Wing Chun Girl - Konrad Gladius - E-Book

Wing Chun Girl E-Book

Konrad Gladius

0,0

Beschreibung

Das Nordlicht Hannah Liebig ist auf dem Weg 17 zu werden, als ihr alleinerziehender Vater mit ihr aus Bremen nach Bayern umzieht. Hätte das nicht schon genug Probleme für die bewegungstalentierte Turnerin parat, verguckt sie sich ausgerechnet in den schlimmsten Schläger ihrer neuen Schule. Als er ein "Nein" nicht als solches akzeptieren will, wird es für Hannah gefährlich und weder ihr Vater noch die Polizei können ihr helfen. Da zeigt sich ein rettender Engel. Eine katholische Nonne und Meisterin der Kampfkunst akzeptiert Hannah als ihre Schülerin. Jetzt muss das Mädchen die Selbstverteidigungskunst des Wing Chun Kuen in kürzester Zeit erlernen, um sich einem scheinbar übermächtigen Gegner zu stellen. Neben Schulstress, der ersten Liebe und den Sorgen ihrer besten Freundin bleibt ihr nichts anderes übrig, als ein Wing Chun Girl zu werden und einen wahren Faustgesang im Frühling anzustimmen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 347

Veröffentlichungsjahr: 2022

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1 – Eine Ankunft

Kapitel 2 – Schulterror

Kapitel 3 – Rivalen

Kapitel 4 – Der Turnverein aus der Hölle

Kapitel 5 – Gedanken sortieren

Kapitel 6 – Das Turnier

Kapitel 7 – Fußtritt ins Herz

Kapitel 8 – Die Nonne

Kapitel 9 – Ein Date

Kapitel 10 – Eine Nutte genannt zu werden

Kapitel 11 – Geflüchtet

Kapitel 12 – Lebensbedrohung

Kapitel 13 – Versagen der Staatsmacht

Kapitel 14 – Ein rettender Engel

Kapitel 15 – Die Lehrmutter

Kapitel 16 – Der Weg beginnt

Kapitel 17 – Eine grundlegende Idee

Kapitel 18 – Der Kranich und die Schlange

Kapitel 19 – Die Lebensgeschichte

Kapitel 20 – Kampfansage

Kapitel 21 – Trainingsgeräte

Kapitel 22 – Überraschungen

Kapitel 23 – Herausforderungen bestehen lernen

Kapitel 24 – Weich wie Wasser

Kapitel 25 – Willkommene Abwechslung

Kapitel 26 – Verzweiflung und Hoffnung

Kapitel 27 – Freikampftraining

Kapitel 28 – Schulfrieden

Kapitel 29 – Anpassungsfähig bleiben

Kapitel 30 – Taktik vor Technik

Kapitel 31 – Sparringspartner

Kapitel 32 – Zarte Bande

Kapitel 33 – Harte Bande

Kapitel 34 – Recht und Ordnung

Kapitel 35 – Bedenken

Kapitel 36 – Verbündete

Kapitel 37 – Fähigkeitstest

Kapitel 38 – Der Großmeister

Kapitel 39 – Bereitschaft

Kapitel 40 – Gottes Wille

Kapitel 41 – Verantwortung

Kapitel 42 – Das Duell

Kapitel 43 – Die Schlacht

Kapitel 44 – Die große Lehrschwester

Epilog

Schlusswort

Post Scriptum

Über den Autor

Prolog

Südchina im Frühling des Jahres 1814

Die Jungfrau trat auf den Weg, der aus ihrem Heimatdorf führte. Das Herz schlug ihr wild in der Brust. Furcht begleitete ihre Schritte. Furcht vor dem, was vor ihr lag. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen sehr intensiv auf das vorbereitet, was sie erwartete. Aber war sie wirklich bereit?

Sie musste ihrer Lehrmeisterin vertrauen. Die ehrwürdige Mutter war selbst nicht zugegen. Zuviel stand auf dem Spiel und die Meisterin durfte sich hier und jetzt nicht zeigen. Der Widerstand gegen die verhassten Besatzer aus dem Norden war weit wichtiger als die Sorgen des jungen Mädchens. Das wusste die Schülerin der Kampfkunst. Wenn sie ihre Herausforderung überleben sollte, dann würde sie ihr Versprechen erfüllen und sich auch dem Kampf um die Freiheit ihres Volkes anschließen. Doch noch war es nicht vollbracht. Dies würde ihre Prüfung sein und ihre Zukunft hing davon ab, ob sie bereit war, diese zu bestehen.

Die Kirschbäume standen in voller Blüte und eine frische Brise wehte durch ihr schwarzes, glattes Haar. Sie trug es hochgebunden, was einem jeden zeigte, dass sie heiraten durfte. Warme Sonnenstrahlen trafen auf ihre helle Haut. Junge Männer sahen in ihr ohne Zweifel eine Augenweide. Ihre Schönheit erregte Aufmerksamkeit und, wie sie im vergangenen Monat leidvoll erfahren musste, auch bei Menschen, denen ein Mädchen besser nicht auffallen sollte.

Der Duft von frisch Gebackenem lag in der Luft. Sie atmete tief durch die Nase ein und füllte über ihren sich langsam hebenden Bauch ihre Lungen. Leise begann sie die alte Weise zu Ehren des Frühlings zu summen, welche ihre Mutter so gerne gesungen hatte. Jene für ihr Leben so wichtige Frau sollte nach den Erzählungen des Vaters die Aufführungen der reisenden Operntruppen geliebt haben. Durch sie war das Mädchen auch zu seinem Namen gekommen: Wing Chun, was übersetzt im von ihr gesprochenen Dialekt so viel heißt wie „ein Lobgesang an den Frühling“ und gleichzeitig als Bezeichnung für die Sänger jener reisenden Theatergruppen genutzt wurde.

Die Melodie, ihre Melodie, schenkte dem Mädchen Wing Chun aus der Familie Yim Mut. Genauso wie die Gewissheit, dass sie nicht alleine war. Sie hatte Verbündete. In Gedanken war auch ihre Lehrmeisterin bei ihr. Bei ihr, die ihre eigene so früh verstorbene Mutter nie wirklich kennenlernen durfte. Sie bedauerte, keine Geschwister zu haben. Ihrem Verlobten würde sie eine gute Frau werden, schwor sie sich in diesem Moment auf jenem Weg. Dafür musste trotz des Kampfes für die Freiheit Zeit sein. Sie wollte ihm viele gesunde Kinder schenken und ihrer Mutter Ehre bereiten. Ein Gedanke, der ihr vor Kurzem noch vollkommen fremd gewesen war. Ihr Vater unterwies sie seit Kindesbeinen in der Kampfkunst, die er selbst gelernt hatte. Er behandelte sein einziges Kind nicht so, wie eine Tochter für gewöhnlich erzogen wurde. Wing Chun hatte viele Freiheiten, die man sonst nur einem Sohn zugestanden hätte.

