Hybride Räume der Transzendenz - Thomas Erne - E-Book

Hybride Räume der Transzendenz E-Book

Thomas Erne

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Beschreibung

Kirchen sind der Ort, an dem sich sonntags eine christliche Gemeinde zum Gottesdienst versammelt. Gleichzeitig besucht jedes Jahr ein Millionenpublikum die Kirchen, um unabhängig von den Gottesdiensten einfach die besondere Atmosphäre der Räume zu erleben. Die religiöse Erfahrung der Transzendenz, die ein Gemeindemitglied in der Liturgie des Gottesdienstes erlebt, wird so überlagert von den ästhetischen Erfahrungen, die ein Besucher im Kirchenraum macht. Kirchen sind hybride Räume der Transzendenz. Es kann dort ein charmanter Übergang von ästhetischer zu religiöser Transzendenz stattfinden. Es kann aber auch ein Grenzkonflikt entstehen, wenn sich Religion und Kunst voneinander abgrenzen. Beides, Kontinuität und Diskontinuität, gleitende Übergange und harte Brüche eröffnet eine Kirche, sofern es in ihr Transzendenz im Plural gibt als Ereignis der Kunst und als Ereignis der Liturgie. Für diese Erfahrung hybrider Formen der Transzendenz brauchen wir auch heute noch Kirchen. Das ist die Leitthese dieses Buches. [Hybrid Spaces of Transcendence. Why We Still Need Churches Today. Studies on the Post-Secular Theory of Church Architecture] Churches are visited frequently for their architectural impact and not only out of explicitly religious interest. They can be hybrid spaces and combine urban event culture (aesthetic transcendence) and a religious experience. Likewise, non-religious buildings of architectural interest can also support a form of spiritual contemplation, evoking or reinventing a religious effect. Both forms of reception convey a mutual need for self-transcendence, this transformation being achieved by religious and/or aesthetic means. Bringing these different ways in which spaces are perceived together, various (church) interiors and art events are referred to: Art – in its individuality, as an enhancement to a room or as a complete installation provides, by means of its exceptional appeal, the possibility to extend perception, thereby is an aesthetic experience of transcendence of oneself.

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Seitenzahl: 356

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Thomas Erne

HYBRIDE RÄUMEDER TRANSZENDENZ

WOZU WIR HEUTE NOCH KIRCHEN BRAUCHEN.

STUDIEN ZU EINER POSTSÄKULAREN THEORIE DES KIRCHENBAUS

Alle Angaben zu den Bildrechten wurden mit größter Sorgfalt überprüft.

Trotz intensiver Bemühungen war es nicht in allen Fällen möglich, die Rechteinhaber der Abbildungen ausfindig zu machen. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig

Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt

ISBN 978-3-374-04834-2

www.eva-leipzig.de

INHALT

COVER

TITEL

AUTOR

IMPRESSUM

A EINLEITUNG

1. Eine nahezu idealtypische Szene

2. Der Weg zu einem postsäkularen Kirchenbau

3. Transzendenz im Plural

4. Was ist ein Hybridraum der Transzendenz?

a) Schweben

b) Religionshybride

c) Intrinsische Selbstrelativierung

d) Spiel mit Formen

e) Selbsttranszendenz

f) »Mangel an Mangel«? Zur Kritik an der Hybridisierung kultureller Formen

g) Gemischte Gefühle

B AUF DEM WEG ZU EINEM POSTSÄKULAREN KIRCHENBAU

1. Liturgie und Sakralität im nachsakralen Kirchenbau der Moderne

a) Zur Fragestellung

b) Liturgischer Funktionalismus – Cornelius Gurlitt

c) Ernüchterte Heiligkeit – Martin Elsaesser

d) Sakralität des Entzugs – Rudolf Schwarz

e) Liturgisch-sakrale Hybridbildung – Otto Bartning

f) Nachsakrale Gemeindezentren – Peter Lehrecke und Helmut Striffler

Ökumenisches Gemeindezentrum Baunatal – Peter Lehrecke

Ev. Gemeindezentrum Düren-Birkesfeld – Helmut Striffler

g) Sakralität aus Kunst? – Le Corbusier und Marie-Alain Couturier

2. Kirche als autonomes Baukunstwerk

a) Ist christliche Kunst in der Moderne möglich?

b) Autonome Baukunst als lebendiger Ausdruck der Liturgie

3. Nachsakraler und postsäkularer Kirchenbau

a) Woran der nachsakrale Kirchenbau scheitert

b) Formen postsäkularer Auratisierung

c) Ästhetische Kontemplation und sakrales Erleben

C HYBRIDRÄUME DER TRANSZENDENZ

1. Wie Kirchen heute erlebt werden

a) Kirche – ein Versammlungsraum der Gemeinde (domus ecclesiae)

