How to ruin your life in second position - Jade Harris - E-Book

How to ruin your life in second position E-Book

Jade Harris

0,0
0,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Was, wenn dein größter Traum in einem einzigen Moment zerbricht? Noah Zheng hat alles erreicht, wovon andere nur träumen: Er ist Star-Tänzer am renommierten New York City Ballet, gefeiert für seine Disziplin, Perfektion und Hingabe. Jedes Jahr ist die »Nussknacker«-Saison der glanzvolle Höhepunkt: vierzig Aufführungen in vier Wochen, monatelanges Training, absoluter Körpereinsatz. Als eine schwere Verletzung seine Karriere ins Wanken bringt, steht Noah vor dem Abgrund. Wird er je wieder tanzen können? Und wer ist er ohne die Bühne? Während sein langjähriger Partner und Manager Ezra verzweifelt versucht, ihn wiederaufzubauen, beginnt Noah sich immer weiter von ihm zu entfernen. Denn Ezra kämpft mit seinen eigenen Dämonen einer schmerzhaften Vergangenheit. Jahrelang war der Erfolg das gemeinsame Ziel in ihrem Leben. Jetzt, da alles auseinanderbricht, haben sie nur noch sich. Doch kann das den Absturz verhindern? Ist ihre Beziehung stark genug, um alles auszuhalten? Ein mitreißender Roman über die Höhen des Ruhms und die Tiefen des Verlusts – und die Suche nach Halt, wenn alles zu zerfallen droht. Tropes: Second Chance Hurt/Comfort Emotional Turmoil The Caretaker Partner Career vs. Love Healing Journey Cultural Identity & Queerness Y2K-Vibes Ballett

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Contents
How to ruin your life in second position
Dramatis Personnae
Tropes
CW
十一
十二
十三
十四
十五
十六
十七
十八
十九
二十
二十一
二十二
二十三
二十四
二十五
Bonus How Noah met Ezra
Bonus Interview mit Jade Harris über »How to ruin your life in second position«
Bonus Mrs. Zhengs scharfe Hot-Pot-Brühe (chinesisches Fondue)
How to ruin your life in second position
人生在二位失足
Was, wenn dein größter Traum in einem einzigen Moment zerbricht?
Noah Zheng hat alles erreicht, wovon andere nur träumen: Er ist Star-Tänzer am renommierten New York City Ballet, gefeiert für seine Disziplin, Perfektion und Hingabe. Jedes Jahr ist die »Nussknacker«-Saison der glanzvolle Höhepunkt: vierzig Aufführungen in vier Wochen, monatelanges Training, absoluter Körpereinsatz.
Als eine schwere Verletzung seine Karriere ins Wanken bringt, steht Noah vor dem Abgrund. Wird er je wieder tanzen können? Und wer ist er ohne die Bühne?
Während sein langjähriger Partner und Manager Ezra verzweifelt versucht, ihn wiederaufzubauen, beginnt Noah sich immer weiter von ihm zu entfernen. Denn Ezra kämpft mit seinen eigenen Dämonen einer schmerzhaften Vergangenheit. Jahrelang war der Erfolg das gemeinsame Ziel in ihrem Leben. Jetzt, da alles auseinanderbricht, haben sie nur noch sich.
Doch kann das den Absturz verhindern? Ist ihre Beziehung stark genug, um alles auszuhalten?
Ein mitreißender Roman über die Höhen des Ruhms und die Tiefen des Verlusts – und die Suche nach Halt, wenn alles zu zerfallen droht.
Copyright S. Hildebrandt 2025
Alle Rechte vorbehalten.
Cover: Renée Rott, Dream Design Cover and Art
Lektorat: Sandra Gernt
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Gegebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Impressum: S. Hildebrandt, Fichtenstr. 10, 72461 Albstadt
Dramatis Personnae
Der Einfachheit halber werden die im Roman beschriebenen Sichuan- und Shanghai-Dialekte als »Chinesisch« bezeichnet.
Namen und Ausdrücke werden wegen der besseren Lesbarkeit ohne Tonzeichen geschrieben.
Noah Zheng (Zheng Fei Yan): Anfang dreißig, Balletttänzer in der Zweitbesetzung des Nussknacker/Prinz Coqueluche
Ezra Mohsani: Noahs Manager und Lebenspartner. Kontrollfreak
Aaron Quinn: aufstrebender Star aus Santa Monica, Kalifornien. Erstbesetzung des Nussknacker
Alina Stetshenko: Noahs Tanzpartnerin, Zuckerfee
Stuart und Ylvie: Die Leiter des Ballett-Ensembles
Samantha: Aarons Tanzpartnerin, Zuckerfee Nummer eins
Bethany: Tänzerin, Clara im Nussknacker
Zheng Yu: Noahs Vater
Zheng Lin: Noahs Mutter
Zheng Baihu: Noahs Schwester
Zahar Mohsani: Ezras Mutter
Farzad Mohsani: Ezras Bruder
Pariya Mohsani: Ezras Schwester
Die Aussprache chinesischer Namen ist einerseits einfacher, als man denkt und gleichzeitig komplizierter, als man denkt:
Zheng Fei Yan (Zhèng Fēi Yàn 郑飞燕): Im Chinesischen wird die letzte Silbe meist verschluckt, Noahs Name würde in etwa so ausgesprochen werden: Dschöh Feeeeh Yah. Sein Vorname Fei Yan bedeutet »Fliegende Schwalbe.«
Zh: dsch vibrierend wie in Dschungel, das e in Zhèng fallend, wobei das e unbetont wie in »machen« gesprochen wird, eher nasal in Richtung ä/ö.
In Fēi wird das e lang gezogen, das anschließende i nur angehaucht, allenfalls wie das ey in »Hey« gesprochen.
Bei Yàn wird das a fallend gesprochen und das n ist kaum bis gar nicht hörbar.
Natürlich würden Noahs Eltern seinen Geburtsnamen mit ihrem Mix aus Sichuan- und Shanghai-Dialekt wiederum komplett anders aussprechen, also wäre Noah den Leser*innen nicht böse, wenn man ihn so ausspricht, wie man gerade lustig ist. Aber bitte nicht Zenk Fey Jan :)
Tropes
Second Chance
Hurt/Comfort
Emotional Turmoil
The Caretaker Partner
Career vs. Love
Healing Journey
Cultural Identity & Queerness
Y2K-Vibes
Ballett
CW
Anorexia Nervosa, elterliche Homophobie, body shaming, Erwähnung von Konversionstherapie, OCD, forced outing
Noah
New York City, Oktober 2000
Wäre Noah Zhengs Leben ein chinesisches Kostümdrama, würde er sich elegant durch die Luft schwingen und nie wieder den Bus verpassen. Doch stattdessen war er dazu verdammt, durch die Pfützen des morgendlichen New Yorks zu hetzen. Regentropfen liefen ihm in den Mantelkragen, während der Bus genau dann von der Haltestelle abfahren wollte, als Noah ihn im letzten Moment erreichte und wild mit den Armen fuchtelte.
Die Tropfen zogen träge wie kleine Glücksdrachen an der Fensterscheibe entlang und der Fahrer verdrehte genervt die Augen. Immerhin hielt er an. Noah wuchtete sich mit seiner schweren Sporttasche auf die Treppen und schaffte es gerade noch, sich auf einen freien Sitzplatz neben einer dösenden älteren Frau fallen zu lassen.
Draußen spiegelten sich die Lichter der Großstadt in den Pfützen. Rush Hour. Dennoch nahm Noah lieber den Bus als die überfüllte Subway, auch wenn es doppelt so lange bis zum New York City Ballet am Lincoln Center dauerte.
Es war Nussknacker-Saison.
Was hieß, dass das Ensemble, in dem Noah als Zweitbesetzung spielte, in den letzten Zügen der Proben steckte. Eine nervöse Spannung lag in der Luft, der Fokus richtete sich bereits auf die Weihnachtssaison, in der sie vierzig Auftritte haben würden. Was auch hieß, dass Noahs Tage von morgens bis abends randvoll gefüllt waren mit Terminen und er das Sonnenlicht maximal nur durch die Fenster des Übungsraumes und in den Tanzspiegeln reflektiert sah.
Aber er konnte es sich nicht anders vorstellen. Seit er richtig stehen konnte, hatte er getanzt. Bereits in Shanghai, wo er geboren und aufgewachsen war, ehe er mit zehn in die USA zog, hatte er Tanzunterricht genommen. In New York zur Weihnachtszeit beim Nussknacker mitzuspielen, war der Gipfel des Erfolgs.
Noah holte tief Luft und schloss die Augen, lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Während es draußen noch stockfinster war, tuckerte die Linie M20 gemächlich durch die Straßen von TriBeCa, wo Noah in der Nähe des Ghostbuster Hauses eingestiegen war. Es würde noch eine Weile dauern bis zum Columbus Circle und zum Broadway. Die Sporttasche rutschte ihm von den Knien. Was war mit der eigentlich los? Seit wann war die so schwer? Er hatte seine Tasche wie sonst auch gepackt.
Verwundert kramte er darin herum und fand heraus, was ihn zuvor so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Zwischen seinen Trainingsklamotten, den Ballettschläppchen, den Zehenstützen, dem Stretchband, Haarspray, der Bürste, dem Deo, seiner Brieftasche und einer Wasserflasche fand er eine Trinkflasche mit einem Zettel darauf.
Frisch ausgepresster Orangensaft, Ingwer, Guave, Kiwi und ein Schuss Honig. Du brauchst deine Vitamine! Hab dich lieb. Bis heute Abend!
Sofort wurde ihm warm ums Herz.
Ezra.
