HÜBNER - Hans-Dieter Schütt - E-Book

HÜBNER E-Book

Hans-Dieter Schütt

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Beschreibung

Er kann in seinem Spiel bravourös stutzig sein, brummig stupide oder liebenswert betriebsselig, er kann mit Leib und Seele nach der Welt greifen und all seinen plebejischen Realitätssinn virtuos mit dem Grotesken kurzschließen: Charly HÜBNER, Jahrgang 1972, Gastwirtssohn aus FeldbergCarwitz. Ein faszinierender Ausnahmespieler auf der Bühne des Deutschen Schauspielhauses Hamburg und vor der Kamera. Seine Kunst: Höhenflüge im Höllentief. Noch eine Schleife Verlorenheit, noch eine Prise Verzweiflung, noch einen Humpen Witz. Am liebsten spielt HÜBNER wohl am Schnittpunkt, wo die Spannung zwischen Eingelöstem und Ersehntem am unerträglichsten ist. Jenseits aller Kultur, mit der wir einander abdämpfen und abrichten. Mit dem Journalisten Hans-Dieter Schütt führte er Gespräche über Herkünfte und Hingaben, erzählt von seinem Dokumentarfilm "Wildes Herz", einem Porträt des Frontmannes "Monchi" Gorkow der Punkband Feine Sahne Fischfilet, und seinem Buch über "Motörhead". Mit Texten von Charly Hübner, Tobias Rempe, Heinz Strunk und Christian Tschirner.

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Hans-Dieter Schütt

HÜBNER

backstage

Mit Texten vonCharly Hübner, Tobias Rempe, Heinz Strunk, Christian Tschirner

You know me, evil eye

You know me, prepare to die

You know me, the graveyard kiss

Devil’s grip, the Iron Fist.

LEMMY KILMISTER

Die Stille liebt den Möwenschrei.

MARTIN WALSER

Mr. Welles, sagte ich, sehe ich Sie spielen,

schaue ich einem Fleischer bei der Arbeit zu.

Er antwortete mit einem Lächeln:

Soso … aber das Schlachtvieh bin ich selber.

PETER BOGDANOVICH

Die Zeit rast, und das kleine Licht des Lebens juckelt wie ein Vorortzug unaufhaltbar dahin … manches hat sich, wie Käfer und Spinnen, bedingungslos in den Gängen der kleinen Bimmelbahn eingenistet … Neben der unbestreitbaren Herrlichkeit der paradiesischen Natur des Mecklenburger Südens und der Erfahrung eines ideologischen und seelischen Heimatverlustes durch das Ende der DDR sind es zarte und grobe, kurze und lange Anekdoten und vor allem Texte, Musik, Filme und Räusche, die den Lack der Waggonwände und die Luft in den Gängen gestalten und beleben. Da tönen grelle Pionierlieder gegen den einjährigen Leserausch von Dostojewskis Schuld und Sühne, Der Idiot und Die Brüder Karamasow. Charles Bukowski betrachtet andächtig grinsend Goyas Maja. Bruce Willis und Sylvester Stallone beschweren sich, weil Samuel Beckett sie in einen Kokon eingesponnen hat, damit er mit Stanley Kubrick in Ruhe Schach spielen kann, während Tschechow und Catherine Deneuve amüsiert Champagner schlürfen und den unerbittlichen Humor-Kaskaden von Monty Python lauschen.

Der zersplitterte Billardqueue, die hysterische Trophäe des ersten harten Haschischrauschs in einer Amsterdamer Nachwendenacht, tanzt zu den Moritaten des großen Tom Waits, und Marlon Brando irrt als Don Corleone verloren über die Rampe der Berliner Volksbühne, wo Frank Castorfs Dämonen sich küssen und schlagen, saufen und sich langweilen und zu Gustav Mahler Tango tanzen.

CHARLY HÜBNER

Motörhead oder warum ich James Last dankbar sein sollte

Inhalt

Buddha ist böse und Baal ein Baby

I. „Durch Umständlichkeit zum Wesen der Dinge“

Der Zehnkämpfer

II. „ … ist sie immer noch da, die gute alte Gänsehaut“

Als Mensch eine glatte Eins plus

III. „Straßenköter wissen viel vom Leben“

Weiße Landschaft

IV. „Wir sind einfach nicht an den Ball gekommen“

Die Legende von Martin (in neun Kapiteln)

ROLLENVERZEICHNIS

Buddha ist böse und Baal ein Baby

Von Hans-Dieter Schütt

1.

