Hundert schwarze Nähmaschinen - Elias Hirschl - E-Book

Hundert schwarze Nähmaschinen E-Book

Elias Hirschl

4,6

Beschreibung

Den Zivi nennen alle nur den Zivi, die sogenannten Betreuer in der Wohngemeinschaft für psychisch Kranke, wo er seinen Zivildienst ableisten soll, nicht anders als die sogenannten Klienten. Die Schule hat er hinter sich, vorbereitet hat sie ihn aber nicht auf das, was ihn erwartet. Dass es verrückt zugeht, okay. Aber dass es ihm zunehmend schwer fällt zu erkennen, warum die Betreuer Betreuer und keine Klienten sind, macht ihm zu schaffen. Zumal er bald selbst nicht mehr weiß, wohin er gehört, so sehr läuft in seinem Leben plötzlich alles aus dem Ruder. Nicht zuletzt seine Beziehung zu seiner Freundin, der "anderen Streitpartei": Er könnte sie umbringen (in seinen Träumen tut er es). Und nur weil er der Zivi ist, heißt das nicht, dass er sein Leben nicht genau wie alle anderen in einer psychiatrischen Einrichtung verbringt.In diesem aberwitzig einfallsreichen, grandios schrägen Roman sind viele Schrauben locker. Elias Hirschl zieht sie an, bis die Zähne vor Lachen knirschen, und dreht sie dann alle noch ein Stück weiter.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 335

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (18 Bewertungen)
11
7
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Arbeit an diesem Buch wurde durch einStartstipendium für Literaturdes Bundeskanzleramtes Kunst und Kultur gefördert

© 2017 Jung und Jung, Salzburg und WienAlle Rechte vorbehaltenUmschlagbild: © Katerina Kamprani »The uncomfortable broom«Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.comISBN 978-3-99027-097-4eISBN 978-3-99027-157-5

ELIAS HIRSCHL

HundertschwarzeNähmaschinen

Roman

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Epilog

1

Das Selbstmordzimmer ist frisch gestrichen. Die Farbe ist noch nicht einmal richtig getrocknet, da hat man schon wieder Bilderrahmen mit Motivationssprüchen an die Wände gehängt. Ein bunt bemalter Lampion versucht das fahle Licht der von der Decke baumelnden Energiesparlampe zu kaschieren, die kalt auf den darunter liegenden roten Teppich strahlt. Eine Tür führt in das kleine, private Bad mit Badewanne und Waschbecken. Eine zweite führt auf den Gang hinaus. Nur diese lässt sich zusperren. Rechts neben der Tür zum Bad steht ein Bett an der Wand, das Kopfende knapp unterhalb eines Lichtschalters. Es besteht aus einer Matratze, zwei Polstern und einer Decke mit Straßenverkehrsmuster, all das auf einem Holzgestell von IKEA. Kopflehne hat es keine. Unter dem Bett ist ein wenig Platz, um das Nötigste zu verstauen. Hebt man, im Bett liegend, die linke Hand, kann man das kleine Fenster an der Ostseite des Zimmers erreichen, durch das Sonnenlicht hereinfällt, das sich in den Fenstern des Hauses jenseits der Straße spiegelt. In der Mitte des Raums steht ein Mann und atmet nicht. Allein sein Herzschlag unterscheidet ihn vom Mobiliar.

Lässt man sich im richtigen Winkel rückwärts aus dem trüben Fenster fallen, kann man die alte, verdreckte Fassade des Hauses betrachten. Sie ist in einem grellen Gelbton gehalten, der sich mit keiner anderen Farbe der Welt verträgt.

Bricht man den Sturz schließlich im letzten Moment vor dem Aufprall ab, um mit den Füßen sachte auf dem Boden aufzutreten, und öffnet mit einem Quietschen die rechte Hälfte der grauen Flügeltür, die den Eingang zum Haus markiert, so ist das Erste, was man wahrnimmt, der Geruch. Es ist ein Aroma, das man nie wieder aus seinem System herausbekommt. Weder aus der Kleidung und den Haaren noch aus dem Gedächtnis. Es bleibt sofort überall haften. Als Erstes erreicht einen die Kopfnote. Ein intensiver Schwall aus Handdesinfektionsmittel, Zigarettenrauch, Fischstäbchen und Urin schlägt einem im Hausflur entgegen, zunächst nur als diffuse Wolke, wie eine warnende Bahnhofsdurchsage in fremder Sprache. Nur wenig später wird sie von der Herznote abgelöst, dem satten, deftigen Geruch nach Kot, Erbrochenem, altem entkoffeiniertem Kaffee und verbrauchter Atemluft, der einen beim Öffnen der Sicherheitstür zur zweistöckigen Wohnung erreicht. Seine Konsistenz ist fast greifbar. Der Geruch legt sich einem schwer auf die Zunge, sodass man seine Einzelteile auch ohne Vorwissen oder Übung spielend identifizieren kann, ehe man Stunden oder Tage später, lange nach Verlassen des Hauses, erst die schwere Basisnote in der eigenen Kleidung wahrnimmt, alles was sich über die Jahre in die Wände, Möbel und Stoffe der Wohngemeinschaft hineingefressen hat: das Desinfektionswaschmittel der Klienten, der alte verdunstete Schweiß in der Decke, die Essensreste, die seit Monaten auf dem Boden der Küchenmülleimer kleben und die rostige Fährte nach altem, eingetrocknetem Blut auf dem Sofa im Wohnzimmer und dem Parkettboden im Flur, die beinahe nicht mehr auszumachen ist, sich aber gerade deshalb besonders hartnäckig an den Rändern der Wahrnehmung hält. Das ganze Haus trägt Tag und Nacht die Schwingungen einer olfaktorischen Kakofonie in sich, die einem auf ewig als geruchlicher Tinnitus im Kopf bleiben. Ein Zwölftonparfüm, dessen Komponenten durch das ganze Haus wehen, die Treppen hinaufgetragen werden und durch die Schlüssellöcher in alle Zimmer eindringen, bis hinein in die Lungen des Mannes, der schweigend und ohne zu atmen in der Mitte des Raums steht. Und die Luft, auf der sie treiben, hat dazu ihre eigene stille Meinung.

2

Es ist 08:00 Uhr morgens, Montag, 1. Oktober, im Weltuntergangsjahr 2012, und ich sitze in einem Büro, mir gegenüber meine zukünftige Chefin.