Sein langjähriger Partner und auch gleichzeitig sein Manager. Er vergaß nie, sich um Noah zu kümmern, packte ihm immer wieder etwas ein. Besonders jetzt, da Noah so sehr auf den Abschluss der Vorbereitungen fokussiert war und keinen Kopf für solche Nebensächlichkeiten wie Essen und Trinken hatte, freute er sich über diese kleinen Dinge, auch wenn Ezra manchmal über die Stränge schlug.
Ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit, als er an Ezra dachte. So viel ihm das Tanzen bedeutete, so sehr er sich ein Leben ohne Ballett nicht vorstellen konnte, so hieß es doch, dass er, besonders um die Weihnachtszeit herum, seinen Partner kaum sah.
Der Bus machte an der Hudson Street einen Schlenker auf die 8th Avenue und an der nächsten Haltestelle stiegen unverhältnismäßig viele Leute ein. Langsam aber sicher würde es auch im Bus voll werden. Noah musste seine Beine anwinkeln, um den sich einquetschenden Leuten Platz zu machen.
Er tastete in seinem Mantel nach seinem Handy und fand es nicht. Shit! Wo hatte er es am Morgen hingetan? Hatte er es zu Hause vergessen? Panisch suchte er seine Hosentaschen ab und griff in alle Innentaschen seines Sportbeutels.
Erleichtert atmete er auf. Da war es. Sein geliebtes Nokia. Unverwüstlich und unkaputtbar, außer er verlegte es in seiner Zerstreutheit oder es rutschte zwischen eine Sofakante und dann würden es nur noch die Archäologen in hundert Jahren finden. Mit fünf Prozent Restakku.
Vier SMS. Alle von Ezra:
Hast du den Bus noch bekommen?
Warum fährst du nicht mit der Subway? Das ist um Längen schneller!
Was wirst du heute zu Mittag essen? Du musst dich ausgewogen ernähren, hörst du! Du musst unbedingt mehr Proteine essen.
Rufst du an, wenn du da bist? Baby, ich vermisse dich!
Gestatten. Ezra Mohsani. Künstleragent, Manager und der wohl liebevollste, aber auch hartnäckigste Beschützer, den Noah kannte.
Sie würden hier noch eine Weile unterwegs sein, also wählte Noah Ezras Nummer.
Bereits nach dem zweiten Tuten meldete sich sein Freund, außer Atem, als wäre er einen Marathon gelaufen. »Noah!«
»Sag mir bitte, dass du gerade nicht in fünf Telefonaten gleichzeitig steckst«, sagte Noah und drehte sich zur Seite, weil die schlafende Frau neben ihm sich sehr in seinen Tanzbereich beugte und sich an seine Schulter zu lehnen drohte.
»Für dich nehme ich mir Zeit. Was ist? Wo bist du? Wie lange brauchst du noch bis zum Ballett? Gab es Komplikationen auf dem Weg bisher? Irgendwelche Unfälle?«
»Äh …« Noah sah aus dem Fenster, erkannte aber nur die Lichterflecken, die sich im Fenster spiegelten. Sie mussten auf halber Strecke sein. West 19th Street, West 20th Street, West 21st Street. Das gab er so durch, als wären sie zwei Polizisten auf Streife.
»Gut. So weit keine nennenswerten Auffälligkeiten?«
»Nope. Alles wie immer, Boss. Du kennst doch New York. Und du? Hast du heute schon jemanden mit deinem Perfektionismus in den Wahnsinn getrieben?«
»Ja. Dich! Noah, ich weiß wirklich nicht, warum du diesen schmuddeligen Bus nehmen musst. Ich mach mir jeden Morgen so viele Sorgen um dich!« Im Hintergrund hörte man jemanden, der in ein Megafon sprach. Etwas rauschte und quietschte, eine kleine Frequenzstörung, dann war Ezra wieder da. Ezra war wohl mit einem seiner Schützlinge bei einem Casting.
»Ich brauche diese Zeit, um mich zu fokussieren. Und die Fahrtbewegungen helfen mir dabei, mich warm zu machen.«
»Das kannst du auch in der Subway.«
»Nein, das ist etwas anderes. Da wird man nicht so hin und her geschaukelt.«
»Was ist, wenn …«
»Hör auf! Ich weiß, was ich tue. Das ist mein Ritual vor dem Training.«
Noah hörte ein Seufzen vom anderen Ende des Hörers. »Ist gut. Ich vertraue dir ja. Hast du den Saft probiert? Ich glaube, ich habe ein bisschen zu viel Ingwer reingetan.«
»Ezra, du musst nicht immer auf mich aufpassen.«
»Ich weiß. Aber ich will. Weil du eben nicht nur von Kaffee und Tanzen satt wirst.«
»Mister, müssen wir alle Ihre romantischen Ergüsse mitbekommen?«, raunzte ihn ein Geschäftsmann an, der ihm gegenübersaß.
Noah wandte sich noch mehr ab. »Dann hören Sie halt nicht hin!«
»Wer war das?«, fragte Ezra prompt am Handy.
»Jemand im Bus. So ein gestresster Businesstyp. Christian Bale in American Psycho.«
Stille. Dann: »Noah?« Ezras Stimme klang sehnsüchtig.
»Hm?«
»Hör zu, hättest du heute Lust, essen zu gehen? Ich könnte uns einen Tisch reservieren. Was meinst du?«
»Ezra …«, begann Noah zögernd. Bei der Vorstellung blutete ihm das Herz. Er biss sich auf die Lippen. »Schon, aber …«
»Lass mich raten. Heute übt ihr den Grand Pas de Deux? Der Tanz zwischen der Zuckerfee und ihrem Prinzen?«
»Du erinnerst dich!«
»Natürlich erinnere ich mich. Also?«
»Hm? Was?«
»Erde an Noah! Ob wir danach essen gehen?«
»Nein, ich werde erst spät nach Hause kommen und dann wahrscheinlich todmüde ins Bett fallen.«
»Könnten Sie bitte etwas leiser sprechen, Mr. Zuckerfee?«, blökte ihn der Geschäftstyp wieder an.
»Könnten Sie Ihre Aktien auch woanders studieren?« Noah verdrehte die Augen. »Nein, ich denke nicht, dass es bei mir heute reicht, um ins Restaurant zu gehen, Ezra.«
Sein Seufzen klang enttäuscht. »Und am Wochenende?«
Noah presste die Lippen zusammen. Er sah, wie der Geschäftsmann wegen ihm die Augen verdrehte. »Wird schwierig. Da proben wir den ganzen Tag.«
»Oder ich besuche dich und wir gehen Mittagessen?«
Noah überlegte.
»Jetzt gehen Sie verdammt nochmal mit ihm essen! Er scheint Sie nämlich sehr zu vermissen.« Der Geschäftsmann ließ nicht locker. Hinter ihm tauchte die aufgehende Sonne die Häuserschluchten von New York in ein fahles Licht. Der Bus hielt an einer Ampel, und rechts sah Noah Herman’s Bagels; sein Signal zum Aussteigen.
»Okay. Deal. Mittagessen.«
»Heute?«
»Heute nicht. Besser nächste Woche.«
»Das ist ja wie bei einem Bazar!«
»Noah, was will der Typ von dir?«
»Keine Ahnung. Ist wohl gestresst, weil seine Aktien nicht gut performen.« Dafür erntete er ein Grummeln und einen bösen Blick.
»Also dann, nächste Woche versprochen. Trink deinen Saft möglichst zügig aus, solange sich die Vitamine noch nicht aus dem Staub gemacht haben. Ich liebe dich!« Das waren die letzten Worte Ezras, ehe Noah sich verabschiedete und ihn wegdrückte, um auszusteigen.
Noah
Unter den wachsamen Augen von Ylvie und Stuart, den Ensemble-Leitern, probten die Erst- und Zweitbesetzung das große Finale des Paartanzes aus Der Nussknacker. Der lackartige Geruch des Tanzbodens mischte sich mit einem Hauch von Harz, das auf die Sohlen der Spitzenschuhe aufgetragen war. Schweiß glitzerte auf den Armen der Tänzer, gedämpfte Atemzüge und das Schaben der Ballettschläppchen auf dem Parkett füllten die angespannte Stille.
Dann ertönten die ersten Takte aus den Boxen. Die Klänge der Musik erfüllten den Raum.
Ylvie verschränkte die Arme, Stuart schritt langsam am Rand des Saals entlang. Hier und da korrigierte er die Haltung der Tänzer. Ihren Blicken entging nichts.
»Dreifache Pirouette en dehors, präzise und kontrolliert! Piqué-Drehungen nach vorne, eins, zwei, drei … schön auf der Spitze bleiben! Jaaaaa, sehr gut! Und jetzt, Grand Jeté nach vorne, Beine gestreckt! Noah, mehr Spannung! Das war gestern besser!«
Noah trat mit seiner Partnerin Alina in der Zweitbesetzung an. Konzentriert nahm er die Ausgangsposition ein und katapultierte sich in die Sprungbewegung. Jeder Schritt musste perfekt sein, selbst der kleinste Fehler würde auffallen. Seine Beine schnellten auseinander, während er durch die Luft glitt. Für einen kurzen Moment fühlte es sich an, als würde die Zeit stillstehen. Das Parkett unter ihm verschwamm, die Oberlichter des Trainingssaals blendeten ihn. War er hoch genug? Streckte er die Zehenspitzen genug durch? Die Sekunden dehnten sich, doch er wusste, sein Körper hatte längst entschieden. Jetzt gab es kein Nachjustieren mehr.
Beim Aufkommen spürte er den Aufprall wie eine Welle, die durch seine Glieder fuhr. Seine Muskeln federten die Landung ab, doch tief in seinen Gelenken vibrierte ein dumpfer Schmerz. Er biss die Zähne zusammen, ließ sich nichts anmerken. Die Vorstellung, dass diese Beschwerden irgendwann nicht mehr nachlassen würden, nagte an ihm. Wie oft hatte er sich eingeredet, er könnte noch Jahre tanzen?