Wir entscheiden uns für Leichte Mädchen. Sie sind süß und rund. Zum Anbeißen. So, wie man es an etwas anrüchigen Orten erwartet. Im Areal von Fischhallen und Fast Food, das den Blick auf die Elbe versperrt, wirken sie doppelt fein. Hinter uns, ein paar Steintreppen hoch, der Stadtparkmüll, vor uns diese beton- und blechgraue Hafenhandelsstimmung, und da inmitten des Geruchs von Arbeit und Wasser, fast wie ein Teil einer Fabrikhalle oder eines Schiffsdecks, das „Schmidtchen“, eines der besten Cafés von Hamburg.

Die Kellnerin: „Sind Sie nicht so ein Schauspieler?“

Charly Hübner: „Hm.“

Die Kellnerin: „Und was machen Sie dann hier?“

Charly Hübner: „Auch Schauspieler müssen ja mal was essen.“

Pause. Sie ist überzeugt und nimmt unsere Bestellung auf: zwei Leichte Mädchen, diese sehr besonderen Himbeertörtchen.

2.

Wir reden hier und auch noch in einer anderen „Schmidtchen“-Filiale, in Othmarschen. Wir reden, noch zwei Leichte Mädchen bitte, in Hamburg, schlendern Wochen später um den Bokeler See, unweit von Wacken, wo Hübner dreht: Er spielt die Hauptrolle in einem Film über das legendäre Musikfestival, er ist in seinem Metal-Element. An einem weiteren Tag treffen wir uns in der Kulturfirma „stück-werke“, auf der Fleetinsel im Herzen Hamburgs. Hübner liest bei Regisseur und Produzent Wolfgang Stockmann Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl als Hörbuch ein, Uwe Johnsons großen Roman. Ungekürzt. Wie schon Das dritte Buch über Achim – das RedaktionsNetzwerk Deutschland schrieb: „Äußerste Präzision, dabei aber mit dem Sinn fürs leicht ironische Augenzwinkern, das überall in dem Roman mitschwingt, ein akustischer Hochgenuss.“

Hübner verdrängt Raum, nicht um seiner selbst willen, sondern wegen der Luft, in die seine Gestalten hineinwachsen mögen. Luft für alles Menschenmögliche, Raum, darin sich Licht fängt und Staub; Raum, in dem nichts erfunden wirkt am Spiel, auch wenn es reine Fantasie ist. Logisch, dass dieser Nordmensch eines Tages zu Johnson finden musste. Zu den Kieseln, die eine Welt körnig machen. Kiesel aus Sprache, auf der man mit festen Beinen steht, aber auf Messers Schneide. Jedes Komma ein Grat; wo man stocken möchte, ist die Melodie ganz nahe. Ich sehe Hübner hinterm Kabinenglas des Studios, er liest, von Wolfgang Stockmann glänzend unmerklich gelenkt. Er geht neugierig über Eis. Niemals drauflos. Das Eis ist dünn, die Haut dieser Sprache noch dünner. Im Hübner-Ton hat die Johnson-Gegend sich gleichsam gefunden.

3.

Er kann in seinem Spiel bravourös stutzig sein, brummig stupide oder liebenswert betriebsselig, er kann mit Leib und Seele nach der Welt greifen und seinen plebejischen Realitätssinn wie selbstverständlich mit dem Grotesken kurzschließen: Charly Hübner, Gastwirtssohn aus Feldberg-Carwitz, Jahrgang 1972. Theater hat er wie manisch gespielt, Frankfurt am Main, Zürich, Köln, Einsatz ist alles; Fernsehen schien ihn dann noch manischer zu machen. So mählich wie unaufhaltsam sind Filme zum Hauptrollengebiet geworden, Theater wurde infolgedessen zum mehr und mehr wählerischen Part dieser künstlerischen Biografie. Seit Jahren am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Er singt (mercy seat – winterreise, eine Séance zwischen Franz Schubert und Nick Cave, mit dem Ensemble Resonanz, Kalle Kalima, Carlos Bica und Max Andrzejewski). Er schreibt (Charly Hübner über Motörhead – oder warum ich James Last dankbar sein sollte, ein Buch in der Reihe KiWi-Musikbibliothek, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch). Er drehte den Dokumentarfilm Wildes Herz über die Punkgruppe Feine Sahne Fischfilet. Und wenn dieses Buch erscheint, befindet sich sein erster Spielfilm Sophia, der Tod und ich, nach dem Roman von Thees Uhlmann, auf der Schluss-Strecke zum Kinostart.

