Hugo - Wilfried Dieterichs - E-Book

Hugo E-Book

Wilfried Dieterichs

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Beschreibung

Diese Biografie ist mehr als ein Rückblick in die glorreiche Ära des deutschen Motorrad-Rennsports der frühen Trümmerjahre nach 1945. Verbunden mit vielen bekannten Namen und interessanten Persönlichkeiten. Sie dokumentiert auch eine verhängnisvolle Jagd nach Orden, Ehrenzeichen und Medaillen. Hugo Schmitz startete seine ungewöhnliche Karriere mit einer aus Hinterlassenschaften des Krieges selbstgebauten Maschine. Seit 1948 gehörte er zur ersten »Liga« der Motorrad-Asse. Zeitzeugen beschreiben ihn als »verrückten Sonnyboy «, der auch Frauen in Scharen an die Rennpisten lockte. Schließlich wurde er Vertrags- und Testfahrer für Horex, dann erfolgreicher Fachhändler der damals führenden Motorradmarke. Seine Generalvertretung war Anlaufstelle für Motorsportbegeisterte aus dem gesamten Bundesgebiet und den Nachbarstaaten. Man schätzte ihn als verlässlichen »Sonderausstatter« für Exklusivmodelle. Schmitz war aber auch ein eigenwilliger »Paradiesvogel«, der seine Kunden mit Texaner-Hut, Baumwollhemd und Cowboystiefeln begrüßte und immer wieder durch spektakuläre Aktionen auffiel. Freihändige Fahrten, stehend auf dem Sattel gehörten zu seinen Standard-Auftritten, Polizeiprotokolle belegen die gefährlichen Eingriffe in den Straßenverkehr. Tollkühn blieb er: 2766 Kilometer in knapp 24 Stunden, dieser seit September 1968 ungebrochene Langstrecken-Rekord mit Beifahrerin erinnert an den risikofreudigen Außenseiter. Nicht nur auf Motorrädern war er sattelfest, auch als kühner Reiter. Das hatte er in Russland mit erbeuteten Kosakenpferden gelernt. Mit diesem Buch entstand eine kurvenreiche Lebensgeschichte, die mit einer unruhigen Kindheit und den dann folgenden finsteren Zeiten beginnt, durch eine turbulente Nachkriegszeit führt und in der selbstgewählten Einsamkeit einer nordspanischen Küstenregion tragisch endet. Diese Biografie ist mehr als ein Rückblick in die glorreiche Ära des deutschen Motorrad-Rennsports der frühen Trümmerjahre nach 1945. Verbunden mit vielen bekannten Namen und interessanten Persönlichkeiten. Sie dokumentiert auch eine verhängnisvolle Jagd nach Orden, Ehrenzeichen und Medaillen. Hugo Schmitz startete seine ungewöhnliche Karriere mit einer aus Hinterlassenschaften des Krieges selbstgebauten Maschine. Seit 1948 gehörte er zur ersten »Liga« der Motorrad-Asse. Zeitzeugen beschreiben ihn als »verrückten Sonnyboy «, der auch Frauen in Scharen an die Rennpisten lockte. Schließlich wurde er Vertrags- und Testfahrer für Horex, dann erfolgreicher Fachhändler der damals führenden Motorradmarke. Seine Generalvertretung war Anlaufstelle für Motorsportbegeisterte aus dem gesamten Bundesgebiet und den Nachbarstaaten. Man schätzte ihn als verlässlichen »Sonderausstatter« für Exklusivmodelle. Schmitz war aber auch ein eigenwilliger »Paradiesvogel«, der seine Kunden mit Texaner-Hut, Baumwollhemd und Cowboystiefeln begrüßte und immer wieder durch spektakuläre Aktionen auffiel. Freihändige Fahrten, stehend auf dem Sattel gehörten zu seinen Standard-Auftritten, Polizeiprotokolle belegen die gefährlichen Eingriffe in den Straßenverkehr. Tollkühn blieb er: 2766 Kilometer in knapp 24 Stunden, dieser seit September 1968 ungebrochene Langstrecken-Rekord mit Beifahrerin erinnert an den risikofreudigen Außenseiter. Nicht nur auf Motorrädern war er sattelfest, auch als kühner Reiter. Das hatte er in Russland mit erbeuteten Kosakenpferden gelernt. Mit diesem Buch entstand eine kurvenreiche Lebensgeschichte, die mit einer unruhigen Kindheit und den dann folgenden finsteren Zeiten beginnt, durch eine turbulente Nachkriegszeit führt und in der selbstgewählten Einsamkeit einer nordspanischen Küstenregion tragisch endet.

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© 2023 – e-book-AusgabeRHEIN-MOSEL-VERLAGZell/MoselBrandenburg 17, D-56856 Zell/MoselTel 06542/5151 Fax 06542/61158Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-89801-935-4Ausstattung: Stefanie ThurTitel: Hugo Schmitz ca. 1969 (Privatarchiv Schmitz/Jachmich)

Auf rastloser Jagd nach Orden, Ehrenzeichen und Medaillen

HUGO

Die wilden Jahre einer Biker- und Rennsportlegende

Eine Dokumentation von Wilfried Dieterichs

Rhein-Mosel-Verlag

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser!

Hugo Schmitz ist kein Romanheld, ihn hat es tatsächlich gegeben. Dieses Buch berichtet über das besonders facettenreiche und nicht immer so geradlinige Leben eines Rennfahrers (1921 – 1989) und Bikers der ersten Stunde. Es erinnert an die frühen Jahre der Zweirad-Abenteuer zur Vorkriegszeit und an die glorreiche Ära des deutschen Motorradsports nach 1945, verbunden mit vielen bekannten Namen und interessanten Persönlichkeiten. Der ungewöhnliche Lebenslauf dokumentiert aber auch eine verhängnisvolle Jagd nach Orden, Ehrenzeichen und Medaillen.

Die Biografie beginnt in den frühen »Zwanzigern« des vergangenen Jahrhunderts mit einer turbulenten Jugend in unruhigen Zeiten der Weimarer Republik und den verführerischen Perspektiven während der Hitler-Diktatur. Verlockungen von Ehre, Ruhm und Heldentum führen durch die finstersten Kriegsjahre, die Schmitz unter anderem als Freiwilliger der berüchtigten SS-Totenkopfdivision mit wenigen Kameraden überstanden und schließlich in amerikanischer Gefangenschaft geläutert abgeschlossen hat.