Aber dieses Jahr war er dreißig geworden, und ein Gedanke ließ ihn nicht los: Könnte dies seine letzte Nussknacker-Saison sein?
Sein Blick streifte die Erstbesetzung: Samantha tanzte mit Aaron.
Aaron Quinn. Der Inbegriff eines kalifornischen Sunny Boys: charmant, strahlend, mühelos charismatisch. Und fünf Jahre jünger als Noah.
Noah landete sauber aus der Drehung. Ihm war klar, technisch war er mindestens auf Aarons Niveau. Was ihm fehlte, war dieses gewisse Etwas, die Art, wie Aaron scheinbar ohne jede Anstrengung alle Blicke auf sich zog.
Er erinnerte sich an den Tag, als Aaron zum Ensemble gestoßen war. Schon nach der ersten Probe hatte jeder von ihm geschwärmt.
»Der Typ ist einfach unglaublich«, hatte etwa Emily gesagt, während sie ihr Bein auf die Stange legte und sich dehnte. »Ich meine, habt ihr gesehen, wie hoch seine Grand Jetés waren?«
»Und dann dieses Lächeln. Wie kann jemand so charmant sein, während er völlig außer Atem ist?«
»Ich hab ihn nach der Probe sprechen hören«, mischte sich Daniel ein, der auf dem Boden seine Füße massierte. »Der redet, als wäre er gerade von einem Surfbrett gestiegen. Voll entspannt, Mann, kein bisschen gestresst.«
»Ylvie ist hin und weg. Ihr habt gehört, wie sie ihn gelobt hat. ‚Diese Presence, oh, diese Presence, dasch is‘ eine Gabe naturelle.‘« Sophie ahmte Ivys Tonfall nach.
»Tja, das Kalifornien-Gen eben«, scherzte Marco, während er eine Wasserflasche öffnete.
Noah hatte sich alles angehört, ohne sich einzumischen. Und dann war es passiert: Aaron, inmitten all dieser Leute, zog sich sein Shirt über den Kopf, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und fuhr sich mit den Fingern durch das leicht zerzauste Haar, wie in einer Shampoo-Werbung.
Das war damals einkalkuliert gewesen, jede Wette!
Noah durfte sich von Aaron nicht verunsichern lassen. Immerhin tanzte er schon, seit er ein Kleinkind war und dies war seine vierte Nussknacker-Saison.
Geschmeidig landete Noah erneut aus der Drehung. Diesmal gab es keinen Zweifel. Perfekt. Selbst Stuart würde nichts Negatives finden. Doch Ylvie fixierte ihn mit einem strengen Blick. »Noah, deine Landungen gestern waren exakter! Vraiement! Nochmals. Konzentrier disch, s’il te plaît!«
Ein Funken Ärger blitzte in Noah auf. Er atmete tief ein, ließ sich nichts anmerken. Ein Fehler? Keine Chance, das passierte nicht nochmal. Weiter. Noch besser.
»Stopp! Stopp!« Stuart stand auf und wedelte wild mit den Armen. »Zu verkrampft. Nochmal auf Position. Noah, du hast die Balance am Ende nicht ganz gehalten. Achte darauf. Und warum schaust du immer wieder zu Aaron? Du kennst doch die Choreografie.«
»Kommt nicht wieder vor«, sagte Noah. Warum konnte er sich heute nicht konzentrieren?
Ein leises Kichern ging durchs Ensemble. Stuart seufzte, ignorierte den Kommentar und fuhr fort: »Ich möchte von euch beiden noch einmal die Hebefigur sehen.«
Noah verzog keine Miene. Er wusste, er hatte es drauf. Aaron brachte sich hinter Samantha in Position, Noah hinter Alina. Beide Frauen drehten sich in der Fouetté, die Hände ihrer Partner stützten sie an der Hüfte, und dann wurden sie hochgehoben, während sie ihre Beine von hinten um ihre Tanzpartner schlangen. Dabei bemerkte Noah, wie Aarons Hände zitterten, seine Haltung einen Moment lang unsicher wurde. Perfekt war der auch nicht.
»Und lächeln nicht vergessen, Noah. Du siehst aus, als würde dir ein Zahn gezogen werden!«
Noah ließ Alina zu Boden, stemmte die Hände in die Hüfte und schüttelte keuchend den Kopf.
»Nochmal beide Paare. Auf Position! Noah, Blick auf deine Partnerin, nicht auf Aaron!«
Noah stellte sich mit Alina bereit, spürte die Energie durch seinen Körper strömen. Synchron führten sie noch einmal die Figur aus und hoben ihre Partnerinnen in die Luft. Diesmal fehlerfrei.
»Noah«, kam es danach von Stuart. »Mehr Lockerheit, mehr Flow!«
Noah nickte. Also alles noch einmal von vorn, und noch einmal und repeat. Und diesmal war auch Stuart zufrieden.
»Gut, ein letztes Mal beide Paare auf Position!«
Noah und Alina führten die Hebefigur erneut aus, diesmal fehlerfrei. Als sie die Haltung in der Arabesque hielten, war Noah vollkommen in seinem Element. Das war sein Moment.
»Perfekt, Noah. Wir sind wieder auf der richtigen Spur. Mittagspause!«
Der Raum löste sich in ein wildes Durcheinander auf. Die Tänzer des Corps de Ballet, die sonst die Schneeflocken, Blumen und Märchenfiguren verkörperten, zückten ihre Handys, lachten und tuschelten. Die Solisten der einzelnen Tanznummern lockerten ihre Muskeln und übten trotz Pause weiter am Barre.
Noah atmete tief ein, um die Frustration des heutigen Tages loszuwerden. Er hatte in zu kurzer Zeit die Hälfte des Safts, den Ezra ihm eingepackt hatte, heruntergestürzt, und jetzt grummelte sein Bauch.
»Hey, was ist los?«, fragte Alina mit einem besorgten Blick.
»Nichts, nur mein Magen, der sich wie ein Grand Jeté in die Mittagspause katapultiert«, murmelte er.
Alina lachte, ließ ihn aber nicht aus den Augen. »Wirklich alles gut?«
Noah zögerte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Es ist nichts, was ich nicht in den Griff bekomme.«
»Aha.« Sie verschränkte die Arme. »Und warum schaust du die ganze Zeit zu Aaron?«
»Tue ich nicht.«
»Natürlich nicht.« Sie grinste. »Wenn ich nicht wüsste, dass du einen Freund hast, könnte man meinen, du stehst auf ihn.«
Noah schnaubte. »Auf den? Bitte. Der wäre mir zu arrogant.«
»Ich dachte, das wäre genau dein Typ. Jemand, der denkt, die Welt sei nur für ihn gemacht. So wie dein Ezra.«
Noah runzelte die Stirn. »Was hast du gegen Ezra?«
»Was ich gegen den Kontrollfreak des Jahrhunderts habe? Machst du Witze? Und außerdem schaut er mich immer an, als wäre ich nicht wichtig genug für seine Zeit.«
»Das ist sein Gesichtsausdruck, wenn er nachdenkt. Sein resting face.«
»Eher sein resting serial killer face.«
»Ich weiß schon, Ezra kann einschüchternd wirken, wenn man ihn das erste Mal sieht. Wenn man ihn näher kennt, ist er ganz lieb.«
»Nenne mir eine liebe Seite an ihm.«
»Er setzt sich sehr für seine Schützlinge ein. Ihm liegt die Karriere von anderen sehr am Herzen. Und wenn ich krank bin, steht er mit einem Tee auf der Matte. Er vergisst auch nie unseren Jahrestag. Oder den Tag, an dem wir uns das erste Mal geküsst haben. Oder als wir das erste Mal Händchen gehalten haben. Oder als wir das erste Mal zusammen im Kino waren«, erwiderte Noah.
Alina musterte ihn und zwinkerte. »Das denkst du dir jetzt nicht nur aus? Na ja, du musst es ja wissen. Zurück zu dir. Du wirkst heute total verkrampft. Wirklich alles gut?«
»Natürlich«, sagte Noah. »Alles bestens.«
Als Alina sich mit einem Grinsen in die Pause verabschiedete, bemerkte Noah, wie Stuart Aaron zur Seite gezogen hatte. Auch wenn er nichts hören konnte, ließ die Haltung von Aaron ihn aufhorchen. Immer wieder schaute er besorgt hoch. Aarons und Noahs Blicke trafen sich.
Noah wandte sich ab, um die Uhrzeit auf seinem Handy zu checken, aber mehr, um nicht direkt zu Aaron zu starren.
»Noah?«
Er blickte auf. Aaron stand plötzlich neben ihm, lässig an der Barre gelehnt. »Hast du Hunger? Sollen wir was essen gehen?«
Noah zog die Schultern hoch und seine Sweatjacke fester. Warum fragte ihn Aaron das auf einmal? Natürlich waren sie mehrmals mit anderen während der Proben Mittagessen gewesen, Aaron hatte Noah jedoch nie so direkt gefragt. Hing es mit dem zusammen, was Stuart ihm vorher gesagt hatte?
Noah beschloss, nett zu sein, aber die Enttäuschung über sich selbst, dass er heute nicht in seiner besten Form war, ließ er an Aaron aus. »Klar, warum nicht. Wir könnten ja mal schauen, wer es von uns mit mehr Körperspannung und Grazie über die Straße schafft.«
Aaron lachte kurz und wirkte dabei vollkommen unberührt. Oder verstand er die sarkastische Anspielung nicht? »Klingt nach einem Plan«, erwiderte er.
