemeinten Ratschlägen.
Allein der Auffassungsgabe des Erstsemesters schien es geschuldet, dass Kim aus der Vielzahl der gezeigten Seminar- und Vorlesungsräume, der universitären Verwaltungsstellen und der Arbeitsräume die Details herauszufiltern vermochte, welche er sofort benötigen würde. Es beruhigte den Koreaner jedoch ungemein, dass er mit Klaus einen sympathischen Ansprechpartner kannte. In den ersten Wochen müsste er sicherlich noch einige Dinge erfragen, die er eigentlich heute schon gehört hatte.
In jenem Moment, als sich die neuen Freunde in der Unimensa mit ihren Mittagessen auf Serviertabletts an einen Tisch gesetzt hatten, brannte Kim jedoch eine ganz andere Frage unter den Fingernägeln. Gedankenverloren betrachtete er die ungewöhnliche Kopfbedeckung von Klaus und fasste den Mut nachzufragen.
„Einen schönen, kleinen Hut trägst du da. Was ist das denn?“
„Eine Kippa“, antwortete Klaus. „Das ist die bei uns Juden übliche Kopfbedeckung für Männer, wenn wir zum Gebet in die Synagoge, also unser Gotteshaus, gehen.“
„Und ihr müsst diese auch im Alltag tragen?“
„Nein, dass machen bei uns nur die sehr streng Gläubigen. Zu denen gehöre ich aber gar nicht.“
„Warum hast du sie dann auf?“
Klaus legte sein Besteck ab und stütze die Ellbogen auf den Tisch, sodass er näher an Kim herankam.
„Weil ich so erkenne, wer keine Juden leiden kann“, sagte er nach einer kurzen Pause deutlich leiser. „Du musst wissen, dass gerade in den letzten Jahren in Deutschland viele Juden begonnen haben aus Angst vor Übergriffen ihren Glauben zu verstecken. Ich begann damals mit dem Krav Maga, das ist ein israelischer Selbstverteidigungsstil. Kennst du das?“
„Ich habe mal davon gehört, ja“, antwortete Kim.
„Es ist ein wirklich effektives Selbstverteidigungssystem“, erklärte Klaus weiter. „Das hat mir aber nicht gefallen. Beim Taekwondo fand ich das, was ich suchte.
Viel mit den Füßen zu arbeiten, das ist genau mein Ding.“
Kim nickte bestätigend.
„Ja, das geht mir genauso.“
Erneut schwang Klaus die rechte Faust vor seiner Brust und kündigte so an, dass er eine Idee hatte.
„Magst du mal mit in meinen Taekwondo-Verein kommen? Wir haben drei Mal in der Woche Training.“
„Das würde mich freuen“, sagte Kim.
Kaum hatte er die Antwort gegeben, schaute Klaus an ihm vorbei, legte ein Lächeln auf seine Lippen und begann ausladend mit der Linken zu winken.
„Wie der Zufall so will, habe ich just in diesem Moment jemanden entdeckt, den du kennenlernen musst“, sagte der Deutsche.
Kim drehte sich auf seinem Stuhl um und schaute in die Blickrichtung von Klaus. Da sie zurückwinkte und nun mit ihrem Tablett und dem Mittagessen auf den Tisch der beiden zuhielt, wusste der neue Student gleich, wer es sein würde. Das Mädchen, oder besser, die junge Frau, war ein Blickfang mit Modelmaßen. Eine schlanke und athletische Figur verriet, dass sie sicherlich sehr sportlich sein musste. Diesen Eindruck unterstrich noch ein blauer Sportanzug mit einem Vereinswappen auf ihrer linken Brust. „Sidekicks Berlin 2006 e.V.“ war unter dem stilisierten, schwarzen Schattenriss eines Taekwondo-Kämpfers zu lesen, welcher gerade einen hohen Tritt vollführte.
Ihr Gesicht sowie Nase und Mund waren fein geschnitten, fast so als ob sie eine edle Figur aus einer Porzellanmanufaktur wäre. Ihre schulterlangen schwarzen Haare hatte sie zu einem lockigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Hautfarbe blieb jedoch das Auffälligste an ihr.
Das helle Braun verriet nicht nur ein afrikanisches Erbe in ihrem Stammbaum, sondern gab ihr die Erscheinung einer exotischen Schönheit. Auch wenn sie nicht der von Kim bevorzuge Frauentyp war, kam er nicht umhin dies zu bemerken.
