Huchting - Gofi Müller - E-Book

Huchting E-Book

Gofi Müller

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Beschreibung

12 Kurzgeschichten voller ungewöhnlicher Begegnungen Huchting ist ein Stadtteil am Rande Bremens und er hat einen denkbar schlechten Ruf. Wenn über eine Schlägerei oder Messerstecherei berichtet wird, heißt es des Öfteren: "Na klar, Huchting mal wieder." Auf den Straßen Huchtings spielen die Kurzgeschichten dieses Buches: Wir lernen Arno kennen, einen Diplompsychologen, der sich als Postbote durchschlägt und sich täglich auf den heimlichen Anblick seiner nackten Nachbarin von gegenüber freut. Heiner, der Wirt, in dessen Kneipe "Zichte" sich die markantesten Huchtinger Figuren treffen. Oder Sadiq, dessen größter Triumph es wird, einen Drachen für seine kleinen Söhne steigen zu lassen. Die Charaktere mit ihren unvollkommenen Biografien entstammen allen Gesellschaftsschichten und ziehen sofort in ihren Bann. Wie im echten Leben weiß man nie, was als Nächstes passiert. Gofi Müller erzählt auf unnachahmlich lakonische Weise von der Zerbrechlichkeit und Schönheit des kleinen Glücks.

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Inhalt

Gestrandet auf dem Weg nach Huchting

Von der Schwierigkeit, einen Schmetterling fliegen zu lassen

Schüsse in der Amsterdamer Straße

Die Frau von gegenüber

Der Sektenpriester

Nur dieses eine Mal!

Eine ganz normale Familie

Weißt du noch?

Drei Freunde up’n Swutsch

Wie aus dem Nichts

Das Duell

Weihnachten in Huchting

Gestrandet auf dem Weg nach Huchting

Der Zug kommt mit einem derartigen Ruck zum Stehen, dass ein Koffer aus der Gepäckablage rutscht und in den Gang knallt. Silke sitzt in Fahrtrichtung und wird von dem Bremsmanöver nicht nur aus dem Schlaf, sondern auch von ihrem Sitz gerissen. Der Mann, der ihr gegenüber sitzt, fängt sie auf und hält sie fest. Jetzt hilft er ihr behutsam, sich wieder hinzusetzen.

„Haben Sie sich wehgetan?“, fragt er. Er hat eine freundliche, für einen Mann recht hohe Stimme.

„Nein, nein. Und Sie?“

„Geht schon. Kein Problem.“

„Danke“, sagt Silke, als er sich wieder in seinen Sitz zurücklehnt. „Tut mir wirklich wahnsinnig leid.“

„Macht doch nichts! Sie können ja nichts dafür.“ Er reibt sich die Brust, vermutlich die Stelle, auf die sie geprallt ist.

„Sie haben sich ja doch wehgetan Das ist mir wirklich peinlich. Entschuldigung!“

„Nur ein blauer Fleck.“ Er lacht. „Aber Sie sind wirklich mit Volldampf angeflogen gekommen. Meine Güte! Ich konnte gar nicht so schnell reagieren.“

Silke stimmt in sein Lachen ein, obwohl sie es nicht lustig findet. Es ist eher ein Friedensangebot. Sie ist noch völlig verwirrt. An die Fenster klatschen große Regentropfen, während der Wind heult und mit unglaublicher Wucht am Waggon rüttelt. Die Landschaft verliert sich in Dunkelheit. Der Zug steht.

Sie sitzen im Regionalexpress nach Bremen, aber wo genau sie sich befinden, kann sie beim besten Willen nicht erkennen. Im Zugabteil beginnen die Fahrgäste, sich zunächst flüsternd und dann immer lauter dieselbe Frage zu stellen. Silke blickt auf die Uhr. Es ist zwanzig vor zehn.

„Wissen Sie, wo wir sind?“, fragt sie den Mann, der angestrengt aus dem Fenster schaut.

„Nee. Ich kenn mich hier aber auch nicht aus. In Oldenburg waren wir jedenfalls noch nicht. Sind Sie aus der Gegend?“ Er mag dreißig sein, vielleicht auch älter, trägt einen Vollbart, kurze Haare, einen sportlichen Anzug und ist, wie Silke feststellt, ziemlich muskulös.