b) Konjunktur des Kirchenbesuchs

c) Kirche – ein Raum der Daseinsweitung

Unangemessenheit

Akustische Ansprache

Licht

Konstruktion

Orientierung

d) Alternative Orte der Daseinsweitung

Fußballstadien

Kino

Arbeitsplatz

Museum

2. Wozu wir heute noch Kirchen brauchen

a) Domus ecclesiae

b) Domus hominis spiritualis et aesthetici

c) Vernetzte Kirchen

3. Kirchen umbauen

a) Kirchenzentrum: Lutherkirche Frankfurt und Rosenbergkirche Stuttgart

b) Funktionserweiterung: Swiss Church London

c) Kolumbarium: Erfurt und Osnabrück

d) Wanderkirche: »Travel slow« in Mecklenburg

e) Künstler-Kirche: Stuttgart, Berlin und Goldscheuer

AtelierKirche – Thomas Putze

Getrennte Welten – James Turrell in Philadelphia und Berlin

Doppelte Heimat – Stefan Strumbel in der katholischen Kirche in Goldscheuer

D DAS BILD IN HYBRIDRÄUMEN DER TRANSZENDENZ

1. Präsenz und Repräsentation – Zur Fragestellung

2. Ikonische Präsenz Christi

3. Luther – Rezeption statt Präsenz

4. Zwingli und Calvin – Religiöse Kritik der Präsenz

5. Martin Seel – Simultanes Erscheinen

6. Michael Moxter – All At Once?

7. Präsenz Im Vollzug – Liturgy-Specific Art

a) Performance und Liturgie

b) Performativierung der Kunst

c) Site-Specific Art

d) Das Geheimnis liegt im Ereignis

E DIE ZUKUNFT DER KIRCHE IM ZEITALTER DER MEDIEN – EIN AUSBLICK

DANK

LITERATUR

Kataloge und Filme

Zeitungsartikel, Interviews, Blogs

Internetseiten

ERWÄHNTE KIRCHEN

NAMENSREGISTER

ANMERKUNGEN

A EINLEITUNG

1. EINE NAHEZU IDEALTYPISCHE SZENE

Im Jahr 2015 wird das Rheingau Musik Festival in der Lutherkirche in Wiesbaden eröffnet. Es spricht der Dichter Wolf Wondratschek: »Mir gefällt das Unbewohnbare von Kirchen […] Nichts gleicht hier einer Kleinigkeit. Nichts hier hat, obwohl überdacht, eine Grenze. Das Unsichtbare, eingefasst in hohe Bögen, in Überwölbungen, Kuppeln, in Architektur, Architektur als Kunstwerk, als Ereignis.«1 Wolf Wondratschek ist kein religiöser Mensch. Er betet nicht zu Gott, wenn er dessen Haus betritt. Trotzdem erlebt er in der Lutherkirche in Wiesbaden eine Entgrenzung. Er spürt das Grenzenlose innerhalb der physikalischen Grenzen, die auch Kirchen haben. Diese räumliche Erfahrung einer Entgrenzung, die für Wondratschek besonders intensiv ist, wenn in dieser Kirche die Musik Johann Sebastian Bachs erklingt, nenne ich eine ästhetische Erfahrung von Transzendenz.2 Dabei steht der Dichter in einer Kirche, die programmatisch den Anspruch erhebt, bis in die Details von der Liturgie des Gottesdienstes her entworfen zu sein. Die Lutherkirche, die 1911 im Jugendstil nach Plänen von Friedrich Pützer gebaut wurde, folgt in ihrem Erscheinungsbild einer liturgischen Reformidee, dem Wiesbadener Programm. Diese Kirche will domus ecclesiae sein, das »Versammlungshaus der feiernden Gemeinde«3. Hier gruppiert sich im Halbkreis eine egalitäre Gemeinschaft um Altar, Kanzel und Orgel, um in Wort und Sakrament eine religiöse Erfahrung von Transzendenz zu machen.4 In ihrem gesamten Erscheinungsbild will die Lutherkirche diese liturgische Idee zur Darstellung bringen. Der Dichter reagiert jedoch nicht auf den religiösen Anspruch, sondern auf den Kunstcharakter der Kirche. Wondratschek sieht gewissermaßen die intentio obliqua der Kirche, ihren ästhetischen Wert, der sich von der religiösen Idee, der intentio recta der Kirche, die Ausdruck der Liturgie sein will, unterscheiden lässt.

Abb.1: Lutherkirche Wiesbaden, Friedrich Pützer, 1908-10.

B AUF DEM WEG ZU EINEM POSTSÄKULAREN KIRCHENBAU

1. LITURGIE UND SAKRALITÄT IM NACHSAKRALEN KIRCHENBAU DER MODERNE 

Der Kirchenbau der Moderne reflektiert in seinem Selbstverständnis eine theologische Fragestellung, die sich als Archäologie eines verschütteten religiösen Wissens präsentiert. Das Wissen um eine Vergeistigung religiöser Formen war dem Christentum in seinen Anfängen bewusst und muss ihm, so das moderne Narrativ, in der Gegenwart erst wieder bewusst gemacht werden.1 Der moderne Kirchenbau, der seine Form aus der Liturgie gewinnt, beansprucht in Kontinuität mit der paulinischen These zu stehen, dass die Gemeinde (domus ecclesiae) der Tempel und Wohnort Gottes (domus Dei) ist. Dieser Gegenwart Gottes in der religiösen Kommunikation der Gemeinde einen angemessenen räumlichen Ausdruck zu verschaffen (domus Dei als domus ecclesiae) ist die theologische Aufgabe, die der Kirchenbau der Moderne bis in die aktuelle Gegenwart mit seiner funktionalen Bindung an die Liturgie zu lösen sucht.2 In dieser nachsakralen Transformation des sakralen Raumes in eine Funktion der Liturgie bleibt jedoch eine auratische Leerstelle. »Dies geht wesentlich auf die (Selbst‐)Stilisierung der Moderne durch ihre Architekten und Interpreten zurück, die besonders den ›sachlichen‹ und ›funktionalen‹ Charakter der Bauten hervorhoben und zugleich jegliche Form von Auratisierung bestritten«3. Jedenfalls verstummt die Frage nach der Sakralität4 auch im nachsakralen Kirchenbau der Moderne nicht.

a) Zur Fragestellung

Richard Sennett, der amerikanische Soziologe, kommt in »Flesh and Stone«, seiner Geschichte der Stadt, auf die erste Formierungsphase des Christentums zu sprechen.5 Ausgangspunkt für seine historische Rückschau ist ein Problem der Gegenwart. Sennett sieht sich durch die Sterilität und Eintönigkeit moderner Städte – man denke nur daran, wie viele deutsche Innenstädte nach dem Krieg wieder aufgebaut wurden –, zu der Frage veranlasst, warum in der modernen Gesellschaft Städte gebaut werden, die den leiblichen Bedürfnissen ihrer Bewohner so wenig entgegenkommen? Der Leib (flesh), in Anlehnung an die paulinische Unterscheidung von Geist (pneuma) und Fleisch (sarx), dient Sennett als perspektivischer Fixpunkt, um die Architektur der Stadt vom antiken Athen über das Rom der frühen Christen bis zum modernen New York zu untersuchen.

Für die Frage, ob und wie eine Stadt mit ihrer Architektur dem Leib ihrer Bewohner Rechnung trägt, wie die Foren und Plätze, die öffentlichen Gebäude und Wohnquartiere, die Straßen und Wege den sozialen Kontakten und leiblichen Bedürfnissen der Stadtbevölkerung dienen oder diese domestizieren, ist Rom zur Zeit der frühen Christen ein instruktives Beispiel. Denn die christliche Gemeinde, so Sennetts Generalthese, steht zwar dem Leib (vgl. Gal 5,17) indifferent bis ablehnend gegenüber, aber sie kommt nicht von ihm los. Die christliche Gemeinde muss ihre geistige Existenz als leibliches Selbst leben und kann sich daher nicht vollständig von konkreten Orten lösen. »The soul could not cut free from its need of a place in the world.«6 Das Reich, das mit Christus in der Welt anbricht, ist zwar nicht von dieser Welt (Joh 18, 36), aber es muss doch in dieser Welt gelebt werden. Sennett fragt sich nun, wie die frühen Christen mit diesem Problem umgehen: Wie kann man als leibliche Wesen leben, konkret im urbanen Rom außerhalb der Welt, ohne dass dieses »Außerhalb« noch einen konkreten Ort hat?7

Nach Sennett lässt sich dieses Paradox nur zeitlich realisieren. Die christlichen Gemeinden leben in der Nachfolge Jesu in einer »Art von Zwischenzeit«8, einer »pilgrimage through time«9 zwischen der chronologischen Zeit (chronos) und den Augenblicken der erfüllten Zeit (kairos), der Ewigkeit. Das Ziel dieser Pilgerfahrt zwischen den Zeiten ist, dass die Ewigkeit alles in allem wird. Am Ziel der Pilgerfahrt nimmt der erfüllte Augenblick, die Ewigkeit, die chronologische Zeit in sich auf und schließt sich zu einer ununterbrochenen Kette erfüllter Augenblicke (kairoi) zusammen.10

Da sich diese Zwischenzeit zwischen der chronologischen Zeit nicht lokalisieren lässt, bilden die christlichen Gemeinden auch keine eigenen Kultorte aus. Sie zeigen sich vielmehr erstaunlich indifferent gegenüber einer Bindung an Gebäude und Orte, »withdrawn from attachements to place«11. Die angemessene räumliche Artikulation dieser Indifferenz findet die Urgemeinde, so Sennett, in ihren Häusern. Denn die Versammlung der urchristlichen Gemeinden in ihren privaten Räumen hat den Vorteil, dass die Distanz zu einer Bindung an Orte am besten an Orten zum Ausdruck kommt, die nichts zu bedeuten haben und rein funktional sind. Die nachsakralen Gemeindezentren der 1970er Jahre knüpfen an diese These an.