Noah nickte, doch irgendwo tief in ihm regte sich ein kleines Gefühl von Ärger. Es war nicht so, dass er Aaron wirklich nicht mochte. Es war eher dieses ständige Gefühl, sich mit ihm messen zu müssen. Auch wenn sie im Ensemble eng zusammenarbeiten mussten, so waren sie dennoch so etwas wie Konkurrenten.
Außerdem tickte Noahs innere Uhr. Mit dreißig hatte er nicht mehr viele gute Jahre als Tänzer vor sich. Er war auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Von hier aus würde es nur bergab gehen, oder nicht? Und Aaron war jetzt schon in seinem Alter weiter als Noah damals.
Wenige Minuten später standen sie nebeneinander in der Rosetta Bakery und warteten darauf, dass sich die Schlange auflöste. Es war eine schlechte Entscheidung gewesen, denn gerade heute brauchten die vor ihnen ewig, um zu wissen, ob sie ihren Kaffee mit Pumpkin Spice oder mit Karamell oder lieber ganz schwarz haben wollten. Stuart und Ylvie würde toben, wenn sie beide zu spät kamen. Immer wieder blickte Noah auf sein Handy, das er mitgenommen hatte, um die Uhrzeit abzulesen. Er hasste es, eine Armbanduhr zu tragen. Ezra hatte ihm eine zu seinem letzten Geburtstag geschenkt, aber er mochte das schwere Gefühl an der Hand nicht. Es war, als ziehe ihn ein Klotz gen Boden. Warum es ihm so viel leichter fiel, sein Handy die ganze Zeit mitzuschleppen und nur eine Hand frei zu haben, wusste er auch nicht. Draußen walzte gerade ein Wolkenbruch New York nieder. Sie hätten in der Kantine essen sollen.
Noah hatte sich eine medizinische Maske aufgesetzt. Das machte er meistens, wenn er sich in Räumen mit vielen Menschen aufhielt. Ein Überbleibsel aus seiner Kindheit in seiner Heimat Shanghai. Und außerdem konnte er es sich gerade jetzt nicht leisten, krank zu werden.
Noah überlegte noch, ob er die Nachrichten von Ezra jetzt oder später lesen sollte, da sah er auf und seine und Aarons Blicke trafen sich. Warum starrte der ihn ständig an?
»Ist es wegen der Maske?«, fragte er und zeigte auf seinen Mund.
»Nein, ich, ähm … Also, äh … Na ja …«, stammelte Aaron. Wer hätte gedacht, dass der stets lächelnde Mr. Quinn auf einmal so schüchtern sein konnte?
»Hey, würden Sie bitte weitergehen?« Unsanft wurde Noah von hinten näher an den Tresen geschoben. Dabei fiel ihm das Handy aus der Hand auf den Boden.
»Fuck!« Sein Herz setzte für einen Moment aus, als er sich hinunterbeugte und das Handy aufnehmen wollte.
Hoffentlich ist der Bildschirm ganz, hoffentlich ist der Bildschirm ganz, hoffentlich ist der Bildschirm ganz!
Gerade als seine Fingerkuppen sein Nokia anfassten, griff eine andere Hand auch danach. Ihre Finger berührten sich. Ein Zucken durchfuhr Noah. Aaron kniete neben ihm und streckte seine Hand nach Noahs Handy aus. Er konnte es zuerst greifen und gab es dann Noah, als sie beide aufstanden, um nicht von der sich bewegenden Schlange niedergetrampelt zu werden.
»Ist es kaputt?«
»Nein, das ist ein Nokia. Nur ein Asteroid kann das Ding zerstören.«
»Willst du sie nicht lesen?«
»Was lesen?«
»Na, die Nachrichten.«
»Ah. Nein, nicht so wichtig.« Bald wären sie dran und Noah richtete seine Maske.
»Noah. Hör mal. Stuart meinte, wir sollten beide nach dem Abendtraining noch dableiben und nochmal die letzte Minute der Coda zusammen proben.« Das ging in dem folgenden Tumult fast unter. Ein Frau vor ihnen bestellte gerade für eine Horde Kaffees. Der Kleidung nach zu urteilen gehörten sie zum nahe gelegenen Ballet Arts Center. Zehn Cups balancierend zwängte sie sich durch die Wartenden umher.
Hatte Noah richtig gehört? Stuart hatte Aaron aufgebrummt, ihm Nachhilfe zu geben?
»Ah … ah … was …?« Ehe Noah etwas darauf erwidern oder die Tatsache richtig begreifen konnte, wurden sie wieder von hinten gegen den Tresen geschubst. Eine mürrische Barista sah sie an. »Next?«
»Äh … ein … Wa… Wasser und einen schwarzen Kaffee.«
Die Barista wollte sich bereits abwenden, da rief ihr Aaron zu: »Und zwei Frischkäse-Sandwiches, bitte. Dazu zwei Orangensäfte. Wolltest du denn nichts essen?«, fragte er, an Noah gewandt.
Aber Noahs Kopf war komplett leergefegt. Einzelne Worte pochten darin wie ein Vorschlaghammer.
Nicht. Perfekt. Genug.
Hatte Stuart das wirklich getan? Es fühlte sich wie Verrat an.
Wie… wieso?
»Wie… wieso?«, fragte er laut. Zum Glück hatte er die Maske auf, denn dann konnte Aaron nicht sehen, wie er ihn mit offenem Mund anstarrte, als wäre er ein Fisch auf dem Trockenen.
»Weil normale Leute normalerweise mittags normales Mittagessen zu sich nehmen.«
»Nein, ich meine, wieso … sollen wir beide noch üben?«
»Na ja, du kennst doch Stuart. Der ist mit nichts zufrieden. Besonders jetzt, wo die Saison bald losgeht.«
Dich kritisiert er kaum. Du scheinst alles perfekt zu machen und wirkst dabei so mühelos. Noah wäre an so einem Tag selbst noch länger zum Üben geblieben, sein Ehrgeiz konnte nicht anders. Aber von Stuart dazu verdonnert zu werden war nochmal eine ganz andere Nummer.
»Ihr Kaffee. Ihr Wasser. Ihr Sandwich.«
Verwirrt sah sich Noah um. Die drei Dinge lagen auf dem Tresen. Die Barista blickte ihn erwartungsvoll an. Aaron blickte ihn erwartungsvoll an. Der Kaffeebecher, das Wasser und das Sandwich blickten ihn erwartungsvoll an. Die umherstehenden Gäste blickten ihn gehetzt und genervt an, wie nur New Yorker es konnten. Mit seinem Handy in der Hand, den Kaffeebecher, das Wasser und das Sandwich balancierend, suchte er wie in Trance nach dem nächsten freien Tisch. Sein Magen meldete sich wieder. Er legte alles ab. Handy. Kaffee. Wasser. Sandwich. Handy. Kaffee. Wasser. Sandwich. Nichts verloren. Nicht vergessen. Nichts verschüttet.
»Sorry, ich weiß nicht, warum Stuart gleich so was anordnet. Ich meine, du bist so ein geiler Tänzer. Du bist mein großes Vorbild«, sagte Aaron lachend und setzte sich ihm gegenüber.
»Ich … ich …« Hatte der ihn gerade einen geilen Tänzer genannt?
»Du hast deine ganz individuelle Art zu tanzen und deinen eigenen Stil bei der Haltung deiner Hände. Ich bewundere das.«
»O…okay.« Wäre schön, wenn Stuart das auch öfter anerkennen würde.
»Na ja. Dann proben wir eben am Abend nochmal zu zweit. Kann ja nicht schaden.« Der nahm das tatsächlich so lässig hin!
Noah führte den Kaffeebecher gedankenverloren zum Mund, nur um zu merken, dass er noch seine Maske aufhatte.
»Warte«, sagte Aaron lachend und beugte sich über den Tisch. »Du hast da … Darf ich?«
Als wäre er eingerostet, nickte Noah und Aaron zog ihm die Maske sachte von den Ohren und legte sie auf den Tisch. Stille senkte sich über sie, als Noah sein Sandwich aufklappte und mit dem Messer Frischkäse herauspulte.
»Warum müssen die auch immer ein halbes Kilo draufklatschen?«, beschwerte er sich. Da blinkte sein Handy auf. Noch eine weitere Nachricht. Bestimmt von Ezra.
Noah verschluckte sich fast an seinem Sandwich. Er hatte kaum noch Hunger, obwohl sich sein Magen meldete. Das Handy surrte auf der Tischplatte.
»Wir müssen los.« Er hatte sich einen Wecker gestellt, um ja nicht zu spät zurückzukommen.
»Ja. Sicher.«
Abrupt stand Noah auf und als er sich die Maske ummachte und seinen Mantel von der Stuhllehne nehmen wollte, stieß er an ein Tischbein an und stolperte. Wieder fing Aaron ihn auf. Die Berührung spürte er durch alle Kleidungsschichten hindurch. Erneut pochte sein Herz ganz laut im Takt.
Nachsitzen. Auch noch mit Aaron! Es war so demütigend!
Das Pochen begleitete ihn, als sie aus dem Café auf die Straße gingen. Es begleitete ihn, als er die erste ungelesene Nachricht auf seinem Handy öffnete, während er den Kaffeebecher, sein Sandwich und das Wasser im anderen Arm gegen seine Brust presste.
Ezra: Wie laufen die Proben bisher? Melde dich, wenn du eine freie Minute hast.
»Noah. Vorsicht!« Etwas zog ihn zurück. Erschrocken blinzelnd blickte er sich um. Hatte er gerade versucht, die Straße bei Rot zu überqueren? Shit, shit, shit! Ezra machte sich wirklich berechtigte Sorgen um ihn. Er drehte sich um und war nun Aaron ganz nahe, der ihn zu sich hinzog. Ein lautes Dröhnen und Hupen erklang.