„Hi!“, grüßte eine Altstimme die beiden jungen Männer, als die Studentin an den Tisch herankam und sich neben den Deutschen setzte, der ihr bereits einen Stuhl zurechtgestellt hatte.
„Hallo“, sagte Klaus.
„Guten Tag“, gab Kim etwas leiser von sich.
„Ich darf vorstellen“, begann der Mentor des Koreaners.
„Das ist meine Trainerin, Constanze Fehrenschild. Unser neuer Kommilitone hier ist Kim Dang. Er studiert jetzt genau das Gleiche wie ich und kommt aus Seoul. Und ...“
Klaus legte eine Kunstpause ein.
„... er hat den zweiten Dan in WTF-Taekwondo.“
„Cool! Hwan-yeonghabnida“, sagte Constanze auf Koreanisch, und hieß Kim so willkommen. Ihre Aussprache war sogar fast richtig.
„Vielen Dank. Es freut mich, dich kennenzulernen, Constanze“, erwiderte Kim und deutete im Sitzen eine leichte Verbeugung an.
„Hast du hier in Berlin schon eine Trainingsmöglichkeit gefunden?“, fragte die Studentin, welche auf den zweiten Blick etwas jünger als Klaus schien.
„Ich habe ihn bereits zu uns ins Training eingeladen“, verkündete ihr Vereinskamerad nun stolz.
„Gut gemacht“, bestätigte Constanze und grinste.
„Es wäre mir eine Ehre mit euch üben zu dürfen“, sagte Kim.
„Wir sind mittlerweile wieder über dreißig Sportler“,
erklärte Constanze. „Wir haben uns vorgenommen, auf viele Turniere zu gehen. Da ist es gut, wenn wir erfahrene Verstärkung bekommen.“
Der Koreaner nickte nur und lächelte.
***
Während des Mittagessens erläuterten Constanze und Klaus sehr ausführlich ihre Wettkampfpläne. Kim hörte aufmerksam zu und befand ihre Ziele für ehrgeizig. Sie zeugten davon, dass sie ihren Verein in Berlin voranbringen wollten. Alle drei hatten bereits aufgegessen, als Kim einen Blick auf das Display seines Smartphones warf.
Sofort verdunkelte sich seine Miene.
„Alles okay?“, fragte Constanze.
Kim schüttelte den Kopf und steckte das Gerät weg. Die Hoffnung, damit Nachfragen zu unterdrücken, scheiterte jedoch an der Neugierde der Kommilitonen.
„Ist ein Verwandter von dir gestorben?“, wollte nun Klaus wissen. „Meine Großmutter ist auch erst vor ein paar Monaten beerdigt worden.“
Erneut schüttelte Kim den Kopf und blickte auf die Tischplatte vor sich.
„Deine Freundin in Korea?“, hakte Constanze nach, als ob es hier um ein Quizspiel gehen würde. „Ist etwas mit ihr?“
Jetzt lächelte der ungebundene Kim verlegen. Bevor es zu weiteren wilden Vermutungen durch seine neuen Freunde kam, sollte er wohl besser zur Aufklärung beitragen, dachte er sich.
„Nein, es geht um Politik“, sagte Kim.
„Politik? Und da machst du so ein Gesicht?“, fragte Klaus mit sichtlicher Überraschung in der Stimme.
Kim seufzte. Er war wohl ertappt und entschloss sich nun die Quelle seiner Sorgen zu offenbaren.
„Nordkorea droht den Amerikanern und uns mit einem totalen Krieg“, erklärte Kim und atmete dabei schwer.
„Ich hatte wirklich gehofft, dass die Aussagen von Präsident Trump den Verrückten in Pjöngjang zum Schweigen bringen würden. Das war wohl nicht der Fall.“
Klaus nickte langsam und legte die Stirn in Falten.
„Für dich ist das alles viel unmittelbarer, oder?“, sagte er in die plötzlich am Tisch herrschende Stille hinein. „Wenn es dort zu einem Atomkrieg kommt, dann wäre das einfach furchtbar.“
„Meine Mutter ist US-Amerikanerin“, erklärte Constanze.
„Sie meint, dass dem Präsidenten durchaus zuzutrauen ist, dass er Nordkorea angreift.“
„Verdient hätten es der Diktator und seine Verbrecherbande, dass man sie mit Gewalt entmachtet“, erwiderte Kim und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Aber wieder ein Bürgerkrieg mit Millionen von Toten ist das Letzte, was das Volk von Korea jetzt braucht.“
Die drei wurden mit einem Mal dermaßen still, dass die Geräusche der belebten Uni-Mensa wie die Vorboten eines heraufziehenden Sturms klangen.