Sie hat einen grauen Haaransatz, ein eingefallenes, knöchernes Gesicht, den Namen Astrid und einen Tonfall, der mir sagt, dass sie bereits jetzt genug von mir hat. Meine Freundin hat mir gesagt, ich soll mich in der Arbeit von niemandem ärgern lassen. Sie sagt mir andauernd, dass ich mich nicht ärgern lassen soll.

Ich sitze auf dem weiß gepolsterten Aluminiumstuhl, den mir Astrid nicht angeboten hat, und streiche mir mit der rechten Hand meine schon wieder etwas zu langen Haare hinters Ohr. Ich bin seit dreieinhalb Monaten achtzehn und auf den Tag genau so lange im Besitz meines Maturazeugnisses. Ich leide an den nachklingenden Symptomen einer Nebenhöhlenentzündung, die in spätestens drei Wochen wiederkommen wird. Ich habe es geschafft, mich im Sommer dreimal zu erkälten. Das muss etwas Psychosomatisches sein.

Vom vielen Schnäuzen ist mein linkes Ohr noch taub, weshalb ich den Worten meiner zukünftigen Chefin mit leicht gedrehtem Kopf zuhöre. Aber auch ohne das taube Ohr könnte ich ihr nicht wirklich folgen, weil der Gedankenstrom in meinem Kopf nicht abreißen will. Meine Gedanken springen ständig von einem Thema zum nächsten, das hat mich die letzten Nächte wach gehalten. Fragen stapeln sich in meinem Kopf wie auszufüllende Formulare. Und das Schlimmste ist, dass sie nicht einmal wichtig sind. Habe ich mir heute Morgen die Zähne geputzt?

»Hören Sie mir eigentlich zu?«

Auch Astrids Gesichtsausdruck gibt mir zu verstehen, dass sie schon vor zehn Minuten genug von mir hatte.

»Einer Ihrer Klienten hat Hepatitis B, und ich muss von Ihnen wissen, ob Sie mit diesem Risiko arbeiten können.«

Sie fragt mich ernsthaft jetzt, fünfzehn Minuten vor Arbeitsbeginn, ob ich einen kostenlosen Impfstoff beantragen möchte. Ich frage, wann der wirksam sein würde und sie sagt: »So richtig erst nach der letzten Teilimpfung in ein paar Monaten.«

Als ob ich mich in dem Zustand impfen lassen würde. Nicht dass ich was gegen Impfungen habe, aber ich habe einfach keine Lust, mich halb krank einer Impfreaktion mit akuten Hepatitissymptomen auszusetzen. Da ziehe ich lieber drei Schichten Gummihandschuhe zusätzlich an, wenn ich den alten Mann waschen soll.

Sie fragt mich erneut, ob ich mit Herrn Schmidt, dem Hepatitis-Patienten, den sie als Risiko bezeichnet, arbeiten will oder nicht.

Als ob ich jetzt noch Nein sagen und mir eine andere Stelle suchen würde.

»Sie sind wirklich erst achtzehn?«

Wie alt soll ich denn sonst sein? Wenn sich alle darüber wundern, wie jung ich bin, dann sollten sie die Stelle besser nicht für Zivildiener ausschreiben.

Meine Fingernägel sind zu lang. Ich hätte sie mir heute Morgen schneiden sollen. Meine Haarsträhne will nicht halten und rutscht immer wieder hinter meinem Ohr hervor. Ich schiebe sie immer wieder zurück.

Habe ich wirklich vergessen, mir die Zähne zu putzen? Ich will mir mit meiner rechten Hand die Haare hinters Ohr streichen, aber die Haare sind bereits hinter meinem Ohr. Mein Bauch tut weh. Die Magenschleimhautentzündung kommt auch wieder, ich kann das spüren. Das muss etwas Psychosomatisches sein. Ich wünschte, ich wäre nach Berlin ausgewandert, wie mein Cousin. Auswandern und erst mit fünfunddreißig wiederkommen, wenn die Wehrpflicht nicht mehr greift. Aber dazu müsste ich erst einmal mit meiner Freundin Schluss machen. Nicht dass ich glaube, dass Männer ein schwierigeres Leben haben, ganz und gar nicht. Aber die Tatsache, dass ich einen Penis habe, reicht nicht unbedingt aus, um mich darüber zu freuen, ein Dreivierteljahr lang Zwangsarbeit leisten zu müssen.

Man hält mir Formulare hin und fragt mich entnervt, ob ich alles verstanden habe. Offenbar fragt man mich das bereits zum zweiten Mal, aber ich habe es nicht gehört.

»Warum haben Sie sich eigentlich für diese Stelle entschieden?«

Für die psychisch Kranken? Für BLuhM – Verein für Betreutes Leben und ein harmonisches Miteinander? Die Wahrheit ist, dass ich alle meine Lebensentscheidungen in der Hoffnung treffe, möglichst niemanden damit zu verärgern. »Lass dich nicht ärgern!« Als ob ich jetzt noch einen sympathischen Eindruck hinterlassen wollte. Die ganze Zeit habe ich kein böses Wort gesagt.

Meine Haare rutschen nach vorne, als ich unterschreibe.

3

Der Weg zur Wohngemeinschaft liegt in der exakt entgegengesetzten Richtung zu seinem ehemaligen Schulweg. Der Zivi fährt immer noch jeden Morgen mit demselben Bus dieselbe Straße entlang, nur die Richtung hat sich geändert.

Da er die Schlüssel zur WG noch nicht hat, läutet der Zivi an der Gegensprechanlage und wartet vor der Tür darauf, dass ihn jemand hineinlässt. Das Haus hat eine dreckige, pissgelbe Fassade, kleine Teile des Verputzes sind bereits heruntergebrochen oder im Begriff, es in näherer Zukunft zu tun. Heute bekommt er nur seine Einführung und darf danach wieder nach Hause gehen. Die WG liegt noch nicht ganz am Arsch der Welt, aber schon eher im schäbigeren Teil der Stadt. Wobei die WG selbst vermutlich auch nicht zum Anstieg der Immobilienpreise beiträgt.