Dass Yim Wing Chun stärker war, als sie aussah, das hatte auch ihr Verlobter bereits zu spüren bekommen. Dieser aufstrebende Salz-Kaufmann namens Leung Bok Chau, der sich nun ebenfalls dem Widerstand angeschlossen hatte. Als er erfahren musste, was passiert war, wollte er an ihrer Stelle kämpfen. Das hatte sie ihm aber schnell ausgetrieben.

Der neue Kampfstil für die Rebellen, an dem ihre Lehrmeisterin arbeitete, war bereits jetzt in seiner Frühform eine tödliche Waffe und wie für das Mädchen gemacht. Seine Grundlage bildeten die Kampfkünste der Shaolin sowie Kampfstile, die sinnbildlich den Kampftechniken der Schlange und des Kranichs nachempfunden waren. Hieraus entwickelte die als Nonne lebende Kämpferin ein effektives Werkzeug. Der Stil war schnell, direkt und verheerend.

Das hatte Bok Chau in einem Vergleichskampf mit ihr schmerzhaft zu spüren bekommen. Es war ein Zeichen seiner Größe als Mann, dass er nach der Niederlage das Verlöbnis nicht beendet hatte. Ein Zeichen, dass er der richtige Ehemann für sie war. Das Versprechen, dass sie ihn heiraten würde, hatte ihr Vater schon vor vielen Jahren gegeben. Das Recht dazu wollte man ihr heute gewaltsam nehmen. Sie musste es sich nun erkämpfen und sie war bereit, alles dafür zu riskieren ...

***

Ereignisse aus der Vergangenheit beeinflussen uns in der Gegenwart. Erfahrungen werden weitergegeben, sodass auch die Erlebnisse anderer Menschen unser Leben prägen können. Aber wie weit kann dies gehen? Wiederholen sich Geschichten? Sind die Geschehnisse nicht immer wieder so verschieden, dass man Vergangenheit und Gegenwart unmöglich miteinander vergleichen kann? Oder vermag das Band des Schicksals uns womöglich über die Grenzen der Jahrhunderte und über Tausende von Meilen hinweg miteinander zu verbinden?

Wenn zwei Menschen im selben Abschnitt ihres Lebens vor die gleiche entscheidende Herausforderung gestellt werden, können sie auch zu identischen Schritten gezwungen sein. Wenn sich ihnen dann zudem noch dieselbe Chance eröffnet, scheint es wahrscheinlich, dass sich ihr Wesen auf ähnliche Weise verändert.

Was vor zwei Jahrhunderten im südlichen China geschah, gilt in unseren Tagen vielen als die Feuertaufe eines neuen Kampfstils. Obwohl diesen heute weltweit Millionen von Menschen praktizieren, mag die Prüfung der jungen Yim Wing Chun wirklich einzigartig gewesen sein. Dennoch führten vor einigen Jahren Ereignisse im Leben eines Mädchens zu Begebenheiten, die wir uns vor diesem Hintergrund einmal genauer anschauen müssen. Ihre Erlebnisse sollen nun erzählt werden ...

Kapitel 1 – Eine Ankunft

Samstag, der 15. Februar 2014, auf der Landstraße von München nach Buchenheim

Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe des alten VW Passat. Hannahs Laune hätte nicht schlechter sein können. Bereits eine ganze Weile fuhren sie durch diesen dichten, endlos und trist wirkenden Wald und es begann allmählich dunkel zu werden.

„Es ist nicht mehr weit“, meinte Hannahs Vater aufmunternd und fröhlich, aber diese Freude wollte seine Tochter nach zehn Stunden Autofahrt nicht teilen.

Auf einmal bemerkte Hannah, wie es etwas heller wurde. Die Bäume verschwanden und während das Auto aus dem Wald herausfuhr, tauchte vor ihnen eine üppige und weitreichende Wiesenlandschaft auf. Hannah fühlte ihre Befürchtungen bestätigt. Hier gab es nichts außer ländlicher Idylle und Langeweile. Sie hielten auf eine Ortschaft zu. Diese und eine weitere angrenzende Siedlung mussten Buchenheim sein.

Dies war also der Ort, den ihr Vater aufgrund seiner mit einem Partner ersponnen Geschäftsidee als ihr neues Zuhause erkoren hatte. Ob ihre Mutter diesen Schwachsinn, ins absolute Nichts zu ziehen, unterstützt hätte? Der Gedanke an die eigene Mutter vertiefte Hannahs Traurigkeit. Sie hatte ihre Mutter kaum gekannt. Ein zu spät erkannter Gebärmutterhalskrebs hatte sie aus dem Leben gerissen. Hannah war damals gerade einmal vier Jahre alt gewesen.

Noch schlechter als sie kam ihr Vater mit dem Verlust zurecht. Der gelernte Landschaftsgärtner gab den Einsatz in der Krebsselbsthilfegruppe auch nach dem Tod seiner Frau nicht auf. Wie besessen trachtete er danach, Wissen über konventionelle und alternative Heilungsmethoden zu erlangen. Dabei war er vor ein paar Jahren über die Erfahrungsberichte eines italienischen Franziskaner-Mönchs namens Pater Romano Zago gestolpert. Dieser in Bethlehem lebende Geistliche hatte wohl eine Rezeptur entdeckt, mit der man nahezu unglaubliche Heilungserfolge bei Krebs zu erzielen vermochte. Dafür wurden Blätter einer Kaktus-Art, der Aloe arborescens, mit viel Honig und etwas Schnaps zu einem bitteren Sirup verarbeitet. Nachdem Hannahs Vater einigen Krebspatienten aus seinem direkten Umfeld diesen Sirup verabreicht hatte, gab es grandiose Erfolge. Der Schilddrüsentumor des ehemaligen Nachbarn fiel binnen weniger Wochen in sich zusammen, die Operation des Mannes der Postbotin wegen eines Lebertumors konnte abgesagt werden und ihr Onkel Klaus durfte seinen rechten Hoden behalten.

Diese Heilungserfolge machten die Besessenheit ihres Vaters zu einer göttlichen Mission. Seine väterlichen Pflichten und diese Mission führten auch dazu, dass er nicht wieder heiratete. Der streng gläubige Katholik aus Bayern, der nur der Liebe wegen in den hohen Norden gezogen war, heckte mit einem Sandkastenfreund, einem Ontologen und Arzt, die Idee einer gemeinsamen Heilpraxis mit Lebensberatung für Krebskranke und ihre Angehörigen aus. Dazu sollten der eigene Bioanbau der Aloe-Pflanzen, die Produktion des Sirups und eine seelsorgerische Betreuung gehören. Ihr Vater und sein Freund sammelten Geldgeber und beschlossen, das Projekt im nahe München gelegenen Buchenheim, der Heimat des Arztes, zu starten.

Damit war es für Hannah vorbei mit ihrem Bremen. Ihre Freunde, ihre Schule und ihren Turnverein musste sie hinter sich lassen, nur weil ihr Vater die Welt retten wollte. Weil er ihre Mutter nicht hatte retten können.

