Hundesohn - Ozan Zakariya Keskinkılıç - E-Book

Hundesohn E-Book

Ozan Zakariya Keskinkiliç

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Beschreibung

Dies ist eine Liebesgeschichte. Sie spielt im Juni, im Juli, im August in Adana, dreitausend Kilometer weit weg von Berlin. In Berlin lebt Zeko. Hier trifft er Männer in Parks und Cafés, auf Dating-Apps und vor der Moschee. Doch jedes Mal, wenn sich ihre Lippen berühren, reißen ihn die Gedanken zurück zu Hassan, dem Nachbarsjungen in Adana, den Dede, sein Großvater, immer nur »Hundesohn« nennt. Zeko kennt das laute Viertel, den Staub in den Gassen nur aus den Sommerferien. Dann stirbt Dede an einem Herzinfarkt. Aber Zeko will nicht vergessen, nicht den Großvater, der alten Männern die Sorgen aus dem Bart schnitt und auf Arabisch sang, nicht die religiösen Rituale und den Geschmack von Bamya. Und vor allem nicht Hassan.
»In neun Tagen werde ich Hassan wiedersehen«, wiederholt er wie ein Mantra: beim Freitagsgebet, in der Therapiesitzung, im Prinzenbad, beim Mittagessen mit seiner besten Freundin Pari. Aber etwas ist geschehen, als Zeko und Hassan sich das letzte Mal sahen. Etwas, das immer heftiger heraufdrängt, je näher der Tag seiner Abreise kommt.

Hundesohn erzählt radikal und poetisch von Liebe und Begehren. Von der Euphorie und Verletzlichkeit, der Angst und dem Glück, wenn man liebt. Vom leisen Schrei und lauten Flüstern: am Küchentisch, in fremden Betten und im Gebet. Und vermisst dabei unsere zerrissene Gegenwart, über alle Grenzen von Ländern, Sprache und Körper hinweg.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 221

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

Ozan Zakariya Keskinkılıç

Hundesohn

Roman

Suhrkamp

Impressum

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Die Arbeit an diesem Roman wurde durch ein Stipendium des Berliner Senats gefördert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2025

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: Wolfgang Tillmans, Faltenwurf Prinzessinnenstrasse/Pines, 2019 © Courtesy Galerie Buchholz

eISBN 978-3-518-78348-1

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Die Filzlaus

Dede Issues

Pari I

Steinbock

ADHS

Emergency

Socken

Pari II

Der Regen

Der Sohn I

Pari III

Ameisen

Datingprofile

Kafka

London Boy

Der Sohn II

Menü

Never Ever

Träume

Wäschekorb

Dede II

Die Höhle

Nene I

Was ich meiner Therapeutin niemals sagen werde:

Besuch

Nene II

Der Sohn III

First Dates I

Orangen und Meersalz I

First Dates II

Marseille

Orangen und Meersalz II

Die Verwandlung

Rehkitz

Informationen zum Buch

Hundesohn

Wie Hunde verzweifelt im Boden scharren, so scharrten sie an ihren Körpern; und hilflos, enttäuscht, um noch letztes Glück zu holen, fuhren manchmal ihre Zungen breit über des anderen Gesicht. Erst die Müdigkeit ließ sie still und einander dankbar werden.

Franz Kafka, Das Schloss

Niemanden hasst der Hund so wie den Wolf; er erinnert ihn an seinen Verrat, sich dem Menschen verkauft zu haben.