Es geht aber auch um einen Mann mit bemerkenswerter Nachkriegskarriere, der seine erste Maschine 1946 im Eigenbau konstruierte, damit bereits wenige Monate später ganz große Erfolge hatte – und schließlich in der Rekordzeit von zwei Monaten das Patent zum Lizenzfahrer erwarb. Schmitz war ein Draufgänger, der sogar die Frauen in Scharen an die Rennpisten lockte. Seit 1948 gehörte der damals 27-jährige zur »ersten Liga« der Motorrad-Asse mit Heiner Fleischmann, »Schorsch« Meier, H. P. Müller, Harald Oelerich, Fritz Kläger, Siegfried Fuß, Friedrich Hillebrand, Roland Schnell, Friedel Schön, Hermann Gablenz, Willi Jäger, Hein Thorn Prikker oder Carl Döring. Es war die Zeit, als Motorradrennen zum populärsten Volkssport wurden, die dröhnenden Maschinen ein breites Publikum faszinierten, damit die höchsten Zuschauerzahlen erreichten – und von Fußball bis zur Weltmeisterschaft 1954 nur noch am Rande die Rede war. In einem weiteren Kapitel dieses Buches (Die Chronik einer Rennfahrer-Karriere) sind die Rennbeteiligungen des Protagonisten und seine damit verbundenen Siege in zeitlicher Abfolge detailliert aufgelistet.

Hugo Schmitz erfand den der Körperhaltung des Fahrers angepassten »Horex-Tank«, im Volksmund nur noch »Büffeltank« genannt. Diese seit den 50er Jahren unverzichtbare Verbesserung der Zweiradtechnik haben fast alle Motorradmarkenbis heute übernommen. Eine Idee, die der Urheber wie weitere seiner Innovationen nie patentieren ließ, die ihm aber ein Vermögen gebracht hätten. Als Test- und Vertragsfahrer für den damals führenden Motorradproduzenten Horex holte er viele Siege. Damit schuf er sich die Basis für ein erfolgreiches Unternehmen mit Werkstätten, Tankstelle, Fahrschulen und namhaften Werksvertretungen. Seine Horex-Generalvertretung in Bad Ems war die gefragte Anlaufstelle für Motorsportbegeisterte aus dem gesamten Bundesgebiet und aus den Nachbarstaaten. Sie schätzten seine Ideen und Verbesserungsvorschläge für Exklusivmodelle und ihn als verlässlichen »Sonderausstatter«.

Man kannte ihn als unerbittlichen Perfektionisten und brillanten Organisator, der nichts dem Zufall überlies. Aber er war auch ein eigenwilliger Selbstdarsteller, der das Kostümieren liebte und seine Tankstellenkunden das ganze Jahr über mit Texaner-Hut, Baumwollhemd und Cowboystiefeln begrüßte. Sein rheinischer Frohsinn machte ihn zu einem der populärsten Karnevalsprinzen der frühen 50er Jahre.

So widersprüchlich wie die belegbaren Fakten zur Person, sind die Charakterbeschreibungen vieler Zeitzeugen. »Hugo war ein großes Kind«, sagen Freunde und Mitarbeiter, die sich an zahlreiche Eskapaden erinnern können. Freihändige Fahrten, stehend auf dem Sattel, gehörten zu seinen Standard-Auftritten, Polizeiprotokolle belegen die tollkühnen Eingriffe in den öffentlichen Straßenverkehr. Nicht nur auf Motorrädern war er in seinem Element, auch als kühner Reiter, der den temperamentvollsten Tieren unerschrocken und gelassen begegnete. Das hatte er schon in Russland beim Umgang mit erbeuteten Kosakenpferden bewiesen. Dem motorsportlichen Ehrgeiz ordnete er aber alles unter: 1969, vor dem endgültigen Abschluss seiner Fahrerkarriere, schaffte der dann 48-jährige beim Langstreckenwettbewerb Hamburg-Wien-Hamburg auf einer Moto-Guzzi mit Beifahrerin die 2766 Kilometer in knapp 24 Stunden – ein bisher ungebrochener Langstrecken-Rekord.

Um das rastlose Leben und den Werdegang von Hugo Schmitz zu verstehen, muss man detailliert die vielschichtigen politischen Umstände, Ereignisse und Einflüsse betrachten. Nach intensiven Recherchen entstand diese unglaubliche, aber wahre Geschichte einer kurvenreichen Karriere der deutschen Nachkriegszeit, die 1921 beginnt und 1989 in der selbstgewählten Einsamkeit im Nordosten Spaniens tragisch endet. Eine spannende Biografie mit zeitgeschichtlich begleitenden und dokumentierten Ereignissen im Umfeld des Protagonisten.

Der Vater plant eine Akademiker-Karriere, sein Sohn träumt von Tempo und Motoren

»Gut gebrüllt«, könnte der stolze Vater gesagt haben, als er sein erstes Kind in den Armen hält, denn dieses Leben beginnt schon in einem aufregendem Tempo – und nach dem obligatorischen »Befreiungsklaps« der Geburtshelferin mit kräftigem Geschrei. So ein Auftakt im dritten Jahr der Weimarer Republik verspricht einen Stammhalter mit Stärke, Willenskraft und Lebensmut: Hugo, Hermann Egon Schmitz kommt am 5. April 1921, vormittags gegen zehn Uhr zuhause in Duisburg-Ruhrort, Landwehrstraße 72 – 74 zur Welt1, eine gutbürgerliche Gegend im rauen Umfeld von Europas größtem Binnenhafen.Dort führen seine Eltern seit dem 1. November 1919 die bisher schon beliebte »Gastwirtschaft Henrich«. Mit dem Ende des Krieges und nach »acht Jahren unter Waffen«hat der ehemalige Berufssoldat und Kürassier Hermann Schmitz2 das traditionelle Haus im Ruhrorter Hafenviertel gekauft und sich um die Übernahme der Schank-Konzession beworben3. Etwa 1200 Meter entfernt, liegt der Werftbereich für die dort anlaufenden Schiffe. Sein Sohn Hugo wird die Anlage später noch oft aufsuchen. Der Lärm der Niethämmer, das Kreischen der Eisensägen und die sprühenden Funken beim Schweißen der Schiffsteile, das alles hinterlässt bei ihm immer wieder faszinierende Eindrücke.

