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"Herr Major, bei allem gebotenen Respekt, ich bin nicht hier, um in die ukrainischen Streitkräfte einzutreten. Ich will auch keinen Sold. Ich komme vielmehr als ehrenamtlicher Tourismusentwickler. Der Tourismus ist doch ein wichtiges Standbein für eure Wirtschaft, oder? Mit den vielen unwillkommenen Gästen bleibt das zahlende Publikum weg. Da müsst ihr neue Wege gehen. Ich bin auf Horrorshows spezialisiert. Ich kann den Branchenneulingen zeigen, wie sie den Aufenthalt in diesem Land für Putins Männer zur Hölle auf Erden werden lassen. Gerade auch, wenn es euch nicht gelingen sollte, diese davon abzuhalten, sich in eurer Hauptstadt niederzulassen. - Sie verstehen mich, Herr Major?" Frank Steiner, Oberstabsfeldwebel a.D. und Nahkampflehrer, am 25. Februar 2022 zum stellvertretenden Regimentskommandeur in Lwiw, Ukraine.
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Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Prolog – Ein Akt des Krieges
Kapitel I – Ankunft im Krieg
Kapitel II – Eine zuverlässige, militärische Prüfung
Kapitel III – Oberster Meistersergeant Steiner
Kapitel IV – Partisanentraining
Kapitel V – Eine starke Truppe
Kapitel VI – Harte und weiche Übungen
Kapitel VII – Rekrutenbeschau
Kapitel VIII – Eine Karriere fürs Vaterland
Kapitel IX – Krankenbesuch mit Folgen
Kapitel X – Verdeckt kämpfender Feind
Kapitel XI – Die Faust von Lwiw
Kapitel XII – Hyperschall Angriff
Kapitel XIII – Anwerbung von Spezialisten
Kapitel XIV – Minenfeld voraus
Kapitel XV – Weißrussland und seine Polizei
Kapitel XVI – Ein Tor zu überwinden
Kapitel XVII – Der große Knall
Kapitel XVII – Auf der Flucht
Kapitel XIX – Ein Wagen voller Helden
Kapitel XX – Über die Grenze
Kapitel XXI – Bettgeflüster eines Helden
Kapitel XXII – Ein Achtungserfolg
Kapitel XXIII – Ein höchst interessantes Angebot
Kapitel XXIV – Verbindungen eingehen
Kapitel XXV – Faust auf Faust
Kapitel XXVI – Die Entführung der Braut
Kapitel XXVII – Auf Leben und Tod
Kapitel XXVIII – Ein Debakel in Sachen Propaganda
Kapitel XXIX – Tourismus in Kriegszeiten
Kapitel XXX – Eine Botschaft von Hiobs aufnehmen
Kapitel XXXI – Gegen die Regeln
Kapitel XXXII – Durch die Linien
Kapitel XXXIII – Am Tor des Foltergefängnisses
Kapitel XXXIV – Die Eingeweide des Schreckens
Kapitel XXXV – Der Hölle entkommen
Kapitel XXXVI – Der Blutzoll des Krieges
Epilog – Ein letzter Eintrag
Schlusswort
Über den Autor
24. Februar 2022, 20.23 Uhr, Pirmasens, Deutschland
Der in die Jahre gekommene Röhrenfernseher läuft. Sein Bild zeigt das Studio, in dem ein gealterter Bundeswehrgeneral außer Dienst in den vergangenen Minuten geduldig die Punkte auf der Liste der jungen, blonden Journalistin beantwortet hat. Jetzt stellt sie die entscheidende Frage. Jene Frage, welchen den Zuschauer in der 80 Quadratmeterwohnung bereits seit einer Woche umtreibt:
„Wie schätzen Sie die Chancen der ukrainischen Verteidiger gegen die russische Invasionsstreitmacht ein? Haben die Ukrainer eine Möglichkeit, diesen Angriff abzuwehren?“
Der Studiogast mit dem militärischen Hintergrund nickt und sein Gesicht wirkt mit einem Mal etwas eingefallener, ernster, ja geradezu erschüttert. Die Antwort, welche er sich in jenem Moment zurechtlegt, scheint ihm ganz offensichtlich nicht zu behagen.
„Ich bin mir sicher, wir werden die ukrainische Armee noch einige Tage genauso tapfer weiterkämpfen sehen, wie sie es jetzt tut“, erklärt der ehemalige General. „Es ist jedoch ausgeschlossen, dass sie dieser Übermacht der hochgerüsteten, russischen Streitkräfte lange standhalten kann. Ich befürchte, der Westen und auch wir in Deutschland müssen uns damit abfinden, dass wir in Kürze die Kapitulation der Ukraine erleben werden. Der Krieg ist dann jedoch nicht vorbei.“
„Wie meinen Sie das? Wie wird der Konflikt danach weitergehen?“
„Seit dem Zweiten Weltkrieg pflegen die Ukrainer eine Verehrung der gegen die Wehrmacht aktiven Partisanen. Zu dieser Form des Kampfes wird man zurückkehren. Die russischen Besatzungstruppen werden sich verdeckten Operationen und Anschlägen gegenübersehen. Insbesondere dann, wenn die westlichen Staaten, allen voran die Amerikaner, jene Widerstandskämpfer mit Waffen und Ausrüstung versorgen. Früher oder später wird man sich in Moskau die Frage stellen, ob dieser brutale ‚Akt des Krieges‘, wie der NATO-Generalsekretär heute so treffend formulierte, sich wirklich lohnt. Die Sanktionen werden das Ihre dazu beitragen.“
„Was kann Deutschland, was können wir als Privatpersonen jetzt tun?“, erfolgt die Nachfrage.