Noahs Herz klopfte. Wäre er gerade beinahe angefahren worden, wenn Aaron ihn nicht gerettet hätte?
Nachdem alle gegangen waren, blieb Noah am Abend im Trainingssaal zurück. Währenddessen holte Aaron schnell noch zwei Kaffee, bevor sie sich ihren aufgebrummten Überstunden widmen konnten. Vor dem Spiegel übte Noah die dritte Position in der Arabesque. Auch damit war er heute nicht zufrieden gewesen. Normalerweise war seine Gestik beim Tanzen seine große Stärke. Sie unterschied sich ein wenig von den anderen und war so etwas wie sein Markenzeichen geworden. Wie durch Wasser gleitend, hatte ein Kritiker mal geschrieben. Heute allerdings hatte er seine Hände viel zu verkrampft gehalten.
Es wird spät. Warte nicht auf mich, schrieb er Ezra und ahnte, dass dieser nicht froh darüber sein würde.
Es tut mir leid, ich mach das wieder gut, sagte er sich innerlich. Bald hatten sie ihren fünften Jahrestag. Noah musste sich wirklich etwas einfallen lassen.
Noah stellte sich vor den großen Spiegeln hin. Er wollte nach der Arabesque noch einmal die Pirouette à la seconde üben, obwohl er eigentlich zu müde war und seine Beine vom langen Trainingstag brannten. Mit aller Spannung, die er noch aufbringen konnte, streckte er das rechte Beine nach vorne und drehte sich um die eigene Achse. Einmal, zweimal, dreimal. Normalerweise könnte er das ewig machen, ehe er in einer Abschlusspose landete. Aber jetzt spürte er nach dem dritten Mal bereits, wie sein linkes Standbein schwankte. Nur ein kleiner Hopser, ein kaum merkliches Wegrutschen der Zehen, dennoch ärgerte es ihn. Also noch einmal von neuem. Rechtes Bein strecken, drehen, drehen, drehen, drehen. Fuck!
Dieser kleiner Hopser! Er machte Noah wahnsinnig!
Noch einmal von vorn.
Einmal, zweimal, dreimal, viermal.
Noch einmal.
Drehen, drehen …
Noah atmete tief durch und presste die Augen zusammen. Der Schweiß lief ihm in Sturzbächen hinunter. Okay, okay. Es war keine große Sache. Diese Bewegung beherrschte er doch im Schlaf. Nicht so verkrampft, als würde dir gerade ein Zahn gezogen. Lächle!
Von vorn also. Rechtes Bein strecken und … drehen, drehen, drehen, drehen, drehen …
Ja, jetzt hatte er den Bogen wieder raus …
Drehen, drehen, weiterdrehen …
Fuckfuckfuck! Warum kam er heute so schnell aus dem Gleichgewicht?
»Noah!«
Noah spürte, wie ihn jemand an der Hüfte packte und ihn sanft gegen sich drückte. Ehe er reagieren konnte, zog ihn jemand sanft zurück, bis er eine warme Brust an seinem Rücken spürte. Er wandte sich um.
Natürlich! Es war Aaron. »Mach dich locker«, sagte er und hielt Noah einen Becher entgegen. »Hier, nimm erstmal einen Schluck.« Der Duft von frischem Kaffee stieg auf, kräftig und leicht süßlich.
Noah trat genervt einen Schritt zurück. Mach dich locker! Als ob er nicht von selbst drauf gekommen wäre. Er strich sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und nahm einen Schluck Kaffee.
»Sollen wir die Hebefigur probieren?«
»Okay«, sagte er und wollte das schnell hinter sich bringen. »Wer ist zuerst die Frau?« Erst als die Worte ausgesprochen waren, wusste er, was er gesagt hatte. Er ging offen mit seiner Homosexualität um. Ezra kam manchmal zum Ensemble und holte ihn ab, also wussten die meisten auch, dass sie zusammen waren. »Äh, sorry, das war nicht so gemeint, wie es geklungen hat.«
»Kein Ding! Willst du anfangen?« Aaron streckte, die Sorglosigkeit in Person, seine Arme nach ihm aus und trat dicht hinter ihn.
Kein Ding! Wer zum Teufel sprach so?
Okay, egal, Augen zu und durch.
Er spürte Aarons Atem im Nacken und seine kleinen Härchen stellten sich auf. Aarons rechter Arm griff nach Noahs nach hinten ausgestreckter Hand, wie vorhin bei seiner Partnerin Samantha. Jetzt sah Noah in den großen Spiegeln, wie dicht Aaron hinter ihm stand und seine Hände langsam zu Noahs Hüfte gleiten ließ.
Als wäre er eine mechanische Aufziehspieluhr, beugte Noah das hintere Bein nach vorne, winkelte die Arme an und imitierte die Bewegungen der weiblichen Figur, während Aarons Hände ihn stützten und halfen, die Spannung im Oberkörper zu halten. Noah wusste, was nun kam, dennoch war er nicht darauf vorbereitet. Mit einem Ruck hob ihn Aaron in die Luft und Noah streckte seine Beine zur rechten Seite.
Jede Bewegung ihrerseits verfolgte er im Spiegel und als er sah, wie Aarons Lippen anfingen zu zittern, musste er grinsen.
»Komm schon, Zuckerfee, lächeln, lächeln!« Aaron war sichtlich bemüht, locker drauf zu sein. Dennoch ging er Noah so auf die Nerven.
»Auf geht’s, Aaron«, imitierte Noah dann Stuarts Bostoner Akzent, »das kann doch nicht so schwer sein. Noah ist leicht wie eine Feder, also heb ihn noch höher.«
Mit einem Schnaufen, in das sich ein süffisantes Lachen mischte, tat Aaron wie geheißen. Jetzt fingen seine Beine aber wirklich zu zittern an.
»Arme strecken, Zuckerfee! Als würde jemand dran ziehen, nicht vergessen, die Arme zu strecken! Mehr Spannung!«, machte Aaron weiter mit seiner Neckerei.
Noah breitete die Arme aus und grinste sich selbst im Spiegel an. »Was ist, Prinz Coqueluche, du vergisst ja zu lächeln. Es sieht so aus, als würdest du einen Felsbrocken in die Luft stemmen und nicht den hübschen und grazilen Noah Zheng. Haltung, achte auf deine Haltung!«
Und dann konnte Aaron nicht mehr. Mit einem letzten Kichern ließ er Noah vorsichtig zu Boden gleiten, er kam dennoch mit einem leichten Aufprall auf.
Beide versuchten zu Atem zu kommen. Der Glanz der Oberlichter spiegelte sich in Aarons Halsbeuge, er sah es in den Spiegeln reflektiert. Noah merkte, wie Aaron noch immer seine Hände an Noahs Hüfte hatte.
»Du bist beinahe leichter und schmaler als meine Partnerin«, sagte er. »Kann ich das Pas de Deux nicht mit dir tanzen?«
Noah versuchte sich an einem höflichen Lächeln. Sollte er diesen einsneunzig großen Kerl hochstemmen?
Auf einmal erfüllte das Klingeln eines Telefons die Stille. Noah brauchte etwas, um zu begreifen, dass es sein eigenes Handy war. Sein Blick fiel auf die Sporttasche in der Ecke. Mit schnellen Schritten eilte er hinüber, nestelte an den Reißverschlüssen, während das Klingeln ungeduldig weitertönte.
Shit! War das Ezra, der jetzt anrief? Noah hätte ihn nicht den ganzen Tag über ignorieren sollen.
Es war nicht Ezra. Sein Vater rief an.
»Ba?«, fragte er und atmete erleichtert auf. »Ja? Was? Nein, du weißt doch, ich kann heute nicht. Ich weiß es nicht. Außerdem ist es schon zu spät, bis ich in Queens bin … Was? Ja! Warum kann meine Schwester das nicht machen? Ich … Ja, Ba, ich werd sehen, wann ich Zeit finde. Bis dann.« Seufzend legte er auf.
»Sorry. Das war mein Vater«, sagte er zu Aaron.
»Was wollte er denn?«
»Ach.« Noah verdrehte die Augen. »Sie haben seit neuestem Internet und … ja.«
Aaron lächelte. »Verstehe. War das eben chinesisch?«
»Hm. Zumindest unser Dialekt. Meine Eltern kommen aus Sichuan. Ich bin jedoch in Shanghai geboren und aufgewachsen.«
»Ich hätte gedacht, es hört sich ganz anders an. Aber es klingt sehr schön und weich.«
»Na ja. Nicht wenn du meinen Vater in echt hören würdest.« Ba schrie immer in den Telefonhörer, als müsste er die Entfernung von Queens nach Manhattan allein mit seiner Stimme überbrücken.
»Wie hat er dich vorhin eigentlich genannt?«, fragte Aaron.
»Fei Fei. Das ist mein Spitzname. Mein eigentlicher Name ist Fei Yan.«
»Ach so. Also heißt du gar nicht Noah?«
»Doch. Doch. Wir geben uns gerne einen englischen Zusatznamen, weil die meisten Leute unsere Namen falsch aussprechen.«
Noahs Familie war vor etwa zwanzig Jahren, als er zehn war, aus China in die USA eingewandert. Er hatte sich angepasst. Noah hatte die High School und das College besucht, sah sich den Super Bowl im Fernsehen an, aß amerikanisches Essen, mittlerweile fühlte er sich auch wie ein Amerikaner.
»Fei Yan …« Die Art, wie Aaron das aussprach, machte was mit Noah, auch wenn er die Betonungen falsch setzte. »Hat das auch eine Bedeutung?«, fragte Aaron weiter.