Vor diesem Hintergrund interpretiert Sennett den christlichen Kirchenbau als eine Art von Sündenfall. Man denke nur an die Rede des Paulus auf dem Areopag, wo er den christlichen Gott, der den Bürgern von Athen unbekannt ist, mit den Worten einführt, dass Gott, der Herr des Himmels und der Erde »nicht in Tempeln wohnt, die mit Händen gemacht sind« (Apg 17,24). Mit den ersten Kirchen nach der Konstantinischen Wende tritt das Christentum ein in die öffentliche Sphäre und wird selber zu einer Macht, die hervorgehobene Orte besetzt und repräsentative Bauwerke fordert: »Power required place.«12 Die christlichen Gemeinden, die in Erwartung des kommenden Gottesreiches indifferent waren gegenüber der Bindung an Räume und Orte, verwandeln sich in einen führenden Akteur der abendländischen Architekturgeschichte: »The Christian here renounced the flesh but recovered the value of stone.«13 Das ist der Vorgang, für den sich Sennett interessiert: Das Thema des Leibes (flesh) lässt sich auch im Christentum nicht auf Dauer verdrängen. Es kehrt wieder, nun aber als »Kirchenkörperbau«14 (stone).

Sennetts These ist ebenso wuchtig wie einseitig. Wuchtig ist der Hinweis auf die Unhintergehbarkeit des Leibes, seine Bindung an Orte und Räume, auch für die urchristliche Gemeinde. Einseitig ist der unterstellte Gegensatz von Ewigkeitssehnsucht und Indifferenz gegenüber dem Leib. Denn die Nachfolge der christlichen Gemeinden bezieht sich auf den in Christus leiblich inkarnierten Logos. Diese Inkarnation des Logos setzt sich an Pfingsten fort im kommunikativen Geist der leiblich existierenden Gemeinde, die diesen Geist in eine reichhaltige Kulturgeschichte des Christentums übersetzt.15 Auf dieser Linie wird die Fortführung der Inkarnation in einer Inkulturation des Geistes in manifesten Formen der Kultur, in Räumen, Bildern, Musik und Sprache zur Pointe. In der Kathedrale daher nur einen »Sündenfall und Verrat« an der christlichen Nachfolge zu sehen, »mit diesem Urteil macht man es sich zu leicht […] der Boden für den Wandel musste im Geist bereitet gewesen sein«16.

Die Frage ist daher, ob im Kirchenbau das Thema des Leibes wider Willen wiederkehrt, befördert durch ein machtpolitisches Kalkül, oder ob der Kirchenbau in der Logik der Inkarnation des Logos liegt und Christus, wie er im kommunikativen Geist der Gemeinde präsent ist, einen räumlich-körperlichen Ausdruck verleiht. Genau das ist die These Hegels. Bei den christlichen Kirchen handelt es sich nach Hegel um einen neuen und geistbestimmten Typus religiöser Architektur. Es sind Verkörperungen des Geistes der Gemeinde in Architektur. Das formgebende Prinzip einer Kirche ist daher nicht Sakralität, die Präsenz einer göttlichen Macht, die das Bauwerk mit Heiligkeit auflädt. Das formgebende Prinzip einer Kirche ist vielmehr, den »Geist als dessen Umschließung das Bauwerk dasteht, soweit dies architektonisch möglich ist, hindurchscheinen und die Form des Äußeren und Inneren bestimmen zu lassen«17.

Zur Geschichte des mittelalterlichen Kirchenbaus gehört nun aber auch eine eigentümliche Regression. Die Idee des Tempels, die Kirche als Haus Gottes, als domus Dei, kehrt wieder und verdrängt die Idee der Kirche als domus ecclesiae und architektonische Verkörperung des religiösen Bewusstseins, einer »Erhebung des Gemüts über die Beschränktheit des Daseins und eine Versöhnung des Subjekts mit Gott.«18 Diese Re-Sakralisierung der Kirchengebäude als ein Haus Gottes geht von einer Sakralisierung des Abendmahls aus.19 Der Abendmahlstisch wird zum Altar, die Personen, die das Abendmahl leiten, werden zu Priestern, der Raum, in dem gefeiert wird, wird zum sakralen Raum. »Mit der Sakralisierung der Eucharistischen Feier kehrte auch die archaische Auffassung vom sakralen Raum und der sakralen Zeit […] wieder.«20

An dieser Konstellation orientiert sich der Kirchenbau in der Moderne. Die Legitimation eines nachsakralen Konzepts speist sich aus der Kritik an der Resakralisierung des mittelalterlichen Kirchenbaus. Das zeigt sich in einem ökumenischen Konsens, der vor dem Hintergrund der alten konfessionellen Kontroverse um die Weihe von Kirchen alles andere als selbstverständlich ist.21 Beide christlichen Konfessionen stimmen im 20. Jahrhundert darin überein, dass eine Kirche kein Tempel ist, kein domus Dei, sondern ein domus ecclesiae, ein Haus, das durch den Gottesdienst der Gemeinde geheiligt wird. Auch aus heutiger katholischer Sicht sind die Kirchen nicht substantiell sakral, sondern sakral ist die Liturgie, die in ihnen gefeiert wird. In der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils geht es darum, die Liturgie allein in der »gemeinschaftlichen Teilhabe an Gottes Heil und seinem Wirken«22 zu begründen und die Kirchenräume als Ausdrucks- und Vollzugsgestalten der Liturgie zu begreifen. Katholischer Kirchenbau ist vor diesem Hintergrund ein Ort erfahrbarer Gemeinschaft und deshalb »weniger eine monumentale als eine prozessuale Größe«23. Weihe meint im modernen katholischen Verständnis keine dingliche Qualität, sondern einen besonderen Gebrauch, eine Einweihung. Kirchen sind allenfalls Sakramentalien24, die von der Heiligkeit des sakramentalen Geschehens in der Liturgie zeugen. Es sind besondere Räume, die »aus Achtung vor dem heiligen Geschehen des Gottesdienstes diesem Gebrauch vorbehalten sind.«25

Abb.7: St. Johannes Evangelist, Pfarrei Schönau, 1480, Prinzipalstücke von Werner Mally, 2012.