„Gerne glauben wir, dass unser Einfluss in der Welt recht groß ist. Da wir allerdings nicht bereit sind, an der Seite der Ukrainer zu kämpfen, können wir nur auf die Sanktionen vertrauen. Militärisch sind uns durch diese Entscheidung auf NATO-Ebene die Hände gebunden. – Bald werden sicherlich etliche hunderttausend Menschen aus dem angegriffenen Land fliehen. Diesen neuen Flüchtlingsstrom dürfen wir bereits jetzt bei uns erwarten und sollten darauf eingestellt sein. Hier können wir als Privatpersonen wieder genauso helfen wie 2015.“
„Was für ein Kuhmist!“, schimpft der Zuschauer.
***
Den weiteren Informationen folgt der Bewohner nur noch beiläufig. Die große, olivgrüne Kampftragetasche ist bereits zu einem ordentlichen Teil gefüllt. Saubere Socken, die ausgemusterten, natogrünen T-Shirts und zwölf Unterhosen sind genauso wie der Kulturbeutel ebenfalls dort eingepackt. Der üppige, einst dienstlich gelieferte Seesack steht schon in der Diele. Er beinhaltet alles, was ein erfahrener Soldat mit sich führen sollte. Die Grundausstattung eines Reservisten der Bundeswehr ist dabei erweitert um all jene Stücke, die eine lange Feldwebellaufbahn mit sich bringt. Privat angeschafft sind die schwarzen Kampfstiefel. Ein Paar wartet neben der Wohnungstür nur noch darauf, dass ihr Besitzer sich zum Gehen entschließt. Die weiteren beiden Paare sind zusammen mit einer „vom Lastwagen gefallenen“ Kampfweste im unteren Drittel des Seesacks verstaut.
Der Mann fährt sich durch die zum größten Teil ergrauten, einst dunkelblonden Haare. Er geht an zahlreichen Fotografien vorbei, die in militärisch geraden Linien an die Wände montiert sind. Sie zeigen ihn zusammen mit Kameraden während seiner 38 Jahre als aktiver Soldat. Erinnerungen an NATO-Manöver in den unterschiedlichsten Ländern sowie Einsätze in Somalia, Bosnien, dem Kosovo und natürlich Afghanistan werden in ihm wach. Er kommt zu dem großen Bild, welches zeigt, wie er als Grenadier von einem Schützenpanzer vom Typ Marder absitzt. Da muss er keine dreißig gewesen sein, erinnert sich der Veteran. Erst Fallschirmjäger, dann Panzergrenadier, danach Fernspäher und schließlich Nahkampfausbilder. Seine militärische Karriere, die ihn bis zum Oberstabsfeldwebel führte, passiert gedanklich sein inneres Auge.
Er nimmt das Bild ab und legt damit einen Safe frei. Die Zahlenkombination ist mechanisch schnell eingestellt und die Tür des Panzerschranks öffnet sich. Zwei Faustfeuerwaffen nennt er sein Eigen. Eine Heckler & Koch P8 A1 ist hier zu finden. Als Soldat außer Dienst mit Waffenbesitzkarte ist es Ehrensache, diese Ordonnanzpistole im Haus zu haben. In Verbundenheit zu amerikanischen Freunden liegt hier auch eine SIG Sauer P320 M18. Beide Schusswaffen nimmt der Soldat im Ruhestand aus dem Safe und legt sie in die vorgeschriebenen Transportkisten. Zwar ist sein geplanter Führungszweck nach deutschem Waffenrecht nicht zulässig, doch bei einer oberflächlichen Polizeikontrolle sollte er so auf der sicheren Seite sein. Zweihundert Schuss Munition werden in einem separaten Behältnis fest verschlossen. Nun gibt es nur noch eine Sache zu erledigen.
***
Fünf Feldblusen, vier Feldjacken und ein Nässeschutz landen auf dem kaum noch genutzten Esstisch. Das alte, sorgsam gepflegte Kampfmesser aus Fallschirmsprungtagen zeigt sich in der Hand und dient als Werkzeug, um die schwarz-rot-goldenen Landesfarben von den Uniformteilen zu entfernen. Die zwanzig kleinen Deutschlandfahnen sammelt der Soldat im Ruhestand zusammen und bringt sie zur Kommode im Wohnzimmer. Er legt sie in die Schublade. Sein Blick bleibt am Foto seiner verstorbenen Frau hängen, welches hier in einem Rahmen steht. Schön sieht sie aus, mit ihren schwarzen Haaren, damals vor 25 Jahren.
Gedankenverloren nimmt er das Porträt in die Hand und betrachtet das Bild einige Augenblicke. Dann gibt er ihr über die Fotografie einen gehauchten Kuss und stellt das Erinnerungsstück zurück. Nun ist alles getan, es gilt zu gehen. Der Fernseher wird ausgeschaltet, die Uniformteile in der Kampftragetasche verstaut. Waffen und Munition finden ihren Weg in den tarnfarbenen, großen Kampfrucksack. Die taktische Taschenlampe wird zusammen mit dem Outdoor-Smartphone und den Wagenschlüsseln von der Hutablage genommen. Eine schwarze Mehrzweckjacke dient als Camouflage der Absicht des Mannes, der in die Kampfstiefel schlüpft, sein Gepäck aufnimmt und die Wohnungstür von außen zweimal verschließt.