Es war ein lautes Knallen, so wie eine kleine Explosion. Die Wucht, mit welcher der rund geführte Tritt den Spann in die Trittpratze schlug, war so hoch, dass diese fast aus der Hand des Trainingspartners gefegt wurde. Wieder und wieder knallten die blitzschnell ausgeführten Kicks in das Trainingsgerät, bis dessen Halter es nach einem erneuten Treffer wegnahm und abwinkte.
„Al-ter! Krass!“, sagte Thorsten Marquardt und schüttelte sein Handgelenk.
Der großgewachsene junge Mann erweckte mit seinen rotblonden Haaren, dem Vollbart und den stahlblauen Augen den Eindruck, der Spross eines Wikingers zu sein.
Die auffällig hohen Wangenknochen und sein weißer Kampfanzug, den ein rot-schwarzer Gürtel umschloss und auf dessen Rücken „Taekwon-Do“ zu lesen war, standen dazu im großen Kontrast.
Der ihm gegenüberstehende Asiate setzte das immer noch erhobene Bein ab und deutete eine leichte Verbeugung an.
Obwohl er mehr als einen halben Kopf kleiner war als sein Trainingskamerad, schien er ihm an Breite und Muskelmasse ebenbürtig zu sein. Yun Kibum erweckte mit den kurz geschorenen, schwarzen Haaren und seinem befehlsgewohnten Bariton den Eindruck, direkt aus einem Trainingslager der Armee seines Heimatlandes zu kommen. Der Blick der braungrünen Augen war gerade auf Thorsten gerichtet.
„Es ist die Hüfte, welche den Tritten die Kraft verleiht“, erklärte er. „Wenn du verstehst sie im richtigen Moment zu nutzen, dann maximierst du damit die Wirkung.“
Thorsten nickte. Das war zwar auch für ihn längst absolutes Basiswissen für seinen Kampfsport, aber die Eindrücklichkeit, mit der sein koreanischer Freund dies gezeigt hatte, faszinierte ihn.
„Ich glaube nicht, dass ich das jemals so hinbekommen werde, wie du“, sagte Thorsten und schaute dabei im großen Trainingsraum des ITF-Taekwon-Do-Dojang, der Kampfsportschule vom Onkel seiner Taekwon-Do-Freundin Leyla Avci, umher.
Das top eingerichtete Sportzentrum verfügte nicht nur über eine moderne Klimaanlage, neue Trainingsmatten und Schlagposter in sämtlichen Varianten. Ein Kraftraum, geräumige Umkleidekabinen mit Duschen und eine kleine Sauna fehlten ebenfalls nicht. Auch sonst fand der Kampfsportbegeisterte hier alles, was er benötigte, und konnte sich mit Gleichgesinnten an der Bar ein eiweißreiches Fitnessgetränk gönnen. Die Mitgliedschaft in diesem Dojang, wie man Koreanisch geprägte Schulen nennt, setzte jedoch ein passendes Portemonnaie voraus.
Am nötigen Kleingeld mangelte es Thorsten nicht. Sein Vater war Polizist im höheren Dienst gewesen und hatte die Tochter eines reichen, russischen Erdgasoligarchen geheiratet. Auch dem Diplomatensohn Yun Kibum galt Verzicht aufgrund mangelnder Barschaft als fremd. Dieser wusste jedoch noch besser als Thorsten, dass es darauf im Leben nicht wirklich ankam.
„Wenn du nicht daran glaubst es schaffen zu können, dann wird es dir auch nicht gelingen“, erklärte der Koreaner mit gleichbleibender Stimme. „Du musst das Bild des Erfolgs fest im Geist haben und es um jeden Preis verwirklichen wollen. Nur so wirst du dein Ziel erreichen.“
„Das hast du sehr schön gesagt“, verkündete eine weibliche Altstimme hinter dem Asiaten.
Der Träger des schwarzen Gürtels drehte sich um und sah die Nichte des Dojang-Inhabers, seine Trainingspartnerin Leyla. Sie war zwar barfuß auf die Matte gekommen, hatte jedoch keinen Kampfanzug an, sondern trug einen schwarzen Trainingsanzug mit dem Logo der Kampfsportschule, einem springenden roten Wolf neben den drei asiatischen Schriftzeichen für „Tae Kwon Do“. Um ihren Kopf hatte sie ein dunkelblaues Tuch gebunden, sodass nur das Gesicht zu erkennen war. Yun und Thorsten wussten, dass Leyla lange dunkelbraune Haare hatte. Im Training und Wettkampf pflegte sie das Kopftuch abzulegen, obwohl es nach dem Reglement grundsätzlich immer erlaubt war, die Kopfbedeckung zu tragen.