© VG Bild-Kunst, Foto: Siegfried Wameser

Allerdings erklären sich die beiden christlichen Kirchen die nachsakrale Signatur des modernen Kirchenbaus unterschiedlich. Protestanten verbinden mit Luther einen Bruch mit dem mittelalterlichen Weihegedanken und eine Wiederentdeckung paulinischer Theologie, die zum modernen nachsakralen Kirchenbau führt. Katholisch läuft die Linie über eine sachliche Kontinuität der Kirche als domus ecclesiae,26 die auch die intentio recta der Weihe einer Kirche als domus Dei darstellt: »Aber es findet sich vor allem in der feierlichen Weihepräfation kein Grund dafür, von da aus auf die Kirche als ›bleibende‹ ›Wohnung Gottes‹ zu schließen. Das heißt: die ›Kirche‹ wird, wenn sie als ›Haus Gottes‹ verstanden wird, immer so verstanden über die Gemeinde, die Ekklesia, hin. Diese ist das Mittelglied, das ihr erst den Titel des Hauses Gottes weitergibt. Der Kirchenbau ist somit ganz und gar auf die ›ekklesia‹, die Gemeinde, bezogen.«27 Im Resultat treffen sich beide Deutungen. Die Liturgie stellt für den modernen Kirchenbau das formgebende Prinzip der Gestaltung für beide Konfessionen dar. Katholisch wie evangelisch lässt sich der Kirchenbau als Funktion der Liturgie verstehen. Nur Rudolf Schwarz, einer der wenigen Architekten im modernen Kirchenbau, der einer funktionalen Bindung an die Liturgie ablehnend gegenüber steht, ist der Auffassung, dass die mittelalterliche Kathedrale die »Bauform des Leibes Christi« ist und daher eine sakramentale Form in »heiliger Objektivität.«28Aber auch Schwarz bindet die »sakrale Objektivität« der Kathedrale zurück ans innere Erleben. Die Kathedrale als ein objektiver Sakralbau muss in der Moderne erst wieder – gut protestantisch – aus dem inneren Erleben der Wirklichkeit des Heiligen neu erwachsen.

Der moderne Kirchenbau, protestantisch wie katholisch, kann und will weder sachlich noch faktisch sakrale Räume im Sinne einer dinglichen Eigenschaft, eines Fetisch, voraussetzen oder gar bauen. Sein Gestaltungsprinzip findet der nachsakrale moderne Kirchenbau stattdessen in der Liturgie als Bauherrin der Kirche. Der Unterschied liegt heute innerhalb dessen, was katholisch und evangelisch unter Liturgie verstanden wird. Während Liturgie katholisch eine Wesensäußerung der Kirche ist, die »einen kraft göttlicher Einsetzung unveränderlichen Teil und Teile, die dem Wandel unterworfen sind«29 enthält, siedelt die evangelische Seite, jedenfalls in liberalprotestantischer Lesart, die Wesensäußerung im religiösen Bewusstsein an und behandelt die Liturgie als flexiblen Ausdruck von Frömmigkeit. Beide Konfessionen stimmen jedoch darin überein, dass der liturgische Vollzug des Gottesdienstes das grundlegende religiöse Gestaltungsprinzip im modernen Kirchenbau ist, grundlegend auch für die Renovierung und Neugestaltung tradierter Kirchenräume.

In der Transformation des sakralen Raumes in einen räumlichen Ausdruck religiöser Kommunikation bleibt jedoch in Theorie und Praxis des modernen Kirchenbaus eine auratische Leerstelle. Dieses Schicksal teilt der moderne Kirchenbau mit den sachlich-funktionalen Profanbauten der Nachkriegsmoderne, an die er mit seinem liturgischen Funktionalismus ja auch Anschluss suchte. Geht man von einer »strukturellen Verwandtschaft zwischen dem Auratischen und dem Sakralen aus«30, dann wirft auch die Nachkriegsarchitektur die Frage auf, ob und wie die Theater, Universitäten, Schulen, Stadien und Museen, die nach dem Krieg gebaut wurden und den Anspruch einer funktionalen Rationalität erheben, trotzdem auratisch aufgeladen werden konnten. Die Frage nach der Sakralität begleitet daher nicht nur den liturgisch-funktionalen Kirchenbau, sondern als Frage nach Aura und Atmosphäre die gesamte Architektur der Nachkriegsmoderne.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von Egon Eiermann die erfolgreichste Kirche der Nachkriegsmoderne in Deutschland ist, was die Besucherzahlen angeht. Der Schlüssel dieses Erfolgs liegt jedoch nicht in der betont rationalen Konstruktion der Kirche und ihrer nüchternen liturgischen Funktionalität. Der Schlüssel des Erfolgs ist die Aura der Kunst und der Geschichte in dieser Kirche. Anziehend ist die mystische Atmosphäre der ultramarinblauen Betonglasfenster des französischen Glaskünstlers Gabriel Loire, die goldene Christusfigur des Bildhauers Karl Hemmeter und die Turmruine der alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die an den Schrecken desII. Weltkriegs erinnert und an die mythische Geschichtskonstruktion der Hohenzollern. Eben diese drei auratischen Inszenierungen, die Poesie und Terror vereinen, lehnte der Architekt Eiermann ab. Die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von 1961 ist ein Erfolg wider Willen, jedenfalls wider den Willen des Architekten, der die Turmruine abreißen, den zentralen Innenraum in zarten und hellen Farben gestalten und an Stelle der Christusfigur ein schlichtes Metallkreuz wollte, das die Grundstruktur seiner quadratischen Betonwaben aufgreift.31 Das mystische Blau des französischen Künstlers hielt Eiermann für einen süßlichen Stimmungseffekt.32 Vor diesem Hintergrund wird Gernot Böhmes Urteil verständlich: »Sie [die beiden Kirchen] wollen aber, wie es scheint, die Inszenierung des Numinosen, das durch die Erzeugung von Atmosphären in kirchlichen Räumen geschieht, nicht wahrhaben.«33

b) Liturgischer Funktionalismus – Cornelius Gurlitt

Der Marburger Professor der Kirchengeschichte Ernst Ludwig Theodor Henke macht in seinem Artikel »Baukunst« in der ersten Auflage der Theologischen Realenzyklopädie von 1854 aus der Not eine Tugend. Dass es mehr als drei Jahrhunderte nach der Reformation keinen genuin protestantischen Kirchenbau gibt, erklärt Henke mit den urchristlichen Idealen der Protestanten. »Die evangelische Kirche hat keine neue christliche Architektur erzeugt, so wenig wie die Kirche der drei ersten Jahrhunderte, denn wie diese sollte sie von der Veräußerlichung und Verweltlichung wieder zur Einkehr und Innigkeit und zu dem Einen-Nothwendigen zurückführen.«34 Da der Protestantismus der »höchsten Vergeistigung des Kultes«35 verpflichtet ist, muss er auf eine eigene Kirchenbauarchitektur verzichten.