„Nee“, sagt auch sie. „Ich hatte hier nur beruflich zu tun.“

„Echt?“ Er lächelt ein sympathisches Lächeln und zeigt dabei eine Zahnlücke. „Was machen Sie denn so?“

„Ich bin Kunsthistorikerin.“ Da ist es wieder, dieses Gefühl, das sie immer hat, wenn sie jemandem ihren Beruf verrät. Als würde sie ein Geheimnis ausplaudern, ein Hobby, das man nur mit guten Freundinnen teilt, um gemeinsam darüber zu lachen. „Und Sie?“, fragt sie dann ein wenig forsch.

„Ich auch.“ Er lacht erneut. „Also, nicht Kunsthistoriker. Aber beruflich unterwegs. Ich bin in der Gastronomie und hatte einen Termin bei einem Lieferanten. Langweilig! Das, was Sie machen, klingt interessanter.“

„Na ja, Sie wissen ja gar nicht, was ich mache.“ Silke ist verlegen, freut sich aber über sein Kompliment. „Ich beschäftige mich mit Kirchenkunst. Ich habe mir eine Kirche angeschaut.“

„Und? Hat sich die Reise gelohnt?“

„Geht so.“ Sie hebt die zarten Schultern und streicht die langen roten Locken aus dem Gesicht. „Irgendwie scheint es gar nicht weiterzugehen.“ In diesem Moment geht der Motor des Zuges aus, der die ganze Zeit über gebrummt hat. Mehrere der Fahrgäste seufzen.

„Scheint was Größeres zu sein“, sagt der Mann.

„Ob das was mit dem Sturm zu tun hat?“, fragt Silke.

„Kann sein. Das ging ja ab wie sonst was. Vielleicht sind ein paar Äste abgebrochen oder so.“

„Hoffentlich nicht! Glauben Sie, wir kommen heute noch nach Hause?“

„Na klar!“ Bei seinen letzten Worten blickt er aus dem Fenster und betrachtet ernst die schwankenden Äste eines Baumes, der ganz in der Nähe der Gleise steht.

Der Lautsprecher in der Decke des Abteils knackt, und eine männliche Stimme ertönt blechern. „Meine sehr verehrten Damen und Herren. Bitte beachten Sie folgende Durchsage: Aufgrund mehrerer umgestürzter Bäume können wir unsere Reise leider nicht fortsetzen. Es ist momentan nicht möglich, die Strecke freizuräumen. Wir werden deshalb zum letzten Bahnhof nach Augustfehn zurückfahren. Über alles Weitere halten wir Sie selbstverständlich auf dem Laufenden. Wir bitten vielmals um Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten.“

Die Durchsage ist von Stöhnen und ungläubigen Ausrufen der Fahrgäste begleitet worden. Jetzt springt der Motor wieder an, und langsam setzt sich die Bahn in entgegengesetzter Richtung in Bewegung.

Silkes Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sie starrt aus dem Fenster und denkt angestrengt nach. „Wenn das mit dem Zug nicht weitergeht, dann wird man uns doch sicher Busse schicken, oder?“

„Ja klar!“ Er versucht beruhigend zu klingen, wirkt aber angespannt. „Ich kann mich gar nicht an den letzten Bahnhof erinnern. Das war irgend so ein Kaff.“

„O Gott! Ich hatte mich so auf meinen Feierabend gefreut.“

„Was wollten Sie denn machen?“, fragt er, vielleicht um sie ein wenig abzulenken.

„Meine Lieblingsserie schauen und Eis essen.“ Sie seufzt. „Ich hoffe nur, dass wir überhaupt noch nach Hause kommen …“

„Na klar! Machen Sie sich mal keine Sorgen. Die können uns ja hier nicht übernachten lassen.“

Der Zug fährt langsam in den Bahnhof ein. Es ist eine kleine Ortschaft, die unter den peitschenden Regenmassen verloren und menschenleer wirkt. Als der Zug anhält, steht niemand auf. Alle verharren reglos und warten darauf, dass ihnen jemand sagt, wie es weitergehen soll.