Da saß sie nun in dem VW Passat: Hannah Mendel, geboren am 20. Juli 1997 in Bremen, 1,64 groß und 54 Kilo schwer. Sie verfügte über die durchtrainierte Statur einer echten Turnerin. Seit mehr als zwölf Jahren ging sie diesem Sport nach und hatte auch einige Siege bei Wettkämpfen auf Kreis- und Landesebene für sich geholt. Mit einer ansprechenden Figur gesegnet, musste sich das braunhaarige Mädchen mit den dunkelgrünen Mandelaugen eigentlich nicht vor den Jungs verstecken. Dennoch hatte sie bisher keinen Freund gehabt. Das lag an ihren anderen Charaktereigenschaften.

Hannah war für ihren Fleiß und ihre Geduld bekannt. Sie schwieg lieber, als ein Wort zu viel zu verlieren. Sie war konsequent in ihren Handlungen und all ihre Freunde konnten sich immer auf sie verlassen. Allerdings war sie auch sehr leicht erregbar und neigte dazu, eigensinnig und hartnäckig zu sein. Das vertrug sich wiederum überhaupt nicht damit, dass der heimliche Fan von Liebesromanen und ebensolchen Filmen äußerst sensibel war und sich daher zum Selbstschutz häufig in scheinbare Gleichgültigkeit hüllte. An ihr interessierte Jungs begegneten einem Mädchen, das schüchtern und zurückhaltend blieb und damit ablehnend und kühl wirkte. Das verschreckte schon mal die nicht so selbstsicheren Verehrer.

Hannah konnte sehr gut zuhören und Geheimnisse für sich behalten. Das schätzten ihre Freundinnen genauso, wie dass sie sich stets richtig ins Zeug legte, wenn jemand Hilfe benötigte. Mit Hannah befreundet zu sein hieß aber auch, mit ihren Stimmungsschwankungen zurechtzukommen, die einigen bisweilen schon tierisch auf die Nerven gingen. Verbunden mit der Tatsache, dass Hannah auf ihren Märchenprinzen wartete und kein Interesse daran hegte, Erfahrungen zu sammeln, wurde die Liste ihrer Verehrer schnell sehr, sehr kurz.

„Das ist ja mal ein echtes Kuhdorf“, brummte Hannah, als ihr Vater die ersten Häuser von Buchenheim passiert hatte.

„Ja, stimmt! Hier ist es wirklich gemütlich“, erwiderte ihr Vater.

„Super“, kam der Kommentar von seiner Beifahrerin. „Genau das, was ich mir gewünscht habe.“

Hannahs Vater seufzte.

„Warte doch ab, bis du Achim und seine Familie kennengelernt hast“, setzte er versöhnlich an. „Du wirst sie bestimmt mögen. Sie sind alle sehr nett.“

Das eisige Schweigen vom Nachbarplatz wies ihren Vater darauf hin, dass es wohl besser war, sich nun zurückzuhalten.

Rolf Mendel war nur unwesentlich größer als seine Tochter. Er besaß jedoch die Hände, Arme und Schultern eines Mannes, der gewohnt war, harte Arbeit zu verrichten. Für einen Mittvierziger hatte sich sein braunes Haupthaar schon deutlich gelichtet und auf seine Brille konnte der einstmals begeisterte Amateurboxer mit der breiten Nase auch nicht mehr verzichten. Gerade beim Autofahren hatte er diese immer auf und lenkte nun den Wagen in die großzügige Einfahrt des geräumigen Doppelhauses.

„Wir sind da“, sagte Hannahs Vater, stellte den Motor ab, löste den Anschnallgurt und sprang förmlich aus dem Wagen.

Hannah verließ das Fahrzeug deutlich langsamer und streckte sich erst einmal ausgiebig nach der gefühlt endlosen Autofahrt.

Ihr Vater winkte dem Fahrer des Umzugswagens, der gerade in die Einfahrt bog. Für Hannah würde noch lange nicht die Ruhe einkehren, welche sie sich so sehr wünschte. Zwar hatten sie vor dem Umzug viel weggeworfen, aber ihr Hausstand musste jetzt ausgeladen werden und zumindest das Wichtigste galt es einzurichten. Glücklicherweise hatte ihr Vater nicht am falschen Ende gespart. Die drei Möbelpacker des Umzugsunternehmens waren wirklich kräftige Männer, die schon beim Einladen bewiesen hatten, dass Herd, Kühlschrank und Waschmaschine für sie weder wegen des Gewichts noch aufgrund der Anschlüsse ein Problem darstellten. Außerdem hatten sich weitere Helfer angekündigt. Ihr neuer Nachbar gehörte nicht dazu. Er und seine Freundin blieben in der anderen Doppelhaushälfte. Nach Hannahs Meinung war dies schon einmal kein gutes Zeichen.

„Rolf! Willkommen in Buchenheim!“, hallte es plötzlich von den Häuserwänden wieder.

Ein Mann von über 1,90 betrat die Einfahrt. Er war in etwa im Alter von Hannahs Vater und trug unter dem sich lichtenden, blonden Haarschopf einen gepflegten Vollbart. Ihn begleiteten zwei Mädchen und ein junger Mann. Hannah wusste, dass es sich nur um drei der insgesamt fünf Kinder von Achim Lang, dem Freund und Geschäftspartner ihres Vaters, handeln konnte. Wenn sie sich richtig erinnerte, dann musste die Blondine Laura sein. Sie war nicht ganz ein Jahr jünger als Hannah. Ihre kleine Schwester Susi mit dem roten Pferdeschwanz sollte wohl vor Kurzem 14 Jahre alt geworden sein. Der junge Mann war offenbar Carsten, der Älteste. Er würde bald 18 werden.

Ihn musterte Hannah genauer. Eigentlich war er nicht ganz ihr Typ. Gegenüber seinem Vater wirkte er mit wohl etwa 1,75 eher schmächtig. Auch war er längst nicht so breit gebaut wie die Jungs, für die sich Hannah sonst interessierte. Sein mittelblondes Haar war militärisch kurz geschnitten. Seine feinen Gesichtszüge ließen ihn etwas jünger erscheinen und mit der geraden, ebenmäßigen Nase und den recht oval zulaufenden Ohrmuscheln erweckte er den Anschein, ein Elf aus einem der Fantasyromane zu sein, die Hannah in Mengen immer wieder verschlang. Seine kräftiger gebauten Schwestern machten da eher den Eindruck, einer gänzlich anderen Gattung anzugehören. Vielleicht war es dieses auffällige Anderssein von Carsten, welches ihre Aufmerksamkeit in jenem Moment erregte.

„Achim!“, erwiderte Hannahs Vater die Begrüßung.

Es setzte ein großes „Hallo!“ ein und die Kinder stellten sich einander mit Unterstützung ihrer Väter vor.

„Packen wir 's an!“, rief schließlich Herr Lang und koordinierte zusammen mit Hannahs Vater die einzelnen Arbeitstrupps.