Mit seinem linken Ohr nimmt der Zivi hinter sich etwas wahr. Er dreht sich um und sieht, wie eine ältere Frau in der Garageneinfahrt auf der anderen Straßenseite im schlimmsten Altwiener Hausfrauenjargon die Wand anschreit. Sie trägt einen ausgewaschenen grauen Pullover und trotz der Kälte untenrum nicht mehr als eine vor Schmutz starrende, zerrissene Jogginghose, deren Gummibund so ausgeleiert ist, dass sie ihr bereits in den Kniekehlen hängt und den Blick auf ihren Hintern freigibt. Als sie den Zivi bemerkt, schreit sie ihn ebenfalls an. Der Zivi versucht seinen Blick von ihrem drahtigen Schamhaar abzuwenden und betet inständig darum, dass diese Verrückte nicht zur Wohngemeinschaft gehören möge.

In diesem Moment geht hinter dem Zivi die Tür auf, und ein Mann, etwa Ende dreißig, mit feuerrot gefärbten Haaren und Vollbart, steht vor ihm.

»Du bist also der neue Zivi«, sagt er, und der Zivi streicht sich nervös seine Haare hinter das rechte Ohr. »Ich bin der Berni.« Berni wirft einen kurzen Blick über die Schulter des Zivis und sagt: »Ah, wie ich sehe, hast du die Frau Glettler schon kennengelernt.«

4

»So«, sagt Berni: »Erstens sind das hier keine Patienten, sondern Klienten, ja? Denn wir sind ja auch keine Ärzte, sondern Betreuer. Deshalb verschreiben wir auch keine Medikamente, sondern händigen sie nur aus. Wir können die Klienten auch nicht dazu zwingen, die Medikamente zu nehmen. Wenn’s gar nicht geht, dann müssen wir halt mit der Psychiatrie telefonieren. Und wenn dir ein Betreuer aufträgt, den Klienten Medikamente zu geben, dann liegt die ganze Verantwortung beim Betreuer, ja? Okay. Zweitens sprechen wir die Klienten hier generell eher nur mit dem Nachnamen an. Herr Soundso, Frau Soundso. Ob du mit jemandem per Du sein möchtest, kannst du natürlich selbst entscheiden, aber ich würde dir empfehlen, da eher auf Abstand zu gehen. Um Arbeit und Privates nicht zu vermischen, empfehle ich dir außerdem, den Klienten deine Adresse nicht zu verraten – haha, Scherz. Nein, ernsthaft: Erzähl ihnen am besten überhaupt nichts über dich, sonst verwenden sie das alles gegen dich. Die wirken zwar alle verwirrt, aber blöd sind die nicht, merk dir das. Drittens: Lass dich nicht ärgern! Egal, was sie machen, lass dich von ihnen nicht provozieren, ja? Merk dir das! Das sind kleine Kinder. Kleine, intelligente, ausgewachsene, unberechenbare Kinder! Mit denen kann man nicht diskutieren. Und wenn du wütend wirst, werden die nur noch wütender. Es ist deine Aufgabe, ruhig und verantwortungsvoll zu bleiben. Und glaub mir, das ist wirklich nicht leicht, wirst schon sehen. Es ist wie ein Marathonlauf: Am Anfang hält man locker durch, aber dann geht einem langsam die Luft aus, und die letzten paar Meter kriechst du dann nur noch auf dem Zahnfleisch. Aber du hast Glück. Du bist nach neun Monaten fertig und kannst vor allem jeden Abend wieder zurück nach Hause gehen. Die Klienten wohnen hier! Die sind rund um die Uhr hier! Die können nicht einfach nach Hause gehen, wenn es Abend wird, weil sie hier leben. Merk dir das, das ist der größte Unterschied zwischen dir und ihnen. Nichtsdestotrotz: Nur weil du hier arbeitest, heißt das nicht, dass du nicht auch den ganzen Tag in einer psychiatrischen Einrichtung verbringst. Da kann man noch so oft behaupten, dass psychische Krankheiten nicht ansteckend sind – es stimmt einfach nicht.

Also, zu deinen Aufgaben: Die WG erstreckt sich über zwei Stockwerke. Hier leben acht Leute, die mehr oder weniger intensiv betreut werden müssen. Außerdem gibt’s dann noch die zwei Besucher, die nicht fix hier leben: den Herrn Haas und die herzallerliebste Frau Glettler, die du ja bereits kennengelernt hast. Die haben beide zwar ihre eigene Wohnung, sind aber auch nicht wirklich in der Lage, alleine zurechtzukommen. Deshalb sind sie fast den ganzen Tag bei uns, liegen im Wohnzimmer auf dem Sofa und gehen dann am Abend zum Schlafen nach Hause.

Am Tag sind immer zwei Betreuer da und in der Nacht einer. Nachtdienst hast du sowieso keinen, dazu dürfen wir keine Zivis einteilen. Außerdem gibt es noch die Sophie, die für ihre Psychotherapieausbildung gerade ein Praktikum bei uns macht. Die ist noch bis Februar da.

Die meisten hier sind psychisch krank, aber Herr Klimek, Herr Schmidt und Frau Brandner sind außerdem noch von Geburt an geistig behindert. Herr Klimek sitzt im Grunde den ganzen Tag in seinem Zimmer auf dem Bett oder in seinem Rollstuhl und raucht. Er kann zwar laufen, aber seine Motorik ist sehr eingeschränkt. Richtig sprechen kann er auch nicht. Er kriegt zwar fast alles mit, was man zu ihm sagt, aber es ist schwer, ihn akustisch zu verstehen. Außerdem kann er leicht wütend werden. Zum Beispiel darüber, dass ihn niemand versteht, dann sollte man eher auf Abstand gehen. Und unterschätze bloß nie die Muskelkraft eines Rollstuhlfahrers! Herr Schmidt ist im Gegensatz dazu quasi die einzige Person in dieser WG, die quasi nie Ärger macht. Er ist letzte Woche fünfundsiebzig geworden und sitzt den ganzen Tag grinsend und lachend im Wohnzimmer. Du wirst mit ihm spazieren gehen und ihm jeden Morgen helfen, seinen Stützstrumpf anzuziehen. Am linken Fuß! Auch wenn er dir immer den rechten hinhalten wird, lass dich nicht verarschen: Es ist der linke! Definitiv! Du wirst dich sicher gut mit ihm verstehen. Er grabscht hin und wieder Leuten an den Arsch, aber er meint’s nicht böse. Deshalb kommt alle zwei Monate auch eine Sexualtherapeutin. Das einzige Gefährliche an ihm ist seine Hepatitis, aber er ist nicht sonderlich ansteckend. Da müsstest du schon mit seinem Blut oder Sperma in Berührung kommen, und dass es dazu kommt, wollen wir ja wirklich nicht hoffen.