„Hallo Leyla“, grüßte Thorsten.
„Hallo“, sagte auch Yun.
„Hi. Na, ihr beiden. So früh schon im Training?“
„Es ist Einführungswoche“, erklärte Thorsten. „An der Uni ist noch nichts los und da dachten wir, eine Extrarunde kann nicht schaden.“
„Na, vor allem dir nicht“, grinste ihn die gerade mal 1,66 große Leyla von unten herauf an. „Yun wird auch beim nächsten Fight-Club wieder ohne Mühe beeindrucken können.“
Die junge Frau wusste, dass ihr koreanischer Trainingspartner eigentlich Kibum mit Vornamen hieß. Ihm war es jedoch offenbar ganz recht beim Familiennamen gerufen zu werden. Der Klang des richtigen Rufnamens sorgte in deutschen Ohren auch allzuleicht für Erheiterung. Das war dem Studenten unangenehm, vor allem, da er bei jenen Trainingsgelegenheiten, die sie soeben erwähnt hatte, eine besonders gute Figur machen wollte. Leyla wusste nur zugut, warum das so war. Er hatte sie hierzu bereits intensiv um Tipps gebeten und diese betrafen nicht die Ausführung des gemeinsamen Kampfsports, sondern die Ausrichterin des monatlich stattfindenden Kampfsportevents. Jene junge Dame war an harten und schnellen Tritttechniken für ihren Sport interessiert und für die Information war der Koreaner der türkischstämmigen Deutschen dankbar gewesen. In diesem Moment hatte Leyla jedoch ein anderes Gesprächsthema mitgebracht und nicht die Absicht, Kim weitere Tipps für die Brautwerbung zu geben.
„Habt ihr schon gehört?“, begann sie mit einer rhetorischen Frage. „Nordkorea lässt sich die Drohungen von Trump nicht gefallen und ist bereit, massiv zurückzuschlagen.“
„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“, zitierte Thorsten aus Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ und blickte dabei zu Yun.
„Sehr richtig“, bestätigte der Koreaner. „Sollten die Amerikaner und ihr Marionettenstaat im Süden der Heimat uns dazu zwingen, dann werden wir uns auch verteidigen. Sie haben schon einmal versucht, unsere Lebensweise zu zerstören. Das ist ihnen damals nicht gelungen und wird ihnen jetzt ebenfalls nicht glücken.“
„Ihr könnt froh sein, dass euer Führer solche Eier hat, dem Verrückten in Washington die Stirn zu bieten“,
kommentierte Thorsten. „Die verweichlichte Merkel würde das nicht hinbekommen. Ich beneide meine Verwandten in Russland um ihren Präsidenten. Putin zeigt den Amerikanern auch regelmäßig ihre Grenzen auf.“
„Mir geht es ähnlich“, sagte Leyla und nickte dabei langsam. „Mit Erdogan hat meine Familie in der Türkei einen starken Mann an der Spitze. Und was haben wir hier in Deutschland? – Da habe ich echt kein Vertrauen drauf.“
„Unser Großer Führer ist wirklich ein Segen für das koreanische Volk, so wie sein Vater und sein Großvater vor ihm“, bestätige Yun. „Aber auch wenn wir bereit sind, den amerikanischen Imperialismus abzuwehren, bin ich nicht so naiv, mich auf einen Krieg zu freuen.“
Leyla und Thorsten hingen gebannt an den Lippen des Diplomatensohns, als dieser eine kurze Pause einlegte.
„Mein Volk wird einen neuen Kampf gewinnen. Daran habe ich keinen Zweifel, aber den Preis, den wir dafür zahlen müssen, den mag ich mir kaum vorstellen“, sagte Yun und dabei blicke er zum Logo der International Taekwon-Do Federation, welches unter den Bildern einiger Großmeister in der Mitte des Trainingsraums die Wand verzierte. Eine stilisierte gelbe Faust war dort, von zwei Schriftzeichen flankiert, in einer angedeuteten blauen Weltkugel eingefasst. In einem weißen Kreis darum stand der Name des Verbands zu lesen.