»Ähm … ja.«
Aaron nahm einen Schluck Kaffee, der jetzt bestimmt kalt sein musste. Dabei spielte wieder dieses sanfte Lächeln auf seinen Lippen. »Sagst du mir auch, welche?«
»Hm.« Verlegen kratzte sich Noah am Kopf. »Also … Je nachdem, wie man es betont und mit welchen Schriftzeichen man es schreibt. Fei bedeutet bei meinem Namen so etwas wie fliegen. Und Yan heißt Schwalbe. Fei Yan bedeutet also fliegende Schwalbe.«
»Passt zu so einem eleganten Tänzer wie dir.«
Noah konnte nicht verhindern, dass seine Wangen zu glühen anfingen. Er wusste, er lief puterrot an. Und das bei diesem Aaron! Oder machte der sich über ihn lustig? Irgendwie konnte er das bei Aaron nie genau sagen. Es hatte da einige Situationen in der Vergangenheit gegeben. Wenn Aaron etwa Noahs Hüftschwung kommentierte und dabei durch die Zähne pfiff. Einmal hatte Aaron Noah »kleine Fee« genannt. Warum, wusste niemand genau. Als Noah sich beschwerte, grinste Aaron nur und sagte: »Wenn du dich so aufregst, passt es nur noch besser.«
Und dann der Hoodie-Zwischenfall! Einmal lieh Noah Aarons Kapuzenpullover aus, weil ihm kalt war. Als er ihn zurückgab, hatte Aaron demonstrativ daran geschnuppert und gegrinst. »Riecht jetzt nach dir. Ich weiß nicht, ob ich den noch wasche oder für immer so lasse.«
»Fei Fei«, sagte Aaron jetzt. »Spreche ich das so richtig aus? Im Chinesischen ist die Betonung das Entscheidende, oder?«
»Ähm … Ja. Nein. Eigentlich betont man anders. Aber ist egal.«
»Echt? Und welche Bedeutung hat es, wie ich es ausgesprochen habe?«
»Hm … Mit deiner Betonung heißt es so etwas wie … fett. Oder Konkubine. Oder fette Konkubine.« Noah lächelte.
»O Mann. Also ist es tatsächlich so eine schwere Sprache, wie man allgemein annimmt?«
»Nicht wenn man es von Anfang an lernt.« Warum redete er eigentlich mit Aaron über die chinesische Sprache? Er wollte diese Sondereinheit doch schnell hinter sich bringen. Es wurde bereits spät, und bis er zu Hause wäre, würde noch einmal richtig viel Zeit vergehen.
»Ja, natürlich.«
»Wieso? Willst du es lernen?«
»Ähm … vielleicht … kannst du es mir beibringen?« Aaron lehnte sich an die Ballettstange und musterte Noah. »Also? Was sagst du?«
Noah seufzte und nahm selbst noch einen Schluck Kaffee. Yepp. Eiskalt. »Ich sag, ich brauche dringend eine Dusche.«
»Und danach?«
»Danach …« Noah hielt inne, als sein Handy erneut vibrierte. Ezra. Diesmal konnte er ihn nicht ignorieren. Sein Magen zog sich zusammen. Er hätte längst anrufen sollen.
»Sorry, ich muss auch diesen Anruf annehmen.« Gott, er hörte sich ja an wie ein fünfzigjähriger Banker!
Aaron nickte langsam, sein Blick war unergründlich. »Klar. Lass uns für heute Schluss machen. Stuart wollte bestimmt nicht, dass wir bis Mitternacht hier sind. Bis morgen, Fei Yan.«
Was zum … Hatte Aaron ihn gerade bei seinem richtigen chinesischen Namen genannt? War das spöttisch gemeint gewesen, oder was war los?
Noah zögerte eine Sekunde zu lang, bevor er ranging.
Ezra
Ezras Finger trommelten in ungeduldigem Rhythmus auf das Lenkrad. Die Uhr auf dem Armaturenbrett leuchtete auf. 11:17 p.m. Viel zu spät.
Er hätte es wissen müssen. Natürlich hatte Noah mal wieder die Zeit vergessen. Selbst nach dem Anruf, als Ezra gesagt hatte, dass er in zehn Minuten da sei, wartete er nun schon eine gefühlte Ewigkeit. Sein Blick huschte zur regennassen Windschutzscheibe. Tropfen rannen hinunter, sammelten sich an den Rändern. Sollte er hineingehen und Noah suchen?
Gerade als er aussteigen wollte, ging die Seitentür des Gebäudes auf. Noah trat heraus, sein Mantel war offen, sein Haar feucht, dunkle Strähnen klebten an seiner Stirn. Selbst im schummrigen Licht sah Ezra den feinen Film Regenwasser auf seinem Gesicht, dieses Leuchten, das Noah nach jedem Training hatte. Doch was ihn wirklich störte: Er hatte keinen Schirm dabei. Bei diesem Mistwetter. Natürlich nicht.
Sein Blick huschte über Noahs Gestalt, wie sich sein schlanker Körper unter dem nassen Stoff bewegte, wie er gedankenverloren auf seinem Handy herumtippte. Noah sah nie, was vor ihm war, wenn er in Gedanken versunken war.
Ezra konnte sich noch genau an das erste Mal erinnern, als er Noah gesehen hatte. Und das nicht nur, weil es ein geschäftlicher Termin war. Noah fiel ihm schon auf seiner Bewerbungsmappe auf. Er hatte bereits einige Auftritte als Balletttänzer vorzuweisen, wandte sich aber an Ezras Agentur, weil er in größeren Ensembles und Rollen auftreten wollte. Das Foto, das Noah mit einer Büroklammer auf die Mappe geheftet hatte, verzauberte Ezra gleich vom ersten Moment an. Noah zeigte dort ein verhaltenes Lächeln, frontal abgelichtet, das Foto vielleicht etwas zu dunkel. Von Anfang an waren ihm Noahs große, dunkle Augen aufgefallen. Das sanfte Leuchten in ihnen, das schüchterne, wunderschöne Lächeln.
Ezra wusste, er durfte sich nicht von persönlichen körperlichen Anziehungen und Sympathien beeinflussen lassen. Trotzdem hatte er ihn zu einem Gespräch in seine Agentur eingeladen. Und natürlich war Noah nicht wie ein schüchternes, kleines Ding in sein Büro gekommen, sondern mit voller Wucht in sein Leben geplatzt. Auf dem Weg zu seinem Schreibtisch hätte er beinahe eine teure Vase von einem Beistelltisch gestoßen.
»Oh. Ming-Dynastie, was?«, hatte Noah gefragt und sich verschämt über den Nacken gestrichen.
»Nein. Ein Einzelstück von Zaha Hadid.« Ezra umgab sich gern mit teuren Designer-Stücken.
»Ach kommen Sie. Ich habe lange an diesem Gag gefeilt.«
Ezra konnte nicht anders als zu schmunzeln. »Würde man Ming-Vasen nicht ins Museum stellen?«
»Auf jeden Fall ganz weit weg von mir.« Trotz dieser Worte, trotz der Tollpatschigkeit, die bei Noah hin und wieder aufblitzte, gerade wenn er nervös war, hatte er diese unglaubliche Eleganz und Energie in seinen Bewegungen, die Ezra von Anfang an magisch angezogen hatte. Im einen Moment war er eine grazile Elfe, im nächsten ein schelmischer Kobold, der dem ernsten und verbissenen Ezra nach langer Zeit ein Lachen entlockte.
Das Vorstellungsgespräch hatte viel länger gedauert, als Ezra sonst für Neukunden veranschlagte. Der Vertrag war jedoch schnell unterschrieben. Ezra brauchte einige Zeit, damit er Noah dazu brachte, mit ihm essen zu gehen.
Noah hatte die Einladung zum Essen zunächst mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert.
»Ist das Ihr übliches Agenten-Programm? Vertragsunterzeichnung und dann ein Abendessen? Muss ich mir Sorgen machen?«
Ezra hatte gelassen geantwortet: »Kommt drauf an. Hast du Angst vor gutem Essen?«
Noah lachte und es war ein herzliches Lachen. »Okay, aber nur, wenn ich den Nachtisch aussuchen darf.«
»Deal.«
Sie waren in einem kleinen französischen Bistro gelandet, einem dieser unscheinbaren Orte, die nur Eingeweihte kannten. Ezra war ein Stammgast, kannte den Besitzer mit Namen. Noah hatte ihn mit einem neugierigen Blick gemustert, als sie ihre Plätze einnahmen.
»Also doch ein Agent mit geheimen Machenschaften.«
Ezra schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Ich esse hier oft, das ist alles.«
Er beobachtete Noah fasziniert, wie er sich konzentriert durch die Speisekarte tastete, als wäre sie eine neue Choreografie, die er erst noch lernen musste. »Aha. Und was isst du immer?« Warum fragte Noah das? In Bezug auf Essen war er von Anfang an unsicher gewesen, das war Ezra bereits da schon aufgefallen.
»Entenbrust mit Feigen. Aber lass dich nicht beeinflussen.«
Noah tat genau das Gegenteil und bestellte das gleiche.
Als das Essen kam, war Noahs Reaktion so ungefiltert, dass Ezra ihn einfach nur anstarren konnte.
»Heilige Scheiße, das ist unglaublich!« Noahs Augen leuchteten auf, und vielleicht war es der Moment gewesen, in dem sich Ezra unrettbar in ihn verliebt hatte.
Das Gespräch verlief mühelos, die Worte flossen wie von selbst. Ezra, der normalerweise so darauf bedacht war, professionell zu bleiben, ertappte sich dabei, wie er Noah nicht als Klienten, sondern als Menschen wahrnahm, als jemanden, der ihn aus seinem eingefahrenen Trott riss.