Während die anderen sich um den großen Umzugswagen kümmerten und dabei darauf achteten, den Umzugsprofis nicht im Weg zu stehen, sollten Hannah und Carsten den VW Passat ausladen.

Carsten wich geschickt den beiden Möbelpackern aus, die gerade den Kühlschrank auf Rollen ins Haus schafften. Dann griff er den größten Umzugskarton, der Hannahs wichtigste Sachen enthielt, und hob diesen, ohne das Gesicht zu verziehen, aus dem Kofferraum. Hannah, die als Turnerin für eine Frau selbst recht breitschultrig war, hätte das dem schlanken, jungen Mann nicht zugetraut. Schon gar nicht, da sie im Kontrast die fünf gestandenen Mannsbilder bei der Arbeit sehen konnte, die sich gegenseitig in der Schulterbreite überboten.

„Na, dann wollen wir mal“, sagte Carsten und nickte Hannah freundlich lächelnd zu.

Hannah wusste nicht so genau, wie sie darauf reagieren sollte. Sie nickte nur scheu und griff ihre mit Kleidern vollgestopfte Sporttasche. Während sie voranging, begann er mit ihr zu reden und darauf war sie nun wirklich nicht vorbereitet.

„Schon cool, was unsere Väter da so ausgeheckt haben, oder?“, fragte Carsten.

„Hmm“, gab Hannah als unbestimmte Antwort von sich.

„Ich meine, ein Heilmittel gegen Krebs so an den Mann zu bringen, das ist schon der Hammer. Das wird bestimmt vielen Menschen helfen.“

„Ja.“

Hannah konnte sich für diese besonders geistreiche Antwort in jenem Moment selbst nicht leiden. Zudem war es für sie auch nicht zu fassen, dass der erste Junge, der hier im tiefen Süden mit ihr sprach, ausgerechnet über die blöde Geschäftsidee ihres Vaters quatschen wollte.

„Ich bin mal gespannt, wann die beiden das erste Mal im Fernsehen zu sehen sind“, plapperte der junge Mann weiter. „Ich bin stolz darauf, so einen Vater zu haben. Du nicht auch?“

Hannah dachte nach, während sie vor Carsten ihr neues Zimmer betrat. Sie hatte dazu bisher keine Meinung. Sie war zu sehr damit beschäftigt, ihren Freundeskreis in der Ferne zu vermissen. Noch bevor sie eine passende Antwort gab, kam Carsten schon mit seinem nächsten Gedanken.

„Nette Hütte, muss ich sagen“, stellte der Arztsohn beeindruckt fest und platzierte den Umzugskarton in der Zimmermitte auf dem Boden.

Das Haus hatte Hannah um Weihnachten herum bei einer Besichtigungstour schon begutachtet. Carsten und seine Familie waren jedoch zu dieser Zeit im Skiurlaub gewesen, sodass sie den begeisterten, jungen Mann erst jetzt kennenlernen konnte. Ja, das Haus war cool. Hannah hatte in ihrem neuen Zimmer fast so viel Platz wie in der halben Wohnung in Bremen. Aber irgendwie fühlte sie sich in einer anderen Welt.

„Ja, es ist ganz okay“, sagte sie und stellte ihre Sporttasche in eine Ecke. „Ich denke nur, dass ein Großteil der Hausarbeit an mir hängen bleiben wird.“

„Oh ja, das ist natürlich doof“, meinte Carsten dazu und lächelte erneut. „Ich bin froh, dass ich da einen guten Deal mit meiner Schwester Laura habe. Ich fahre sie immer zu ihrem Freund und dafür übernimmt sie meine Putzdienste. Ihr Kerl wohnt fast 40 Kilometer weg und die Verbindung mit Bus und Bahn ist sehr bescheiden. Wegen des begleiteten Fahrens ist zwar meine Mutter dabei, aber die findet's gut.“

„Verstehe“, sagte Hannah kühl, bemerkte jedoch durchaus wohlwollend die Tatsache, dass Carsten offenbar schon einen Führerschein besaß.

„Hast du eigentlich einen Freund?“, fragte Carsten recht direkt.

„Nee. Mit Bremen und hier funktioniert das nicht“, sagte Hannah unbestimmt. So richtig zugeben, dass sie noch keinen Freund gehabt hatte, wollte sie nicht.

„Na, das wird die Kerle in der Gegend freuen“, meinte Carsten spitzbübisch und versank damit tief in einem Fettnäpfchen.

Eine Zornesfalte zeigte sich kurz auf Hannahs Stirn und sie drehte sich zu Carsten.

„Wie meinst du das?“, fragte Hannah mit leicht gereizter Stimme.

„Na, ein süßes Mädchen wie du hat bestimmt schnell Verehrer an der Backe“, erhielt sie die mit einem breiten Grinsen garnierte Antwort.

„Bist du eigentlich immer so frech?“, stellte Hannah die in diesem Moment ehrlich gemeinte Frage.

„Nein, nur an Samstagen.“

Das entwaffnende Grinsen des jungen Mannes sorgte dafür, dass zuerst Hannah und dann ebenso Carsten loslachten.

Als sie zusammen wieder zum Auto gingen, erzählte Carsten etwas von seiner Schule in München, in die auch Hannah gehen würde. Er stand ein Jahr vor dem Abitur und plante, Informatik zu studieren. Während er so davon redete, hörte ihm das Mädchen nur mit einem Ohr zu.

„Der flirtet doch mit dir, Hannah, oder?“, sagte sie zu sich selbst.

Gleichzeitig überlegte sie, ob er als ihr Traummann infrage kam. Nun, für sie war er eigentlich etwas zu schmächtig. Darüber vermochte man jedoch vielleicht hinwegzusehen. Witzig war er und selbstbewusst auch. Zudem nicht gerade unsportlich. Er schien eindeutig interessanter als die Typen, die Hannah sonst anquatschten. Aber irgendwie traute sie dem Ganzen nicht. Ein Kerl, der so offensiv vorpreschte, konnte doch nur eine Abschussliste haben. Jede Woche wurde ein anderes Mädchen klar gemacht. Hannah hatte keine Lust, auf so einer Liste zu landen. Alternativ könnte er eine feste Freundin haben und nur mit ihr spielen. Vielleicht war er auch einfach nett. Konnte es sein, dass er sie nur anflirtete, weil er sie etwas aufbauen wollte? Es war sicherlich nicht zu übersehen, dass sie total depri wegen des Umzugs war. Egal. Jetzt war es auf alle Fälle gut, jemandem zuzuhören, und so ließ sie Carsten einfach reden, während sie die nächsten Kisten vom Auto in ihr Zimmer brachten.

Hannah und Carsten passierten dabei Herrn Lang und Hannahs Vater, die gerade zurück zum Möbelwagen gingen. Die beide Herren musterten die jungen Leute genau.

„Na, da hat sich offenbar einer in meine Tochter verguckt“, witzelte Hannahs Vater in Richtung seines Geschäftspartners, als die Jugendlichen außer Hörweite schienen.