Kurt Tucholsky, Traktat über den Hund

Prolog

Heute hat mich der Geruch von Lavendel, von Thymian, Minze und Salbei gerettet. Für zwei Stunden bin ich im Botanischen Garten umhergestreunt. Keine Ahnung, was ich suchte. Ich bellte Familien mit Kindern beim Picknick an, jagte bunten Vögeln hinterher und fiel erschöpft ins Gras. Für einen Moment dachte ich, warum nicht in Kakteen springen, um den Schmerz in der Brust durch das Jucken auf der rauen Haut zu vergessen. Wie immer zog ich den Schwanz ein. Ich rieb mein Fell lieber an Zedernrinden und senkte die Pfoten ins Kräutergebüsch. Für einen Moment dachte ich, es wären die Locken deines Hinterkopfes, in denen ich mich verlor, und die Spitzen deines Schnurrbarts, an denen ich knabberte, und die dichten Augenbrauen, die ich mit dem Maul erst gegen, dann in Haarwuchsrichtung entlangküsste. Ganz heimlich biss ich ab von Lavendel, von Thymian, Minze und Salbei, um dich zuhause unter mein Kissen zu legen. Heute Nacht, wenn ich das Tier wild in die Laken werfe, werde ich Keine Zukunft von Bonaparte auf Spotify spielen. Und inşallah wird mein Verstand verkommen wie ein wilder Garten.

Die Filzlaus

Dreizehn, vierzehn, fünfzehn Filzläuse habe ich mir jetzt schon aus den Schamhaaren gezupft. Pthirus pubis auf Latein: 1,5 bis 2 mm groß, grauweiß, flügellos, habe ich im Internet nachgelesen. Und dass sie manchmal Achselhöhlen und Barthaare befallen. In den Achselhöhlen habe ich keine, im Bart auch nicht. Aber in den Brusthaaren und sogar auf dem Rücken kleben überall Nissen. Bis zu fünfundzwanzig Eier legt eine Filzlaus täglich, habe ich im Internet nachgelesen. Und dass der Entwicklungszyklus bis zur erwachsenen Laus rund drei Wochen beträgt.

Ich zähle die Tage zurück, vor drei Wochen traf ich Ravi. Wir hatten uns auf Grindr geschrieben. 26Jahre alt, 1,78 m groß und 61 kg schwer. Single. Top. Sucht Verabredungen. HIV-Status negativ, auf Prep. Zuletzt getestet Juni 2024. Gegen COVID-19 geimpft. Treffpunkt bei dir. Into rough awakening, wild sex, animal instincts, blood bath, stand in seinem Profil. Das muss nichts heißen. Und trotzdem hat er sich wie eine Filzlaus in meine Schenkel gebissen, die Stiche und blauen Flecken kann ich noch immer sehen. Viel gesprochen hat er nicht, geschrieben auch nicht so viel. Er schickte mir ein Bild, oberkörperfrei, die Jeans auf Kniehöhe. Er trug einen weißen Slip und weiße Socken, das war mir sympathisch. Der Bart fast zwölf Zentimeter lang, und sein Blick wie ein Diopter auf meine Brust gerichtet. Das walnussbraune Haar war ganz zerzaust, der Kampf hatte sich in sein Gesicht gerieben. Ein wenig Blut klebte an seinen Fingern, Spucke und Gleitgel, vegan auf Wasserbasis. Nach dreiundzwanzig Minuten ist er wieder gegangen, wir haben nicht noch einmal geschrieben.

Ob ich ihm jetzt schreiben sollte? Good morning! I just wanted to let you know that I have crabs, maybe you should check your panties, könnte ich schreiben. Oder: What’s up handsome, come back and be my parasite. Oder: Hello Ravi. I was just wondering, could it be that you forgot your crabs here?

Ein bisschen neugierig bin ich schon, von wem ich’s hab. Auch wenn es nicht viel an der Situation ändert.

Ich sehe noch einmal in meinen Kalender, ein paar Tage nach Ravi war ich bei Matteo. 34Jahre alt. 1,81 m groß, 83 kg schwer. Vers. Sucht Freunde, Casual Dating. Treffpunkt bei mir. fit/hung/clean/fair/safe, stand in seinem Profil, das war mir sympathisch. Um 21:54 Uhr schickte er mir Flammen-Emojis. U cute, habe ich geantwortet und ihm ein Foto geschickt: Ich liege im Bett auf dem Rücken, trage einen schwarzen String, spreize die Backen mit der Hand wie einen Carrot Cake in der Mitte sanft auseinander. Hot, schrieb Matteo und teilte direkt sein Album. Auf einem Foto trägt er eine silberne Kette, am rechten Oberarm ein Tattoo, irgendein Vogel. Brust und Bauch stark behaart, das mag ich. Links und rechts Ringe im Ohr, leider auch silbern, nicht so meine Farbe. Auf einem anderen Foto kniet Matteo nackt vor der Handycam. Im Hintergrund sind ein paar Regale an der Wand zu sehen, Kleiderbügel, eine rote Kaffeetasse. Ich glaube, auch ein schwarzer Aschenbecher. I’d love to eat your ass, schrieb ich Matteo, das war um 23:50 Uhr. Eine Minute später antwortete er, please do. I love rimming. Dann teilte er seinen Standort. Der blaue Pfeil steckte ein paar Straßen weiter vom Leopoldplatz in einem Hinterhof.