Vor der Frau Brandner wiederum musst du dich ein bisschen mehr in Acht nehmen. Die hat zusätzlich zu ihrer geistigen Behinderung auch noch alle möglichen Arten von Neurosen und Psychosen. Die Psychiater sind sich bis heute nicht darüber einig, was sie wirklich alles hat. Aber zu ihr kommen wir dann noch später.

Herr Schmidt und Herr Klimek wohnen hier im ersten Stock. Da hinten. Die Brandner oben. Im ersten Stock wohnt außerdem noch die Frau Roth. Die Frau Roth hat das Korsakow-Syndrom, was zwar cool klingt, aber im Grunde nur eine spezielle Form von früher Demenz ist, weil sie nach ihrer zweiten Fehlgeburt zu viel gesoffen hat. Sie wird sich deinen Namen wahrscheinlich nicht merken können und du wirst sie öfter mal zu ihrer betreuten Arbeit im Bastelwarengeschäft bringen müssen, weil sie dauernd den Weg vergisst und in der U-Bahn verloren geht. Außerdem sprichst du sie am besten nie auf ihren Sohn an. Und lass dir von ihr bloß nicht einreden, sie habe noch kein Mittagessen gehabt. Sie hat Diabetes und starkes Übergewicht und ist deswegen von ihren Ärzten auf Diät gesetzt worden. Ihr Essen kriegt sie von einem mobilen Lieferservice, der alle zwei Wochen die Mittag- und Abendessen als tiefgekühlte, fertige Portionen liefert. Aber das ist ihr immer viel zu wenig, deswegen versucht sie vor allem die neuen Zivis immer reinzulegen, damit sie mehr zu essen kriegt. Die Frau ist zwar hochgradig geistig verwirrt, aber wenn’s ums Essen geht, wird sie zum Einstein. Ihr Zimmer ist da drüben, gleich neben dem vom Herrn Schmidt. Manchmal schleicht sie sich auch in der Nacht zu ihm rüber und klaut ihm Schokolade, was du bitte im Rahmen deiner Möglichkeiten unterbinden solltest. Auch die Frau Glettler sprichst du übrigens besser nicht auf ihre Kinder an. Die hatte nach ihrer zweiten Schwangerschaft eine Wochenbettpsychose, was wie eine Wochenbettdepression ist, nur dass man dabei wirklich komplett durchdreht.

Okay, hier ist die Waschkammer. Da ist die Waschmaschine, da ist der Trockner. Weißt du, wie man Wäsche wäscht? Gut. Also, die Wäsche muss hier generell immer bei sechzig Grad gewaschen werden, und bei Herrn Klimek, Herrn Schmidt und der Frau Brandner tust du am besten immer einen oder zwei Becher Desinfektionswaschmittel dazu. Sonst auch, wenn du siehst, dass irgendwas arg verdreckt ist. Apropos, da an der Wand ist schon einer: Diese Handdesinfektionsmittelspender hängen überall in der WG. Eigentlich kann man die gar nicht oft genug verwenden. Desinfizier dir die Hände auf jeden Fall immer nach dem Wäschewaschen und vor dem Kochen. Gummihandschuhe gibt’s selbstverständlich auch, hier in dem Kasten, aber ehrlich gesagt sind die nicht hundertprozentig dicht. Bei Operationen könnte man die zum Beispiel nicht verwenden. Deshalb: immer desinfizieren! Und sperr die Waschkammer unbedingt immer sofort ab, wenn du sie verlässt! Immer! Sofort! Glaub mir, das kann ich dir gar nicht oft genug sagen. Daneben ist das Badezimmer für die Klienten und noch einmal eine Tür weiter ist das Badezimmer für die Betreuer. Das Klienten-Badezimmer ist eigentlich nur für unsere schwereren Fälle gedacht, also für’n Herrn Klimek, Herrn Schmidt und die Frau Brandner – alle, die sich nicht selbstständig waschen können. Die anderen haben entweder eigene Duschen und Waschbecken in ihren Zimmern oder teilen sich zu zweit ein Bad. Und selbstverständlich gilt auch für das Betreuer-Badezimmer: immer zusperren!

Weiter geht’s: Hier ist das Wohnzimmer mit der Küchennische. Wie du siehst, ist die Küche da durch die Arbeitsfläche vom Wohnzimmer abgetrennt. Hier ist ein eigener Eingang zur Küche, den du immer zusperren musst. Die Lade mit dem Besteck muss ebenfalls immer zugesperrt sein, sonst fladern die Frau Brandner und der Herr Mölzer die Messer. Das Geschirr ist hier generell nur aus Plastik, weil alles andere einfach zu gefährlich wäre. Wenn du richtiges Geschirr für dich selber haben willst, musst du’s dir aus dem Büro holen. Kaffee gibt’s hier, aber nur entkoffeinierten, alles andere vertragen die nicht. Echten Kaffee gibt’s ebenfalls im Büro. Du musst dir vorstellen, auf wie vielen verschiedenen Psychopharmaka die alle gleichzeitig sind, da gäb’s alle möglichen gefährlichen Kreuzwirkungen. Deshalb: kein Koffein, kein Alkohol! Das Rauchen haben wir ihnen aber nicht verbieten können. Das ist für die meisten hier die einzige Beschäftigung, die sie überhaupt noch haben. Rauchst du? Nein? Gut, dann schnorren sie dich zumindest nicht die ganze Zeit um Zigaretten an. Also das heißt, sie werden dich trotzdem die ganze Zeit um Zigaretten anschnorren, und dann werden sie sauer sein, weil du sagst, dass du keine Zigaretten hast. Aber nach ein paar Monaten sehen sie dann ein, dass du wirklich keine Zigaretten hast. Bis auf den Herrn Mölzer, der wird einfach immer weiter schnorren und immer wütender werden.