„Ja, den guten Frauengeschmack hat er von seinem Papa geerbt“, antworte Herr Lang mit dem gleichen Ernst. „Sie sieht Christiane von Jahr zu Jahr ähnlicher.“

Hannahs Vater sog hörbar die Luft ein, als er den Namen seiner verstorbenen Frau hörte.

„Verzeih ... ich wollte nicht ...“, stammelte Herr Lang, doch Hannahs Vater winkte ab.

„Schon gut. Ich sehe es ja selbst“, sagte er. „Wenn das Mädchen nicht meine Nase hätte, dann könnte man sie für eine jüngere Kopie von Christiane halten. Zumindest äußerlich. Christiane war offener als unser Töchterlein. Hannah wirkt immer sehr mit sich beschäftigt. So als ob sie in ihrer eigenen Welt leben würde.“

Herr Lang nickte verständig. Hannahs Vater holte seinen schweren Werkzeugkoffer aus dem Umzugswagen und gab diesen an Herrn Lang weiter. Selbst griff er nach einer mindestens ebenso schweren großen Klappbox, welche mit Elektrogeräten und allerlei Kabeln gefüllt war, und ging voran zurück zum Haus.

„Weißt du, ich fände es gar nicht schlecht, wenn die beiden zueinanderfinden würden“, sagte Herr Lang, als die Männer den Werkkeller erreicht hatten und ihnen vermutlich niemand mehr zuhören konnte. „Zum Einen gefällt mir deine Kleine selbst und der Gedanke, dich als Gegenschwiegervater zu haben, ist auch nicht übel.“

Hannahs Vater grinste und räumte verlegen einige Kabel auf einer Ablage um.

„Danke für die Blumen“, sagte er. „Von meiner Seite wirst du ebenfalls keine Einwände hören. Dem Mädchen würde ein fester Freund sicherlich nicht schaden. Das wäre zudem gut für ihr Selbstwertgefühl. Ich glaube nur, sie wird es vermasseln.“

„Wie meinst du das?“

„Ganz einfach, sie kann sehr schwierig sein“, meinte Hannahs Vater. „Das hat sie auch von ihrer Mutter. Wäre ich nicht so hartnäckig gewesen, hätte es bei uns nicht geklappt.“

Deutlich im Scherz winkte Herr Lang ab.

„Das braucht uns nicht zu kümmern“, sagte er.

„Häh? Wie meinst du das?“

„Na hör' mal! Wir sind die Väter der beiden!“, erwiderte Herr Lang. „Nach alter Sitte dürfen wir unsere Kinder einander versprechen. Das hat doch früher auch geklappt. Warum sollte das heute nicht mehr gut gehen? Schlag ein und dann ist es besiegelt.“

Hannahs Vater lachte. Seine Tochter würde sich nie an so eine Tradition halten und der junge Lang hätte da sicherlich ebenfalls Einwände. Dennoch schlug er in die ihm dargebotene Hand ein. Mit seinem alten Freund konnte er immer noch gut rumalbern. Auch war es ihm nicht möglich zu erahnen, was die Zukunft für Überraschungen bereithalten würde. Für ihn galt es nun etwas draufzusetzen.

„Aber der erste männliche Enkel wird nach mir benannt“, sagte Hannahs Vater gefolgt von einem Lachen, in das auch Herr Lang einstimmte.

Was die beiden Männer nicht mitbekamen, war eine stocksaure Hannah, die eigentlich mit einer Frage auf der Suche nach ihrem Vater war. Auf der Treppe zum Keller hatte sie genug mitbekommen, um sich gehörig zu ärgern. Während sie auf dem Absatz kehrtmachte, um wieder hoch zum Möbelwagen und damit zu ihrem Tragehelfer und nach dem Willen der Väter vermeintlichen Zukünftigen zu gehen, beschäftigten sie folgende Gedanken:

„Das ist ja wohl voll daneben! Ich glaube, ich muss gleich kotzen! Wird es denn hier ständig nur noch schlimmer?“

Kapitel 2 – Schulterror

Montag, der 17. Februar 2014, in den Fluren eines Gymnasiums in München

Der erste Tag in einer neuen Schule ist immer eine Herausforderung. Vorfreude, Aufregung und Erwartungen verursachen dabei meist eines: Stress. Das war auch der Grund, warum Hannah an diesem Tag bereits um vier Uhr aufstand, sich duschte, die Beine und Achseln rasierte und ihre schönste Jeans und ihre Lieblingsbluse zur Winterjacke und den schwarzen Stiefeln anzog. Als sie sich eingehend im Spiegel betrachtete, wurde ihr klar, dass niemand heute ihre Bikinifigur sehen würde. Aber gute Vorbereitung war nun mal alles. So fühlte sie sich auch tatsächlich sehr gut vorbereitet, einen passenden Eindruck zu machen, als sie nach einer schier endlosen S-Bahn- und Busfahrt durch die Flure des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums ging. Die Information über den Raum für ihre erste Geschichtsstunde war alles andere als präzise gewesen: G.237. Sie hatte extra selbst beim Sekretariat in der vergangenen Woche angerufen und erhielt als Auskunft lediglich ... G.237. War das ein Lebensmittelzusatz? Vielleicht krebserregend? Gebäude G, zweiter Stock und dort Raum 37. Das klang doch eigentlich ganz einfach. Jedoch wo war verdammt noch mal Gebäude G in diesem Paukerbunker der Weißwurstfresser? Hannah hatte sich verlaufen.

Sie hätte ja mal jemanden Fragen können, aber so schwer konnte es doch gar nicht sein, das richtige Gebäude zu finden. Außerdem behagte es ihr überhaupt nicht, fremde Menschen anzusprechen. Darin war sie nie gut gewesen. Mist, sie hatte nur noch zehn Minuten und auf den letzten Drücker wollte sie nun wirklich nicht im Klassenraum erscheinen.

„Bist du verloren gegangen?“, hörte Hannah auf einmal eine Stimme hinter sich.

„Bitte, was?“, sagte Hannah und drehte sich zu der Stimme um.

Das Mädchen, zu dem die Stimme gehörte, war in etwa so alt wie Hannah. Tiefe, dunkle Augen und pechschwarze Haare waren das erste, was die neue Schülerin bemerkte. Der markanten Nase und der Gesichtsform nach zu urteilen, hatte das dunkelhaarige Mädchen Vorfahren, die nicht aus der Gegend stammten.

„Du bist die Neue, stimmt's?“, wurde Hannah gefragt.

„Kann man so sagen, ja“, kam eine schüchterne Antwort.

„Du wurdest von den Lehrern bereits angekündigt. Ich bin Aischa. Aischa Yilmaz. Aber hier nennen mich alle Sue.“

Sue streckte Hannah die Hand entgegen.

„Hannah ... Hannah Mendel ...“, entgegnete sie etwas zögerlich und nahm den Handschlag an.