Abb.8: Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin, Egon Eiermann, Fenster von Gabriel Loire, 1961

© Institut für Kirchenbau, Foto: Michael Zalewski

Abb.9: Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin, Egon Eiermann, Fenster von Gabriel Loire, Christusfigur von Karl Hemmeter, 1961

© Institut für Kirchenbau, Foto: Michael Zalewski

In der zweiten Auflage der Theologischen Realenzyklopädie von 1901 stellt dagegen der Leipziger Herausgeber und Professor für Kirchengeschichte und christliche Archäologie Albert Hauck fest, dass es inzwischen doch einen protestantischen Kirchenbau gibt. Jedoch geht dem Eisenacher Regulativ, eine Art Grundsatzerklärung zum protestantischen Kirchenbau, »die einheitliche Richtung ab […] Es gibt keinen Typus der protestantischen Kirche.« Stattdessen beherrscht den evangelischen Kirchenbau »der Zweckgedanke, nicht die dogmatische Vorstellung«. Daher sei es auch nicht zu erwarten, dass man über einen »weitgehenden Eklekticismus in Bezug des Stils« hinauskommen werde. Wenn trotzdem die Kirchenleitungen »den gotischen Stil bevorzugen, Eisenacher Regulativ Nr.3, so gibt es einen sachlichen Grund hierfür nicht.«36

Man kann vor diesem Hintergrund verstehen, warum die Kunsthistorikerin Elisabeth Spitzbart das Bauprogramm des Historismus, das im Eisenacher Regulativ von 1861 formuliert wird,37 einen Akt der Verzweiflung nennt: »Das Eisenacher Regulativ ist Ausdruck einer Zwangslage des Protestantismus, der […] im Hinblick auf sein eigenes Selbstverständnis keine Bautradition […] entwickeln konnte.«38 Positiv schätzt dagegen Eva-Maria Seng das Eisenacher Programm ein. Es handele sich bei diesen Bestrebungen um die »Herausbildung eines eigenständigen, die liturgisch-funktionalen Anforderungen berücksichtigenden evangelischen Kirchbautypus«39, dem es darum zu tun war, »die Synthese von Stil unter der Prämisse der Funktion im Einklang mit stimmungsmäßigen Elementen im Äußeren sowie im Inneren in einem Bauwerk zu verbinden«40. Exemplarisch ist die »flexibel handhabbare Richtlinie«41 umgesetzt in der Stuttgarter Johannes-Kirche (1865–1876) von Christian Friedrich Leins.

Fest steht, dass das Eisenacher Regulativ der »Ausgangspunkt für den modernen evangelischen Kirchenbau des 20. Jahrhunderts«42 ist, aber mehr im Blick auf das Problem als auf die Lösung. Denn in Eisenach wird die unerledigte Frage eines evangelischen Kirchenbaus zwar verbindlich aufgegriffen, aber unverbindlich beantwortet. Das liegt nicht daran, dass die Eisenacher Kirchenkonferenzen »lediglich einen beratenden Charakter […] in Richtung auf Verständigung über Grundsätze der Kirchenleitungen«43 hatten, sondern der Grund war, dass das Regulativ nicht grundsätzlich werden wollte. Dafür lobt der Architekt und Gründer der Deutschen Bauzeitung Karl Emil Otto Fritsch 1893 in seiner Geschichte des protestantischen Kirchenbaus die Eisenacher Vereinbarung: »Die unbestimmte Fassung, in welcher die Empfehlung gewisser Grundformen […] keineswegs darum zu tun war, eine nur leicht zur Schablone führende einheitliche Richtung des Kirchenbaus anzubahnen.«44 Die Bedeutung der Empfehlungen für den evangelischen Kirchenbau sieht Fritsch daher auch mehr in der »Thatsache ihres Abschlusses als auf ihrem Inhalte.«45 Wie wenig die Empfehlungen des Regulativs als theologisch begründete Norm für einen evangelischen Kirchenbau zu verstehen sind, zeigt ein Paradebeispiel der Eisenacher Bewegung, die St. Lukas-Kirche in München (1893–1896). Der Architekt Albert Schmid baut über einer zentralen Kuppel eine Kirche, die beide Grundtypen des Kirchenbaus, die Lang- und die Zentralform, die halbkreisförmig versammelte Gemeinde der Dresdner Frauenkirche und die in Kreuzform auf den Altar ausgerichtete Gemeinde der Stuttgarter Johanneskirche, zu verbinden sucht. Das Regulativ wirkt hier mehr im Sinne einer regulativen Idee, die zeigt wie der Architekt »bei gleichzeitiger Verwendung mittelalterlicher Formensprache durch die Verschleifung von Langhaus und Zentralraum der evangelischen Predigtkirche näher zu kommen suchte«46.

Was sind nun die Anregungen und Empfehlungen, die das Eisenacher Regulativ gibt? Als geschichtlich entwickelte christliche Baustile, die geeignet sind, die Würde einer evangelischen Kirche zur Geltung zu bringen, wird dreierlei genannt: »[…] in der Grundform des länglichen Vierecks neben der altchristlichen Basilika und der sogenannten romanischen (vorgothischen) Bauart vorzugsweise den sogenannten germanischen (gothischen) Stil.«47 Interessanter ist jedoch, worüber die Empfehlung schweigt. Das Regulativ äußert sich nämlich nicht zum systematischen Grundproblem, ob der Protestantismus überhaupt in der Lage sein kann, ein modernes und genuin evangelisches Kirchbauprogramm zu entwickeln, das seinem Selbstverständnis nicht äußerlich bleibt. Steht denn der romanische oder gotische Baustil, den das Eisenacher Regulativ empfiehlt, systematisch unter »der Prämisse der (liturgischen) Funktion«48, wie Eva-Maria Seng behauptet, oder bleiben diese Stile dem liturgischen Zweck äußerlich, wie Albert Hauck vermutet, weil liturgisch »zweckmäßige Kirchen unter der Verwendung der verschiedenen Baustile hergestellt werden können«?49 Kann es daher auf dem Boden des Protestantismus nur einen Eklektizismus der Stile geben? Oder kann es einen christlichen Baustil geben, dem es gelingt »dem Wesen des evangelischen Christentums einen selbständigen, lebendigen Ausdruck zu verleihen«?50

Diese Frage nach einem Stilprinzip versucht das Eisenacher Regulativ prinzipiell zu umgehen und gibt, wie Fritsch 1893 bemerkt, »augenscheinlich nur den Ansichten Ausdruck, die zurzeit auf dem Gebiete des evangelischen Kirchenbaus vorherrschen.«51 Der Niedergang des Historismus und das »Wiederanknüpfen an […] den rein vom Zweck bestimmten nüchternen Saalbau bzw. an den Kirchenbau der Sekten, den multifunktionalen Gruppenbau« ist daher nicht nur das Resultat eines »Wiedererwachens reformierter Traditionen«52, wie das Eva-Maria Seng annimmt. Der Niedergang hat auch mit einem zentralen Mangel des Historismus selber zu tun, dem Fehlen eines begründenden Prinzips. Hans Sedlmayr nennt es die »Gesamtaufgabe«53, die einem einheitlichen Stil zugrunde liegen sollte. Der Stil begründet nichts, sondern muss begründet werden. Das zeigt sich auch in Martin Elsässers Einschätzung des Kirchenstils, die im Kern das Eisenacher Programm betrifft: »Wie gelangen wir zu einem evangelischen Kirchenstil? […] Das ist ein vergebliches Bemühen […] Stil ist nachträgliche Festsetzung eines Zeitausdrucks.«54 Wenn der Stil im Kirchenbau nicht die Lösung, sondern das Resultat anzeigt, dann muss Kirchenbau diesseits der geschichtlich gewordenen Stile »gewissermaßen noch einmal von vorne anfangen«55. In den Worten von Martin Elsaesser: »Erst wenn wir uns über das Wesen der evangelischen Kirche klar geworden sind, können wir einen Schritt weiter gehen zu den Fragen des evangelischen gottesdienstlichen Kultus und der durch den Kult bedingten Gesamtordnung des Kirchenraumes.«56