***
Den Wolf übernahm er als Schnäppchen von seiner Einheit. Jenen Geländewagen steuert er nun zum Nachtschalter der Bankfiliale. Bargeld bietet Sicherheit dort, wo er hin möchte. Gleichzeitig ist es auch ein Risiko. Dessen ist er sich bewusst. Vor der Selbstbedienungshalle findet sich jedoch keine Menschenseele. Er parkt, schließt das Auto ab und öffnet mit der Bankkarte die Tür. Fünfhundert Euro finden den Weg in sein tarnfarbenes Portemonnaie.
Er dreht sich um und wird der drei jungen Burschen gewahr, die offensichtlich großes Interesse an dem militärischen Geländewagen mit dem zivilen Nummernschild entwickeln. Aufgrund ihrer Haarfarbe und dem Gebaren drängt sich die Vermutung auf, dass die Großeltern der Jungs nicht in dieser Gegend geboren wurden. Vielleicht sind es „Franzosen“.
„Kann ich euch helfen?!“, kommt die bestimmte Frage, als er den Bankbereich verlässt.
„Die Karre is‘ nice, Opa“, entgegnet der kleinste der Drei. „Ist die nicht ein bisschen zu krass für dich?“
„Das kann in diesen Tagen nicht schaden“, erwidert der Fahrzeugbesitzer. „Macht mal Platz, ich muss weiter.“
„Auf dem Weg zum Muttchen, was?“, witzelt der Dickste der Gruppe. „Musst wohl langsam ins Bettchen, äh?“
Ein höhnisches Lachen dringt aus den drei jungen Kehlen an das Ohr des Veteranen. Dieser versucht, sich nichts anmerken zu lassen, und geht weiter zur Fahrertür.
„Halt mal, Opa!“, hört er beim Aufsperren eineinhalb Meter neben sich den Größten und Breitesten in der Gruppe rufen. „Du hast doch sicher ein paar Kippen für uns, oder?“
„Ich rauche schon lange nicht mehr, bedauere.“
„Dann rück‘ mal ein bisschen Kleingeld rüber, damit wir uns selbst welche kaufen können, Alter.“
Mit erhobenen Händen dreht sich der Angesprochene auf den Jüngeren zu.
„Ich habe kein Geld für euch und fahre jetzt weg! Alles klar?!“
„Opa, wirst du etwa frech?!“, schnauzt sogleich der Dicke los. „Willst du ein paar aufs Maul?!“
„Was ist, Opa?!“, ruft nun der Große und streckt dabei die Brust vor.
***
Die Augen des älteren Mannes verengen sich, während die Burschen näher kommen und weiter pöbeln. Er wägt seine Optionen ab. Bei dem, was er vorhat, sind rechtliche Konsequenzen seine gegrinste Sorge. Dennoch will er hier keinen Fehler begehen. Es sind Jungs. Großgeratene Kinder eben. Alle drei nicht einmal zwanzig Jahre alt.
„Stopp! Lasst mich in Ruhe!“, brüllt er und stößt mit beiden Händen unterhalb der Schultern den Großen von sich weg.
Dieser ballt die Fäuste und spannt seinen Körper an. Die Bedrohung kann man nun förmlich riechen. Das Kampfhormon Adrenalin breitet sich im Blut des Veteranen aus. Dies ist wahrlich nicht die gefährlichste Situation, welche er in seinem Leben meistern musste.
Seine Sinne werden schärfer. Das Herz schlägt schneller. Der Blick wird fokussiert. Und gleichzeitig verlässt mit einem Atemzug jede unnötige Anspannung die Muskeln des einstigen Vollblutsoldaten.
***
Der frontale Schnapptritt befördert die Spitze des Kampfstiefels genau in den Genitalbereich des Angreifers. Dem Tritt folgt ein Schritt in die Flanke des Gegners. Linker und rechter, vertikaler Fauststoß treffen gegen Kinnspitze und Kieferaufhängung. Wie ein nasser Sack bricht der Große scheinbar bewusstlos zusammen.
„Alter!“, brüllt der Dicke und springt zurück.
Sein kleiner Kumpane ist nun im Begriff, eine immense Dummheit zu begehen. Ein Messer erscheint in der Szene und eine Linke greift nach der Jacke des Verteidigers.
Dessen Rechte schaufelt die anfliegende Kontrollhand beiseite. Dann tauchen beide Hände tief hinunter. Sie umfassen den Arm, der das Messer in Richtung Unterleib des Veteranen schickt, an Handgelenk und Ellbogenbeuge wie ein stählerner Schraubstock. Der Kopfstoß wird mir dem harten Teil der Schädelplatte geführt. Ein Treffer am Kinn lässt Zähne aufeinanderschlagen und den Aggressor taumeln. Sein Messer schlittert über den Asphalt und verschwindet aus dem Schein der Straßenlaterne in einem nahen Gebüsch.
Sofort taucht der ehemalige Soldat ab. Seine Arme packen beide Beine des Gegners. Die tiefe Schulter rammt gegen die Leber des jungen Mannes. In einer fließenden Bewegung drückt er sich hoch und befördert sein Ziel in einer schnellen Drehung auf den harten Asphalt.