I think I’m too tired to fuck tonight, schrieb Matteo. But we can do other stuff.

Eine halbe Stunde später klingelte ich an seiner Tür, viertes Obergeschoss, Tür links. Eine WG, aber außer Matteo war niemand da. Wir haben other stuff gemacht. Filzläuse kriegt man auch durch other stuff.

Vierundzwanzig Stunden überlebt so eine Filzlaus ohne Wirt, habe ich im Internet nachgelesen. Und dass sie alle zwei Stunden eine Blutmahlzeit braucht. Das ist eine Menge, finde ich, für so ein kleines Biest, und betrete die Apotheke um 10:03 Uhr.

Guten Morgen, ich bräuchte etwas gegen Filzläuse.

Gegen was?, der Apotheker reißt die Augen weit auf, guckt irgendwie angeekelt.

Gegen Filzläuse, du Wichser, hätte ich gerne gesagt. Gegen Pthirus pubis, sage ich stattdessen und bezahle 14,95 Euro für 50 ml Läusespray. Das tut richtig weh. Dafür hätte ich fast zehn Lahmacun ohne Salat bei Örnek im Wedding essen können. Oder Palak Paneer mit einem Butter-Naan im Tandoori Palace in Neukölln, sogar Trinkgeld wäre mit drin gewesen. Stattdessen habe ich mir Filzläuse für original 14,95 Euro geholt und weiß nicht einmal, ob es sich gelohnt hat.

Auf dem Weg nach Hause zähle ich die Tage zurück, vor zwei Wochen traf ich Chris. Er hat ziemlich geprahlt, I will do this to you, I will do that to you. Am Ende hat er mir gar nichts gedot, wollte nur kuscheln. Ist auch okay, ist auch schön.

No problem, habe ich gesagt. I like cuddles, habe ich gesagt. Dann kämmte er mir die Brusthaare mit den Fingernägeln, das war schön. Chris wollte kleiner Löffel sein. Wer groß herumprahlt und auf dicke Hose macht, will immer kleiner Löffel sein. Ich habe Chris von hinten umschlungen, mein Bauch an seinem Rücken, mein linkes Bein über sein linkes Bein, die Hände wie Efeu fest um die Brust gedreht. That’s nice, sagte Chris. Er hielt die Augen geschlossen, ich kämmte ihm den Hinterkopf mit den Fingernägeln, das fand er schön. Das ging zehn Minuten so, dann sah ich auf die Uhr und meinte, now you have to go. Really?, fragte Chris. Really, habe ich geantwortet, I got some stuff to do, but let’s meet again soon. An der Haustür gab er mir zum Abschied einen Kuss. Zehn Minuten später, um 19:03 Uhr schrieb er mir, thanks for having me over, ein rotes Herz hinterher. Catch up soon, habe ich geantwortet, eine rote Tulpe hinterher. Ich werde Chris nicht noch einmal sehen.

Es ist 11:00 Uhr. Ich sitze in der Badewanne und schmiere das Läusemittel auf den Nacken, die Oberarme, dann die Brust, den Bauch, den Rücken, dann die Schenkel. Zehn Minuten muss es einwirken, bis sie ersticken. Kein schöner Tod, denke ich. Nach neun Tagen die Anwendung wiederholen, steht in der Packungsbeilage.