Ein Unermüdlicher? Eher einer, der sich für die natürliche Ermüdbarkeit lohnendste Gelegenheiten sucht.

Wenn über die Magie in einer Schauspielergeneration zu urteilen ist – Hübner steht zuvorderst und belächelt den interpretatorischen Fleiß, den er rundum auslöst. Der Ton – im Gespräch, im Beruf – ist fest. Absichtslos ernst. Der Ton kennt sich aus. Er weiß mehr, als er sagt. Er stammt nicht vom Verwöhnten. Er stellt sich gern unbeholfener, als er ist, weil er sicher sein will, dass er nicht klüger tönt, als er sein kann.

Einen „Wuchtschauspieler“ nennt Peter Kümmel in der ZEIT diesen Komödianten, „der dem Geist des Hardrock, der genussvollen Selbstverbrennung, sein Künstlerleben verdankt“. Seine Kunst: Höhenflüge im Höllentief. Noch eine Schleife Verlorenheit, noch eine Prise Verzweiflung, noch einen Humpen Witz. Am liebsten spielt Hübner wohl an jenem Schnittpunkt, wo die Spannung zwischen Eingelöstem und Ersehntem am unerträglichsten ist. Jenseits all der Kulturtechniken, mit der wir einander abdämpfen und abrichten.

4.

In schöner Freiheit ist er begeistert, er geht in jedem unserer Gespräche durch die neuere deutsche Theatergeschichte wie durch eine jederzeit geöffnete Galerie; da hat einer gesehen und gelesen, hat Mengen gelesen und gesehen, hat Bilder vieler Aufführungen mitgenommen, nun hängen sie, dicht an dicht, an den Wänden seiner Erinnerungsräume. Er schaut zur Garde der Barden auf, bestaunt Kollegenschaft von gestern und heute so, wie andere einen Joint rauchen. Schwärmen ist schön: als sei es ihm, dem längst Erfolgreichen, nach wie vor ein Traum, unerreichbar: Schauspieler zu werden.

Der Schauspieler redet nicht drauflos, aber die Worte gehen nach vorn, haben Lust auf Angespitztes, ich erfahre die Biografie eines Denkens, wahrscheinlich ist seit seinem ersten eigenen Buch der Sinn wacher geworden für die Beziehungen zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort. Noch sein Sprudeln weiß, es wird verschriftlicht, und ein Gespräch darf aufreizend springen, umkehren, galoppieren, stehen bleiben, ins Seitwärts weichen, ist keine (Auto-)Biografie, die auf Festschreibung aus ist; wir treffen uns in einer Werkstatt, in der probiert wird; Unterhaltung besteht auf ihrem Recht aufs Vorläufige, aufs Fragment, auf das, was morgen schon korrigiert werden könnte.

Wiederkehrend in den Gesprächen der Satz: Ja, darüber sprechen wir oft auch zu Hause. Der Beruf als Lebensstoff. Die Profession als Dauerzustand, der ins Private reicht. So entsteht Quicklebendigkeit in dem, was man tut. Und miteinander austauscht. Hübner ist verheiratet mit Lina Beckmann. Eine große Schauspielerin, die auf sehr eigene Weise nach Bitterstoffen im Fleisch von Komödien sucht, nach dem Witz in allem, was zum Weinen ist. Bleib bei mir, sagte sie ganz leise und stark und einfach in die Kamera einer TV-Talkshow, urplötzlich gefragt nach der größten Bitte an ihren Mann.

5.