Die Luft entweicht aus dem Niedergerungenen. Es fällt ihm schwer, Atem zu holen. Der Veteran löst sich unmittelbar und seine Beine katapultieren ihn in die Aufrechte. In der rechten Faust hält er nun einen schwarzen, metallenen Zylinder. Der Gegenstand ist durch ein Sicherungsband mit dem Handgelenk verbunden. Die Linke schützt derweil auf Höhe des Kiefers. Zweitausend Lumen Helligkeit flackern auf und zucken in schnellen, rhythmischen Blitzen nacheinander in die Gesichter des sich langsam wieder aufrappelnden Großen, des Messerstechers und des verdutzt dreinblickenden Dicken. Soweit sie es können, versuchen sie, dem blendenden Effekt des Stroboskoplichts zu entkommen.
Der Veteran bringt sich in eine taktisch günstige Position an seiner Beifahrertür. Ein schneller, überraschender Angriff durch die drei Burschen oder eventuell in der Nähe befindlicher Verbündeter ist seiner Einschätzung nach ausgeschlossen. Die Lichtblitze beginnen, eine neue Runde zu ziehen. Voll Entsetzen schaut der Dicke zu dem Älteren hinüber. Wieder trifft ihn der Strahl der taktischen Taschenlampe und er wendet den Kopf ab.
„Verschwinde!“, zischt der Soldat im Ruhestand deutlich.
Der Aufforderung wird sogleich nachgekommen. Stolpernd sucht der vollschlanke Bursche das Weite.
Kurz versichert sich der Verteidiger mit einem Blick davon, dass beide Besiegten in der Lage sind zu flüchten. Dann setzt er sich in den Wolf und fährt los. Er weiß einen langen Weg vor sich. Und dort, wo er hinfährt, warten erneut weit größere Herausforderungen auf ihn.
Alle Straßen sind voller Menschen. Zwei Arten kann man hier im äußersten Westen des Landes sehen. Solche die hier leben, und solche, die geflohen sind. Der Alltag besteht weiter und das in einer Zeit, die nicht alltäglich ist. Man geht der Arbeit nach und versucht zu ignorieren, dass die gewaltige Kriegsmaschinerie des Nachbarn in mehreren, scheinbar endlosen Heerwürmern aus gepanzertem Stahl, einer dämonischen Soldateska gleich, von Norden, Süden und aus dem Osten eingefallen ist und erschreckend schnell vorankommt.
Jene ersten Flüchtenden haben davon eine Ahnung. Sie sahen die Bomben fallen und hörten den Donner der Kanonen. In Zügen und mit privaten Autos reisten sie hierher. In der Hoffnung, im eigenen Staatsgebiet noch in Sicherheit zu sein, oder mit dem Plan, dieses baldmöglichst zu verlassen.
Der deutsche Fahrer in dem militärischen Geländewagen mit dem zivilen Kennzeichen PS HK 176 steuert sein Fahrzeug zum Ortsrand. Die Wegbeschreibung erhielt er in der Anlaufstelle für Freiwillige beim Rathaus der Großstadt. Dort erntete er viele ungläubige Blicke. Sie ließen ihn kalt.
Seine blaugrauen Augen schauen durch die matte Sonnenbrille und er mustert den Herren, der mit zwei großen Rollkoffern und einer ausladenden Umhängetasche der gut gekleideten Frau mit den beiden Kindern im Grundschulalter an ihren Händen vorangeht. Ein Bild, welches der Fahrer schon etliche Male an diesem Tag in verschiedenen Varianten sah. Die Männer bringen ihre Ehefrauen und Sprösslinge in Sicherheit. Sie selbst bleiben hier. Nicht nur, weil es die Generalmobilmachung von ihnen verlangt, sondern weil sie es wollen. Sie leben jetzt dafür, ihre Heimat zu verteidigen. Zumindest wissen dies die meisten. Sie werden nicht alleine dastehen. Das weiß wiederum der ehemalige Soldat. Deshalb ist er hierher gekommen und steuert nun den Geländewagen von der Hauptstraße auf den Asphalt der Nebenstraße, die ihn zu seinem Ziel führen soll. Musik dröhnt aus den Lautsprechern des Wolfs und kündet von Kampf und Opferbereitschaft in einem längst vergangenen Krieg.
***
Die beiden Wachposten an der Einfahrt der Kaserne aus Sowjetzeiten kontrollieren die Kommandierungsbescheide der Reservisten und Freiwilligen, die schon den ganzen Tag über mit dem Auto, dem Motor- oder Fahrrad sowie zu Fuß hierher streben. Gerade zeigt der Ältere der beiden, dessen neu wirkende Uniform einen ausgezeichneten Ausrüstungsstand vermuten lässt, einem in die Jahre gekommen Lada mit drei jungen Kerlen darin an, weiterzufahren, da vernehmen alle am Tor den lautstarken Klang der Heavy-Metal-Musik. Ein Dutzend Köpfe fahren herum und sehen den Geländewagen „Wolf“ die Zufahrt hochkommen. Der Text des Liedes ist für die des Englischen Mächtigen leicht zu verstehen:
„You’ll take my life, but I’ll take yours, too.
You’ll fire your musket, but I’ll run you through.
So when you’re waiting for the next attack,
You’d better stand, there’s no turning back.
The bugle sounds, the charge begins.
But on this battlefield, no one wins.