In neun Tagen werde ich Hassan wiedertreffen, diesen Hundesohn. Beim letzten Mal haben wir uns gegenseitig die Leberflecken gezählt, das ist ein Jahr her. Leberfleck heißt auf Türkisch ben. Es ist das gleiche Wort für ich, das fand ich schon immer geheimnisvoll. Auf Türkisch rief ich mich bei den Leberflecken auf dem hübschen Gesicht eines anderen, zwölf, dreizehn, vierzehn. Ich berührte mich auf Hassans Wangen. Ich sagte, ben buradayım ve ben oradayım, ich bin hier und ich bin dort.

Ich zähle Leberflecken, seitdem ich ein Kind bin, sagte ich Hassan. Nene mag das nicht. Hör auf zu zählen, sagt meine Großmutter, dadurch vermehren sich die Punkte, so ein Gesicht ist nicht schön anzusehen, Oğlum.

Nene irrt sich gewaltig, Hassans Gesicht ist schön anzusehen. Es sieht aus, als wäre eine Wassermelone vor seinem Kopf explodiert, und die Samen liegen verstreut auf der Wange, dem Hals und den Ohrläppchen. Neunundzwanzig Wassermelonenkerne zählte ich auf seinem Gesicht.

Jetzt bin ich dran, sagte Hassan und warf mich auf den Bauch. Er zog mein T-Shirt hoch und tippte mit dem Zeigefinger auf jeden Punkt an meinem Rücken. Ich bin hier und ich bin dort, sagte Hassan lachend, und ich zappelte unter seinem Gewicht.

Hör nicht auf, dachte ich. Zähl weiter, zähl mich aus, bis ich nicht mehr weiß, wo mein ben aufhört und dein ben beginnt.

Du hast fünfzehn Leberflecken auf dem Rücken, sagte Hassan.

An den Beinen habe ich noch mehr.

Das muss ich nachzählen, sagte Hassan und zog mir die Hose herunter.

Wenn Nene recht hat und sich die ben vermehren, dann liegt im Zählen eine schöne Magie. Ich habe angefangen, alles, was ich liebe, zu zählen, damit sich die Dinge vermehren. Ich zählte Pistazienkerne und Trauben an den Reben, die Bohnen in Nenes Eintopf und Dedes Barthaare über den schmalen Lippen. Ich zählte, wie oft mir Nene mit den Fingernägeln über den Kopf strich und wie oft Dede die Stirn zum Gebet auf den Teppich senkte, wie oft er sagte: Sei geduldig, mein Sohn, denn wahrlich, Gott ist mit den Geduldigen.

In den Sommerferien in Adana zählte ich Şalgambecher und Bici Bici und den Mond, unter dem ich mit den Nachbarsjungen durch die Straßen zog. Ich zählte die Sandkörner von Mersin, die an ihren Rücken klebten. Alles zählte ich in der Hoffnung, dass sich meine Wünsche erfüllen. Und ich war geduldig, denn wahrlich, Gott ist mit den Geduldigen.

In neun Tagen werde ich Hassan wiedersehen. Ich werde in die Knie gehen, um seine Leberflecken zu zählen, ich werde Stirn und Nase versenken. Dieser Geruch, immer riecht er nach Orangenschalen und Meersalz. Ich werde mir wünschen, eine Filzlaus zu sein, die sich ein Nest baut in seinen Schamhaaren, in seinen Achselhaaren, in seinen Barthaaren, diesem dichten Blättergebüsch. Ich werde Hassan in die Schenkel beißen und Nissen verteilen, damit er sich an mich erinnert. Er wird die Tage zurückzählen, die Bisse, den Läusekot, die Blutflecken in der Unterwäsche. Er wird sie bei 60 Grad waschen. Auch die Bettwäsche wird er bei 60 Grad waschen. Er wird sich Läusespray aus der Apotheke holen. Er wird sagen, einmal Läusespray, du Wichser. Er wird umgerechnet 14,95 Euro zahlen und sich ärgern. Er wird das Zeug einmassieren unter den Achseln, auf der Brust und dem Rücken. Er wird zehn Minuten warten, bis ich ersticke. Kein schöner Tod, denke ich. In neun Tagen wird er die Anwendung wiederholen. Und dann wird er mich vergessen. Er wird mich vergessen, so wie er mich jedes Mal vergisst, nachdem er mich erst verschlungen und dann ausgespuckt und wiedergekäut hat, wenn ihm langweilig ist und er jemanden braucht, der ihn braucht. Und er weiß, ich brauche ihn. Niemand ist ihm gleich.