„Vor mehr als sechzig Jahren waren es Millionen von Menschenleben und der Verlust unserer gesamten Infrastruktur“, erklärte Yun weiter. „Ich befürchte, ein Sieg über den kranken, alten Mann im Weißen Haus könnte jetzt noch teurer werden.“
„Zudem müsst ihr auch erst einmal gewinnen“, warf Thorsten nun in die Stille hinein. „Trump hat die Militärausgaben der USA deutlich erhöht. Präsident Putin und ebenso die Chinesen werden euch vermutlich nicht zur Hilfe kommen. Wenn ihr auf den Einsatz von Atomwaffen verzichtet, was vernünftig wäre, dann könnte es echt schwer sein die Amerikaner abzuwehren.“
Yun nickte, straffte dabei aber seine Haltung.
„Es ist genauso wie bei den Tritten“, sagte er sogleich.
„Häh?“, meinte Thorsten.
„Man muss sein Ziel vor Augen haben und entschlossen sein, es zu erreichen“, führte Yun weiter aus. „Dazu gehört auch die Bereitschaft, Opfer zu bringen. Bei uns in Korea ist jeder Mann und jede Frau waffenfähig. Wir alle sind bereit, unsere Heimat gegen die Feinde zu verteidigen. Wenn die Zeit gekommen ist, dann sind wir wie die Hand, welche sich zur Faust ballt. Wir können zuschlagen, sollte man uns dazu zwingen.“
Yun hatte während seiner kurzen Rede die Fäuste geballt und stieß nun, von einem deutlichen jedoch nicht allzu lauten Kampfschrei unterstützt, die Rechte mit voll gedrehtem Hüfteinsatz nach vorne. Den Arm ließ er einen Augenblick in dieser Position verharren. Da seine Kampfsportfreunde schräg zu beiden Seiten vor ihm standen und er zwischen sie gestoßen hatte, bekamen sie einen anschaulichen Eindruck von der Wucht der Technik.
Leyla lächelte.
„Genauso sehen sich auch die Türken“, sagte sie. „Ich hätte es aber nicht so schön beschreiben können.“
„Mein Großvater mütterlicherseits hat mir mal erzählt, dass die Russen sich im Zweiten Weltkrieg ähnlich gefühlt haben“, ergänzte Thorsten.
„Ich bin froh, das ihr beiden meine Freunde seid“, meinte Yun und ein angedeutetes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. „Nicht viele hier in Deutschland haben so ein Verständnis für die Situation des koreanischen Volkes wie ihr.“
Leyla trat an Yun heran und legte ihm in einem Anflug von Verbundenheit die rechte Hand an den linken Oberarm.
„Ich hoffe nur, dass sich die Faust nicht ballen muss“, sagte der Koreaner leise, und diese Worte ließen seine Freunde in der ansonsten menschenleeren Trainingshalle einige Augenblicke ungehindert nachhallen.
Es war der Dienstagmorgen in Kims erster richtiger Woche als Student in Deutschland. Seine Befürchtungen von der Einführungswoche hatten sich bestätigt. Ohne Klaus war er auf dem weitläufigen Universitätsgelände nach wie vor recht verloren. Glücklicherweise hatte ihn sein studentischer Mentor noch bis zum Vorlesungsgebäude gebracht und sich dann von ihm bis zum Mittagessen in der Uni-Mensa verabschiedet.
Die Vorlesung „Einführung in die wissenschaftliche Computergrafik I“ war nicht unbedingt die wichtigste Veranstaltung im Stundenplan des Koreaners. Er wollte ja später einmal in die Computerentwicklung gehen und hatte daher andere Schwerpunkte bei den Kursen gewählt.
Der Referent, ein Professor mit langjähriger Erfahrung in der Forschungsabteilung eines großen Wirtschaftsunternehmens, war ihm nur von Klaus wärmstens empfohlen worden. So hatte Kim noch eine Lücke in seinem ansonsten sehr dichten Wochenstundenplan geschaffen und dafür andere Aktivitäten zurückgestellt.
Zurückstecken musste auch erst einmal das Taekwondo-Training. Kim war sich der Bedeutung des Auslandsstudiums für sein weiteres Leben bewusst. Er wollte dies nicht durch Freizeitaktivitäten gefährden und hatte Constanze und Klaus mit dem Hinweis vertröstet, dass er sich zunächst im Studentenleben in Deutschland zurechtfinden müsse.