Auf Anhieb vom Aufklärer Winckelmann auf Hübner hinzudenken, scheint unangemessen. Und doch … Als ich vor Jahren für ein Buch Gespräche mit dem Schauspieler Klaus Löwitsch führte, schrieb mir der Filmregisseur Egon Günther, und es ist einer der schönsten Texte über Schauspieler: „… wie Winckelmann glaube ich, dass der Erschütterung, die von geglückten griechischen Statuen ausgeht und empfunden wird, jene ‚edle Einfalt und stille Größe‘, aller guten Darstellung zugrunde liegt, und dass es den antiken Bildhauern um diesen einzigen, gewissermaßen zusammenfassenden Augenblick innerhalb von Bewegung ging – in dem alles in Balance, deshalb gut, schön und wahr ist. Vielleicht ist Spiel nichts anderes als die Suche nach Balance, Suche nach diesem einzigen Moment irrelevanter Länge, und Suche ist die Hauptsache, Verfehlung lässlich und sie ist also die wahre Eigenart des Lebens, das seine schäbigen Störungen schickt.“

Darum geht es: um Selbsterkenntnis, die der Körper ausspricht, darum also, da zu sein in jenem Maß, das einem gebührt. Inmitten dieser überall grassierenden ordinären Überprüfbarkeit der Dinge auf ihre Verwertbarkeit. Auf betörende Weise löst dieser Spieler Hübner sein Befinden in Bewegung auf, in sehr gemessen wirkende Bewegungen des ganz gewöhnlichen Stehens und Gehens, aber plötzlich oder ganz selbstredend sind es Bewegungen des Herzens. Das Herz kann stehen, und du denkst nicht an den Tod, es ist Leben.

Wo andere ihre Lebensgefühle performen, da latscht und lungert, da leibt und seelt er Existenz herbei. Er ist gern gärtnerisch fürs Unverblümte. Sein Körper ist gemacht fürs stämmig Offensichtliche, aber wir erahnen das Verborgene. Einige seiner Gestalten zündeln am Klischee: sogenannte einfache Menschen. Plötzlich die Erleuchtung: Einfache Menschen erzählen die kompliziertesten Verhältnisse. Etwa der Karl Schmidt im Film Magical Mystery von Arne Feldhusen, nach Sven Regener. Berührendes Porträt eines Einfältigen. Ein zarter Stier. Langhaarige Kraft eines Schwachen. Dessen Eingliederung in die Gesellschaft im Klartext bedeutet, wie Hübner selber sagt, „ihm eine Diele in die Seele einziehen, da soll er gefälligst drauf stehen – wo er doch endlich tänzeln möchte“.

Er ist ein Schauspieler, der keinem Autor und keinem Regisseur eine Lehre erlaubt, die aus seinen Figuren zu ziehen wäre. Ein Ambivalenzen-Artist: König und Kumpel, Prunkperson und Prolet, Banker und Bauer, Bulle und Bastard. Ein Luftgeist mit Schwergewicht. Er versucht nicht leichtfertig den Himmel und kann doch mit seinem Gesicht aus allen Wolken fallen. Er liebt die Breitseite, da ist viel Platz für die Kehrseite. Er kann auch sie spielen, die gallerten, galligen, schwammigen, abgefederten Typen, die eisig ihren großen, erfolgreichen Schnitt machen; das freilich können viele, er aber vermag das Entscheidende zu zeigen: dass der große, erfolgreiche Schnitt ein Schnitt durch die Seelenhauptschlagader ist. Die Regisseurin Karin Beier sagt: „Charly ist wahnsinnig geerdet, das merkt man sofort. Man merkt, dass er keinen verquasten Kopf zwischen sich und dem hat, was er tut.“

6.

Sein Kommissar Alexander Bukow im Polizeiruf 110 schrieb Fernsehgeschichte. Weil man diesen liebenswerten Undurchsichtigen, diesen Hartwie Weichgesottenen sah – und weitersah. Denn da schlug sich, im Anhauch, aus Rostock ein Bogen ins Ruchlose einer ganz anderen Welt. Einer Welt von Filmen vielleicht französischen Zuschnitts, alter Krimischule, in deren Geschichten jedes Herz ein blutendes wird, sobald man ihm zu nahekommt. Gewiss, nicht so unerreichbar genial wie das Muster von Melville oder Malle: Eine Zigarette drückt sich glühend in die Haut der Nacht, die schreit vor Schmerz ein Chanson, und von den Autoscheiben rinnt weiter und wieder das Regenwasser. Aber dennoch war der klassische Gangsterfilm gleichsam zu einem Abstecher nach Ostdeutschland aufgebrochen. Denn auch das biedere Rostock hat Vorhänge, mit denen sich die nackte Wahrheit vor den Zugriffen jener ordnenden, langweilig dominanten Ethik schützt, die mit ihren Sirenen Tatorte umheult. Während der Mörder geduldig darauf wartet, ein Mythos zu werden. Er ist es immer schon. Die Geschichten um Hübners Kommissar erzählten, wie der Ehrenkodex zwischen Polizisten und Gangstern sehr verschwommene Austauschgeschäfte betreibt.