Als der Nachtisch kam, Crème brûlée mit Karamellüberzug, sah Noah ihn mit einem schelmischen Grinsen an.
»Du bereust es, mir den Nachtisch überlassen zu haben. Es ist so langweilig, nicht wahr? Das, was jeder in einem französischen Restaurant bestellen würde, was?«
Ezra nahm einen Löffel, probierte und schüttelte den Kopf. »Ich bereue es, dass du nicht früher in mein Büro gekommen bist.« Er beobachtete, wie Noah die Karamellschicht abkratzte und links liegen ließ, darauf bedacht, ja keinen Zuckerkrümel aus Versehen zu sich zu nehmen. Typisch Balletttänzer. Hast du Angst vor gutem Essen? Eindeutig!
Die Erinnerungen abschüttelnd, drückte Ezra jetzt die Hupe.
Noah zuckte zusammen, drehte sich abrupt um. Selbst in der Dunkelheit erkannte Ezra das leichte Zusammenziehen seiner Brauen, bevor er zur Beifahrertür lief und sie aufriss.
»Wartest du schon lange?« Seine Stimme klang müde, belegt von den Stunden harter Arbeit.
Ezras Blick glitt über ihn. Über das feuchte Haar, die gerötete Haut, den Ausdruck in seinen Augen. Er roch nach Tanz. Nach Hitze, nach etwas, das untrennbar mit Noah verbunden war. Sein Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich.
»Es geht«, erwiderte Ezra knapp und fuhr los, ehe Noah die Tür richtig zugemacht hatte.
Sekundenlang herrschte Stille. Das leise Surren des Motors und das gleichmäßige Trommeln des Regens gegen das Autodach begleiteten sie. Nachts konnte Ezra nicht mit Radio fahren. Es lenkte ihn zu sehr ab.
»Ich hätte den Bus oder die Subway nehmen können«, murmelte Noah schließlich und ließ den Kopf gegen die Fensterscheibe sinken. Sein Atem hinterließ einen matten Schleier auf dem kalten Glas.
Ezra schnaubte leise. »Klar. Und dann wärst du erst um eins zu Hause. Denkst du, ich lass das zu?«
Noah seufzte, schloss für einen Moment die Augen. Ezra sah aus dem Augenwinkel, wie seine Brust sich unter der Kleidung hob und senkte.
»Ezra …«
»Und irgendein Penner«, unterbrach er ihn, seine Finger krampften sich fester um das Lenkrad, »irgendein Penner macht dich mitten in der Nacht blöd an. Oder du wirst ausgeraubt. No way!«
Keine Antwort.
Ezra riskierte einen Seitenblick, als er an einer Ampel hielt. Noahs Gesicht war weich in der Dunkelheit, seine Wangen gerötet, seine Lippen leicht geöffnet, als hätte er auf etwas antworten wollen und es sich dann doch anders überlegt. Sein Herz schlug schwerer. Er wusste, Noah fand ihn manchmal erdrückend. Aber es spielte keine Rolle. Nicht auszudenken, was alles passieren könnte!
Er lockerte den Griff am Lenkrad. »Ich hab das Gefühl, du kümmerst dich um alles, nur nicht um dich selbst.«
»Und deshalb musst du es für mich tun?«
»Ich bin immerhin dein Manager, nicht?«
Für einen Moment herrschte wieder Stille. Doch dann sah er es, dieses leichte, fast schon nachsichtige Lächeln, das Noah ihm schenkte.
Ezra atmete tief durch, während er langsam auf die Amsterdam Avenue abbog. Die Straßenlaternen warfen verzerrte Lichtflecken über die regennassen Scheiben, während sich die Stadt um sie herum in einen verschwommenen Strudel verwandelte.
Ezra wusste, wie es war, wenn man das Gefühl hatte, nie genug zu tun, nie gut genug zu sein. Er kannte es aus seiner Kindheit. Ezra war in einem vergifteten Elternhaus aufgewachsen, in dem Leistung zählte und Liebe nur ausgegeben wurde, wenn man im Gegenzug etwas dafür tat. Das hatte ihm zwar stets gute Noten und einen erfolgreichen Studienabschluss beschert, seine Psyche war dafür so verkorkst wie guter Wein, der schlecht gelagert wurde. Und als zweiter Sohn in einer iranischstämmigen Familie stand er im Schatten seines großen Bruders Farzad, der nach dem Tod des Vaters die Rolle des Patriarchen für den Mohsani-Clan übernahm. Ezra wurde an ihm und dessen Erfolgen gemessen und zu einem Sohn zweiter Klasse degradiert.
Noah war der erste Mensch in seinem Leben, der ihn einfach so mochte.
Von Anfang an hatte Ezra ihn überschütten wollen mit Geschenken, mit Sicherheit, mit einem Leben, in dem es an nichts fehlte. Noah hatte all das nie gebraucht. Nicht die teuren Uhren, die Anzüge, die Restaurantbesuche, die gelegentlichen Ausflüge am Wochenende in die Hamptons, wo Ezra ein Ferienhaus besaß.
Ihr erster Kuss war nicht in einem schicken Restaurant oder auf einem Balkon mit Blick auf die Skyline geschehen, sondern in einem kleinen klebrigen China-Imbiss in Brooklyn.
»Ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen«, riss Noahs Stimme ihn aus seinen Gedanken.
»Ja, aber weißt du«, begann Ezra schließlich, »du kannst nicht immer bis spät in die Nacht arbeiten.«
Noah seufzte leise, schob das Fenster einen Spalt auf. Kalte Nachtluft wehte herein, ließ Ezras Nackenhaare sich aufstellen. Ezra drückte sofort auf einen Knopf in der Mittelkonsole und das Fenster ging wieder zu. Er betätigte die Kindersicherung und verriegelte es, damit es sich nicht mehr öffnen ließ. Noah schnaubte amüsiert.
»Du weißt, wie das ist. Stuart macht uns einen Kopf kürzer, wenn nicht jede Wimper sitzt. Ich kann nicht einfach aufhören, bevor es nicht perfekt ist, Ezra.«
Ezra presste die Lippen zusammen. »Du bist doch schon perfekt.«
Seine Stimme wurde weicher. Er dachte an die unzähligen Abende, in denen Noah noch im Tanzstudio geblieben war, in denen er an einer einzigen Bewegung feilte, bis seine Füße blutig waren. Das war es, das war Noahs Ding.
»Warum kannst du das eigentlich nicht verstehen?« Noahs Stimme war leise. »Du bist derjenige, für den nichts gut genug sein kann.«
Ezra drehte langsam den Kopf. Sah ihn an. Noah erwiderte seinen Blick.
»Das ist nicht dasselbe«, murmelte Ezra schließlich und wandte sich der Straße zu.
»Doch, ist es.« Noahs Stimme war sanft, aber bestimmt.
Ezra biss die Zähne zusammen. Seine Finger spannten sich um das Lenkrad. »Ich will einfach nicht, dass du dich überanstrengst. Es schadet dir.«
»Und ich will nicht, dass du mich in Watte packst. Es ist Nussknacker-Saison!«
Ezra stieß ein kurzes Lachen aus, trocken und müde. »Ich kann das schon nicht mehr hören! Können wir uns wenigstens irgendwo in der Mitte treffen?«
Noah lehnte sich zurück, sein Kopf gegen das Fenster gelehnt. »Wenn du mir versprichst, nicht wie eine Mutter zu sein, die ihrem Sohn den vergessenen Sportbeutel in die Schule bringt.«
Ezra warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Du weißt, das wird nicht passieren.«
Noah seufzte und sagte dann nichts mehr.
Ezra schloss die Tür hinter ihnen und atmete tief ein. Er betätigte einen Lichtschalter und sofort wurden die hohen Decken des weitläufigen Lofts in TriBeCa mit den freigelegten Stahlträgern in warmes, gedämpftes Licht getaucht. Durch bodentiefe Fenster flimmerte das Lichtermeer New Yorks herein.
»Willst du einen Tee?«, fragte Ezra mit sanfter Stimme, als sie in die offene Küche mit der glänzend polierten Arbeitsfläche traten. »Oder hast du Hunger? Du hast bestimmt nichts Richtiges zu Abend gegessen. Ich hab dir unterwegs einen Hähnchen-Vollkornwrap mit Avocado, Ei, Salat und nur ein bisschen Käse mitgebracht. Weißt du was? Ich wärm ihn dir auf. Und für deine Verdauung mach ich dir noch einen frisch aufgebrühten Grüntee.«
Noah seufzte leise, während er seinen Mantel langsam von den Schultern gleiten ließ. »Ich hab schon gegessen«, murmelte er, wich Ezras Blick aus und legte den Mantel auf der Lehne eines Barhockers ab.
Ezra verräumte den Mantel sofort sauber und ordentlich in der Garderobe, ehe er wieder in die Küche trat. Er ließ sich nicht beirren. »Was hast du denn gegessen?«
»Ist doch ganz egal.« Noah zuckte mit den Schultern. »Hab mir was aus der Kantine geholt.«
Skeptisch hob Ezra eine Augenbraue. »Von wegen ganz egal. Was bitteschön gab es um diese Uhrzeit Vernünftiges in der Kantine zu essen? Jetzt beiß wenigstens vom Wrap ab!«
»Ich hab keinen Hunger.« Noahs Kiefermuskeln zuckten angespannt.
Ezra lehnte sich gegen die kühle Marmorplatte, seine Finger strichen über die feine Maserung. »Das glaub ich dir nicht«, sagte er leise, aber bestimmt. »Du weißt, du musst abends genug Proteine zu dir nehmen. Und auf deine Verdauung achten. Wenn du heute eh schon so lange weg warst …«
Noah atmete tief aus. »Stopp, nein, Ezra, hör auf!«, sagte er und hob abwehrend die Hände. »Ich … ich bin einfach nur müde und will ins Bett.« Seine Stimme war ein leises Flehen.