Das ist das Programm von Cornelius Gurlitt auf eine kurze Formel gebracht. Der Rückgang in das Wesen der Sache ist der Punkt, an dem Gurlitt über das Eisenacher Regulativ hinausgeht. Es ist eine systematische Würdigung der Liturgie in ihrer Bedeutung für den evangelischen Kirchenbau. Was das Eisenacher Regulativ deskriptiv nebeneinanderstellt, ohne die sachliche Beziehung von Liturgie und Baustil zu begründen, wird von Gurlitt als formgebendes Prinzip des modernen Kirchenbaus aufgefasst. »Er [der Architekt einer Kirche] schaffe Formen streng in der Erfüllung des Zwecks und schiele nicht links und rechts.«57 Was Paulus für die urchristlichen Gemeinden behauptet, sie würden keine Sakralarchitektur brauchen, weil die versammelte Gemeinde, die ecclesia, das domus Dei ist, wird von Gurlitt als architektonisches Prinzip aufgefasst. Der liturgische Zweck ist das Wesen eines genuin evangelischen Kirchenbaus. In der Moderne wird der Kirchenbau mit dieser Idee stilbildend, dass die Liturgie die Kirche baut. Insofern geht Gurlitt zurück in das Wesen der Sache, um durch Besinnung auf die (liturgische) Funktion einen neuen, wesentlichen Stil zu gewinnen.

Gurlitts liturgischer Funktionalismus steht einer am Ideal der Schönheit orientierten, zweckfreien Kunst im Kirchenbau kritisch gegenüber: »Der formale Idealismus, die Schönheitstrunkenheit, führt überall zur Lüge, so auch hier. Vollkommen kann nur der Kirchenbau sein, der aus dem Gottesdienst entsprungen ist.«58 Wenn Cornelius Gurlitts Programm dann doch nicht direkt zu den nüchternen multifunktionalen Gemeindezentren der Nachkriegszeit führt, dann liegt dies an seinem funktionalen Kunstbegriff. Unter dem Primat der liturgischen Funktionalität darf die Kunst die Kirchen veredeln und atmosphärisch beleben. Das ist die Pointe von Gurlitts Kritik an der Renaissance, dass Kunst sich bei Bramante und Michelangelo von ihrer Verwendbarkeit für den Gottesdienst ablöst: »Ihre Eigentümlichkeit [der Renaissance] ist das Zurückdrängen des Liturgischen durch vorwiegend künstlerische Erwägungen. In hoch gespanntem Idealismus wollte sie nicht das dem Zwecke am meisten entsprechende, sondern das schönste Gotteshaus bauen. Es trat daher die Verwendbarkeit [der Kunst] für den Gottesdienst vor der Absicht zurück, ein Haus von höchster künstlerischer Vollendung zu schaffen, ein Ideal zu erreichen.«59 Auf dem zweiten Kongress für protestantischen Kirchenbau in Dresden 1906 wird daher die zweckgebundene Kunst als Veredelung der Liturgie sanktioniert. Die Kunst, die dem religiösen Zweck dient, kann und soll den Kirchenraum »in einer seinem göttlichen Zweck würdigen Weise stimmungsvoll«60 gestalten.

Gurlitt, der »eine führende Rolle auf den Kongressen für den protestantischen Kirchenbau«61 bis in die 1920er Jahre spielte, öffnet mit seiner funktionalen Programmformel dem modernen Kirchenbau zugleich die Tür in die architektonische Moderne. Zu Gurlitts Programmformel »Bauherr in der Kirche ist die Liturgie«62 gehört daher nicht nur die Funktionalisierung der Kunst, sondern auch die problematische Seite des funktionalen Architekturbegriffs. Günter Rombold macht bereits in den 1960er Jahren auf die sachliche Nähe von Gurlitts Programmformel zu Louis Sullivan aufmerksam: »Der Satz von der ›Liturgie als Bauherrin‹ war nur ein Spezialfall von Sullivans Behauptung ›form follows function.‹63 Rombold zieht auf dem Höhepunkt der Debatte um das funktionale Gemeindezentrum aus diesem Zusammenhang den Schluss: »Das […] viel strapazierte Wort von der ›Bauherrin Liturgie‹ ist falsch«64. Der Grund ist die Enttäuschung, dass »die Ästhetik des Funktionalismus mit ihrer Behauptung, Schönheit folge aus der Zweckmäßigkeit, uns heute fragwürdig geworden ist«65.

Günter Rombolds Frage nach der ästhetischen und emotionalen Qualität im Kirchenbau der Nachkriegsmoderne weist auf ein gravierendes und ungelöstes Problem des liturgischen Funktionalismus hin. Denn der liturgische Zweck liefert nur äußerliche Gründe für eine ästhetisch anspruchsvolle und emotional befriedigende Gestaltung von Kirchen. Martin Elsaesser wird versuchen dieses Problem zu lösen, indem er die rationale Zweckmäßigkeit des liturgischen Funktionalismus mit einem numinosen Raumgefühl versöhnt, das diesem Zweck nicht äußerlich ist, sondern das sich als Raumgefühl in der religiösen Kommunikation der Gemeinde aufspannt und das daher auch architektonisch formuliert werden kann.

c) Ernüchterte Heiligkeit – Martin Elsaesser

Cornelius Gurlitt ist ein wichtiger Impulsgeber für Martin Elsaesser.66 In den Kirchen vor dem Ersten Weltkrieg, etwa in der Lutherkirche in Baden-Baden-Lichtental (1907) setzt Elsaesser auf die Kunst als »Mittel der Veredelung«67 des Raumes. Und in der Kirche in Stuttgart-Gaisburg (1910–13), die »im äußeren Erscheinungsbild klassizistisch«68 ist, greift er auf barocke Vorbilder zurück, denen er im evangelischen Kirchenbau in Dresden begegnet. In dieser Phase seines Bauens erinnert Martin Elsaesser mit den Kirchen an den Reichtum der Formen im Historismus. Der Historismus, der, so Eva-Maria Seng, »eine der fruchtbarsten Perioden des evangelischen Kirchenbaus«69 war, wird in den frühen Kirchen Martin Elsaessers bewahrt in einer »Verbindung landschaftlicher baulicher Tradition mit einem stimmungsmäßigen und funktionalen Kirchenbau.«70

Zunehmend steht Elsaesser sowohl den historischen Stilanleihen wie auch der Kunst im Kirchenbau kritisch gegenüber. Bilder und Wandmalereien empfindet er als äußerlichen Schmuck: »Ich kann mir schmucklose Kirchen denken voll religiösen Ausdrucks, voll religiöser Andacht, voll erschütternder Größe.«71 Elsässer will im Kirchenbau auf »jede Verschrobenheit und Schwülstigkeiten in Ornament, Form und Farbe«72 verzichten. Das große Gefühl, das der evangelische Raum erlaubt, »Andacht, voll erschütternder Größe«73 und der in seiner »Weite und Helle […], keine Enge, Trübheit in Linie, Licht und Farbe aufkommen lässt«, entschädigt in Kirchen, die an der liturgischen Funktion orientiert sind, mehr als genug für den Verzicht »auf Sentimentalitäten und kleine Gefühlswerte in der Kirche.«74 Es ist der Raum an sich, der die Aufgabe übernehmen soll, die Gurlitt der religiösen Kunst zugewiesen hatte. »Die evangelische Kirche muss nur ihren künstlerischen Ausdruck im Räumlichen suchen.«75 Elsaessers Kirchen werden zunehmend nüchtern und verzichten auf stimmungsvolle Inszenierung. Die »dunkle Mystik der katholischen Kirche«76 will Elsaesser aus evangelischen Kirchen verbannen, aber auf Räume, »die über das rein Optische und Sichtbare hinaus […] – beseelt sind«77, will er gleichwohl nicht verzichten.