Spielst du Gitarre? Da hinten steht nämlich eine, aber der fehlen leider ein paar Saiten. Müsste man mal wieder neue draufspannen, vielleicht kannst du das ja mal machen, wenn du nichts zu tun hast. Du wirst jedenfalls das Mittagessen und das Abendessen kochen und jeden Abend die Töpfe abwaschen und in den Mistkübeln hier und hier die Säcke tauschen. Die Säcke gehen uns übrigens schon wieder aus, was uns gleich zu deiner nächsten Aufgabe bringt: einkaufen. Hier ist die Speisekammer. Auf jeden Fall immer, wirklich immer zusperren! Du willst nicht wissen, was passiert, wenn die Frau Roth Zugang zur Kammer bekommt. Hier ist eine Liste mit Dingen, die du fast täglich kaufen musst, und hier ist eine Liste mit den anderen Sachen, die nicht ganz so oft gebraucht werden. Müllsäcke, viele Müllsäcke, Klopapier, Joghurt, da gibt’s beim Hofer diese 42-Stück-Paletten. Am besten nimmst du ganz viel von den Kaffee-Joghurts. Die sind zwar ekelhaft, aber die Klienten essen sie am laufenden Band, weil in denen immer noch besserer Kaffee drin ist als im entkoffeinierten. Und dass sie Joghurt essen, ist wichtig, weil das gegen die Verstopfung hilft, die sie von den Psychopharmaka und dem Bewegungsmangel kriegen. Einfache Rezepte hängen hier links an der Wand. Schau halt, dass sie sich halbwegs gesund ernähren und dass es nicht jeden Tag Fischstäbchen gibt. Die macht der Dirk schon dauernd. Okay. Was machen wir jetzt? Die Speisekammer zusperren, richtig. Gut, gehen wir mal in den zweiten Stock.

Das ist das Zimmer vom Herrn Mölzer. Ein hartnäckiger Fall von paranoider Schizophrenie. Am besten, du vermeidest einfach das Gespräch mit ihm. Lustig wird’s dann immer am Sonntag, da gehen wir alle gemeinsam rüber ins AIDA und essen ein Stück Torte. Wirst schon sehen, wie er sich da immer aufführt. Das Zimmer daneben ist bis vor Kurzem noch leer gestanden, aber letzte Woche ist gerade ein Neuer eingezogen. Da hat vorher die Frau Schreiner gewohnt, aber die hat sich vor zwei Monaten an ein paar Gitarrensaiten aufgehängt, womit man übrigens wesentlich bessere Ergebnisse erzielt als mit einem Verlängerungskabel oder einem Gürtel. Deshalb nennen wir es auch das Selbstmordzimmer, weil sich witzigerweise alle drei Menschen, die seit Gründung der WG bisher darin wohnten, umgebracht haben. Jetzt ist der Herr Gruber eingezogen. Den erkennst du sofort an der Sonnenbrille und der schiefen Kopfhaltung. Mal schauen, wie lang der sich hält. Und wenn er sich umbringen sollte, dann holst du zuerst mal einen Betreuer. Und wenn grad keiner da ist, dann rufst du die Rettung oder die Polizei. Die Nummern kannst du hoffentlich auswendig, oder? 144 – umgedrehter Rollstuhl, 133 – die Handschellen. Jedenfalls wirkt er bisher ganz nett, der Herr Gruber. Aber laut seinem Psychiater vom Otto-Wagner-Spital sollte man ihm keine Plastiksackerl geben und ihn auch nicht auf Plastiksackerl ansprechen. Genauso wie du den Herrn Mölzer nicht daran erinnern darfst, dass er sein Zimmer aufräumen soll, obwohl es inzwischen echt notwendig wäre. Aber es gibt eben so Sollbruchstellen in der Psyche von Menschen. Die sind ja nicht grundlos so. Glaub mir, du willst nicht wissen, was manche von denen für Kindheiten hatten. Wenn du’s aber doch wissen willst, kannst du’s gerne nachlesen: Im Büro liegen die gesammelten Akten. Klinische Befunde, Anamnesen – wir versuchen die Krankheitsgeschichte so vollständig wie möglich nachzuzeichnen, aber aus manchen Klienten ist einfach nix rauszukriegen. Oder man kann nicht feststellen, ob die Informationen stimmen, die wir von ihnen kriegen. Herr Mölzer zum Beispiel: erzählt dir sehr gerne von seinen diversen Kämpfen gegen das FBI und den Geheimdienst von der Baumgartner Höhe, aber nix davon stimmt. Berichte über Strafdelikte haben wir auch da. Wenn dir mal langweilig sein sollte, kannst du die gern alle durchschauen. Ist auch ganz hilfreich, zu wissen, was die bisher so angestellt haben.

Das erinnert mich an eine weitere deiner Aufgaben: Du musst jeden Abend Tagesprotokolle verfassen. Da schreibst du einfach auf, was die Klienten den ganzen Tag über so gemacht haben. Ob sie gut drauf waren oder nicht. Und schreib auf keinen Fall Keine besonderen Vorkommnisse. Das sieht die Verwaltung nicht gerne, weil das so klingt, als hätten wir uns überhaupt nicht mit den Klienten beschäftigt. Wenn also nichts passiert ist oder wenn du dich einfach wirklich nicht mit einem Klienten beschäftigt hast, dann schreibst du einfach so was wie: Herr Schmidt verbrachte den Tag über in der WG und verhielt sich äußerst ruhig und zuvorkommend. Das klingt dann so, als hättest du ihm wirklich Aufmerksamkeit geschenkt. Du übernimmst vorerst einmal die Protokolle von Herrn Schmidt, Herrn Mölzer, Herrn Gruber und Frau Herbst.

Apropos: Hier wohnt die Frau Herbst. Die ist ungefähr in deinem Alter. Deshalb solltest du ihr wahrscheinlich auch ein bisschen aus dem Weg gehen. Bisher hat sie sich ausnahmslos in jeden einzelnen Zivildiener verliebt. Und spätestens wenn du sie siehst, wirst du dich über diesen Umstand nicht mehr freuen: hundert Kilo und sabbert, wenn sie horny ist, und sie ist oft horny. Nicht der schönste Anblick, sonst aber ganz nett. Kann sich immer noch nicht die Schuhe binden und läuft deshalb dauernd in Klettverschlüssen herum.

Gegenüber wohnt die Frau Kutschera. Die macht nicht viel. Sitzt im Grunde den ganzen Tag nur im Wohnzimmer, isst und lacht irgendwie zynisch vor sich hin. Hat aber eine ziemlich heftige Menstruation, zum Bettlaken-Waschen brauchst du auf jeden Fall Handschuhe. Am besten mehrere Lagen übereinander. Und desinfizieren nicht vergessen!