7.

Charly Hübner in bislang zwei Inszenierungen von Frank Castorf, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg: wie Buddha und Baal; Buddha ist böse und Baal ein Baby. Manchmal herrlich maßlos im Verrat am Feinen. Und manchmal bietet der Darsteller stur eine irritierende Eindeutigkeit an, wie frohlockend festgeschraubt – aber kein Felsbrocken ändert seinen Standpunkt, nur weil wir Lust auf eine andere Aussicht haben.

Der haarige Affe von Eugene O’Neill und Der Geheimagent von Joseph Conrad. Es ist, als säße das Leben am Tisch und fräße mit Appetit seine eigenen Herzstücke. Hübner erzählt Amokläufe des Begehrens, spielt abgekämpfte Selbstausgräber, die das Grauen in sich entdecken. Spielen heißt, man treibt einander unzählige Philosophie-Nadeln ins Fleisch, bis das Fleisch aufhört, sich gegen die Wunden zu wehren. Des Schauspielers Tapsigkeit ist wie jener seidene Faden, daran ein Leben hängt, ein Faden, der so gern der Anfang einer Zündschnur wäre.

Seine räudigsten Rollen haben Fühlung zu den Rissen der Welt. Die Finsternis, das ist ein Leben, wo es zum Schwersten wird, sich in die Stimmgabel des Seins einzuschwingen und seinen eigenen Ton zu erwischen. Solchem Ton ist Charly Hübner auf der Spur.

I.

„Durch Umständlichkeit zum Wesen der Dinge“

HANS-DIETER SCHÜTT: Charly Hübner, wozu spielen?

CHARLY HÜBNER: Schön.

Schön was?

Dass die einfachste Frage gleich zu Beginn kommt. Is’ wie die Frage: Was ist Kunst?

Erfolgreich vom Weg abzukommen.

Hm. Klingt gut, ist wahrscheinlich aber falsch.

Wie heißt das geflügelte Wort? Wo einer fragt, werden andere keine Antwort wissen, und wo Antworten kommen, werden Fragen warten.

Wozu spielen … Vielleicht so: Im Spiel kann man das Leben angenehm vereinfachen.

Spiel? Weglassen, was plagt

Stimmt das denn?

Man kann auf der Bühne vieles von dem weglassen, was einen sonst ziemlich plagt. Es tut beim Spielen nicht mehr wirklich weh, was ansonsten schmerzt.

Das Leben.

Ich würde präziser sagen: die landläufige Realität. Spielend lässt man das Öde weg, dafür bringt man anderes auf den Punkt.

Was?

Wesentliches, im besten Falle. Schillernd, wenn möglich.

Was ja auch so furchtbar peinigt, ist all das, was auf digitaler Ebene tagtäglich über uns kommt.

Ja. Aber das kommt nicht, das wird geschüttet. Du steigst in die S-Bahn und guckst Fernsehen, das ist eine ständig laufende Schleife dröger, an dir herumfressender Bilder, immer, überall. Du wirst, wenn du nicht aufpasst, fortwährend zerstreut. Das ist in grässlicher Art auch eine Art Klimawandel, in seiner Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen.

Die Lüge übt Herrschaft aus

Fake News.

Die sind inzwischen eine eigene Welt, die uns umzingelt, uns bedrängt und uns die Luft abdrückt. Die Lüge übt eine ganz eigene Herrschaft aus. Das macht unsicher und ratlos und misstrauisch. Es gibt ein böses Spiel mit der Welt, das ist leider kein Spiel – aber es gibt eben dieses Spiel in der Welt, und das hat was mit Freiheit zu tun, mit schöner Verantwortungslosigkeit. Wie sie von Kindern ausgeht. Wir stehen am Spielfeldrand und geben ungefragt Kommentare ab. Wir nehmen uns heraus, ständig zu rufen: „He, Leute, das stimmt doch alles nicht! Hier stimmt doch überhaupt nichts!“ Und keiner kann uns was.