Der Lautsprecher knackt erneut: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, aufgrund der extremen Wetterlage ist es leider nicht möglich, ich wiederhole, ist es leider nicht möglich, weiterzureisen, weder per Zug noch per Bus. Schienen und viele Straßen sind im Moment unpassierbar. Wir bedauern das außerordentlich! Sollten Sie jemanden kennen, der hier in der Nähe wohnt, können Sie sich vielleicht abholen lassen. Ansonsten bitten wir Sie darum, dass Sie sich ein Quartier für die Nacht suchen. Es gibt im Ort ein Hotel direkt am Bahnhof. Alle Auslagen werden gegen Vorlage der Belege selbstverständlich von unserem Unternehmen übernommen. Heben Sie unbedingt die Quittungen auf. Bitte verlassen Sie den Zug. Dankeschön.“

Erschrocken sieht Silke den Mann an. Für einen kurzen Moment scheint der nun doch die Fassung zu verlieren. Er schüttelt den Kopf, während er den Bahnsteig betrachtet. „Scheiße! So was hab ich ja noch nie erlebt.“ Dann gibt er sich einen Ruck und steht auf. „Egal. Soll ich Ihnen beim Tragen helfen?“

„Ich hab nur diese Tasche.“ Silke deutet auf ihre Aktentasche. „Ich habe überhaupt nichts dabei, keine Kulturtasche, gar nichts!“

„Im Hotel gibt es alles, was Sie brauchen“, sagt er. „Schauen wir doch einfach mal, wie die Lage hier ist. Ich bin übrigens Habib.“ Er hält ihr die Hand hin und versucht ein ermutigendes Lächeln.

„Silke“, sagt sie, als sie ihm die Hand gibt.

Zusammen mit den anderen Fahrgästen klettern sie nach draußen. Überall sieht man besorgte und auch wütende Gesichter, Kinder weinen, Männer schimpfen oder machen Witze und Frauen versuchen, sich gegenseitig zu beruhigen. Der Wind ist unangenehm feucht und reißt an Kleidern und Haaren.

Sie folgen der nicht sonderlich großen Schar die Treppen hinunter in einen Gang, der unter den Gleisen hindurch zu einer Halle führt. Die Neonreklamen der geschlossenen Geschäfte beleuchten den grauen Steinfußboden. Silke fröstelt und zieht ihren Mantel am Kragen zusammen. Dann geht es hinaus auf den Vorplatz. Direkt gegenüber steht ein Gasthof, ein unscheinbares, vermutlich weißes Gebäude, so genau ist das im gelblichen Licht der schwankenden Straßenlaternen nicht zu erkennen.

Mit nach vorne gebeugten Oberkörpern hasten die Menschen unter den immer noch dicht fallenden Tropfen hindurch. Jeder will möglichst schnell das Hotel erreichen. Einige wenige bleiben stehen, zünden sich Zigaretten an oder holen Handys hervor, um jemanden zu benachrichtigen.

Als Silke und Habib das Foyer erreichen, hat sich vor dem Tresen bereits eine Menschenschlange gebildet. Ein junger, überfordert wirkender Portier fertigt die unerwarteten Gäste ab, händigt Schlüssel aus und wendet sich dann sofort den nächsten zu.

Habib lässt eine aufgelöste, ältere Dame vor, die mit bekümmerter Miene den Schlüssel entgegennimmt und sich zögerlich auf die Suche nach ihrem Zimmer macht. Dann sind sie als Letzte an der Reihe.

„Sie gehören zusammen, hoffe ich?“, sagt der Portier, ohne von seinem Computerbildschirm aufzusehen.

„Nein, zwei Einzelzimmer, bitte“, sagt Habib.

„Es tut mir leid, aber wir haben nur noch ein Doppelzimmer. Alle anderen sind belegt.“

„Das geht nicht. Wir brauchen jeder ein Zimmer. Kucken Sie noch mal nach.“

„Da brauche ich nicht zu kucken“, sagt der junge Mann und macht ein bedauerndes Gesicht. „Ich sehe das hier vor mir. Es gibt nur noch dieses eine Zimmer. Tut mir leid. Aber mit so einem Ansturm konnten wir ja nicht rechnen.“

„Sie müssen doch noch irgendeine Kammer oder einen Abstellraum oder so was haben!“ Habib klingt wütend, während Silke dem Gespräch mit wachsender Beunruhigung lauscht. „Dann stecken Sie mich halt da rein. Die Dame und ich, wir kennen uns überhaupt nicht. Wir können uns doch kein Zimmer teilen! Lassen Sie mal sehen!“

Er macht Anstalten, sich mit dem Oberkörper auf den Tresen zu legen, um den Bildschirm besser betrachten zu können.