Die »Hauptzweckbestimmung der Kirche ist der Predigtraum ohne sakrale Betonung.«78 Zugleich soll der evangelische Kirchenbau als Funktionsraum der Liturgie kein nüchterner Funktionsbau sein, sondern ein »lebendiger Ausdruck des darin enthaltenen Geschehens«79. Wenn nun aber die sakrale Kunst des 19. Jahrhunderts wie auch die historischen Stile, die sich in der Geschichte des Kirchenbaus ausgebildet haben, als Ausdrucksmittel aus der Kirche verbannt werden, wie soll dann eine Kirche eine lebendige Anschauung dessen sein, was in ihr stattfindet? Offenbar muss der lebendige Ausdruck aus der liturgischen Funktion selber entwickelt werden: »Wir werden also im Kirchenbau mehr und mehr alle vorgefassten Vorstellungen, was kirchlich oder nicht-kirchlich ist, aufgeben müssen. Und die Formensprache zunächst aus Zweck, Konstruktion und Material herausnehmen.«80 In der Tat verbindet Martin Elsaesser mit dem liturgischen Zweck einen künstlerischen Anspruch. Das Thema dieser neuen religiösen Formen, gewissermaßen einer funktional ernüchterten Sakralkunst, ist das Raumgefühl, das in der Funktion, in der Liturgie etabliert wird: »Wenn unserer Zeit etwas fehlt, so ist es das Gefühl für den Raum, und wenn es der evangelischen Kirche gelänge, in der Architektur ihrer Bauten dieses Raumgefühl wieder stark zum Ausdruck zu bringen, so wäre das ein künstlerischer, ein formaler Gewinn von außerordentlich großer Eindrücklichkeit«81. In diesem Sinn ist der Zentralraum der Gustav-Adolf-Kirche von 1928 der Versuch, das religiöse Raumgefühl, das sich im Gottesdienst entwickelt, architektonisch zu formulieren.

Versucht man die Verbindung zwischen liturgischer Funktion und Raumkunst bei Elsässer auf eine Formel zu bringen, so würde ich vorschlagen, vom modernen Kirchenbau als einer funktionalen Sakralität zu sprechen. Seine funktionale Baukunst lässt die in gewissem Sinne rationale Liturgie82 als irrationales Raumgefühl lebendig werden. Die Kirche in Niederursel ist ein solch funktionaler Sakralbau. Sie bringt ein irrationales Moment, das Raumgefühl der Gemeinde, an der liturgischen Funktion der Kirche zur Darstellung. In diesem funktionalen Sinn kann man bei Martin Elsaesser von einer neuen Form der Sakralität im evangelischen Kirchenbau sprechen.83

Abb.10: Gustav-Adolf-Kirche Frankfurt-Niederursel, Martin Elsaesser, 1928 Foto: Matthias Matzak, © VG Bild-Kunst

Mit Genehmigung der Martin-Elsaesser-Stiftung Frankfurt

In der Sache, der Idee einer »architektonischen Moderne […] die nicht nur Zweckgedanken repräsentieren sollte«84, folgt Martin Elsaesser Rudolf Otto. Das Irrationale, das zur Religion gehört85, kann in einer von der Ratio beherrschten modernen Welt nur am Rationalen zur Geltung gebracht werden, am Rationalen muss es aber auch zur Geltung gebracht werden.86 Martin Elsaessers Idee einer funktional ernüchterten Heiligkeit, eines evangelischen Raumgefühls wie es in der Kirche in Niederursel ausdrückt ist, soll die auratische Leerstelle des liturgischen Funktionalismus füllen, um »Sakralität und Moderne in Einklang zu bringen«87, ein Programm, das nach wie vor berechtigt und aktuell ist.88

Ohne Zweifel war für Martin Elsaesser der moderne Kirchenbau in seiner konstruktiven und funktionalen Nüchternheit ein Kind der technischen Moderne. Elsaesser versucht im Kirchenbau die mythische Sakralität, die er als katholisch ablehnte, in eine auf die Liturgie bezogene, aber über den reinen Zweckgedanken hinausgehende räumliche Stimmung, das Raumgefühl der Gemeinde, zu transformieren. Sein Ansatz einer ernüchterten, an der liturgischen Funktion orientierten Sakralität lässt sich daher auch als Therapievorschlag verstehen, die unstillbare Sehnsucht nach Resakralisierung auf eine Weise zu stillen, die dem funktionalen Architekturbegriff in der Moderne nicht widerspricht. Allerdings ist der ästhetische Reiz des Kirchenraums in Niederursel begrenzt, auch dann, wenn die originale Farbigkeit wiederhergestellt wird. Die Gemeinde hat daher das schlichte Oberlicht, das die Industriearchitektur der Großmarkthalle zitiert, die Elsaesser zur selben Zeit in Frankfurt baut, in den 1960er Jahren durch farbige Fenster ersetzt.

Leider werden nach 1928 keine weiteren Kirchen nach Plänen von Martin Elsaesser gebaut.89 Denn Elsaesser entwickelt im Alter eine wachsende Sympathie für das Numinose,90 das in der funktionalen Rationalität der modernen Architektur, die auch für die Kirche in Niederursel leitend war, verloren geht. Vielleicht hätte Elsaessers späte Wertschätzung des Numinosen ein Beispiel dafür gegeben, wie im funktionalen Kirchenbau der Nachkriegszeit dem Geheimnisvollen und Atmosphärischen noch mehr und anders Raum gegeben werden kann. Bauen durfte Elsaesser eine solche Synthese leider nicht mehr.