„Freut mich“, erwiderte Sue. „Du bist aus Bremen hierhergekommen? Ein Cousin von mir lebt mit seiner Familie in Bremen. Ich besuche ihn manchmal in den Ferien. Er ist das schwarze Schaf bei uns, musst du wissen. Er und seine Frau sind Christen geworden. Verstehst du? Wir müssen übrigens hier entlang zum Geschi-Unterricht.“

Sue war sehr mitteilungsbedürftig und quasselte nur so auf Hannah ein. Ihre neue Mitschülerin erschien Hannah sofort sympathisch. Sie musste selbst nicht so viel reden und durfte zuhören. Außerdem tat es gut, nicht mehr alleine zu sein. So ging Hannah mit Sue über den Hof ins Nachbargebäude und erfuhr dabei gleich eine ganze Menge Dinge zur Schule und deren zusätzliche Angebote. Hannah war sich jedoch sicher, dass sie davon kaum etwas behalten können würde. Die beiden Mädchen hatten den Schulhof fast durchquert, da wurde Sue auf einmal ernster.

„Dreh dich nicht um, aber unser Schulneandertaler guckt gerade zu uns“, sagte sie leise.

„Unser was?“, fragte Hannah.

„Tayfun, der größte Arsch weit und breit“, erklärte Sue. „Der blöde Wichser ist im Herbst fast von der Schule geflogen, weil er nach dem Unterricht einen Mitschüler zusammengeschlagen hat. Der hat sich aber nicht mehr getraut, eine Aussage zu machen und stattdessen die Schule gewechselt. Nur wegen Schiss vor Tayfun und seiner Assobande. Krass, oder? Vergangenes Schuljahr war er mit meiner Freundin Michelle zusammen. Er hat sie auch geschlagen und jetzt verspottet er sie regelmäßig als Hure, der Bastard.“

Hannah merkte, wie viel Zorn in Sue kochte. Sie hatte sicherlich einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das machte sie ihr noch sympathischer. Trotz der Ausführungen traute Hannah sich, einen flüchtigen Blick über die Schulter zu den vier jungen Männern zu werfen. Er blieb kurz an Tayfun hängen. Er war groß, sicher 1,85 und sehr breitschultrig. Sein langer, schwarzer Pferdeschwanz verdeckte nur unwesentlich einen echten Stiernacken. Kräftige Hände und stabile Unterarme waren herausfordernd vor der Brust verschränkt. Sein Grinsen erschien Hannah geradezu gierig, als sich für einen Moment ihre Blicke trafen. Schnell verschwand sie mit Sue im Gebäude.

***

„Na, das ist doch mal ein süßer, neuer Arsch“, sagte der Rädelsführer zu seinem Gefolge.

„Darauf kannst du einen lassen“, kam von dem dicken, pickligen Blondschopf zu seiner Rechten. „Willst du die ficken?“

„Da mal reinzustoßen, da wäre ich nicht abgeneigt“, verkündete der Angesprochene, der auf den Namen Tayfun hörte. „Am besten noch mit Sue zusammen. Die ist doch so eine Bitch, der gefällt es sicher, mit einer Freundin 'ne Nummer mit dem gleichen Kerl zu schieben.“

Der dicke Blondschopf verzog kaum merklich das Gesicht.

„Jo!“, meldete sich ein drahtiger Asiate mit rot gefärbten Haaren zu Wort. „Du kriegst doch alle Weiber 'rum, Alter.“

„Ich sage euch, die Neue ist noch 'ne Jungfrau“, meinte die Bohnenstange mit der Glatze neben Tayfun. „Die wird sich sicher zieren.“

„Ach was!“, behauptete der Rädelsführer. „Eine geschlossene Knospe braucht nur den richtigen Stängel, um aufgestoßen zu werden.“

Die vier Rowdys lachten zusammen ausgelassen.

***

Der erste Schultag war wie erwartet ziemlicher Mist gewesen, musste sich Hannah eingestehen. Zwar hatte sie Peinlichkeiten vermeiden können, aber sie gewann den Eindruck, in eine zu hohe Klassenstufe geraten zu sein. Irgendwie schienen die hier in Bayern im Stoff viel weiter, als sie das von Bremen her kannte. Das hieß: Büffeln. Sie hatte keine Lust, nur wegen eines Schulwechsels mitten im Jahr eine Stufe wiederholen zu müssen.

„... und für Englisch solltest du ‚Lord of the Rings‘ auf alle Fälle lesen“, erklärte Sue auf dem Weg zur S-Bahn. „Herr Schultz ist ein absoluter Tolkien-Fan und bringt immer wieder Beispiele aus den Büchern.“

Hannah war so froh, dass sie Sue kennengelernt hatte. Sie konnte man eindeutig nicht mit Gold aufwiegen. Sue hatte Hannah ihrer Clique vorgestellt. Jutta, Rowina und Tamara waren nach dem Gefühl des Nordlichts echt voll in Ordnung und das tröstete über so manches hinweg. Auch Michelle durfte sie kennenlernen. Eigentlich hatte sie gedacht, dass es eher ein schüchternes Mädchen war, wenn sie sich so einem furchtbaren Typen an den Hals warf. Michelle schien jedoch selbstbewusst und auf ihre eigene Art innerlich sehr stark. Sie hatte lange, blonde Haare und blaue Rehaugen. Michelle war unwesentlich größer als Hannah, aber mit einer echten Modelfigur gesegnet. Durch ihre Ausstrahlung und ihr Äußeres mussten die jungen Männer ihr eigentlich alle zu Füßen liegen. Dem schien nicht so. Der Beziehungsstatus in der Clique war bald aufgeklärt. Während die brünette und etwas pummeligere Jutta sich einen netten, angehenden Maschinenschlosser geangelt hatte, ging die mittelblonde Rowina mit einem Jungen aus der Parallelklasse. Die sportliche Tamara mit den feuerroten Haaren hatte einen Triathleten und Sportstudenten in ihr Herz geschlossen. Sue, Hannah und ebenso Michelle waren noch zu haben.

„Oh ja, wenn der Schultz in seinem Element ist, dann wird er zu Gandalf“, sagte Rowina und alle lachten.

Gemeinsam schlenderten sie zur Haltestelle. Sue musste nur zwei Stationen mit der S-Bahn zurücklegen. Tamaras Weg war etwas länger, führte aber in die entgegengesetzte Richtung. Die übrigen Mädchen fuhren mit dem Bus. Der Weg zur Haltestelle war nicht weit, ging jedoch durch eine Unterführung.

Da sie heute eine siebte Stunde gehabt hatten, war hier nicht viel los und so gerieten die vier Typen, die hier herumlungerten, sofort in ihr Blickfeld.