The smell of acrid smoke and horses‘ breath,
As I plunge on into certain death.
ooohooohooohooohooohooohoooh ...“
Kaum erreicht der Wagen die kurze Warteschlange, wird die Musik leiser gedreht. Jetzt fährt der Wolf vor zum jüngeren der beiden Wachposten. Eine kühle Windböe aus westlicher Richtung kommt auf. Die leichten Schleierwolken an diesem recht sonnigen Februartag lichten sich weiter und die Strahlen des Hauptgestirns erleuchten die Zufahrt. Der Fahrer des Wagens stellt den Motor ab und kurbelt die Scheibe herunter. Für den Wachposten ist ein Mann zu erkennen, der fast sein Großvater sein könnte. Trotz der Sonnenbrille ist sich die Wache sicher, keinen Ukrainer vor sich zu haben. Die zu kontrollierende Person trägt eine Uniform ohne Hoheitsabzeichen und mit der Wache unbekannten Aufnähern auf beiden Brustseiten. Der Soldat entschließt sich, wie gewohnt zu verfahren. In der Landessprache tut er seine Pflicht:
„Guten Tag, Ausweiskontrolle. Dienstausweis oder Kommandierung vorzeigen!“
Zu seiner Überraschung reagiert der Fremde, ohne zu zögern, und hält ihm einen Ausdruck des örtlichen Rekrutierungsbüros hin. Die dunkelbraunen Augen überfliegen jenes Schreiben deutlich gründlicher als die vielen anderen, welche der junge Mann an diesem Tag geprüft hat. Drei der eingetragenen Punkte brennen sich dabei regelrecht in sein Gehirn ein. Es sind der Name des Fahrers „Steiner, Frank“, seine Nationalität „deutsch“ und der Grad seiner militärischen Vorerfahrung „Veteran“.
„Hey, Oleksander“, ruft er daraufhin dem einige Jahre älteren Kameraden zu. „Wir haben hier einen Krieger aus Deutschland!“
„Was du nicht sagst“, erwidert der zweite Posten und blickt zu ihm herüber. „War zu erwarten, dass sich hier Freiwillige aus anderen Ländern einfinden. Aber dass ausgerechnet ein Naziabkömmling hier als Erster aufschlägt, hätte ich nicht erwartet. Frag‘ ihn mal, was er hier will. Hat wohl Todessehnsucht.“
Gerade ist der jüngere Wachposten im Begriff, sein Schuldeutsch gedanklich zusammen zu kramen, da kommt ihm der Fahrer des Wolfs zuvor. In weitestgehend korrektem Ukrainisch, mit allerdings deutlich hörbarem, deutschen Akzent, beantwortet er die noch nicht formulierte Frage:
„Jungchen, ich komme hierher, um euch zu helfen, den Russen das Erobern zur Hölle zu machen. Und jetzt sei so gut und lass diesen ‚Veteranen‘ passieren. Ich habe 16 Stunden Autofahrt und zwei Stunden in eurer Rekrutierungsstelle hinter mir. Es wird Zeit, dass ich mich bei den Vorgesetzten melde.“
Der Posten nickt, tritt zurück und salutiert. Als der Motor angelassen wird, dreht der Fahrer die Musik wieder lauter. Er erwidert den militärischen Gruß und die Kriegshymne „The Trooper“ der britischen Band Iron Maiden, welche eine Schlacht im Krimkrieg der Jahre 1853 bis 1856 besingt, kommt zu ihrer letzten Strophe:
„We get so close, near enough to fight.
When a Russian gets me in his sights
He pulls the trigger and I feel the blow,
A burst of rounds take my horse below.
And as I lay there gazing at the sky,
My body’s numb and my throat is dry.
And as I lay forgotten and alone
Without a tear, I draw my parting groan,
ooohooohooohooohooohooohoooh ...“
Danylo Lysenko, der zwanzig Jahre alte Wachposten am Tor der Kaserne, schaut dem Deutschen in seinem Geländewagen nach, den dieser in Richtung des Hauptgebäudes der Liegenschaft steuert.
„Hey! Was ist?!“, ruft ihm sein vierundzwanzigjähriger Kamerad zu. „Hat er dich verstanden?!“
„Er spricht Ukrainisch“, antwortet Danylo. „Und zwar ganz gut.“
„Spannend. Aber jetzt auf! Der Dienst wartet!“, poltert Oleksander, der als „Seniorsoldat“ in der Zufahrt sein Vorgesetzter ist.
Gehorsam begibt sich Danylo wieder an die Arbeit und kontrolliert den nächsten Ankömmling auf einem Fahrrad. Kurz schaut er dem Deutschen erneut hinterher. Ein unbestimmtes Gefühl breitet sich ihn ihm aus. Eines, welches sich jenseits aller Rationalität bewegt und eher einer übersinnlichen Wahrnehmung zu entspringen scheint. Der junge Soldat des überfallenen Staates fühlt, dass entweder die Russen oder Frank Steiner dieses Land verlassen müssen. Für beide wird die Ukraine, „das militärische Grenzland“, wie der Name auch übersetzt werden kann, schlicht zu klein sein.
Den Weg zum Büro des stellvertretenden Regimentskommandeurs zeigt man Frank Steiner, Oberstabsfeldwebel der Bundeswehr außer Dienst, schnell. Eine energisch dreinblickende Frau Oberleutnant Koval führt den Deutschen dorthin. Die Tür steht offen und die Brünette deutet in deren Richtung, geht voran, knallt die Hacken zusammen und meldet einem ukrainischen Stabsoffizier von Anfang dreißig die Ankunft des Freiwilligen aus Deutschland.