Es ist ein kühler Dienstag, kaum über acht Grad, leicht windig, graue Regenwolken liegen über dem smogbelasteten »Revier«. Die »Hausgeburt« des ersten Kindes von Mathilde und Hermann Schmitz verläuft überraschend und schnell. Und so gerne er sich später auf zwei Rädern fortbewegen wird, das Laufen lernt der stets neugierige Knirps besonders früh. Ein typischer Junge des Ruhrpotts wird aus ihm werden, ein ruppiger Draufgänger, ein Macho – aber geradlinig und durchaus sensibel. Ähnlich jener fiktiven Figur Horst Schimanski, die 60 Jahre später mit Götz George als Kriminalkommissar in Duisburg-Ruhrort den Titelhelden der erfolgreichen ARD-»Tatort«-Serie verkörpert. Nur mit der vulgären Wortwahl bei verbalen Auseinandersetzungen wird der in diesem Umfeld aufwachsende Schmitz etwas zurückhaltender sein, und introvertiert ist er auch nicht. Im Gegensatz zu »Schimmi« scheut er im späteren Leben nie das Rampenlicht, doch er kann genauso stur, aufbrausend und ungeduldig werden. Die Charakterbeschreibung seines Sternzeichens Widder sagt über ihn und seine Zukunft schon sehr viel aus, denn nach den Prognosen der Astrologen wird er ein Mensch der Tat, »ein Eroberer, abenteuerlustig, siegessicher, spontan und zu großen Leistungen fähig, stets mit dem Drang im Mittelpunkt zu stehen« – aber das alles bei »geringer Anpassungsbereitschaft«.

Hugo ist in den frühen Zwanzigern kein Modename, aber dennoch weit verbreitet und germanischen Ursprungs. Abgeleitet von »hugu«, was sinngemäß – und auch zutreffend – Verstand, Seele, Geist bedeutet. Wie der kleine Schmitz zu seinem Namen gekommen ist, das bleibt unbeantwortet. Vielleicht ist Hugo Stinnes4 das große Vorbild, ein berühmter Großindustrieller, der aus Duisburg-Ruhrort eine der größten deutschen Binnen- und Seereedereien lenkt und zu den einflussreichsten Männern der Weimarer Republik zählt. Noch heute ist im nördlichen Rheinland der auf ihn zurückgehende Satz »das walte Hugo« verbreitet – was so viel wie »nur Gott allein entscheidet« bedeutet.

Hermann Schmitz führt das Lokal »Henrich« in der Duisburger Landwehrstraße 72/74 bis August 1921. Aber der schützenswerte Nachwuchs, das ungesunde Industrieklima, die steigende Arbeitslosigkeit mit zunehmender Verarmung in dieser Region, und der sinkende Umsatz in seinem Lokal, sind nun treibende Gründe für den schon lange geplanten Ortswechsel. Die geänderten politischen Verhältnisse tragen dazu bei, denn seit März 1921 besetzen französische und belgische Truppen das zur entmilitarisierten Zone erklärte rheinisch-westfälische Hoheitsgebiet. Die Familie zieht fünf Monate später nach Düsseldorf-Derendorf, zunächst zur Schwiegermutter in die Roßstraße 36, doch auch hier erleben sie unruhige Besatzungszeiten.

Die Geburtsurkunde von Hugo Schmitz bestätigt, dass er am 5. April 1921 in der Wohnung seiner Eltern (Duisburg-Ruhrort, Landwehrstraße 72-74) zur Welt gekommen ist.

Ein unruhiges Leben in »offener Ehe«

Insider berichten von einer »offenen Ehe«, in der sich Hermann Schmitz, besonders viele Freiheiten nimmt. Er war sehr umtriebig, viel unterwegs, und er trank auch gerne mal einen über den Durst, heißt es in den Erinnerungen und Überlieferungen alter Derendorfer Zeitzeugen. Hugos Vater, der schon vor 1919 in der »Rheinmetropole« gemeldet ist, führt ein nachweisbar bewegtes Leben. »Der Lange«, so wird er im persönlichen Umfeld aufgrund seiner Statur genannt, pendelt immer wieder zwischen Düsseldorf und Duisburg. Getrieben von innerer Unruhe, die später auch bei seinem Sohn Hugo erkennbar wird. Mehrfach wechselt der Senior kurzfristig Wohnorte, Kauf- und Pachtverträge, das belegen die amtlichen Beurkundungen für verschiedene Lokal-Konzessionen5. In Duisburg zieht es ihn immer wieder in die vertraute Umgebung von Europas größtem Binnenhafen zurück (Harmoniestraße, Fabrikstraße, Friedrichsplatz, Hammacher-Platz). Doch nur in Düsseldorf sieht er seine gastronomische Zukunft, der nördliche Innenstadtbereich Derendorf bleibt bevorzugter Standort seiner gewerblichen Tätigkeiten. Im Februar 1934, wenige Tage nach seinem 41. Geburtstag, wird der rastlose Familienvater dort endgültig bodenständig. In der Kanonierstraße 14 übernimmt er von der Hannen-Brauerei die gut eingeführte und auf Altbier spezialisierte Gaststätte »Mostert«6.

Dieser Stadtteil ist zwar nicht die mondäne Heimat der Schönen und Reichen, und auch nicht die bevorzugte Adresse für Künstler und Aristokraten. Abgesehen von einigen weniger begüterten Malern, Schriftstellern, Musikern und Poeten, die sich in diesem Industrie- und Kasernenviertel wegen der günstigeren Mieten niedergelassen haben. Für die neu zugezogenen Wirtsleute ist es der ideale Ort, denn in dem vierstöckigen Gebäude gegenüber dem Frankenplatz, eine parkähnliche Ruhezone des Viertels, leben sie mit acht Familien in gutem Einvernehmen. Besonders eng sind die Beziehungen zur Familie des Schneidermeisters Emil Deucker, Wohnungsnachbarn im 1. Stock, er ist häufiger Gast im Lokal, 1940 wird Frau Schmitz die Patentante seiner Nichte Mathilde.

Derendorf7 ist mit seinen damals 53.376 Einwohnern8 ein wichtiger Produktionsstandort der rheinischen Wohlstandsmetropole Düsseldorf, vom städtischen Verkehrsamt als »Residenz der westdeutschen Industrie und Modestadt des Westens«, später auch als »Schreibtisch des Ruhrgebiets« gepriesen. In diesem bunt gemischten und traditionell vom Maschinenbau und der Waffenherstellung dominierten Stadtviertel des klassischen Bürgertums leben Arbeiter, Händler, Angestellte und Beamte in friedlicher Nachbarschaft. Hugo wächst dort mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Karl-Heinz in einem nationalkonservativ und dann nationalsozialistisch orientierten Elternhaus heran. Die Familie ist geprägt durch die Ereignisse der Nachkriegsjahre, auch sie glaubt mit Hitlers Machtergreifung an eine bessere Zukunft. Der schon bald etablierte Gastwirt Hermann Schmitz wird wie Millionen irregeleitete Deutsche bekennendes Mitglied der NSDAP, gemeldet in der Ortsgruppe Derendorf Nord. Selten sieht man ihn ohne »Bonbon«, das Parteiabzeichen steckt fast immer am Revers.