Es ist 14:35 Uhr. Ich springe von der Badewannenkante auf den ausgerollten Teppich im Wohnzimmer. Ich sage Allahu Akbar und hebe die Handflächen an den Kopf, berühre sanft die Ohrläppchen mit den Daumen, führe die Hände über den Bauchnabel, die rechte auf der linken. Die Füße sind leicht gespreizt. Ich sage, qul huwa Allahu ahad, Er ist Gott, einzig. Allahus-samad, der Erbetene. Ich sage, lam yalid wa-lam yulad, nie zeugte Er, und nie wurde Er gezeugt. Wa-lam yakun lahu kufuwan ahad, und niemand ist Ihm gleich. Ich beuge den Oberkörper nach vorne, die Hände stützen sich auf die Oberschenkel. Ich richte mich auf, ich beuge mich, ich gehe in die Knie, ich versenke Stirn und Nase. Dieser Geruch.

Es ist 14:40 Uhr und ungewöhnlich leise. Immer muss ich weinen, wenn es leise ist. Die Nachbarin ein Stockwerk über mir macht gerade kein Full Body Workout, die Decke bebt nicht, nur mein Atem. Draußen brüllt kein Betrunkener, kein Autofahrer hupt, die Straßen sind leer und ungewöhnlich leise. Immer muss ich weinen, wenn es leise ist. Ich rufe Pari an, sie hebt nicht ab. Ich rufe Salim an, er hebt nicht ab. Mit mir stimmt etwas nicht, flüstere ich in die Teppichknoten und wippe vor und zurück. Mir geht es nicht gut, mir geht es nicht gut. Ich schließe die Augen. Tief Luft holen, sage ich. Und ausatmen. Noch einmal, tief Luft holen und ausatmen. Ich öffne die Augen und beginne Leberflecken zu zählen, um mich wiederzufinden. Sechs, sieben, acht ben am linken Arm und vierzehn, fünfzehn, sechzehn ben am rechten Arm. Ich ziehe die Hose runter und zähle weiter, ich zähle und zähle, bis die Decke wieder bebt. Die Nachbarin ein Stockwerk über mir macht jetzt Full Body Workout, draußen brüllt ein Betrunkener, ein Autofahrer hupt. Der Lärm dringt in meine Beine ein und hebt mich hoch. Ich gehe an den Schreibtisch, ich schalte den Laptop ein. Ich bestätige, dass ich achtzehn oder älter bin und scrolle mich durch die Videos. Ich zähle bis otuzbir, bis einunddreißig zähle ich auf Türkisch. Otuzbir çekmek, einunddreißig ziehen heißt sich selbst befriedigen. Lange dachte ich, es geht um die Häufigkeit, mit der die Hand hoch und runter bewegt wird. Irgendwann hat eine türkische Kommilitonin auf einer WG-Party, wo sonst, behauptet, dass es ein Codewort sei. Der Buchstabe Elif im osmanischen Alphabet stehe für den numerischen Wert 1 und der Buchstabe Lam für dreißig. Einunddreißig sei die Abkürzung für el, die Hand auf Türkisch. Keine Ahnung, ob sie recht hat, aber die Ziffer gefällt mir. Einunddreißig Mal ziehe ich die Hand, bis alle meine Leberflecken wackeln und ich mich wiederfinde.

Ich schaue mir an Hot Guy with Huge Balls Fucks Twink Bareback. His Balls Slap his Ass, der Clip geht 5:32 min. Ich öffne Daddy fucks teen twink in einem zweiten Tab, 1:00 min. Ich öffne my straight friend lets me suck him in einem dritten Tab, 10:39 min. Er hält die Augen geschlossen, der straight friend, er sitzt auf dem Bett und bringt keinen Ton raus, am Ende zuckt er kurz. Dann zieht er die Hose hoch und sagt, I gotta go. Das hat Hassan auch gesagt. Er brachte keinen Ton raus, am Ende zuckte er. Dann zog er die Hose hoch und sagte, gitmem lazım, ich muss los.