Ezras Magen zog sich zusammen. Warum musste Noah manchmal so unnötig stur sein? Er schluckte den aufkeimenden Ärger hinunter. Stattdessen presste er die Lippen zusammen, ließ die Schultern leicht sinken.
»Gut, bitteschön. Wie du willst.« Seine Worte waren ruhiger, als er sich fühlte. Er wusste, Noah würde hungrig schlafen gehen. Es würde sich morgen rächen. Wenn er das so wollte … dann sollte es so sein.
»Ezra …«
»Nein. Hab schon verstanden. Alles klar.«
Noah schloss besiegt die Augen und massierte seinen Nacken, ehe er ins Bad trottete. Ezra folgte ihm. Das Loft lag in beruhigender Stille, nur das Rauschen des Wasserhahns und das Schrubben der Zahnbürste durchbrach die Ruhe. Ezra lehnte sich gegen den Türrahmen, beobachtete, wie Noah das Wasser in den Händen sammelte und sich übers Gesicht fuhr. Kleine Tropfen perlten an seinem Kinn hinab. Nachdem er sich den Mund ausgespült hatte, blieb ein Hauch von Zahnpasta im Mundwinkel hängen. Ohne nachzudenken trat Ezra näher, wischte es sanft mit seinem Daumen fort. Seine Finger verweilten für einen Sekundenbruchteil an Noahs Haut, schließlich verließ er wortlos das Bad.
Das Bett war kalt, als Ezra sich unter die Decke schob. Er lag auf dem Rücken, starrte in die Schatten, die sich über die hohen Betonwände zogen. Dunkle Formen, die sich mit seinen Gedanken vermischten.
Eine Weile war er allein, dann senkte sich die Matratze neben ihm leicht. Ein Seufzen. Noah drehte sich auf die Seite, aber von ihm weg. Ezra lauschte auf sein ruhiges, gleichmäßiges Atemgeräusch. Er wusste, dass Noah nicht wirklich schlief. Und trotzdem sagte keiner von ihnen ein Wort. So lag er noch lange da, bis ihm irgendwann die Augen zufielen.
Noah
»Noah, was ist mit deinem berühmten Grand Jeté passiert? Der war letztes Jahr doch in allen Zeitungen«, beschwerte sich Stuart am nächsten Trainingstag.
Die gestrige Übungseinheit steckte Noah noch in den Knochen. Seine Muskeln schmerzten und wollten ihm nicht so recht gehorchen. Bewegungen, die er seit Jahrzehnten eingeübt hatte, wollten ihm nicht gelingen. Verdammter Mist! Dass er und Ezra gestern im halben Streit schlafen gegangen waren, war auch nicht gerade hilfreich für seine heutige Performance. Hatte er übertrieben? Ezra wollte doch das Beste für ihn und er hatte wie ein trotziges Kleinkind reagiert.
Aaron war wie immer die strahlende Sonne in Person. Noah wusste, es war nicht seine Schuld, aber alles, was Aaron tat, jeder kleinste Fingerzeig, jedes winzige Schmunzeln, griff Noah persönlich an.
Er zog sich auch von Alina zurück, die ihn wieder bestürmte und ausfragen wollte.
Den ganzen Tag über fand er seine Balance nicht und an diesem Abend teilte er Stuart von selbst mit, dass er noch einige Zeit hier blieben und allein weiter üben wollte.
Stuart sagte nichts, klopfte ihm nur aufmunternd auf die Schulter. Die Anspannung, die Nervosität, da die neue Nussknacker-Saison so bald schon vor der Tür stand, war ihm ins Gesicht geschrieben. Mit jedem Tag, dem man sich dem Winter näherte, mit jeder Weihnachtsdeko, die zu früh herausgeholt wurde, mit jedem Grad Fahrenheit weniger auf dem Thermometer rückte das erste Training in Kostümen, die Generalprobe und die diesjährige Premiere näher. Bald würden bei Stuart die Nerven komplett blankliegen und seine Befehle würden wie Peitschenhiebe durch die Übungshalle knallen. »Zuckerfee, mehr Grazie, mehr Eleganz, du bist doch kein Mauerblümchen! Clara, ich bitte dich, wie locker hältst du deine Arme? Und wenn die beiden Nussknacker nicht endlich ihre Pirouetten in den Griff kriegen, was meint ihr, was dann passiert? Dann geht verdammt nochmal die Welt unter!« Stuart sah immer weniger die Menschen hinter den Tänzerrollen und er tauchte ab November vollends in das Reich des Mäusekönigs ab.
Seit jeher war die Weihnachtszeit für Noah mit diesem Stress, dieser Anspannung, diesem Lampenfieber, aber auch mit einer ungeheuren Energie verbunden. Wo andere Leute es sich gemütlich machten bei Cookies und einer heißen Tasse Tee, probte er ein und dieselbe Bewegungen so lange, bis ihm die Zehen bluteten.
Vielleicht sollte er heute einfach mal Fünfe grade sein lassen und sich ausruhen?
Nein, das konnte er sich nicht leisten.
Also, Ausgangsposition in der zweiten Position, bevor er im Entrechat in die Luft springen würde. Er versuchte es. Nein, Mist. Das musste höher sein, viel höher.
Sein Atem ging schwer, sein Brustkorb hob und senkte sich in tiefen Zügen. Schweißperlen rannen über seine Schläfen.
Konzentrier dich!
Ausgangsposition in der Zweiten. Sein Blick richtete sich auf das unsichtbare Publikum, das ihn in seinen Gedanken stets beobachtete.
Dieses Mal war es besser. Seine Füße schlossen sich in der Luft im perfekten Winkel, doch beim Landen kam er aus dem Gleichgewicht.
Er wischte sich mit der Rückseite seines Armes über die Stirn, zwang sich, die Müdigkeit zu ignorieren. Er musste durchhalten. Noch eine Stunde. Noch eine einzige Stunde. Das war nicht viel, oder? Irgendwann würde sein Körper schon von allein zu seiner alten Form zurückfinden, wenn er lange genug übte.
Die Zeit verstrich, während er sich aufbäumte, sprang, drehte, fiel. Sein Körper gehorchte ihm immer weniger. Seine Muskeln zitterten, sein Atem war jetzt rau und unregelmäßig.
Okay, okay. Er musste es noch ein einziges Mal machen, dann würde er nach Hause gehen. Mit letzter Kraft spannte er seine Muskeln und setzte zum Sprung an.
Für einen Moment war es, als hätte er es endlich wieder im Griff. Aber sein rechter Fuß kam zu früh auf, sein Gleichgewicht geriet ins Wanken. Und dann war da nur noch Schmerz.
Sein Knöchel knickte unter seinem Gewicht nach innen weg, ein unschönes, dumpfes Knacken hallte durch den leeren Proberaum. Der brennende Schmerz schoss durch seinen Fuß, explodierte in seiner Wade und fraß sich bis in seine Hüfte. Ein Schrei entfuhr ihm, bevor er überhaupt begriff, dass er gefallen war. Der Boden war hart und unnachgiebig unter seiner Schulter, doch das war nichts im Vergleich zu dem pulsierenden Schmerz, der nun seinen Knöchel erfasst hatte.
Sein Atem ging stoßweise, als er versuchte, sich aufzurichten. Vergeblich. Ein brennendes Stechen ließ ihn sofort nach hinten sacken, sein Fuß fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit einem Hammer bearbeitet. Er krallte die Hände in den Stoff seines T-Shirts, als könnte das irgendetwas an dem pochenden Schmerz ändern. Sein Blick verschwamm, Tränen drängten sich in seine Augen.
Er biss die Zähne zusammen, zwang sich, langsam zu atmen, aber jeder noch so kleine Versuch, seinen Fuß zu bewegen, endete in einem höllischen Brennen. Sein Magen zog sich zusammen, ihm wurde übel. Verdammt. Verdammt! Das durfte nicht wahr sein.
Er hörte sein eigenes keuchendes Fluchen, auf Amerikanisch, auf Chinesisch, nichts half. Hörte das leise Klopfen der Musik, die noch aus den Lautsprechern sickerte.
Er schloss die Augen, zwang sich, nicht zu schreien. Er musste sich zusammenreißen.
Vorsichtig versuchte er sich ins Sitzen aufzurichten. Mit seiner Hand tastete er seinen Knöchel ab. Das Brennen wurde stärker. Das war nicht gut, das war gar nicht gut. Er hörte sein eigenes Stöhnen, als käme es von einem angeschossenen Tier. Selbst der Weg zu seiner Sporttasche war zu weit, in der sein Handy lag, wahrscheinlich wieder mit mindestens zehn Kontrollnachrichten von Ezra. Er hätte auf ihn hören sollen!
Okay, irgendwie musste er zu dieser Tasche und Ezra anrufen. Vorsichtig versuchte er aufzustehen, aber als sein Körper seinen verletzten Fuß belastete, durchzuckte ihn ein greller Blitz, bis ihm schwarz vor Augen wurde.
»Noah!«
Das war Aarons Stimme. Moment mal. Aaron war auch noch hier? Hatte der sich nicht vor Ewigkeiten verabschiedet? Wie lange hatte er bitteschön geduscht?
In Windeseile war Aaron bei ihm angelangt und beugte sich zu ihm herunter. »Was ist passiert?«
Doofe Frage! Sah man das nicht?
»Bin umgeknickt«, sagte er, die Worte kamen nur keuchend aus seinem Mund. Noah betrachtete seinen Fuß, der sich immer mehr wie ein Fremdkörper anfühlte.