Der lange Marsch durch die wilden 20er Jahre

Bis dahin ist es jedoch ein hürdenreicher Weg durch krisengeplagte Zeiten, mit Höhen und Tiefen im Elternhaus. Schmitz junior erlebt seine von den Existenzproblemen des Vaters belasteten Kinder- und Jugendjahre im Umfeld des Viertels zwischen Kanonier-, Füsilier- und Frankenstraße mit dem gegenüber liegenden Frankenplatz. Ein traditioneller und beliebter Ort für Jung und Alt. »Der runde Tisch von Derendorf« heißt dieses Gelände im Volksmund, das großflächige Areal mit den schattenspendenden Kastanienbäumen ist eine der wenigen Grünanlagen der durch Staub, Ruß und undefinierbare Gerüche belasteten Industrie- und Kasernenlandschaft. Ein Ruhepol für Rentner und Pensionäre, die Informationsbörse und Gerüchteküche der Schichtarbeiter und Erwerbslosen, Treffpunkt für politische Debatten und Versammlungen. Und die Jugend lauscht, was die Alten zu sagen haben. Immer wieder geht es dabei auch um den verlorenen Krieg und um die durch Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg propagierte »Dolchstoßlegende«9, die aber nur eine Dolchstoßlüge ist. Hier agitieren Rechtskonservative, Kommunisten und Sozialdemokraten, Nazis schicken immer öfter ihre Störtrupps, nicht selten kommt es dabei zu Schlägereien zwischen den verfeindeten Gruppierungen. Friedlich bleiben nur die Duelle der Schachspieler, stundenlang von interessierten Zuschauern begleitet. Die militärisch klingenden Namen der Anliegerstraßen im Bereich des Frankenplatzes erinnern an das nun von fremden Truppen besetzte nahe Garnisonsviertel mit seinen weitläufigen Kasernenkomplexen10.

Es sind die harten 20er Jahre, die auch mit der späteren wirtschaftlichen Erholung noch nicht für jeden und überall die »Goldenen« sind. Hyperinflation, hohe Arbeitslosigkeit, Hunger, mangelhafte Versorgung bestimmen den Alltag, besonders seit der Jahreswende 1922/23. Die Null-Reihen auf den Banknoten werden immer länger, die Geschwindigkeit der Entwertung nimmt rasant zu. Bei der Düsseldorfer Wertpapierdruckerei Bagel werden Tag und Nacht tonnenweise immer wieder neue Ausgaben der Notwährung hergestellt, mit dem 100-Billionen-Schein ist die Rekordsumme erreicht. Wer mit abgezähltem Geld zum Kaufmann eilt, muss dort bereits das Doppelte erstatten. Auch bei Hugos Vater, zu jener Zeit noch Schankwirt in der Roßstraße, wird mit gebündelten Scheinen bezahlt, das Geld im Waschkorb hinter der Theke kann er nicht so schnell in neue Ware umsetzen, ohne dass es wieder mal entwertet ist. Im Februar 1923 kostet bei ihm ein Glas Bier 600 Mark, im Juli 1923, als sein zweiter Sohn Karl-Heinz zur Welt kommt, bereits 5500 Mark, im darauffolgenden November schließlich 52 Milliarden Mark. Für die traditionellen Soleier im Glas auf der Theke muss der Gast in diesen chaotischen Tagen bis zu 200 Milliarden Mark hinblättern. Erst am 15. November 1923 endet die Zeit des Inflationsgeldes, die Scheine mit den astronomischen Summen werden für die kommenden neun Monate durch die Rentenmark ersetzt – aus einer Billion wird eine Mark, und ab 30. August 1924 ist mit Einführung der neuen »goldgedeckten« Reichsmark endlich ein leichter wirtschaftlicher Aufschwung spürbar.

Turbulente Kinderjahre im Vorstadtmilieu

Die Jüngeren leiden weniger unter den zeitbedingten Entbehrungen, denn sie kennen es noch nicht anders. Ihnen bleibt trotz allem Elend ein relativ unbeschwerter Alltag im Freien. Die noch verkehrsarmen Straßen gehören der Jugend, sie vergnügt sich bei den Spielen jener Zeit: Verstecken, Fangen, Fußball mit Konservendosen, Räuber und Gendarm, Reifenschlagen und Rollschuhlaufen. Buben ärgern Mädchen beim Seilhüpfen, gemeinsam wetteifern sie beim Murmel- oder Klickerspiel mit den bunten Lehm- und Glaskugeln. Die Kinder der 20er und 30er Jahre toben im Sommer barfuß durch die Straßen, kein Bus bringt sie zur Schule, ohne Murren laufen viele von ihnen täglich mehrere Kilometer zum Unterricht.

1927 wird Hugo Schmitz eingeschult, mit Griffel und Schiefertafel beginnen die ersten Schreibübungen. Strenge Lehrer achten auf Ordnung und Disziplin, Befehl und absoluter Gehorsam bestimmen den Unterricht. Wer gegen die üblichen Regeln verstößt, dem droht der allgegenwärtige Rohrstock. Kein Gesetz verbietet die Züchtigung, strenge Bestrafung gehört zum Bildungsauftrag. Nach vier Jahren Volksschule wechselt er auf ein Düsseldorfer Real-Gymnasium, vermutlich in die etwa tausend Meter entfernte Städtische Oberrealschule an der Derendorfer Scharnhorststraße11. Sein Vater hat ihn zu »Höherem« bestimmt, ein Akademiker, vielleicht ein Rechtsanwalt soll er werden. Kein Schankwirt hinter dem Tresen eines rauchgeschwängerten Gasthauses, auch wenn es in diesem Gewerbe kaum besser florieren kann als in seiner gut besuchten Vorstadtkneipe. Bis zur Tertia scheint das hochgesteckte Ziel noch realistisch, das Leben des Sohnes verläuft planmäßig, die schulischen Leistungen sind anfangs absolut zufriedenstellend.