Es ist 16:30 Uhr, und ich muss los. Siebenundzwanzig Minuten dauert der Weg, erst U8 Hermannplatz, dann zu Fuß weiter. Ich klingele an der Tür und betrete das Zimmer, ich setze mich auf den Stuhl am Fenster. Sie sitzt drei Meter entfernt mir gegenüber und sagt nichts. Sie sagt nie etwas. Sie wartet, bis ich anfange. Kurz blicke ich aus dem Fenster, windig und kalt ist es draußen. Drinnen ist es warm, es riecht nach Vanillekerzen und ein wenig Angst.

Ich bin heute früh mit Filzläusen aufgewacht, sage ich.

Oje, sagt sie.

Dann schweige ich wieder. Ich werde erst einmal niemanden mehr treffen, sage ich. Die App habe ich gelöscht, ich habe ohnehin viel zu tun.

Sie trägt das Haar heute offen, eine weiße Perlenkette um den Hals, schwarze Hose, schwarze Schuhe.

Das klingt doch gut, sagt sie. Beim letzten Mal vor einer Woche hatten Sie erzählt, wie viel Zeit Sie auf der App damit verbringen, nach Sexpartnern zu suchen, und wie frustriert Sie am Ende zurückbleiben. Der Körper hat Ihnen ein Zeichen gegeben, damit Sie jetzt Ruhe finden können.

Ja, sage ich. Gott sei Dank habe ich Filzläuse bekommen.

Ich schaue wieder aus dem Fenster, draußen bellt ein Hund, drinnen Hassan in meinem Kopf, dieser Hundesohn.

Vor sechs Monaten hatte ich schon einmal Filzläuse. Ich habe es ziemlich spät festgestellt, ich konnte die Brusthaare vor lauter Nissen nicht mehr sehen.

Oje, sagt sie.

Dann schweige ich wieder.

Das Shampoo hatte irgendwie nicht so geholfen, sage ich. Es waren echt viele, alle paar Tage habe ich neue Nissen gefunden. Dann habe ich mich rasiert, alles ab, um die Viecher loszuwerden. Wie ein geschorener Hund habe ich mich gefühlt, wie ein räudiger Köter wollte ich mich in die Ecke legen und winseln, will ich sagen, schweige aber.

Ich blicke wieder aus dem Fenster, draußen pfeift der Wind, drinnen fragt sie, was fühlen Sie in diesem Moment?

Keine Ahnung, ein bisschen traurig bin ich, vielleicht auch wütend.

Und wo im Körper sitzt das Gefühl?

Hier, in der Lunge.

Wie stark ist das Gefühl von eins bis zehn?

Neun, sage ich, ohne zu zögern.

In neun Tagen werde ich Hassan wiedersehen, das sage ich nicht.

Sie greift nach einem roten Stift aus ihrer Tasche und nähert sich mir mit dem Stuhl. Wir haben nicht mehr viel Zeit übrig, sagt sie. Ich würde zum Ende gerne etwas ausprobieren. Folgen Sie dem Stift nur mit den Augen, der Kopf bleibt gerade.

Sie bewegt den roten Stift vor meiner Nase wie auf einer Achterbahn, langsam zeichnet sie Kreise in die Luft. Konzentrieren Sie sich dabei auf das Gefühl, das Sie im Körper tragen.

Ich folge dem Stift mit den Augen, von oben rechts in einer Linkskurve nach unten und wieder hoch. Ich zähle die Kurven, sieben, acht, neun.

In neun Tagen werde ich Hassan wiedersehen. Er wird eine Jeans tragen, ein weißes T-Shirt. Die Haare lockig, an den Seiten etwas kürzer. Dreizehn, vierzehn, fünfzehn Leberflecken werde ich auf seinem Rücken zählen. Dann werde ich mich auf den Bauch legen, und Hassan wird meine Leberflecken zählen.

Moment mal, wird er sagen. Deine Großmutter hat ja recht. Es werden wirklich mehr, wenn man sie zählt. Er wird lachen, ich auch.

Zähl weiter, werde ich sagen. Bitte hör nicht auf zu zählen. Sechzehn, siebzehn, achtzehn, ich werde mitzählen. Und ich werde geduldig sein, denn wahrlich, Gott ist mit den Geduldigen.