Gib dem Menschen eine Maske, und er sagt die Wahrheit.

Im Spiel darfst du lügen, ohne dass es gleich eine Schelle gibt oder ein Krieg ausgelöst wird. Mit dem Problem schlage ich mich rum: dem Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit, von Realität und Fantasie. Ich bin interessiert – und verwirrt.

Das Künstlerthema.

Na ja (lacht), vielleicht ist das bei mir auch nur die soziale Mitgift, ich komme aus der Gastronomie und vom flachen Lande, von den einsamen Landstrichen, also auch vom Alkohol – aus einer Welt, da gehören Betäubungsstrategien zum Standard.

Wo nicht?

Anders kommst du nicht durch die Erträglichkeit.

Wozu spielen … Weil einem die echte Welt also zu viel ist.

Oder zu wenig. Oft ist sie gar nüscht. Im Spiel fallen die Moralfesseln. Ich bin kein Mörder, darf mir aber den Mörder auf den Leib holen; ich bin auf der Bühne jemand, auch wenn ich nur so tu, als wär ich dieser Jemand.

„Spielkinder“ (Jürgen Holtz)

„Spielkinder“ nannte Jürgen Holtz die Schauspieler. Glücksmomentesammler.

Davongekommene. Tänzer auf dem Hochseil zwischen Spaß und Schrecken.

Es ist eine leidige Erfahrung: Immer sollst du der Welt entsprechen, immer sollst du etwas Erlerntes für das Eigene halten. Andauernd und möglichst erfolgreich soll man so tun, als wär man der und der.

Is’ man nicht.

Man ist immer Wechselbalg

Eindeutig definierbare Menschen sind langweilig.

Gibt es sie denn? Ist man die und der? Ist man nicht eher ein Wechselbalg? Es ist doch erstaunlich, wie viele Meinungen in einem einzigen Menschen Platz haben. Sobald ich eine Meinung heftig vertrete, mobilisiere ich in mir sofort auch das Gegenteil.

Öffentliche Auskunft tendiert dazu, allgemein zu bleiben.

Technisch schwierig für mich! Zu viele Details bedrängen! Gegen das Allgemeine ist Kunst ein Gegenmittel.

Ist man verantwortlich für das, was man spielt, was man schreibt?

Es ist nicht wichtig, was ich spiele oder schreibe. Es ist nicht wichtig, was ich will. Entscheidend ist die Wirkung.

Die können Sie nicht beeinflussen. Man nennt das Aura.

Das sagen Sie, von außen. Ich sag, ’ne Nummer kleiner: Ich kann nüscht dafür (lacht).

Suche nach dem, was unerledigt ist

Aus der mechanischen Physik ist die schöne Auskunft bekannt, etwas habe Spiel. Das bedeutet: Bewegung ist möglich.

Was dich bewegt, damit kannst du spielen. Was aber erledigt ist, das bringt keine Bewegung mehr zustande, da gibt’s keine Bewegtheit mehr in dir. Also musst du nach dem suchen, was noch offen, was noch unerledigt ist. Her mit allem, was die Dinge bunter, grauer, dunkler, heller macht.

Auch dazu sagen manche: Lüge.

Nö, es ist Ermöglichung.

Gehen Sie auf die Bühne, weil Sie ein Ziel vor Augen sehen?

Eher gehe ich da hoch, weil ich keines vor Augen habe. Aber doch eins sehen will. Das treibt an.

Reiseführer Feeling B

Sie spielen nicht, weil Sie Einsichten haben, sondern weil Sie uneinsichtig sind?

Uneinsichtig … Kann man so sagen. Unerzogen. Darüber hat schon Feeling B in der DDR gesungen: „Wir wollen immer artig sein, denn nur so hat man uns gerne.“ Ein Reiseführer durch alle Zeiten ist das, auch durchs Heute. Bei der Erziehung lernt man, sich auf was anderes zu konzentrieren als auf sich selbst. Am Ende kommt hauptsächlich raus, dass man von dir sagen kann, du seist „gut erzogen“. Aber ist denn dies das Ding, um das es geht im Leben?