Den Herrn Haas hab ich ja vorhin schon erwähnt. Der wohnt, genau wie die Frau Glettler, außerhalb in einer eigenen Wohnung, geht unter der Woche immer wieder mal ins betreute Arbeiten und verbringt den Rest seiner Zeit bei uns unten im Wohnzimmer. Er ist streng genommen auch schizophren, aber man merkt’s bei ihm nicht so. Da hat schon oft ein Zivildiener zuerst nicht gewusst, ob das ein Klient oder ein Betreuer ist, weil er auf den ersten Blick fast normal wirkt in seinem Anzug. Aber wenn man ihn länger beobachtet, merkt man, dass er immer in demselben Anzug herumläuft und dabei so komisch mit dem Kopf wackelt und irgendwie mit allem überfordert ist und vor allem sehr leicht reizbar. Manchmal kommt er am Abend komplett besoffen zu uns, da muss man dann wirklich aufpassen.

Der Herr Haas und die Frau Kutschera sind übrigens ein Paar. Kondome haben wir im Büro im Kasten in der untersten Schublade. Aber nicht selber verwenden! Haha – nein, im Ernst: Sexuelle Beziehungen zwischen Klienten und Betreuern sind streng verboten. Man sollte meinen, dass das selbstverständlich ist, aber du würdest dich wundern, wie oft ich da schon wen erwischt hab. Okay, so oft nicht, aber vorgekommen ist es schon. Also: kein Sex! Ich weiß, es ist eigentlich klar, aber ich sag’s den Zivis lieber trotzdem einmal zu viel, man weiß ja nie. Ich meine, du bist achtzehn, da gehen schon mal die Hormone mit einem durch. Ich verlasse mich darauf, dass du dich zusammenreißt, aber wie gesagt: Die Frau Herbst – sehr horny! ›Fette Fotze, feuchte Fotze‹, sag ich immer. Haha, Scherz – nein, aber jetzt wirklich im Ernst, um’s noch einmal klar und deutlich auf den Punkt zu bringen: kein Sex! Absolut kein Sex! Und wenn doch, dann mit Kondom. Unterste Schublade.

Ach ja, da hinten haben wir dann noch das letzte Zimmer, das mit dem Riegel davor. Da wohnt die Frau Brandner, die ich vorhin schon kurz erwähnt habe. Ich persönlich finde, das ist immer der witzigste Punkt auf dem Rundgang. Schau dir das Zimmer einfach mal selber an. Vielleicht kommst du ja von alleine drauf, was damit nicht stimmt.«

5

Das Zimmer von Frau Brandner ist aufgrund ihrer Tendenz zur Selbstverletzung gänzlich frei von Glas und Keramik. In der gemeinschaftlichen Wohnküche im ersten Stock gibt es deshalb auch nur Plastikteller und -becher, und die Fenster sind überall so dick, dass es so gut wie unmöglich ist, sie einzuschlagen. Die ganze WG gleicht einer einzigen Gummizelle.

Jede Woche kommt eine Pflegerin, Vjenka, vorbei und schneidet Frau Brandners Fingernägel zurück, damit sie sich damit keine ernsthaften Verletzungen zufügen kann. Die Betreuer dürfen ihr die Nägel nicht schneiden, weil das strafrechtlich unter Körperverletzung fällt.

An einem guten Tag liegt Frau Brandner müde von ihren Beruhigungsmitteln von morgens bis abends friedlich auf ihrem Sofa, kichert vor sich hin und lauscht deutschen Schlagern aus ihrem CD-Player, die sie aus ihrer Kindheit kennt. Sie singt die Texte mit und schaut sich die Fotos von Katzenbabys an, die sie von den Betreuern immer dann geschenkt bekommt, wenn sie brav gewesen ist. An einem guten Tag sind die Betreuer entspannt, alle haben ihre Ruhe und gehen gemütlich ihren Aufgaben nach. An einem guten Tag schenkt Michaela Frau Brandner einen Schokoriegel als positiven Verstärker, den diese mit plumpen, unkoordinierten Bewegungen in sich hineinstopft, bevor sie das Verpackungspapier mit klebrigen, verschmierten Händen an Michaela zurückreicht. Sobald eine CD ausgespielt ist, nimmt sie sie mit ihren dreckigen Händen aus dem Rekorder und tauscht sie gegen eine neue aus. Es gibt keinen Gegenstand in ihrem Zimmer, der nicht regelmäßig mit Schokolade oder anderem Essen beschmiert ist. Daher lässt sich Frau Brandners Zustand auch an dem Verschmiertheitsgrad der Einrichtung ablesen. Je besser ihre Stimmung, desto mehr positive Verstärker bekommt sie von den Betreuern, und desto mehr Flecken kann sie damit an die Wände malen. Sie sammelt die Flecken und Katzenbilder wie Abzeichen oder Pokale. Sie sitzt auf ihrem Bett, fährt sich mit der verklebten Hand durch die kurzen, rot gefärbten Haare und singt Marmor, Stein und Eisen bricht. Singt Theo, wir fahr’n nach Lodz. Singt Die Biene Maja, während sie stolz die Schmierereien betrachtet, die Wände und Decke überziehen. Und ihr Bettlaken. Und ihr Nachthemd. Und ihren Körper. Über die Jahre hat sie eine starke emotionale Bindung zu den Bildern und Süßigkeiten aufgebaut. Und wenn man die Flecken genauer betrachtet, dann kann man darin Bilder erkennen. In jeder ihrer Handlungen steckt zumindest ein Minimum an Kreativität. Für Frau Brandner geht von den Flecken um sie herum eine angenehme Wärme aus. Sie erinnern sie an früher. Der Dreck in ihrem Zimmer ist das Maß an Chaos, das man ihr zugesteht. Als Prophylaxe. Als Ersatzhandlung, damit sie sich nicht ernsthaft Schaden zufügt.

Wenn ihr Zimmer gereinigt werden soll, muss man sie vorwarnen, manchmal sogar eine Woche lang darauf vorbereiten, damit sie der Schock nicht ganz so schwer trifft. Auf gar keinen Fall darf die Reinigung plötzlich und unangekündigt geschehen. Das Verschwinden der Flecken empfindet sie als ungerechte Bestrafung. Und wenn Frau Brandner von niemandem vorab über die Reinigung ihres Zimmers in Kenntnis gesetzt wurde (beispielsweise weil es einem noch neuen und unerfahrenen Zivildiener an vitalen Informationen über die fundamentalsten Regeln und Gewohnheiten in der WG fehlt), kommt es in der Regel zu einer Anhäufung von Ereignissen, die man im Rückblick als »weniger guten Tag« bezeichnen würde.