Derendorf ist für die Jugend ein großer »Abenteuerspielplatz«, auf dem es viel zu bestaunen gibt: das lebhafte Treiben rund um den Milchhof an der Yorckstraße und an den vier Brauereien (Schlösser, Dieterich, Hirschbrauerei, Schwabenbräu) mit dem dazu gehörenden Lärm der Lastwagenkolonnen und Pferdegespanne. Hugo Schmitz ist ein aufgeweckter Junge, kein Stubenhocker, mit Gleichaltrigen tobt er durch die Straßen und Plätze der Nachbarschaft, immer interessiert an neuen Erkenntnissen. Es sind Tagesabläufe nach den kindlichen Bedürfnissen jener Zeit: harmlose Gruppenspiele im Viertel, aber auch waghalsige Kletterakte in den Parkbäumen und riskante Entdeckungstouren zum benachbarten Güterbahnhof. Vielbeachtete Ausnahmeereignisse im veranstaltungsarmen Jahresablauf sind die Kirmes- und Schützenfeste, die turbulenten Karnevalstage, die Teilnahme an einem der traditionellen Laternenumzüge zum Martinstag, oder wenn mal ein Zirkus in die Stadt kommt.

Noch gehört Düsseldorf zur französischen Zone. Seit dem 8. März 1921 flattert überall unübersehbar die Trikolore, und die Einheimischen erleben ständig neue Schikanen und Repressalien. Die Stadt war während des Kaiserreichs zeitweise »Europas stärkste Garnison«12 – und sie ist es vorübergehend auch zur folgenden Besatzungszeit. Schon in der näheren Umgebung von Hugos Elternhaus bekommt man erste Eindrücke vom fremden Soldatenleben, denn bis 1925 hallen von den benachbarten Kasernenhöfen die Kommandos und Marschlieder. Kolonialtruppen aus Marokko und dem Senegal sind hier stationiert, viele Einheimische bezeichnen sie als »schwarze Schmach«. Nur wenige wissen, dass auch diese Afrikaner nach Unabhängigkeit streben und bereits in Kompaniestärken meutern.

Die Schornsteine rauchen wieder

Erst Mitte der 20er Jahre beginnt im besetzten Rheinland eine Zeit politischer Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwungs. Düsseldorf erholt sich zusehends von den Folgen der Nachkriegsjahre, auch im katholisch geprägten Stadtteil Derendorf sind spürbare Verbesserungen erkennbar. Die Schornsteine rauchen, es gibt wieder Arbeit, viele Bürger kommen endlich zu bescheidenen aber planbaren Einkünften. Noch produzieren die ehemaligen Rüstungsschmieden Eisenbahnwaggons und Lokomotiven, aber unter Umgehung des Versailler Vertrags auch als Traktoren und Landwirtschaftsmaschinen getarntes und für geheime deutsche Erprobungsstellen in der Sowjetunion bestimmtes Kriegsgerät.13

Auch Hugos Vater spürt die Konjunkturbelebung, denn es wird in seinem Lokal wieder mehr getrunken und mehr verzehrt. Man zahlt nun vorwiegend in bar und lässt weniger anschreiben. Bis zum fatalen New Yorker Börsencrash, der auch bei Hermann Schmitz im Gasthaus an der Roßstraße zu heftigen Diskussionen führt: Am 24. Oktober 1929 löst eine finanzielle Schockwelle das Chaos an der Wall Street aus, Anleger und Unternehmen verkaufen in Panik ihre Aktien, egal zu welchem Preis, denn der Aktienindex Dow Jones sackt immer weiter ab. Die Nachricht der Ereignisse an diesem Donnerstag kommt aber erst am folgenden Tag in Europa an, seitdem spricht man vom »Schwarzen Freitag«. Rund um den Globus brechen die Aktienmärkte zusammen, es beginnt die Weltwirtschaftskrise, Anleger sind plötzlich hoch verschuldet, viele Firmen gehen bankrott, die Arbeitslosigkeit steigt rapide, 2,9 Millionen Deutsche sind bereits zum Jahresende 1929 ohne Beschäftigung, 1930 werden es 3,07 Millionen sein, 1931 schon 4,5 Millionen und 1932 ist jeder Dritte erwerbslos (5,6 Millionen)14. Schlechte Zeiten für das Gastgewerbe, auch Hugos Vater muss sein Lokal schließen und aus finanziellen Gründen in die 500 Meter entfernte Blücherstraße 22 umziehen.

Wieder folgen Elend und Entbehrung, der tägliche Kampf ums Überleben vor den Suppenküchen, und mehrfach traurige Weihnachtstage in beengten Wohnverhältnissen. Mit Gelegenheitsarbeiten und als freiberuflicher Handelsvertreter versucht der »Kaufmann Hermann Schmitz«15 bei kargen Einkünften über die Runden zu kommen. Es wird vier Jahre dauern, bis die Weltwirtschaftskrise langsam abflaut und auch für ihn und seine Familie ein neuer Aufschwung sichtbar wird. Der beginnt schon wenige Monate vor Hitlers Machtergreifung und seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Auch Schmitz wählt nun die NSDAP – und er hofft wie Millionen Deutsche, dass der »Führer« ihnen auf Dauer ein besseres Leben ermöglichen wird. 37,5 Prozent der Düsseldorfer Wahlberechtigten geben ihm bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 ihre Stimme und damit die überwältigende Mehrheit unter den 13 in der Rheinprovinz kandidierenden Parteien.16

»Am 30. Januar sind die Würfel gefallen. Und ich glaube nicht, dass die Gegner, die damals noch gelacht haben, heute auch noch lachen«, wird Adolf Hitler im Juli 1933 drohend und mit verbissener Miene vor einer jubelnden Masse schwadronieren. Er verspricht wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand, und tatsächlich überdecken sichtbare Erfolge der ersten Jahre die schleichende Wende zum total überwachten Terrorstaat.

Der nächste Krieg wird vorbereitet

Elf Jahre nach dem Abzug der Franzosen17 zieht mit Hitlers sogenannter »Rheinlandbefreiung«18 wieder deutsches Militär durchs Derendorfer Kasernenviertel. Das 77. Infanterie-Regiment und das Artillerie-Regiment 26 rücken am 8. März 1936 ein – und bald folgen auch die ersten Kompanien der bereits vor dem Krieg hier stationierten 39er. Die Einheiten des VI. Armeekorps gehören nundort wieder zum Alltag, wie ihre ins Manöver ausrückenden Fahrzeugkolonnen.