„Es tut mir leid, aber ich habe kein Zimmer!“ Auf der Oberlippe des Portiers bilden sich Schweißtropfen. Während er sich bemüht, energisch aufzutreten, betteln seine großen Kinderaugen Habib um Verständnis an. „Ich kann da nichts machen“, fügt er mit sich leicht überschlagender Stimme hinzu.

„Tja“, sagt Habib, dem allmählich klar wird, dass die Dinge sich wirklich so verhalten, wie der Mann behauptet, „dann … suche ich mir eben woanders ein Zimmer. Gibt es hier noch ein Hotel im Ort?“

„Nein. Sie könnten es in Apen versuchen, da gibt es …“

„Ich hab doch kein Auto, hiyarin oglu!“ schreit Habib. „Soll ich da etwa hinlaufen? Ich bin mit dem Zug hier, kapiert?“

„Ich kann doch auch nichts …“, setzt der Portier zu einer hilflosen Verteidigung an. Aber Silke unterbricht ihn.

„Ist doch egal! Wir können uns das Zimmer auch teilen.“

„Aber wir kennen uns doch gar nicht“, wehrt Habib ab. „Ich kann Ihnen doch nicht zumuten …“

„Aber wo wollen Sie denn sonst hin? Sie brauchen doch ein Bett!“

„Egal.“ Er sieht sich im mickrigen Foyer um. An einem Fenster stehen ein kleiner runder Tisch und zwei Sessel mit grünem Kunstlederbezug. „Ich kann mich auch hier hinsetzen und warten.“

„Bis morgen früh? Das ist doch Quatsch! Wir nehmen das Zimmer“, wendet sie sich an den Portier. Sie macht alle nötigen Angaben, die dieser sichtlich erleichtert einträgt, und nimmt den Schlüssel entgegen. „Kommen Sie! Wir kriegen die Nacht schon rum.“ Dann geht sie voraus zu den Treppen. Habib folgt ihr zögernd.

„Ich finde das wirklich nett von Ihnen“, sagt er auf dem Weg nach oben, „aber Sie müssen das nicht tun. Also, wenn Ihnen das unangenehm ist, dann verstehe ich das, dann fällt uns noch irgendwas anderes ein.“

„Ach, hören Sie schon auf.“ Sie bemüht sich, selbstsicher und überzeugend zu klingen. „Das ist doch auch nichts anderes als die Klassenfahrten früher, oder? Ich bitte Sie, wir sind doch erwachsene Menschen.“

„Ja, eben! Aber wenn Sie meinen …“

„Das ist es“, sagt Silke, bleibt vor einer Tür stehen und schließt sie auf. Das Zimmer ist schlicht. Vom winzigen Eingangsbereich geht eine Tür zum Badezimmer. Habib wirft einen Blick hinein, weil er hofft, in der Badewanne schlafen zu können, aber es gibt nur eine Duschkabine. Dann folgt das Zimmer mit zwei Sesseln, einem Schrank und einem Doppelbett. Das ist alles.

„Hübsch“, sagt Silke, stellt die Tasche ab und setzt sich auf das Bett. Habib nimmt auf einem der Sessel Platz. Dann betrachten sie das Zimmer und wissen nicht, was sie sagen sollen.

„Wollen wir uns noch ein wenig unterhalten?“, schlägt sie vor.

„Ja, gut. Ich bin sowieso noch nicht müde.“

„Ich auch nicht“, lügt Silke. Sie ist den ganzen Tag in Turnschuhen unterwegs gewesen. Jetzt zieht sie sie aus und stellt sie in die entlegenste Ecke des Raums. Dann setzt sie sich, diesmal im Schneidersitz, wieder aufs Bett und sieht ihn erwartungsvoll an.