„Verdammt!“, zischte Sue. „Tayfun und seine Trottelbande.“

Die Namen hatte Hannah sich direkt gemerkt, als die Mädchen-Clique über die Burschen ausgiebig gelästert hatte. Tayfun Gencer, der gewalttätige Ex von Michelle, sollte ein harter Kampfsportler sein. Sein bester Freund Stefan Gornowitz war das wandelnde Fass. Er wurde von allen immer nur „Keule“ genannt. Hannah vermutete, dass der ausgeprägte Appetit des Jungen dazu beigetragen haben musste. Der Asiate in der Runde hieß Wong Tran. Wong war offenbar der Trainingspartner von Tayfun und wurde aufgrund seiner Kampfsport-Moves von den Kumpels „Jacky“, nach Jacky Chan dem Eastern-Schauspieler, gerufen. Zu den Rätseln der Welt gehörte „Ado“; eigentlich Hans Sattler. Er fiel immer wieder durch seine rechtsextremen Sprüche negativ auf und dennoch waren Tayfun, Jacky und er unzertrennlich. Er sollte nach Sues Ausführungen dieselbe Kampfsportart betreiben wie die beiden anderen.

„Mädels! Cool bleiben!“, gab Michelle als Devise aus. „Es sind nur Trottel und daher keinen Schuss Pulver wert.“

An Hannah gewandt ergänzte sie:

„Nicht wundern, das könnte gleich unter die Gürtellinie gehen.“

Kapitel 3 – Rivalen

Die sechs Mädchen waren kaum in Rufweite, da gingen von den Jungen auch schon die ersten Provokationen aus.

„Schau mal einer an“, grölte Tayfun. „Sechs heiße Chicks beim Cruisen. Na, braucht ihr noch Verstärkung? Mit uns wird der Mittag gleich viel unterhaltsamer.“

„Nein, danke“, sagte Sue. „Wir lernen lieber.“

„Wir pauken ebenfalls immer voll zusammen“, erwiderte Keule. „Lerngemeinschaften sind der Hammer.“

„Genau! Deshalb sind wir auch in Mathe so besonders gut“, gab Tayfun an.

„Du in Mathe gut?“, spottete Tamara, während die Gruppe weiterging. „Das wäre mir neu.“

„Tja, Süße, wir können ja mal zusammen lernen“, witzelte Tayfun. „Da zeige ich dir dann mal, wie man Mathe auf der Matte macht.“

Die Kerle lachten und selbst Jutta und Rowina schienen zunächst amüsiert, ehe sie die verkniffenen Gesichter ihrer Freundinnen sahen. Diesen Augenblick der Unachtsamkeit nutzte Tayfun, um näher an Hannah heranzutreten.

„Hi. Ich bin der Tayfun“, sagte der Anführer der vier Kerle und streckte Hannah die Hand entgegen. Einem inneren Reflex folgend ergriff sie diese, um sie unsicher zu schütteln.

„Hannah“, bekam der junge Mann als leise Antwort.

Das Mädchen betrachtete ihr Gegenüber sorgfältiger. Sein Lächeln wirkte freundlich. Der Händedruck war kraftvoll, jedoch gleichzeitig so, dass es ihr nicht unangenehm erschien. Tayfun stellte genau das dar, was sich eine junge Frau unter einem echten Kerl vorstellte. Selbst die warme Bomberjacke konnte nicht verbergen, dass er nicht nur ausgesprochen breit, sondern auch durchtrainiert war. Zudem strahlte er genug Selbstbewusstsein aus, dass es für zwei gereicht hätte. Vorsichtig lächelte Hannah zurück. An diesen starken Schultern konnte sich ein Mädchen bestimmt sehr geborgen fühlen. Er würde eine Frau, die bei ihm ist, doch sicher gut beschützen?

„Wenn du mal was von München sehen möchtest, ich zeige dir gerne die Stadt“, sagte Tayfun geradezu charmant.

„Ich glaube, ich spinne!“, wetterte Michelle. „Versuchst du deine billige Masche mal wieder bei einer, die dich noch nicht kennt, oder was?“

„Was verbreitest du hier für einen Stress?!“, quittierte Tayfun Michelles Einwurf. „Bloß weil ich mit dir Schluss gemacht habe, machst du hier so 'rum und erzählst Lügen über mich?!“

„Lügen?! Also jetzt langt es wirklich, Alter!“, fauchte Michelle. „Was du mit deinen Freundinnen abziehst, ist unter aller Kanone und Hannah darf das ruhig vorher erfahren, du Hurensohn!“

„Beleidigst du etwa meine Mutter?!“, brüllte Tayfun und schubste Michelle mit beiden Händen von sich weg.

Sofort begann ein Gerangel der so unterschiedlichen Gruppen, wobei die Jungs in erster Linie darum bemüht waren, ihren Anführer zurückzuhalten und Michelle mit der Unterstützung von Sue auf Tayfun einschimpfte. Sue verfiel dabei in eine Sprache, die Hannah für sich als Türkisch identifizierte. Ständig gab es Zwischenrufe der anderen Mädchen, sodass es in der Unterführung jetzt sehr laut wurde. Hannah bemerkte, dass Keule immer wieder zu Sue schaute.

„Was geht denn hier ab?!“, rief plötzlich eine Hannah vertraute Stimme.

Es war Carsten, der in Begleitung eines weiteren Jungen von ähnlicher Statur wie Tayfun, aber mit langen, hellbraunen Haaren und einem ordentlichen Vollbart zu den Streitparteien eilte.

„Halt dich da raus, Alter“, zischte Tayfun. „Sonst atme ich dich hier weg.“

Carsten grinste wissend.

„Interessante Ansage, Bro“, begann er seinen Konter. „Ich hab' mich schon gefreut, dich in zwei Wochen bei der Meisterschaft zu treffen. Aber wenn du hier Stress machst, dann wäre es vielleicht mal gut, mit deinem Onkel darüber zu sprechen. Er ist doch so darum besorgt, dass euer Dojang immer gut dasteht. Sollte sich jedoch herumsprechen, dass du vor einem Wettkampf einen Konkurrenten angehst ...“

Sein osmanisches Temperament ging mit Tayfun durch und wie der Wirbelsturm, nach dem er benannt war, legte er einen Kaltstart hin, um auf Carsten zu zu hechten. Hannah konnte später nicht mehr sagen, ob es das Zurückweichen von Carsten war oder ob einfach Keule und Ado sich schon vorher dazu bereitgemacht hatten, ihren heißblütigen Kumpel zurückzuhalten, aber Tayfuns Ausfall endete jäh in den Armen seiner Freunde.

„Lass' es verdammt noch mal gut sein, Alter!“, zischte Keule.

„Denk an die Meisterschaft! Denk an den Sabeom!“, rief Jacky. „Er tickt wirklich aus, wenn du so kurz vor dem Turnier für Wirbel sorgst.“

Tayfun schnaufte, ging etwas zurück und schüttelte seine Arme, um sich zu befreien. Hannah kam er so wie ein Stier vor.

„Wir sehen uns beim Wettkampf, Alter“, sagte Tayfun und deutete dabei in Richtung von Carsten. „Hoffe, dass du ausscheidest, bevor ich dich vor meine Füße bekomme.“

Dann wandte er sich in Richtung von Hannah und wurde wieder freundlicher.