Auf der anderen Seite des Stadtteils fasziniert in hörbarer Entfernung die lautstarke Industrie, denn aus den riesigen Maschinenhallen des »Hohenzollernwerks« der Rheinmetall-Borsig AG dröhnt es Tag und Nacht. Hinter den gläsernen Fassaden an der Gneisenaustraße fliegen die Funken der Schweißmaschinen, dazu ertönen die monotonen Geräusche der gigantischen Maschinenpressen und Metallfräsen, das Kettengerassel und Quietschen der Laufkräne. Dort werden die schwersten Dampflokomotiven und Reichsbahnwaggons gebaut, und seit 1935 Hitlers neueste Waffen: Maschinengewehre, Kanonen verschiedener Kaliber, Eisenbahngeschütze, Minenwerfer und Panzerfahrzeuge. Während des ersten Weltkriegs produzierte dieses Unternehmen bereits 90 Prozent aller deutschen Stahlhelme, zwanzig Jahre später liefert es den größten Anteil aller Geschützrohre für die nächste Katastrophe.

Am 11. April 1937 wird Hitler im Derendorfer Rheinmetall-Werk persönlich erscheinen. Wenige Stunden zuvor besucht er einen alten Freund und Förderer, den Industriellen Emil Kirdorf19 in seinem Landhaus »Streithof« in Mühlheim/Ruhr20. Nach jenem monologreichen Vorabend erscheint er mit seinem Gefolge in Derendorf, Generaldirektor Friedrich Luther empfängt ihn mit »deutschem Gruß« am Werkstor. Jugendliche in HJ-Uniformen oder Sonntagskleidung bestaunen im Schatten der gegenüber liegenden Ludendorff-Kaserne aus respektvoller Distanz die Edelkarossen des Staatsbesuchs. Auch der 16-jährige Hugo Schmitz, stets neugierig, wird dieses ungewöhnliche Ereignis wahrgenommen haben. Hinter den Werksmauern ist es ein merkwürdiger Auftritt: an jenem Sonntagmorgen gegen zehn Uhr unterbricht der Schichtleiter die Arbeit, er verkündet den überraschten Kollegen: »der Führer kommt gleich«. Das anwesende Personal soll sich »gefasst und diszipliniert« verhalten.

Schon wenige Minuten nach dieser Ansage hört man die knallenden Stiefelschritte der schwarz uniformierten SS-Männer des Führerbegleitkommandos. Ihre prüfenden Blicke gehen durch die Personalreihen, einige Leibesvisitationen folgen. Der damals 20jährige Derendorfer Zeitzeuge Wilhelm Golls schreibt 63 Jahre später in seiner Chronik: Dann sehen wir den Hitler mit seinem Stellvertreter Rudolf Hess, er hat es eilig. Er hastet nach draußen zu der mit hoch gerichteten Rohren stramm gegen Westen ausgerichteten Geschütz-Paraden. …Einige meiner Kollegen verschwanden während Hitlers Anwesenheit auf den Lokus, um nicht gehorsam diesen dämlichen »Hitlergruß« ausführen zu müssen. Gegen Mittag, als der »Führer«-Spuk zu Ende ist, begegnet Golls einem Kollegen, der vom Geschehnis noch verklärt auf seiner Werkzeugkiste sitzt: Ich habe den Führer leibhaftig gesehen, ich stand ganz nahe bei ihm. Meine Freunde werden es nicht glauben, dass mir so viel Glück heute beschieden worden ist.21

Noch während des ausklingenden Frühschoppens eilt die Nachricht vom Führerbesuch durch die Vorstadtstraßen und zu den Derendorfer Stammtischen. Auch in der nur 500 Meter entfernten Gaststube von Hermann Schmitz, für die Anwohner eine beliebte »Nachrichtenbörse«, herrscht Hochbetrieb nach dieser lokalen »Sensation«. Die Flüsterpropaganda treibt üppige Blüten, Gerüchte und Spekulationen machen die Runde: Weht demnächst vor den Werkstoren die »Goldene Fahne« der Deutschen Arbeitsfront22? Wird die Rheinmetall AG noch vor dem Henkel-Konzern zum »Nationalsozialistischen Musterbetrieb« ernannt? Das Düsseldorfer Putz- und Waschmittelimperium (Ata, Persil, Henko, Imi) im südlichen Stadtteil Holthausen gehört schon zu den Favoriten der deutschen Wirtschaft.

Der an die »Rheinmetall« angrenzende Derendorfer Güterbahnhof mit seinen riesigen Ausmaßen ist für die Jugend ein bevorzugtes Spielgelände, auch wenn das Betreten dieses Bereichs für Unbefugte streng verboten ist. Dort kann man ständig ungewöhnliche Vorgänge bestaunen: die ratternden Züge im Rangierbetrieb, die dampfenden Lokomotiven verschiedener Baureihen, das Dröhnen der Waggons, wenn ein zielsicher auf die Schiene gesetzter Bremsschuh die Fahrt stoppt, oder die Ankunft eines Wehrmachtstransports, beladen mit modernster Waffentechnik. Nicht zu vergessen das lebhafte Treiben, wenn die Sonderzüge der in Düsseldorf gastierenden Zirkusunternehmen mit ihren bunten Wagenkolonnen und den vielen exotischen Tieren eintreffen.

Auch die regelmäßigen Umwege zur Schule bieten stets neue Erlebnisse mit lebhaftem Treiben und vielfachen Geräuschen: Der Derendorfer Alltag beginnt schon früh mit regem Betrieb, schwer beladene Lastwagen ächzen über das Kopfsteinpflaster der Vorstadtgassen, Dreirad-Transporter mit scheppernden Milchkannen rattern vorbei, mit graublauen bis grauschwarzen Abgasschwaden verschwinden die röhrenden »Tempo«-Zweitakter nur noch vernebelt sichtbar an der nächsten Straßenkreuzung. Pferdegespanne der Kohlenhändler, Kartoffellieferanten und Möbelspediteure klappern von Haus zu Haus, Bäckerjungen kommen radelnd von ihren frühen Botenfahrten zurück. Eine der besonderen Institutionen ist die Derendorfer Feuerwache 3 in der Münsterstraße, unweit der Städtischen Oberrealschule. Hier bestaunt auch Hugo Schmitz mit seinen Freunden immer wieder den imposanten Fahrzeugpark. Nach dem Ertönen der Brandsirenen rennen sie neugierig zum Hof der »Wache Fw3«, um dort das Ausrücken der Löschkolonnen zu erleben, die dann mit Rotlicht23, elektrisch betriebenen Alarmglocken und dem vertrauten »Tatütata« der Martinshörner davonrasen.