Habib lacht nervös. „Entschuldigen Sie“, sagt er, „ich benehme mich wie ein Idiot.“ Er steht auf, zieht sein Sakko aus und stellt seine Schuhe neben Silkes. Haben Sie Lust auf ein Kartenspiel?“, fragt er sie vom Flur aus.

„Kommt drauf an. Woran dachten Sie denn?“

„Batak?“

„Ich dachte schon Strip Poker.“ Sie müssen lachen. „Warum nicht? Ich kenn das aber gar nicht. Bringen Sie es mir bei?“

„Na klar.“ Er greift in die Innentasche des Sakkos. „Ich hab das früher immer mit meinem Großvater gespielt. Ich komm mal zu Ihnen aufs Bett, ja?“ Und als er sich ihr im Schneidersitz gegenübersetzt, fragt er: „Wollen wir ‚Du‘ sagen?“

Nach zwei Stunden haben sie keine Lust mehr. Die Anstrengungen des Tages und die Aufregung fordern ihren Tribut, die Augen werden schwer.

„Ich glaub, ich muss schlafen“, sagt Habib.

„Ich auch. Aber ich genier mich ein bisschen.“

„Ach, jetzt also doch?“

„Na ja, ich hab so einen schrecklichen Liebestöter an …“

Erst versteht er nicht. Dann lacht er aus vollem Hals.

„Menno!“, ruft sie, muss dann aber auch lachen. „Das Programm für den Abend war eigentlich Eis essen und Fernsehen! Woher sollte ich denn wissen, dass der Tag so enden würde?“

„Ist doch nicht schlimm.“ Er wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ich hab auch nicht meinen schicksten Slip an.“

„Machen wir eigentlich jemanden eifersüchtig?“

„Im Prinzip schon.“

„Musst du denn nicht mal anrufen?“

„Sie ist es gewohnt, dass ich lange wegbleibe. Und du?“

„Ich lebe mit einer Katze zusammen. Sie kommt klar.“

Sie schweigen. „Ich geh mal ins Bad“, sagt sie dann.

„Okay.“ Er bleibt sitzen und lauscht den Geräuschen von nebenan, dem Plätschern des Urins in der Toilette, dem Rauschen des Wassers und dem Klappern eines Handtuchhalters.

Dann kommt sie zurück. „Du kannst.“

Als er wieder das Zimmer betritt, liegt sie bereits im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Auf dem einen Sessel liegen Jeans, Bluse, Strumpfhose und BH.

Er zieht sich schnell aus und schlüpft ebenfalls unter die Decke. „Schlaf gut“, sagt er. Dann löscht er das Licht.

Am nächsten Morgen wird sie von einem Kuss auf ihr Haar geweckt. Erst als sie die Augen öffnet, merkt sie, dass sie mit dem Kopf auf seiner Brust liegt. Hastig zieht sie sich auf ihre Seite des Bettes zurück. Durch die heftige Bewegung wacht er vollends auf.

„Entschuldigung!“, murmelt er. „Ich hab Sie verwechselt.“

„Mein Fehler. Gut geschlafen?“

„Ja, ganz okay. Und du?“

„Gut. Danke.“

Er steht auf und geht ins Bad. Als er zurückkommt, liegt sie noch da und lächelt ihn an. „Hoffen wir mal, dass wir heute nach Hause kommen.“

„Ja“, sagt er, weiß aber nicht, ob er es wirklich meint.

Ein Bus bringt sie schließlich zusammen mit den anderen Fahrgästen zum nächsten Bahnhof. Im Zug nach Bremen sitzen sie einander gegenüber und betrachten schweigend die von der Sonne beschienene Landschaft. Lediglich die übervollen Bäche und Gräben, die überfluteten Äcker und der eine oder andere umgestürzte Baum erinnern daran, dass gestern beinahe die Welt untergegangen wäre.

Am Hauptbahnhof nehmen sie die Linie 1 nach Huchting und sprechen die ganze Fahrt über kein Wort miteinander. Als sie schließlich am Roland-Center, dem Huchtinger Einkaufzentrum, aussteigen, nimmt er sie kurz in den Arm. „War schön, dich kennenzulernen.“

„Ja“, sagt sie, „pass auf dich auf.“

„Na klar.“ Er wendet sich ab und geht, ohne sich noch einmal umzuschauen, Richtung Kirchhuchtinger Landstraße.