„Sorry, für diese Scheiße, Hannah“, sagte Tayfun. „Mein Angebot steht. Sag' einfach Bescheid, wenn du mal Lust auf eine Stadttour hast. Wir sehen uns jetzt ja sicher öfter.“

Hannah lächelte verlegen, was Tayfun mit einem freundlichen Grinsen und einem Nicken quittierte.

„Auf, lasst uns abziehen“, sammelte Tayfun seine Leute und die Rowdys verschwanden.

Der Freund von Carsten hatte sich mittlerweile zu Rowina gesellt und die beiden knutschten leidenschaftlich miteinander.

„Könnt ihr damit nicht warten, bis ihr alleine seid?“, wetterte Sue mehr im Scherz.

„Der Neid der Besitzlosen“, konterte Rowina ohne die Augen oder Lippen von ihrem Freund zu nehmen.

„Tu' mir bitte einen Gefallen, Carsten, und tret' diesem ausgemachten Penner für mich beim Turnier kräftig in den Arsch“, forderte Michelle.

„Au ja, bitte auch eine Runde für mich!“, rief Sue.

Carsten grinste etwas gequält.

„Das kann ich gerne versuchen“, erwiderte er.

„Tu' es oder tu' es nicht. Es gibt kein versuchen“, sagte der junge Mann, der immer noch Rowina in den Armen hielt. „Meister Yoda. Ein schlauer, kleiner, grüner Kerl.“

„Das ist übrigens mein Mark“, sagte Rowina mit strahlenden Augen in Hannahs Richtung und drückte sich dann fest an ihren Freund.

Einen Freund zu haben, ist schon eine tolle Sache, dachte Hannah bei sich. Dieser Mark würde ihr ebenfalls gefallen, aber er war vergeben. Tayfun war offenbar noch zu haben. Zugegeben, er war recht grob. Jedoch durfte das ein Mann nicht auch sein? Musste das ein Mann nicht sogar manchmal sein?

„Haha“, sagte Carsten in ihre Gedanken hinein. „Ich habe gehört, dass Tayfun wie ein Besessener trainiert. Das wird schwer. Du kannst ihn ja besiegen.“

„Dass ich nicht lache“, erwiderte Mark. „Du bist der Champion in unserem Dojang. Auf dich setzen wir alle.“

„Was haltet ihr davon, wenn wir in zwei Wochen zusammen zur Meisterschaft fahren, um Carsten und Mark zu unterstützen?“, schlug Sue vor. „Mit uns als Fans können sie ja nur gewinnen.“

Hannah verstand nur Bahnhof.

„Um was für eine Meisterschaft geht es eigentlich?“, fragte sie.

„Die Deutsche Meisterschaft im Taekwondo“, antwortete ihr Carsten.

Kapitel 4 – Der Turnverein aus der Hölle

Donnerstag, 20. Februar 2014, Kreissporthalle in Buchenheim

Die Erlebnisse in der Unterführung gingen Hannah noch lange im Kopf herum. Da Sue ein kurzes S-Bahnstück mit ihr und Carsten zu fahren hatte, bekam sie eine ganze Reihe an weiteren Informationen. Tayfun, Jacky und Ado waren die Seonbae, also „fortgeschrittenen Schüler“, von Tayfuns Onkel, einem Großmeister der koreanischen Kampfkunst „Taekwondo“. Ihr Sabeom, was eben Großmeister bedeutet, war wohl einst ein türkischer Champion gewesen und hatte in einigen Münchener Nachtclubs als Türsteher gearbeitet. Er und seine Schüler von „Takans Taekwondo Zentrum“ hatten den Ruf, nicht gerade zimperlich in diesem Kampfsport zu sein.

Carsten und Mark trainierten dagegen im „Taekwondo-Verein „Junbi“ Buchenheim 1988 e.V.“. Carsten war die große Hoffnung des Vereins auf die deutsche Meisterschaft der unter 18-Jährigen der offenen Gewichtsklasse. Hier in der Jugend A hatte der Träger des ersten schwarzen Gürtels im Herbst die Bayrische Meisterschaft im Vollkontakt gewinnen können. Zudem war er der amtierende Deutsche Meister und Titelverteidiger.

Carstens Einladung zu einem Probetraining bei seinem Verein musste Hannah jedoch ablehnen. Für den Donnerstag hatte sie sich schon beim „Turnverein Buchenheim 1886 e.V.“ angemeldet. Kampfsport war auch nicht so ganz ihr Ding. Umso überraschter war sie jedoch, dass sich beide Vereine an diesem Tag die Kreissporthalle in Buchenheim teilten. Aufgrund einer defekten Trennwand trainierten Turner und Taekwondo-Kämpfer bereits ein Jahr lang Seite an Seite.

Immer wieder schielte Hannah zu den Kampfsportlern hinüber. An Sprungkraft und Körperbeherrschung konnten es diese mit den Turnern aufnehmen. Flick-Flack und freien Salto bekamen einige in der anderen Hallenhälfte beeindruckend gut hin. Dass dies nicht direkt zum koreanischen Sport gehörte, sondern zur ergänzenden Disziplin des „Tricking“, sollte sie erst deutlich später einmal erfahren. Beim Tricking werden Kampfsporttechniken mit möglichst spektakulären Übungen wie Salti und Schrauben verbunden. Das Ziel sind beeindruckende Vorführungen. Insgesamt fand die Inhaberin einer gültigen Trainerlizenz Gerätturnen jedoch, dass in vielen Fällen den Taekwondo-Sportlern etwas mehr Körperspannung gutgetan hätte.

Nun galt es aber für Hannah sich zu konzentrieren. Die Trainerin der Leistungsriege der Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren war eine Mittfünfzigerin, die auf den einprägsamen Vornamen Gizella hörte. Sie hatte bei der Begrüßung kaum den Mund aufgemacht, da wollte Hannah bereits die Flucht ergreifen.

„Du kommst aus Bremen, richtig? Ich habe immer den Eindruck, da turnt man irgendwie anders als sonst wo. Na, hier wird es dir schon gefallen. Wir beißen auch kaum.“

Gizella trug ihre ergrauten Haare mit Stolz und kurz. Für eine Turnerin war sie auffällig dürr. Ihr Jogginganzug mit dem weißblauen Logo des TV Buchenheim schlabberte an ihr herum, als ob er zwei Nummern zu groß wäre. Die Trainerin hatte kein Gefühl für eine passende Gesprächsdistanz und roch zudem etwas streng nach Knoblauch. Dass sie damit Vampire fernhalten wollte, erschien Hannah unwahrscheinlich. Um solche Frauen machten Vampirfürsten sicherlich selbst ohne Knoblauch, Weihwasser und Kruzifixanhänger einen großen Bogen. Den Kruzifixanhänger trug Gizella dennoch, obwohl Hannah gelernt hatte, beim Turnen sämtlichen Schmuck abzulegen. Wie dem auch sei: Auf jeden Fall gelang es Gizella nach dem Aufwärmen, mit unangenehmer Penetranz aus Hannah herauszukitzeln, dass sie zweimalige Bremer Meisterin im Turnen gewesen war.