An einem weniger guten Tag hört man bereits in aller Früh die schauderhafte Mädchenstimme der Frau Brandner in den unmöglichsten Frequenzbereichen durch die Gänge hallen. Und noch bevor einen das Geräusch wirklich erreicht, weiß man bereits: Heute wird ein weniger guter Tag.

Die Betreuer schauen sich gegenseitig an und seufzen.

»Jetzt kriselt die schon wieder«, sagen sie.

»Hol mal die Bedarfsmeds«, sagen sie.

An einem weniger guten Tag entkleidet sich Frau Brandner zunächst vollständig und verlässt taumelnd ihr Zimmer, um hinunter in die Wohnküche zu laufen und alles nach ihren Vorstellungen umzudekorieren, also sämtliche Einrichtungsgegenstände durch die Gegend zu werfen, bis niemand mehr sagen könnte, was ihre jeweiligen Funktionen gewesen sind. Würde man diesen Vorgang nicht selbst aus einem mehr oder weniger sicheren Abstand beobachten, würde es im Nachhinein schwerfallen, das Chaos einzig und allein auf Frau Brandner zurückzuführen, die ja gerade einmal eine Körpergröße von 150 Zentimetern erreicht. Doch wann immer sie in eine ihrer Phasen abtaucht, entwickelt sie ungeheure Kräfte.

An einem weniger guten Tag wird auch Frau Brandners Einfallsreichtum erkennbar. Trotz der angestrengten Bemühungen der Betreuer, alle gefährlichen Gegenstände von ihr fernzuhalten, ist Frau Brandner offenbar doch fündig geworden. Und als sie zum Schrecken des Zivildieners plötzlich vor ihm im Stiegenhaus steht, schaut dieser nicht schlecht, als er die Best-of-Schlager-Vol.27-CD erkennt: in zwei Teile zerbrochen, befindet sie sich zum einen in der festen Umklammerung der bereits blutig geschnittenen linken Hand und ragt zum anderen blutüberlaufen und beunruhigend wenig sichtbar aus ihrem Bauch. Schillernd blättern kleine Teile des Datenträgers ab, lösen sich von der CD und segeln in hauchdünnen, bunten Flocken zu Boden. Mit Schokolade und Blut beschmiert verteilen sich Reinhard Mey, Heino und Peter Alexander auf dem blauen Linoleum.

Vor Angst erstarrt steht der Zivi da und hat nur noch Augen für den nackten, blutenden Körper der Frau Brandner, die ihn auf eine Weise angrinst, dass er sich sofort wünscht, er wäre doch lieber zum Bundesheer gegangen, denn dort hätten sie ihm wenigstens eine Waffe gegeben. Wider seinen Willen kann er seinen Blick nicht abwenden: diese abwechselnd dunkelblauen und hellrosa Flecken, die tiefen Furchen, die ihren blassen Körper überziehen, als wäre sie in einem früheren Leben ein Testobjekt für Nähmuster gewesen. Im Grunde kann man auch nur an der faltigen Haut und den verschiedenen Verheilungsstadien der Narben sehen, dass diese Frau schon langsam auf die sechzig zugeht. Von der Stimme her würde man sie eher auf drei oder vier schätzen.

Wenn man sich in einer solchen Situation nicht richtig verhält, indem man sich zum Beispiel schnell genug im nächstbesten Raum verbarrikadiert, beutelt einen Frau Brandner sofort durch, wie einen von ihren Polstern. Wie es scheint, hat der Zivi diesmal aber unverschämtes Glück, denn als er vor Entsetzen wie gelähmt im Flur steht, kann ihn Frau Brandner dank seiner Bewegungslosigkeit gar nicht als Beutetier identifizieren und rauscht haarscharf an ihm vorbei in Richtung Waschküche. Und jetzt sehen wir auch, wieso die Betreuer den Zivis wirklich zehnmal sagen müssen, dass sie die Waschküche unbedingt zusperren sollen. Denn der Zivi hat es diesmal offenbar nur neunmal gehört, weshalb Frau Brandner sofort ungehindert hineinstürmt und damit anfängt, die Waschmittelsäcke in kleine Fetzen zu reißen und ihren Inhalt auf dem Boden zu verteilen.

Was nun folgt, lässt sich am besten durch einen Blick in die Akte der Frau Brandner erklären, denn jemand wie eine Frau Brandner wird man nicht einfach ohne Grund. Eine Frau Brandner hat immer eine lange Geschichte, die sie zu dem gemacht hat, was sie ist. Eine Frau Brandner hat eine gewalttätige Mutter oder einen gewalttätigen Vater. Eine Frau Brandner hat gar keine Mutter gehabt. Oder keinen Vater. Oder ist zur Gänze verwaist. Eine Frau Brandner hat im Embryonalstadium zu wenig Sauerstoff bekommen. Oder zu viel Alkohol. Eine Frau Brandner ist jahrzehntelangem Missbrauch ausgesetzt gewesen. Einer Frau Brandner hat man gesagt, sie soll still sein. Sie soll nichts verraten. Und wenn sie doch mal den Mund aufgemacht hat, dann hat man ihn ihr mit Seife ausgewaschen. Wenn man das alles bedenkt, ist es gar nicht so verwunderlich, dass sich in der Mitte der Kammer nach und nach ein Berg aus Waschmittel bildet, auf dem Frau Brandner nackt und grinsend thront, während sie sich voller Begeisterung das Pulver mit der hohlen Hand in den Mund schaufelt.

Das ist, wie immer, der Höhepunkt des Tages.

Die Betreuer versuchen verzweifelt, die nackte Frau von ihrer Festung herunterzuholen. Doch sie wehrt sich beharrlich dagegen, gerettet zu werden, und sticht mit dem Holzende eines Besenstiels auf jeden ein, der sich ihr nähert. Ratlosigkeit macht sich breit und die Betreuer werden nervös, wenn sie daran denken, wer im Nachhinein eigentlich die Verantwortung für das ganze Waschmittel im Bauch von Frau Brandner zu tragen hat. Schließlich ist das Einzige, was sie noch tun können, Rettung und Polizei zu rufen und darauf zu hoffen, dass sie in der Zwischenzeit nicht den ganzen Berg auffrisst.

Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett, singt diese indes mit ihrer markerschütternden Fistelstimme und lässt sich das Waschmittel überglücklich grinsend in ihren Rachen rieseln. Sie singt Griechischer Wein, und bei jedem Wort schweben Seifenblasen aus ihrem Mund durch die offene Tür zum Gang hinaus. Und während sich der Raum mit Schlagernoten füllt, fasst Frau Brandner beherzt in den Berg unter sich, nimmt zwei Hände voll Waschmittel und reibt sich damit gründlich am ganzen Körper ein. Rote Lippen soll man küssen, singt sie und reibt den ganzen Schmutz und Dreck, die Schokolade und das Blut von sich runter, scheuert die dunkelblauen und hellrosa Flecken von ihrer Haut. Löscht das weißlich-rosarote Narbengewebe, wischt die Nähte, Falten und Beulen von ihrer Landkarte. Sie singt Für mich soll’s rote Rosen regnen; bis ihre Oberfläche glatt und makellos ist und nichts mehr an ihr haften kann. Bis sie jede nennenswerte Unebenheit ausgemerzt hat. Dabei verursacht sie einen derartigen Radau, dass sämtliche Hausbewohner wach werden und herunterkommen, um sich selbst ein Bild von der nackten Frau Brandner auf dem Waschmittelberg zu machen.

Nur Herr Schmidt, der kleine alte Mann mit der Baseballkappe und der Angewohnheit, an willkürlichen Stellen eines Gesprächs zu applaudieren, bleibt, wie jeden Tag, unbeteiligt auf seinem Stuhl sitzen und fragt, ob jetzt jemand mit ihm ins Kino gehe. Er stellt grundsätzlich immer die gleichen Fragen, danach, ob jetzt etwas passiert oder etwas kommt, ändert sie aber je nach Jahreszeit ein kleines bisschen ab. Zu Weihnachten fragt er, wann der Christbaum kommt, im Frühling fragt er nach dem Osterhasen. Ob die Dinge tatsächlich kommen, interessiert ihn nicht. Mitunter fragt er auch nach dem Christbaum, wenn dieser bereits vor ihm steht. Unterhält man sich länger mit ihm, bekommt man mitunter ein seltsames Gefühl völliger Ausgeglichenheit.

Als Herr Gruber, der Neuzugang, ebenfalls zum Nachschauen herunterkommt, wird auch er von Herrn Schmidt gefragt, ob er jetzt mit ihm ins Kino gehe. Herr Gruber will sich eigentlich nur einen entkoffeinierten Kaffee machen, aber dazu bräuchte er eine funktionstüchtige Kaffeemaschine. Und wie er da so allein und verloren nach den Resten der Kaffeemaschine suchend im Wohnzimmer herumschleicht und wiederholt von Herrn Schmidt nach dem Verbleiben des Krampus gefragt wird, können wir ihm schon ansehen, dass er etwas auf dem Herzen hat. Als er schließlich aufgibt, weil die Kaffeemaschine einfach zu weit im Raum verstreut ist und man sich nicht sicher sein kann, dass nicht auch ein paar Teile davon bereits draußen auf der Straße liegen, schleppt er sich unter Tränen und mit zuckenden Mundwinkeln zu einem Betreuer, deutet mit zitternder Hand auf das Chaos im Wohnzimmer und fragt mit bebender Stimme: »War ich das?«

Der Betreuer lacht.

Und während Frau Brandner immer noch Ein bisschen Spaß muss sein singt, erklärt der Betreuer Herrn Gruber, dass das Chaos im Wohnzimmer nicht er, sondern Frau Brandner angerichtet hat und dass er am besten einfach wieder auf sein Zimmer gehen soll, dann würde der Betreuer ihm nachher einen Kaffee aus dem Büro bringen.

Man merkt, dass es Herrn Gruber zwar beruhigt, nicht für die Zerstörung verantwortlich zu sein, aber irgendwie fühlt er sich auch beleidigt, weil der Betreuer ihm so eine Zerstörungskraft offenbar gar nicht erst zugetraut hätte. Außerdem fühlt er sich natürlich auch ein bisschen ausgeschlossen, denn: Wieso darf Frau Brandner nackt auf dem Waschmittelberg sitzen und essen, und er muss wieder zurück in sein Zimmer? Schizophrene sind wirklich die Letzten, die man ausschließen sollte. Herr Gruber hat ohnehin die meiste Zeit das Gefühl, er würde sich selbst ausschließen. Und was soll man denn tun, wenn man nicht einmal mehr in seinen eigenen Kopf reinkommt? Wo soll man denn dann schlafen? Und woher soll man wissen, wo man dazugehört, wenn man sich offenbar nicht einmal mit sich selbst einen Kopf teilen kann?

Über so etwas denkt Herr Gruber nach, während er langsam wieder in sein Zimmer hinaufschlurft. Da braucht man sich wirklich nicht wundern, dass er angefangen hat, von dem Pickel auf seinem Arsch zu erzählen, als sein Psychiater ihn gefragt hat, was er denn heute für ein Problem habe. Die Betreuer hätten sich darüber sowieso nicht gewundert. Denn das ist das Erste, woran man sich beim Leben hier gewöhnen muss: an das Gewöhnen.

Als Polizei und Rettung eintreffen, gesellt sich der Rettungszivi sofort zum Betreuungszivi, beide Gesichter bleich wie der Magen der Frau Brandner. Und exakt wie die Betreuer es vorausgesehen haben, lässt die Frau Brandner, kaum dass die Polizei da ist, den Besen fallen und verwandelt sich wieder in das unschuldigste kleine suizidgefährdete Mädchen, das die Polizisten jemals gesehen haben. Das ist schließlich auch der zugrunde liegende Zweck ihrer Ausbrüche: dass sie wieder zurück in die Klinik darf, wo sie vom Aufsichtspersonal rund um die Uhr umsorgt wird. Die Gefahr ist nie, dass sich Frau Brandner tatsächlich umbringen will, sondern dass sie sich beim Versuch, Aufmerksamkeit zu erlangen, aus Versehen umbringt. Alles, was sie will, ist, dass man sich um sie kümmert wie um ein kleines Kind. Das Einzige, was nicht ins Bild passt, ist die Tatsache, dass sie bereits 59 Jahre alt ist.