Major Yegor Petrenko blickt nur kurz von seinem PC-Arbeitsplatz auf und erwidert den Gruß ausgeprägt lässig. Ebenso hält er es, als Steiner hinter der Offizierin eintritt und salutiert.
„Willkommen in der Ukraine“, begrüßt er den weit gereisten Freiwilligen in recht gutem Deutsch.
„Danke, Herr Major“, erwidert der ehemalige Bundeswehrsoldat auf Ukrainisch. „Es ist mir eine Ehre hier zu sein.“
„Sie sprechen unsere Sprache auffallend gut“, kommentiert der stellvertretende Kommandeur. „Woher kommt das?“
„Meine Mutter war eine ukrainische Gastarbeiterin in der DDR und ist mit meinem Vater in den Westen geflohen“, antwortet Steiner. „Ihr war es immer wichtig, dass ich auch ihre Muttersprache und Russisch lerne.“
Petrenko nickt verstehend. Ein halber Landsmann also. An dem Rand einer modernen Brille vorbei mustert der mittelgroße Mann weiterhin sitzend sein Gegenüber.
„Was sind das für Abzeichen auf der Uniform?“
Ohne hinzusehen erläutert Steiner jedes über und auf den Brusttaschen angebrachte Zeichen, die für besondere, militärische Leistungen stehen:
„Fallschirmspringer in Gold, Scharfschütze in Gold, Einzelkämpfer und Sonderabzeichen Kräfte mit erweiterter Grundbefähigung.“
Der Major nickt anerkennend.
„Die Dame vom Rekrutierungsbüro war ganz aufgeregt. Deshalb hat sie mir unser Personaloffizier auch durchgestellt. Sie sollen ja einiges an Einsatzerfahrung vorweisen können.“
„Somalia, Bosnien, Kosovo und Afghanistan.“
„Gefechtserfahrung?“
„Es wurde schon mehrfach mit AK-47 auf mich geschossen.“
„Und selbst?“
„Ich erfülle meine Aufträge. – Immer.“
„Sie haben 38 Jahre gedient?“
„Jawohl.“
„In welcher Einheit zuletzt?“
„Infanterieschule der Bundeswehr in Hammelburg, Nahkampfausbildungszentrum.“
Petrenko lehnt sich in seinem Stuhl zurück und legt die Hände aneinander. Einen Moment schweigt er nachdenklich, dann richtet er sich etwas in dem Bürostuhl auf.
„Warum wollen Sie in der ukrainischen Armee dienen, Herr Steiner? Wir bezahlen unsere Aktiven deutlich schlechter als Deutschland seine Pensionäre. Sie sind im Ruhestand und das sicher zurecht. Irgendwann kommt für einen Soldaten die Zeit, wo er den Jüngeren das Feld überlassen muss. Das hat Ihnen doch bestimmt schon mal jemand gesagt, oder?“
Hörbar zieht der angesprochene Veteran die Luft ein und die im Hintergrund gebliebene Frau Oberleutnant erwartet mit Spannung seine Reaktion.
„Herr Major, bei allem gebotenen Respekt, ich bin nicht hier, um in die ukrainischen Streitkräfte einzutreten. Ich will auch keinen Sold. Ich komme vielmehr als ehrenamtlicher Tourismusentwickler. Der Tourismus ist doch ein wichtiges Standbein für eure Wirtschaft, oder? Mit den vielen unwillkommenen Gästen bleibt das zahlende Publikum weg. Da müsst ihr neue Wege gehen. Ich bin auf Horrorshows spezialisiert. Ich kann den Branchenneulingen zeigen, wie sie den Aufenthalt in diesem Land für Putins Männer zur Hölle auf Erden werden lassen. Gerade auch, wenn es euch nicht gelingen sollte, diese davon abzuhalten, sich in eurer Hauptstadt niederzulassen. – Sie verstehen mich, Herr Major?“
Der Stabsoffizier versteht die Ausführungen trotz der zum Teil recht abenteuerlichen, ukrainischen Grammatik in den Satzkonstruktionen des erkennbar aufgeregten Bundeswehrveteranen nur allzu gut. Erneut nutzt er einen Moment, um seine Gedanken zu sammeln. Dann erwidert er:
„Als Grundausbilder von Freiwilligen und für den Partisanenkampf hätten wir tatsächlich Verwendung für Sie. Vorher will ich mich jedoch von Ihren Fähigkeiten überzeugen. Sie haben doch sicherlich nichts gegen eine kleine Prüfung, oder?“
Steiner schüttelt den Kopf. Und lächelt.
***
Das Prädikat „Schießbahn“ verdient der rund zweihundert Meter lange und fünfzig Meter breite Bereich hinter dem Kasernengelände eindeutig nicht. Hier sind gerade einmal einige Pfade eingetreten, um die Zielscheiben von Hand austauschen zu können. Die Dämme mögen dafür geeignet sein, den Beschuss mit Sturmgewehren aufzufangen, dennoch wäre diese Installation in Deutschland niemals freigegeben worden.