Die Lüge soll lächeln, der Schein soll glänzen, die Wunden tragen schicke Pflaster.

Und das Elend singt die lustigsten Lieder. Auch fragwürdig – mindestens.

Allerdings: Man kann die Welt letztlich nicht überwinden.

Erstens: Natürlich nicht! Zweitens: Doch! Mit Fantasie.

So lernt man aber auch den Verlust kennen.

Unser treuester Begleiter.

Was schützt davor?

Nur das Spiel mit diesem ganzen Zeug, gegen dieses ganze Zeug.

Jetzt schon das Schlusswort?

Vladimir Nabokov schreibt vom Jungen, der aus dem Neandertal gerannt kommt und atemlos berichtet, ein Wolf habe ihn verfolgt. Der Tag dieses Berichts, so der Schriftsteller, sei aber nicht jener Tag, an dem die Literatur in die Welt kam. Sie kam in die Welt, als ein Junge aus dem Neandertal gerannt kommt und atemlos berichtet, ein Wolf habe ihn verfolgt – und es war gelogen.

Sich auszudrücken, das hat die Menschheit mit Kreidebrocken gelernt, die nicht aus den Läden von MacPaper stammen. Spielen heißt, aus dem Sichtbaren in etwas Unsichtbares gelangen zu wollen. Ist das nicht ein schönes Schlusswort für unser Gespräch? Tschüs, Herr Schütt.

Tom Kühnel, Robert Schuster

Netter Versuch. Vergessen Sie’s. Beschreiben Sie Ihr anfängliches Berufsgemüt, etwa am Theater am Turm in Frankfurt am Main, Ende der neunziger Jahre.

Arbeit bei Tom Kühnel und Robert Schuster. Das war ein großes, offenes Heranreden ans mögliche Wesen einer Aufführung. Ich redete als Schauspieler bei den Proben mit, aber für eine vordere Stimme hatte ich zunächst viel zu viel Respekt – vor dem, was ich vom Theater wusste und kannte. Und ich kannte und wusste ’ne Menge, das kann ich schon so sagen.

Ein Widerspruch.

Stimmt. Gelesen hab ich wie blöde. Aber dieses Wissen, diese Kenntnis machten mich nicht unbedingt sicherer, im Gegenteil, der Respekt hemmte mich.

Traum von junger Truppe

Und was war’s, das Sie sicher machte?

Am Anfang nicht viel. Eigentlich null. Ich spürte, auf der Bühne funktioniert bei mir ein gewisser Bauernwitz, und über eine Art Grundmasse verfügte ich auch. Aber ein Vorkommnis war ich ganz und gar nicht. Natürlich hatte ich Brecht und Stanislawski gelesen. Schweres Gepäck, das würde mir Kraft geben, dachte ich, es war aber Gepäck, das lastete auch, es war das Gepäck, das ich vergessen musste beim Spiel. Kannst auf den Wiesen nicht Heu wenden mit dem Buch in der Hand. Und: Zu meinem Empfinden gehörte ein tiefer Zweifel, ob das alles überhaupt Sinn macht und ich darin glücklich werde. Im Kopf umzingelt von den Größen des deutschen Theaters. Herr Peymann, Herr Langhoff, auch diese Typen um Castorf, und dann gab es noch Flimm und Baumbauer. Hamburg, Köln, München – Galaxien sonst wo. Aber an der Schauspielschule war es anregend konkret und ermutigend geworden: Ostermeier, von Treskow, der verrückte Kühnel, der analytische Schuster. Ehrgeizige, tolle Jungs. Wär doch schön, sich mit denen zusammenzutun und gemeinsam was auszuhecken. Viel besser, als auf die Anfrage aus der Intendanz des Deutschen Theaters zu warten. Nicht, dass ich die Sehnsucht nach dorthin leugnete, aber woher sollte ich den Mumm nehmen, darauf zu hoffen.

Das Theater am Turm

Das Theater am Turm in Frankfurt wurde die große weite Spielwiese.