Dede Issues

Gestern Nacht habe ich von Dede geträumt. Er ist aus seinem Grab wiederauferstanden, er hat sich die feuchte Erde vom Sakko abgeklopft und kämmte sich blassschuppige Würmer und Larven aus den grauen Haaren. Ich stand in einem Nebel aus tütsü, aus Weihrauch, zart und würzig. Die Hände hielt ich noch immer zum Gebet.

Was starrst du mich so an, eşek sıpası?, hat Dede gefragt. Küss meine Hand. Er streckte sie mir entgegen, ich legte die Lippen auf seinen Handrücken, ein wenig Sand verfing sich in meinem Mund. Ich hob Dedes Finger an meine Stirn. Hoşgeldin, Dede, sagte ich und brachte ihm ein Glas Wasser. Er muss sicher durstig gewesen sein, nach so vielen Jahren unter der Erde. So viel Regen war in der Zwischenzeit auf mein Kopfhaar getropft.

Ich habe ein Geschenk für dich, sagte er.

Ein Geschenk? Wofür, was ist es?

Dede schwieg und starrte mir lange ins Gesicht und ich in seines. Buschige Augenbrauen, tiefe Falten in der Haut. Der Mund eine schmale, feine Linie. Kräftige Wangenknochen und schwarze, bademförmige Augen. Er sah aus, als hätte er seinen Friseursalon nie verlassen. Immer trug er maßgeschneiderte Anzüge, Hemd und Krawatte. In der linken Hand ein Kamm, in der rechten eine Schere. Dede war Friseur. Er schnitt alten Männern die Sorgen aus dem Bart und mir die Angst, die aus der Kopfhaut wuchs wie Trauerweiden.

Dede, die Haare wachsen mir bis nach Adana.

Dede nickte, er begann, seine Hände wellengleich in der trockenen Sommerluft zu bewegen wie einen Fächer, der mir eine sanfte Brise ins Gesicht wehte. Er setzte sich unter einen Granatapfelbaum und sang El Bent El Shalabeya. Es war Nenes Lieblingslied, auch sie ist wunderschön, ihre Augen sind mandelförmig, ’uyunha lawziyyah, und er liebte sie. Er sang, ich liebe dich von ganzem Herzen, bahibbik min ‘albi. Er sang, ya ‘albi enti ’aynayya, du bist mein Augenlicht.

Und weil Nenes Baba aus Beirut kam, sang er, min qalbi salamun li beirut, er küsste das Meer und die Häuser, wa qubalun lil-bahr wa-l-buyut.

Ich hatte seine Stimme vermisst.

Dede, ich habe deine Stimme vermisst.

Ich wünschte, ich könnte mitsingen und die Zeilen verstehen.

Dede, ich wünschte, ich könnte mitsingen und die Zeilen verstehen.

Yabni, ich weiß, sagte er. Er richtete sich auf, pflückte einen Granatapfel vom Ast und begann ihn zu schälen. Dein ganzes Gejammer dreitausend Kilometer entfernt lässt mich nicht ruhen unter der Erde.

Das hatte ich nicht erwartet. Enşölligensi, antwortete ich und wurde rot wie die saftige Frucht, die er sich in den Mund warf.

Deshalb bin ich gekommen, sagte er, um dir etwas zu geben, damit du mich endlich, endlich schlafen lässt.

Dede griff in die Hosentasche und zog seine Schere heraus. Er wollte damals mit ihr begraben werden. Ich dachte, jetzt würde ich das gute Stück bekommen, damit ich mir die Haare schneiden könnte, so wie er es früher getan hatte, damit ich keine Angst mehr verspürte.

Astaghfirullah, sagte ich. Für die Schere hättest du doch nicht extra auferstehen müssen.

Dede grinste mich an, er schüttelte den Kopf und streckte die Zunge heraus. Kaum hatte ich nach der Schere gegriffen, schnitt er sich im nächsten Moment schon die Zunge ab, er legte sie auf meine Handfläche und sich zurück in das Erdloch, aus dem er gesprungen war.