Steiner vermutet zurecht, dass die gesamte Anlage schon vor Jahren aufgegeben und die Kaserne zivil genutzt wurde. Mit dem drohenden Krieg wurde dann alles anders und die Liegenschaft ging erneut an das Militär. Vieles scheint in diesem Regiment ausgesprochen improvisiert. Bis auf die Wachen am Tor und einigen weiteren Soldaten mit besonderen Aufgaben führt hier kaum einer ein echtes Sturmgewehr mit sich. Der Großteil der Rekruten ist mit Holzimitaten ausgestattet, welche zur Ausbildung dienen.
„Hoffentlich bekommen sie auf dem Weg zur Front auch richtige Waffen“, denkt sich Steiner.
Vor diesem Hintergrund ist es eine besondere Auszeichnung, dass ihm nun ein Soldat ein in die Jahre gekommenes AK-47 überreicht. Unter den Augen des Major, der Frau Oberleutnant und drei weiterer Kameraden, die offenbar schon länger im Dienst der Streitkräfte sind, übernimmt der Bundeswehrveteran die Waffe, entfernt das Magazin und führt eine Sicherheitsüberprüfung durch. Dann betrachtet er dieses Relikt aus Sowjetzeiten genauer. Die Visiervorrichtung ist alles andere als korrekt justiert. Sein geübter Blick vermag ihm nicht hundertprozentig zu sagen, in welche Richtung das Trefferbild abweichen wird, dennoch bekommt er eine Idee davon. Lediglich fünf Schuss sind ihm zur Verfügung gestellt worden. Die rund 150 Meter entfernt stehende Zielscheibe hat aufgemalte Kreise, jedoch sind keine Zahlen erkennbar. Wie auch schon in seiner eigenen Grundausbildung üblich, ist das Zentrum schwarz. Sein Ziel ist damit bekannt.
Zusammen mit dem Soldaten, der ihm das Gewehr übergeben hat, geht Steiner nun in die Stellung des Schützen. Bevor er sich auf dem trockenen, kalten Boden in Position begibt, legt er noch den dienstlich gelieferten Gehörschutz an. Die ranghöheren Kameraden stehen abseits und drücken sich die Kapseln ihrer „Mickymäuse“ an die Ohren. Gänzlich vertrauen wollen sie diesen wohl nicht.
Steiner dreht in Stellung die Feldmütze, tarndruck, etwas nach links, um besser zielen zu können. Er ermittelt gedanklich den Haltepunkt der Waffe, legt an und kontrolliert seine Atmung wie bei den unzähligen Präzisionsschüssen, welche er in seiner Laufbahn bereits abgegeben hat. Der Schuss bricht und sofort schaut er an dem Gewehr vorbei zur Zielscheibe.
Dieses primitive Übungsobjekt wurde extra für ihn neu angebracht. Nach einem Moment des Starrens erkennt er den Einschuss links oberhalb des Mittelkreises. Erneut legt er an und korrigiert den Haltepunkt. Der folgende Treffer liegt rechts tief. Mehr braucht Steiner nicht.
Major Petrenko folgt den weiteren Schussabgaben. Der Deutsche feuert nun noch einmal im Liegen, dann geht er in einen knienden Anschlag und schließt schließlich frei im Stehen. Nach einer Sicherheitsüberprüfung überreicht er das Sturmgewehr der Aufsicht und folgt den Ukrainern, die sich geschlossen und von Neugier getrieben der Zielscheibe nähern.
„Links hoch, rechts tief, schwarz rechts mittig und zweimal schwarz ... mittig“, befindet die Frau Oberleutnant.
„Alle Achtung“, meint der breitschultrige Hauptsergeant Savchenko. „Gar nicht schlecht für einen alten Mann.“
„Schwarz rechts mittig hoch war der Dritte. Stehender Anschlag“, kommentiert Steiner. „Sollten sich hier noch ein paar Schuss finden, dann wird die nächste Runde besser.“
„Sie sind Schießlehrer?“, fragt Meistersergeant Gavrilyuk, mit über 40 der Älteste der anwesenden Kameraden.
Steiner nickt und das breite Gesicht des erfahrenen Ukrainers wendet sich seinem stellvertretenden Kommandeur zu. Der Gesichtsausdruck des ranghohen Unteroffiziers drückt Anerkennung für den Deutschen aus.
„Und Sie sind Nahkampf- und Kommandoausbilder?“, will nun noch Kapitan Kovtun wissen, der nur unwesentlich älter als die Frau Oberleutnant scheint.
„Nicht für Spezialkräfte, jedoch grundsätzlich ja“, antwortet der Deutsche.
„Das will ich sehen!“, meint Hauptsergeant Savchenko. „Bereit für ein kleines Tänzchen?“
***
Oberstabsfeldwebel a.D. Frank Steiner legt den Kopf schief. Der Ukrainer ist fast 1,90 groß und sicher über 100 Kilo schwer. Seine hohen Wangenknochen, die breite Boxernase und das kantige Kinn lassen auf einen zähen Burschen schließen. Der Mann ist zudem ein Vierteljahrhundert jünger. Insgesamt keine guten Voraussetzungen, um einen Nahkampf für sich entscheiden zu können.
„Von mir aus“, verkündet der Deutsche.
Mit einem breiten Grinsen geht der Hauptsergeant an seinen Kameraden vorbei und auf den „Anwärter“ um einen Posten als Ausbilder im Regiment zu. Major Petrenko sammelt gerade seine Worte, um das Reglement für den Testkampf zu verkünden, da zuckt die Rechte des Deutschen vor.