Silke atmet tief ein. Dann lächelt sie. Heute Abend wird sie Eis essen und ihre Lieblingsserie schauen.

Von der Schwierigkeit, einen Schmetterling fliegen zu lassen

Sadiq entdeckt die Drachen bei ALDI. Sie liegen in den großen stählernen Körben in der Mitte der Filiale, zusammen mit all den anderen Sonder- und Spezialangeboten. Er muss sofort an seine Kindheit denken.

Nicht, dass das früher ein Hobby von ihm gewesen wäre. Im Gegenteil. In seinem ganzen Leben hat er noch keinen einzigen Drachen steigen lassen. Er hat es sich zwar oft gewünscht, aber nie in die Tat umgesetzt. Warum das so ist, weiß er selbst nicht genau. Vielleicht hat es mit einem Erlebnis aus seiner Kindheit zu tun.

Damals, als er mit seinen Eltern und Geschwistern noch als Asylbewerber in Gießen lebte, beobachtete er zusammen mit einem Freund einen größeren Jungen dabei, wie der einen Drachen steigen ließ. Es war ein Adler aus Plastik mit gespreizten Schwingen und einem angriffslustig geöffneten Schnabel. Sadiq bewunderte den großen Jungen, während der seinen Adler hoch über ihnen segeln und dabei die Nylonschnur lässig durch die Hände gleiten ließ.

„An deiner Stelle würde ich die Kurbel festhalten“, sagte sein Freund damals und deutete auf das rote Plastikteil, das sich klappernd auf dem Boden drehte. Der große Junge bedachte den Kommentar nur mit einem spöttischen Blick, bevor er wieder hinauf zum Adler sah.

Dann hörte die rote Kurbel auf, sich zu drehen, und im nächsten Moment segelte der Drachen davon.

„Siehste?“, sagte der Freund. Dann drehten sie sich um und stapften davon.

Sadiq war seine Bewunderung für den großen Jungen auf einmal peinlich. Ganz fest nahm er sich vor, dass ihm so etwas Lächerliches niemals passieren würde, wenn er einmal einen Drachen steigen lassen sollte.

Daran muss er denken, als er bei ALDI die Drachen betrachtet. Und an Denis und Noam, seine beiden Söhne. Er beschließt, dass die Zeit gekommen ist, gemeinsam ihren ersten Drachen steigen zu lassen. Für den siebenjährigen Denis wählt er einen schwarzen aus, auf den ein Totenkopf aufgenäht ist, und der fünfjährige Noam bekommt einen gelben, der aussieht wie ein Schmetterling.

„Kuckt mal, was ich hier habe“, kündigt Sadiq seinen Kauf begeistert an, kaum, dass er die Wohnung im Neuen Damm wieder betreten hat. Er kramt die noch zusammengefalteten Drachen aus den Taschen hervor und präsentiert sie stolz ihren Besitzern. Die Reaktion der beiden kleinen Autisten ist nicht gerade überschwänglich.

„Was ist das?“, piepst Noam. Denis dagegen sieht nur kurz von seiner Digitalkamera auf und fährt dann fort, den Schnappschuss einer Satellitenschüssel, den er neulich gemacht hat, farblich zu verändern.

„Das sind Drachen“, lässt Sadiq sich seinen Enthusiasmus nicht nehmen. „Weißt du, was man damit machen kann?“ Noam schüttelt den Kopf. „Die kann man fliegen lassen! Stark, ne?“

Wenigstens der Kleine hat jetzt Feuer gefangen. „Wollen wir die mal aufbauen?“, fragt er. Er findet alles gut, was man aufbauen kann: Ob es Landschaften aus Holzklötzchen sind, Häuser aus Lego, Rennbahnen aus Papier oder eben Drachen.

„Na klar!“, sagt Sadiq. „Willst du mitmachen, Denis?“

„Nein“, sagt der Große. Im Gegensatz zu seinem Bruder findet er alles, was mit Bauen zu tun hat, doof.