Jeder Tag bringt neue Abenteuer

Mit sehnsuchtsvollen Blicken stehen die Heranwachsenden der 30er Jahre vor den Schaukästen der Kinos. Die geheimnisvolle Flimmerwelt der auf Zelluloid gebannten Bilder beflügelt ihre Phantasie. »Der blaue Engel« mit Marlene Dietrich und die meisten Streifen mit Zarah Leander sind für den pubertierenden Nachwuchs tabu. Sie raffen ihre Pfennige und Groschen zusammen, um andere Vorstellungen im »Filmpalast«, im »Kronen-Theater«, »Nordlicht-Theater« oder in den »Rheingold-Lichtspielen« zu besuchen. Gern gesehen, aber ab Jahresende 1937 verboten: »Emil und die Detektive«24, oder der kurzfristig jugendfreie Klassiker »Die Drei von der Tankstelle«. Unzensiert bleiben die immer wiederkehrenden Folgen des dänischen Komiker-Duos »Pat und Patachon« oder der Amerikaner Laurel und Hardy als »Dick und Doof«. Pflichtbesuch besteht für den politisch inszenierten Kultfilm »Hitlerjunge Quex«, zu dem die HJ Gruppenvorstellungen organisiert.

Besonders begehrt sind die Abenteuer-Streifen des weltbekannten Regisseurs und Leinwandhelden Harry Piel25, populär wie Jahrzehnte später der Hollywoodstar Arnold Schwarzenegger oder die James-Bond-Darsteller. Jahrelang hallen die übermütigen Sprüche der Kinder durch Straßen und Gassen: »Harry Piel hockt am Nil, putzt die Zähne mit Persil«. Piel ist das Paradebeispiel des tollkühnen Abenteurers, der in vielen gefährlichen Filmszenen ohne Double sein Leben riskiert. Als waghalsiger Motorradfahrer, während hochriskanter Verfolgungsjagden, in halsbrecherischen Bergsteigeraktionen, bei ungeschützten Dressurakten mit Großwild und Raubtieren. Unvergessen seine spektakuläre Luftnummer: mit einem Flugzeug lässt er sich von der Spitze eines Fabrikschornsteins holen.Piel, auch Sohn eines Gastwirts, wuchs in der Derendorfer Tannstraße auf, nur wenige Meter von der Roßstraße und Kanonierstraße entfernt. Er besuchte die nahe Scharnhorst-Schule, vielleicht drückte er bis 1909 sogar jene Schulbank auf der zweieinhalb Jahrzehnte später Hugo Schmitz sitzt.

Manche abenteuerliche Parallele im späteren Leben des heranwachsenden Pennälers lässt erahnen, dass dieser Sensationsdarsteller sein heimliches Vorbild wird.Und er hat auch noch eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem jungen Harry der Zwanziger Jahre. Zeitgenossen werden ihn später mit dem US-Filmstar Clark Gable vergleichen, denn dieser Hinweis beinhaltet mehr als optische Gemeinsamkeiten, die den jungen Rheinländer dann mit Oberlippenbart als Draufgänger charakterisieren. Als Schüler ist Hugo Schmitz ein kleiner Rabauke, harmlosen, manchmal auch grenzüberschreitenden Streichen nicht abgeneigt. Ganz nach den Vorbildern des Romans »Die Feuerzangenbowle«. Ein Erfolgsstück, das deutsche Filmgeschichte macht und in der Derendorfer Sommersstraße, nicht weit von Hugos Elternhaus entfernt, mit dem Manuskript des Schriftstellers und Anwalts Heinrich Spoerl26 in den frühen 30er Jahren entstanden ist.

Der Nachwuchs jener Zeit ist lesehungrig, mit »Grimms Märchen« oder den »Kölner Heinzelmännchen« beginnt Hugos Kinderliteratur, Sagen des Altertums folgen, Karl Mays Geschichten beflügeln schließlich die Abenteuerlust der Jugendlichen. Mit großer Begeisterung wechselt er im Tauschverfahren mit seinen Spielkameraden auch die in Mode gekommenen Groschenheftchen »Billy Jenkins«, »Rolf Torrings Abenteuer«. Oder die von ihm besonders gern gelesenen Geschichten der »Collection Wild-West« mit Buffalo Bill und Sitting Bull, sie werden seine Cowboyromantik bis ins gesetzte Alter nachhaltig prägen.

Die heranwachsende Derendorfer Generation steht trotz vieler neuer Einflüsse in der jahrhundertealten städtischen Tradition der »Düsseldorfer Radschläger«27. Auch auf dem Kopfsteinpflaster des zentral gelegenen Münsterplatzes vollführen Jugendliche ihre schwungvollen Seitwärts-Saltos. Bei diesen akrobatischen Umdrehungen rollen sie über Hände und Füße am Boden ab. Es ist ein immer wieder beeindruckendes Schauspiel, das staunende Passanten mit einer Fünf-Pfennig-Münze, manchmal sogar mit einem Groschen honorieren. Genug für eine Stange Haribo-Lakritz oder Fruchtgummibärchen, denn die gibt es im Rheinland schon seit 1925. Radschlagen bleibt ein populäres Straßenschauspiel, das 50 Jahre später mit Hip-Hop, Rap-Dance und Skateboard-Akrobatik konkurrieren wird. Ob auch der sportliche Hugo Schmitz diese artistischen Leistungen vollführt, um damit ein zusätzliches Taschengeld zu verdienen, das kann man nur vermuten. Es sind beschauliche Zeiten, mit bescheidenen Ansprüchen: Die Jugend freut sich, wenn an heißen Sommertagen ein Brauereigespann mit Fassbier und neuem Blockeis aus den städtischen Kühlhäusern in ihre Straße kommt, denn dann gibt’s vom Kutscher schon mal ein paar kühle Klumpen gratis.