***
Kim betrat den großen halbrunden und wie ein griechisches Amphitheater gestalteten Hörsaal durch einen der oberen Eingänge. Die weithin sichtbare Uhr links an der Wand zeigte an, dass es noch zehn Minuten bis zum offiziellen Beginn waren. Längst nicht alle Studenten hatten bereits in den Sitzreihen ihre Plätze eingenommen. Viele standen bei den Ausgängen und unterhielten sich angeregt. Der Koreaner vermutete, dass etwa ein Drittel der Fassungskapazität des Saals ausgenutzt werden würde. Dies war, so dachte Kim, sicherlich der parallel stattfindenden Veranstaltung zum Computerspiele-Design geschuldet. Viele Kommilitonen hatten an jenem Thema großes Interesse. Das beruhte nach seiner Einschätzung weniger auf ausbildungstechnischen Gründen, als vielmehr auf der eigenen, bevorzugten Freizeitgestaltung.
Kim schaute sich nach einem geeigneten Platz um und wurde in der dritten Reihe fündig. Dort saß, mit zwei Stühlen Abstand zum Gang, der einzige weitere Asiate im Saal und machte sich gerade einige Notizen auf seinem Schreibblock. Er notierte in Schriftzeichen, welche Kim auf die Entfernung nicht genau erkennen konnte, und was somit noch keinen sicheren Rückschluss auf die Herkunft des Kommilitonen zuließ.
Was viele Europäer nicht wissen ist, dass Asiaten am Aussehen abschätzen können, aus welchem Land ihr Gegenüber stammt. Chinesen aus Peking, Japaner aus Tokyo und Vietnamesen aus Hanoi sehen vereinfacht gesagt anders aus, als beispielsweise Koreaner aus Seoul.
Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass Kim den breitschultrigen, jungen Mann genau musterte, ehe er an ihn herantrat.
Obwohl er vermutete, dass es sich durchaus um einen Landsmann handeln könnte, kam dem Stipendiaten aus Seoul irgendetwas an dem Kommilitonen eigentümlich fremd vor. So als ob in der Vertrautheit auch ein nicht zu benennender Unterschied versteckt wäre. Kim entschied sich daher, das Gespräch zunächst in der Sprache des Gastlandes zu beginnen und nicht mit der Tür ins Haus zu fallen.
„Guten Tag. Darf ich mich zu dir setzen?“
Blaugrüne Augen fixierten Kim, als der andere Asiate seinen Kopf zu ihm gedreht hatte. Ein feines Lächeln umspielte die Lippen, welche in einem stabilen, geradezu kantigen Gesicht beheimatet waren.
„Natürlich, gerne“, antwortete sein Gegenüber und schob die Ledertasche zu seinen Füßen weg, um Platz zu machen.
***
Yun musterte den Neuankömmling genau. Auch ihm blieben die typischen Merkmale nicht verborgen. Stirn, Nase und Augen ließen nur einen Schluss zu.
„Bist du Koreaner?“, fragte er auf Deutsch.
„Un“, kam das „Ja“ als Antwort bereits in der Sprache des asiatischen Landes.
„Das ist schön!“, sagte Yun nun ebenfalls auf seiner Muttersprache. „Wir sind nicht gerade viele hier an der Uni. Da ist es schön, mehr Landsleute zu treffen.“
Kim fiel sofort der militärische Sprachrhythmus des Kommilitonen auf. Auch die Klangfarbe seiner Worte ließen in ihm einen Verdacht wachsen.
„Kim Dang ist mein Name.“
„Die Eltern haben mich Yun Kibum genannt.“
„Es freut mich, dich kennenzulernen, Kibum.“
„Die Ehre ist auf meiner Seite, Dang.“
„Wirst du von den Langnasen auch ständig mit deinem Nachnamen angesprochen? Irgendwie finde ich es peinlich, sie immer wieder darauf hinzuweisen, wie es richtig ist.“
„Mir geht es ähnlich. Aber ich habe mich daran gewöhnt und finde es mittlerweile auch in Ordnung.“
„Warum?“, wollte Kim wissen.
„Erst mal finden sie meinen Vornamen irgendwie lustig ...“
„Echt?!“
„Ungelogen ... und dann hält es auch einen kleinen Abstand zu ihnen. Sie sind eben ganz anders als wir.“
„Interessant. So habe ich das noch gar nicht gesehen.“
Kim unterstrich seine Zustimmung durch eifriges Nicken.
„Du bist aus dem Norden, oder?“, fragte er nach einem kurzen Moment.