Während Steiner in einen tiefen, breiten Stand sinkt, schraubt sich sein horizontaler Fauststoß einem Geschoss gleich auf Savchenko zu. Vollkommen vom überraschenden Angriff überrumpelt, schlägt die „Granate“ im Solarplexus des Hauptsergeants ein. Als diesem die Luft entweicht, trägt ein schneller Kreuzschritt den Veteranen hinter seinen Gegner. Den rechten Arm schlingt er um dessen Hals. Die Hand fasst Steiners linke Ellbogenbeuge. Die Linke klammert sich am Kopf fest. Dann drückt der Nahkampfausbilder zu. Savchenko versucht, mit seinen „Pranken“ die Umklammerung zu lockern. Der vorhergehende Treffer trägt wohl dazu bei, dass ihm dies nicht gelingt. Seine Arme erschlaffen nach einigen Sekunden und wildes Rufen sowie Gestikulieren der Kameraden will die Kämpfenden trennen. Steiner legt den massigen Körper ungerührt vor sich auf den Boden der improvisierten Standortschießanlage.
***
„Das war ein unfairer Überfall!“, schimpft Hauptsergeant Savchenko, als er zur Erleichterung seiner ukrainischen Kameraden wieder zu sich kommt. „Wir wollten doch eine Sparringrunde einlegen!“
„So? Wollten wir das?“, entgegnet Steiner. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass hier im Krieg Kampfsportler gesucht werden. – Wollt ihr die Russen zu einem fairen Kampf Mann gegen Mann herausfordern? Das glaubt ihr doch selbst nicht. Militärischer Nahkampf ist nicht fair. Unser einziges Ziel ist es, auf kurze Distanz und mit allen Mitteln den Gegner außer Gefecht zu setzen. Wer das nicht versteht, hat auf dem Schlachtfeld nichts verloren. – Dieses Handwerk ist blutig und in der Schlacht gnadenlos. Das muss so sein. Wir beschützen dadurch diejenigen, die es nicht selbst können. Eine Option zu versagen existiert nicht bei unserem Auftrag.“
„Was für Kampfkünste haben Sie trainiert?“, will der Kapitan wissen.
„Ich habe tiefer gehende Kenntnisse im Tae Kwon Do, Wing Chun, BJJ, Krav Maga und Kali“, erklärt Steiner.
Die Ukrainer sehen sich an und scheinen sich mit Blicken auszutauschen. Ihr Vorgesetzter ist still. Der Major denkt nach.
„Sie hatten in Deutschland einen Dienstgrad. Was war das für einer?“, fragt er schließlich.
„Ich habe den höchsten Unteroffiziersrang erreicht, den es in der Bundeswehr gibt.“
„Oberster Meistersergeant“, transferiert die Frau Oberleutnant den Dienstgrad in die ukrainischen Streitkräfte. „So einen bekommen wir hier nie genehmigt.“
„Herr Steiner will unserem Land ohne Sold dienen und zudem nicht im Dienstpostenschlüssel auftauchen“, erklärt der Major. „In diesen Zeiten finden wir da schon einen Weg.“
Kriegstagebuch, 26. Februar 2022
Putin träumt offenbar von einem Blitzkrieg und einem schnellen Sieg. Hatten wir das nicht schon mal? In großen Zangenbewegungen rücken seine Verbände auf die Hauptstadt vor. Soweit ich in der Lage bin es von hier aus zu beurteilen, leisten die Ukrainer ihnen erbitterten Widerstand. Offenbar sogar bisweilen erfolgreich, jedoch nicht dazu geeignet, die Russen vernichtend zu schlagen.
Das kann man diesem Volk nicht übel nehmen. Sie stehen einer der schlagkräftigsten Armeen der Welt gegenüber und zeigen sich dennoch entschlossen, ihre Heimat nicht kampflos einem Diktator zu überlassen. Dieser erzählt seinen Leuten tatsächlich, es wäre nur eine „militärische Sonderoperation“, um das Brudervolk von den Nazis in Kiew zu befreien. Was für ein Kuhmist!
Die effektivste Waffe der Ukrainer ist ihr Präsident. Diesen Schauspieler und Komiker in jener Position zu haben, kommt für sie im Moment einem Geschenk Gottes gleich. Die Amerikaner wollten Selenskyj aus dem Land holen. Seine Antwort: „Der Kampf ist hier. Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“ In Anbetracht der Tatsache, dass die Russen mit einer Luftlandeoperation seit Tagen vor seiner Haustür stehen, wirklich beeindruckend.
Beeindrucken kann mich dieses Volk, aus dem meine Mutter stammt, im Moment jeden Tag. In den vergangenen Jahrzehnten durfte ich etliche tausend Soldaten ausbilden. Nie wurde mir ein bunterer Haufen anvertraut und nie habe ich eine höhere Motivation gesehen. Sie sind bereit, zum Äußersten zu gehen, und nehmen alle Entbehrungen in Kauf. Persönliche Risiken sind kein Hinderungsgrund für kreative und gewagte Entscheidungen.
Major Petrenko hat mir erklärt, dass der eigentliche Kommandeur des Ausbildungsregiments am Morgen vor meiner Ankunft mit gut ausgerüsteten und voll gefechtsbereiten Kompanien nach Kiew zur Unterstützung der Territorialverteidigung abgerückt ist. Sie haben den Auftrag, durch gezielte Gegenstöße auf einzelne Einheiten des Feindes und seinen Nachschub das Voranstürmen der Russen zu stoppen.