Trist und ungemütlich wird es dagegen in den feuchten Herbst- und Wintermonaten. Das gesamte Viertel liegt oft wochenlang unter einem dichten Dunstschleier, nur schemenhaft sind die Passanten im spärlichen Gaslaternenlicht auf nassem Asphalt und glitschigem Kopfsteinpflaster erkennbar. Nebel vermischt sich mit den Abgasschwaden der Fabrikschornsteine, beißender Rauch aus vielen tausend Hauskaminen wabert durch die rußverdreckten Häuserschluchten. Auch für Hugo Schmitz ist das nur grauer Normalalltag in einer hoffnungslosen Zeit, und darum kommt jedes positive Ereignis zur besonderen Geltung, dazu zählen die traditionellen Laternenumzüge an jedem 10. November wie die großen Ereignisse im den weniger tristen Monaten. Der engagierte Wassersportler ist zwar kein absoluter Fußballfan, aber als Fortuna Düsseldorf am 11. Juni 1933 deutscher Meister wird, da feiert auch er begeistert mit. Ein fulminanter 3:0-Sieg, ausgerechnet im Müngersdorfer Stadion zu Köln, das erfüllt doch jeden Düsseldorfer Lokalpatrioten mit Schadenfreude und mit besonderem Selbstbewusstsein.

Prügelorgien und Straßenschlachten im »roten Derendorf«

Nicht immer geht es auf den Straßen friedlich zu, bis zum Machtwechsel 1933 ist Düsseldorf eine Hochburg der Kommunisten28. Auch durch das besonders rote Derendorf ziehen sie mit ihren Fahnen, singen »wacht auf, Verdammte dieser Erde …« und skandieren »Heil Moskau«. Und die ihnen entgegenkommenden braunen Nazi-Kolonnen brüllen mit »Heil Hitler« zurück, sie grölen »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen …« oderschreienprovozierend »Deutschland erwache«. Solche Szenen enden häufig in den wildesten Raufereien. Für die neugierigen Kinder wie Hugo Schmitz ist das ein immer wieder faszinierendes Schauspiel, die politischen Dimensionen können sie nicht erahnen. Sie rennen neugierig zur Polizeikaserne in der benachbarten Tannstraße, wenn wieder mal die Martinshörner durchs Viertel hallen und die grünen »Überfallwagen« zur nächsten Prügelorgie zwischen Rot und Braun zu eilen.

Mit den Machtkämpfen der Parteien liefern sich die radikalen Gruppierungen von »Rechts« und »Links« seit dem Ende der 20er Jahre bis zum Frühjahr 1933 auch in Derendorf heftige Auseinandersetzungen, die lokalen Zeitungen berichten immer wieder über solche Vorfälle. Auf dem Münsterplatz kommt es mehrfach zu Schießereien und schweren Schlägereien zwischen Nazis und Kommunisten oder mit den paramilitärischen Gruppierungen wie »Stahlhelm« und »Eiserne Front«. Die Schießereien und Prügelszenen nehmen auch kein Ende, wenn ermordete Opfer der Straßenkämpfe von ihren Kampfgenossen zum Nordfriedhof begleitet werden.

Besonders verrufen ist das Viertel rund um die »Ulmer Höh«, die Einheimischen meiden diese finstere Gegend. Von dort erzählt man sich auch in der nur 400 Meter entfernten Gaststätte von Hermann Schmitz wilde Schauergeschichten: hinter den dicken Gefängnismauern der Ulmenstraße 95 sitzen strengbewachte Schwerverbrecher, während der französischen Besatzung aber auch hochkarätige Prominenz. Der populäre Industrielle Gustav Krupp von Bohlen und Halbach29 ist dort nach einem Urteil der Besatzungs-Justiz seit dem 2. Mai 1923 sieben Monate lang eingekerkert30, unter dem Beifall der Passanten holt ihn eine Abordnung seiner Mitarbeiter im Dezember dort ab. Nach 1933 werden in der Derendorfer Haftanstalt zunehmend politische Gefangene und Gegner des NS-Regimes festgehalten und man flüstert nur noch hinter vorgehaltener Hand über solche Vorkommnisse.

Berüchtigter Insasse der »Ulmer Höh« ist der seit 24. Mai 1930 als »Vampir von Düsseldorf« bekannt gewordene Massenmörder Peter Kürten31, nach neun Morden und sieben Tötungsversuchen wartet der Gelegenheitsarbeiter hier fast 14 Monate lang auf seine Hinrichtung. Am 2. Juli 1931 stirbt er in Köln durch das Fallbeil, sechs Stunden später verkünden die Straßenverkäufer der Düsseldorfer Tageszeitung »Mittag« lautstark die Vollstreckung im Morgengrauen. 16 amtlich verpflichtete Zeugen sind dabei, als der Magdeburger Scharfrichter Karl Gröpler den grausamen Akt vollzieht und Kürtens Kopf in die kleine Sandmulde fällt. Für die Anwesenden ist Frack und Zylinder angeordnet. Zum ersten Mal berichtet der »Westdeutsche Rundfunk« aus Köln32 live von solch einem schaurigen Ereignis. Auch Hermann Schmitz und seine Familie sitzen angespannt vor ihrem Röhrengerät und hören, wie der bekannte Radioreporter Alfred Braun33 den makabren Hinrichtungsvollzug an jenem Donnerstagmorgen detailliert, kalt und nüchtern schildert.

Drei Jahre später bekommt Derendorf ein neues Schreckenskabinett: seit 1934 besteht in der Prinz-Georg-Straße 96 die Gestapo-Zentrale des Gaues – und zweitgrößte des Reiches. Sie ist eine der grauenvollsten Folterstätten, wie Zeugenberichte und Dokumente nach 1945 belegen werden.

Nun haben nur noch die Nazis das Sagen

Hugos Jugendzeit ist geprägt von Hungerjahren, Inflationszeit, politischen Unruhen und vom Aufkeimen des Nationalsozialismus. Auch in den düsteren Straßen des Industrie- und Kasernenviertels flattern seit März 1933 die schwarz-weiß-roten Hakenkreuzfahnen, und mit ihnen weht nun ein anderer Wind im bisher legeren rheinischen Alltag. Nicht nur die häufig wechselnden Düsseldorfer Oberbürgermeister34 bestimmen die Geschicke im Vorort, vor allem der allgegenwärtige Kreisleiter Karl Walter, ein Nazi der ersten Stunde, hat nun höchsten Einfluss. In der Kaiserstraße 48, nur wenige Meter hinter der Derendorfer Stadtteilgrenze residiert er in seinem Verwaltungssitz, vom Volksmund »Braunes Haus« genannt35. Mit Walters Vollmachten, unterstützt von SA-Brigadeführer Hermann Lohbeck36, vollziehen die Ortsgruppenleiter Walter Krombach (bis 1934) und sein Nachfolger Johann Lehnhoff ihre Kontrolle über die 53.376 Einwohner37 (16.602 Haushalte) in diesem Stadtteil. Beide wohnen in direkter Nähe der Kanonierstraße, und sie sind auch Gäste bei Hermann Schmitz.