Wir waren dort eine richtig gute Truppe. Tom Kühnel und Robert Schuster, die anfangs noch als Regieduo inszenierten, Bernd Stegemann als Dramaturg, im Ensemble waren Christian Tschirner, Jenny Schily, Felix Goeser, Bettina Schneider, Eckhard Winkhaus, dazu Christian Weise und Suse Wächter als Puppenspieler, Jan Pappelbaum baute die Bühnen.

Zuvor das Schauspiel Frankfurt.

Ja, dort hatte Intendant Peter Eschberg den Mut, eine ganze Truppe zu engagieren, ein Riesenvertrauensvorschuss. Aber es war uns bewusst, dass diese gesamte Konstellation nicht lange halten würde, die Energien drängten naturgemäß auf den Markt, der Markt machte jedem und jeder seine verlockenden Angebote …

Das Theaterleben als Konkurrenzbetrieb.

Vom Sport her kannte ich den Wettkampfgedanken, du musst mithalten, du musst durchhalten, auch dagegenhalten. Musst stark sein. Musst gucken, was läuft. Andererseits war mein Narzissmus sehr begrenzt. Ja, klar, ich hatte ein Empfinden dafür, wer ich in etwa bin, was mir gefällt, was mir guttut, aber nie war ich auch nur in Ansätzen überzeugt, das Maß der Dinge zu sein. Welcher Dinge auch immer. Am Anfang meiner Theaterzeit dachte ich, mach dein Ding, kümmer dich nicht ums Drumrum, aber ich weiß noch, wir probten Tschechow, und mich drängte es zu fragen, rund um die Figur, ich warf irgendwie Steine ins Wasser und die Kreise interessierten mich, die sich immer weiter zogen, ich spürte meine Aufwändigkeit, ich merkte, wie umständlich ich auf andere wirken musste. Mich beschäftigte das: Warum hatte Tschechow Bock, genau so zu schreiben, wie er schrieb? Warum sind die Sätze so und so gebaut? Warum nicht so wie bei Dostojewski, der ein Serienautor war.

Ich stolperte, wo alle schon rannten

Jede Zeile brachte Kopeken.

Wieso diese Hysterie bei Schiller, diese Atemlosigkeit bei Kleist? Ja, ich bin durch Umständlichkeit zu den Dingen gekommen, somit auch zu etwas größerer Sicherheit, mit der Zeit. Zugleich kommst du ja durch Umständlichkeit leicht ins Hinterhertraben, du bist der Stolperer, wo alle schon rennen. Seltsamerweise wirkst du begriffsstutzig, wo du doch gerade was begreifen willst. Da half Sten Nadolnys Buch über die Entdeckung der Langsamkeit sehr.

Kommt einer zu sich, rütteln ihn die anderen: Komm endlich zu dir!

Lina sagt …

Ihre Frau Lina Beckmann.

Lina sagt: Mach es nicht so kompliziert! Stimmt wahrscheinlich, aber ich kann’s nicht anders. Es muss so sein, wie es ist – umständlich eben. Es gibt doch ständig Fragen, wenn du in den Tag hineinstiefelst. Welche Stimme hast du am heutigen Proben- oder Vorstellungstag, wie sehr quietschen die Gelenke. Es ist wie im Sport, die Muskeln müssen warm sein, wenn du das Parkett oder den Rasen oder die Laufstrecke betrittst. Wie kriegst du das heute alles hin? Worum es geht, sind diese ersten Peitschenhiebe auf den Brummkreisel. Wenn der dann in Schwung ist, dreht er sich von allein. Aber wie kommt er in Schwung? Von unterwegs kam ich vor kurzem zu einer Geheimagent-Vorstellung am Schauspielhaus. Auf der Autobahn nach Hamburg plötzlich ein Unfallstau. Hitze. In mir stieg die Nervosität, dann die Müdigkeit hoch. Die nahm ich mit ins Schauspielhaus. Dann war auch noch der Souffleur krank, Corona. An solchen Vorstellungstagen – und das zudem bei einem Castorf-Marathon – kannst du dir nur aufmunternd aufs Gemüt klopfen und sagen: Tja, fang irgendwo und irgendwie an. Ich hörte an diesem Abend die Texte wie neu, ich hörte mich wie einen Fremden, aber das Erstaunliche war: Alles ergab doch einen Sound.

Sound. Wichtiges Wort?