Ich wachte schreiend auf, mit dem Geschmack von Blut im Mund.

Zunge heißt auf Türkisch dil, es ist das gleiche Wort wie für Sprache. Das ist mir erst spät bewusst geworden. In der Schule staunten alle, als Frau Meier das Wort Muttersprache übersetzte in mother tongue, in langue maternelle, in lengua materna. Wie poetisch, sagte Max. Malerisch, sagte Lea. Irgendwie blumig, sagte Tim. Im Türkischen sagen wir auch Mutterzunge, habe ich durch das muffige Klassenzimmer gerufen und war wütend. Das Türkische fand niemand poetisch, malerisch und blumig. Max konnte sagen, siktir lan, wenn sich jemand verpissen sollte. Lea nannte Cemile immer Börek und Lahmacun und Döner, wenn sie sie ärgern wollte. Und Tim brüllte auf dem Spielfeld nach dem Ball, hadi oğlum, hadi.

Aber ana dili, Mutterzunge, konnte niemand sagen.

Lea konnte sagen, Arthur est un perroquet. Et boum, c’est le choc. Tim konnte sagen, excuse me, how can I get to the post office? Max konnte sagen, una cerveza, por favor, aber bei Ali Usta konnte er den Ayran nicht auf Türkisch bestellen. Lea lernte im Sommer das erste Mal eine Französin kennen, eine Austauschschülerin aus Paris, sie hat sie nie Baguette, Fromage oder Crêpes genannt. Den Film Le fabuleux destin d’Amélie Poulain konnte sie von der ersten bis zur letzten Sekunde auswendig. Sie hat sogar Klavier gelernt, nur um die Filmmusik von Yann Tiersen nachzuspielen. Aber Yüksel Özkasap, die Nachtigall von Köln, kannte sie nicht. Das Lied Almanya’ya Mecbur Ettin konnte sie nicht auswendig. Yoksulluk beni beni, konnte sie nicht sagen, fakirlik beni beni verstand sie nicht. Tim konnte Shakespeares Macbeth zitieren, fair is foul, and foul is fair. Aber Aras Ören hat er nie gelesen, dabei hat Ali Usta dessen Gedichtverse aus der Naunynstraße im Imbiss-Laden sogar an die Wand geschrieben. Der Thymianduft hat hier schon einige Schnurrbärte aufgewirbelt.

Baba sagt immer, bir lisan, bir insan. İki lisan, iki insan. Eine Sprache, ein Mensch. Zwei Sprachen, zwei Menschen. Das bedeutet, je mehr Sprachen du sprichst, desto größer ist deine Welt, desto mehr bist du.

Aber nicht alle Menschen sind gleich, auch wenn sie es immer behaupten. Und nicht jeder altert mit der Sprache auf dieselbe Weise.

Im Türkischen fühle ich mich wie ein zwölfjähriges Kind, im Türkischen werde ich einfach nicht älter. Ich kann sagen, dersini ihmal etme, weil Baba das sagte, wenn er wollte, dass ich mich in der Schule anstrenge. Ich kann sagen, ellerinden öperim, wenn ich mit Nene telefoniere und Handküsse durch die Leitungen schicke. Ich kann sagen, ayağına çorap giy, üşütürsün, weil Anne das sagte, wenn ich barfuß meine Judo-Übungen auf dem Küchenflur machte und sie wollte, dass ich mir Socken anziehe, um mich nicht zu erkälten, Kesa-gatame, Ō-goshi.

Eine Zunge macht Salto. Zwei Zungen springen Seil.

Auf Französisch kann ich sagen, ne pourrait-on pas considérer que l’imagination et un altruisme exacerbé sont véritablement des antidotes à la solitude? Auf Französisch bin ich ein arroganter Pariser Philosophie-Professor auf Arte und ziehe an der Pfeife. Auf Englisch bin ich ein linker Demonstrant am Berkeley Campus, ich sitze neben anderen Literaturstudentinnen, Politikstudenten, Soziologiestudentinnen in der Mensa und sage, 9/11 was a turning point that not only reshaped global security paradigms but also fueled Islamophobia, intensifying discrimination against Muslims on a global scale.