Abb.11: Gustav-Adolf-Kirche Frankfurt, Martin Elsaesser, 1928 Foto: Konrad Elsässer

Mit Genehmigung der Martin-Elsaesser-Stiftung Frankfurt

d) Sakralität des Entzugs – Rudolf Schwarz

Worin besteht die theologische Notwendigkeit von Kirchen, wenn sie keine sakralen Räume sind und die Gegenwart des Heiligen ausschließlich in der Liturgie zu finden ist? Wozu werden auf hohem Niveau neue Kirchen gebaut und anspruchsvoll gestaltet, wenn eine Kirche den religiösen Gehalt, der in ihr im Abendmahl vollzogen wird, nicht als Raum vergegenwärtigt? Und was tun Touristen, Flaneure, Neugierige, wenn sie nicht die Liturgie, sondern die besonderen »Atmosphären kirchlicher Räume«91 erleben wollen, weil sie im Raum etwas spüren, was über sie hinausweist? Will man diese Suchbewegung nicht als religiöse Folklore abtun, muss man den religiösen Anspruch, den die Kirche als Bauwerk erhebt, neu durchdenken. In diesem Zusammenhang eines neuen Sakralitätsdiskurses im Kirchenbau der Moderne92 ist neben Martin Elsaesser und Otto Bartning auf katholischer Seite Rudolf Schwarz zu nennen. Schwarz gibt eine eigene Antwort auf die Frage, ob und wie eine Kirche einen sakralen Anspruch erhebt.

Wie viele große Architekten im 20. Jahrhundert forderte Rudolf Schwarz für die Architektur und für den Kirchenbau eine umfassende Neuorientierung. Die Liturgie bietet diese umfassende Orientierung allerdings nicht, jedenfalls nicht die Liturgie des Gottesdienstes. Rudolf Schwarz folgt nicht der Programmformel Cornelius Gurlitts. Er ist kein Vertreter eines liturgischen Funktionalismus. Vielmehr erhebt die Kirche bei Schwarz als Bauwerk selber einen dezidiert religiösen Anspruch. Kirche »hat keiner Liturgie zu dienen, sondern Liturgie zu sein.«93 Die Liturgie des Gottesdienstes reicht deshalb für den Kirchenbau als Gestaltungsprinzip nicht aus: »Ich habe niemals geglaubt, dass man liturgisch bauen könne. So wie man liturgisch singen, musizieren, beten kann […]. Ich habe auch niemals geglaubt, es sei die eigentliche Aufgabe des Baumeisters, Häuser zu errichten, die der Liturgie zweckmäßig sind; Kirchenbau ist Teilnahme, nicht Bedienung.«94

Zu kurz greift für Schwarz nicht nur Gurlitts Programmformel. Zu kurz greift auch Le Corbusiers System, der Modulor, »ein Maßwerkzeug, das von der menschlichen Gestalt und der Mathematik ausgeht.«95 In Ronchamp hat die Eingangstür die Höhe von 2,26m, die ein Mensch mit ausgestrecktem Arm erreicht.96 Dieses Maß fungiert wie ein Quellcode für das gesamte Gebäude. Wie denkt sich Rudolf Schwarz eine umfassende Orientierung der Architektur? »Bauen heißt doch nicht, einen theoretischen Standpunkt beziehen und von da aus die Menschen mit mathematischen Konstruktionen zu beglücken, sondern eine menschliche Lage klären und formen«97. Wesentlich ist, dass Bauen dazu beiträgt, das Leben aufzubauen. Das gilt für Architektur im Allgemeinen. Sie ist ein Beitrag zum Aufbau des Lebens. Der Kirchenbau im Speziellen ist der Beitrag zum Aufbau des Lebens in seiner Beziehung zur Transzendenz. Daher muss der Architekt, der Kirchen baut, beim Erleben der transzendenten Wirklichkeit beginnen. Vom Kirchenbau kann dabei nicht groß genug gedacht werden. Transzendenz ist kein partikulares Thema, das nur bestimmte Gruppen betrifft, sondern das Thema ist universal. Im Kirchenbau ist »das bauliche Anliegen […] die Menschheit, die vor die Ewigkeit hingestellt ist«98. Dieses »Hinstellen« der Menschheit vor den unverfügbaren Grund des Lebens ist der Kerngedanke, der den Kirchenbau bei Rudolf Schwarz orientiert.

Wie entwickelt sich nun aus dem elementaren Aufbau eines gemeinschaftlichen Lebens eine räumliche Beziehung zur Transzendenz? »Pläne« nennt Schwarz die verschiedenen räumlichen Grundkonstellationen, in denen sich das Stehen der Menschheit vor der Ewigkeit abspielt. Für den ersten Plan, Heiliger Ring, versammelt sich die Gemeinschaft um eine Mitte. Als räumliche Struktur wäre der Kreis naheliegend. Aber der Kreis ist eine in sich geschlossene Raumform, kein Symbol der Transzendenz, sondern der Immanenz. Kreis und Kuppel sind nach Schwarz als Bauformen vom Christentum »zerbrochen und zugleich neu gegründet«99. Was bedeutet das für den Kreis als räumliche Konstellation? Die Mitte muss im Kreis leer sein – ein Abgrund –, damit die Form nicht geschlossen ist. Vom abgründigen Mittelpunkt aus wird der Kreis von innen heraus aufgebrochen. Die abgründige Mitte unterscheidet den Kreis als Symbol der Immanenz vom Kreis als Symbol der Transzendenz.

Neben der abgründigen Mitte gibt es bei Schwarz weitere räumliche Metaphern. Eine ist die »Schwelle«. Eine Kirche führt entweder an eine abgründige Mitte oder an eine abweisende Schwelle – die weiße Wand in St. Fronleichnam in Aachen von 1930 –, an der der Mensch mit seinen Möglichkeiten scheitert und in eine Haltung des Empfangens gerät. Als aufgebrochene Mitte wie als abweisende Schwelle ist der Kirchenbau der exemplarische Fall für die Planung des Unplanbaren. Das zeigt sich in den »Plänen« immer da, wo sie »aufgebrochen« sind. Es gibt immer eine offene oder abgründige Stelle, die nicht aus dem Vollzug des gemeinschaftlichen Stehens vor Gott heraus vollendet werden kann. Deshalb ist Schwarz der Meinung, dass im Kirchenbau die Architektur in ihren »existentiellen Ernstfall« gerät: »In diesem Werk [Kirchenbau] wird die Welt zu einer offenen Gestalt zusammengefaßt und vor die ewige Schwelle gestellt. Die Baukunst kommt […] in ihre existentielle Situation.«100

Kirchen haben bei Schwarz eine religiöse Dimension, die nichts mehr mit einer dinglichen Qualität des Raumes zu tun hat. Kirchen stellen Menschen in Beziehung zum Heiligen. Sie bringen sie vor das Unendliche. Ihre religiöse Dimension besteht aus dieser räumlichen Konstellation.101 Die Kirche stellt in eine Beziehung zu einer transzendenten Wirklichkeit, aber sie partizipiert als Raum nicht unmittelbar an dieser Wirklichkeit. Sie ist nur die Schwelle, die an die Grenze führt. In diesem relationalen Sinne sind Kirchenräume selber Liturgie. Sie sind es als Konstellationen, die eine unmittelbare Präsenz des Heiligen negieren, damit das Heilige aus sich heraus wirken kann. Man könnte bei Schwarz von Entleerungsformen des Heiligen reden, empty spaces, in denen das Heilige wie in einer Hohlform aus sich heraus, aus seiner Aktualität heraus Raum gewinnen kann.

Abb.12: St. Fronleichnams-Kirche Aachen, Rudolf Schwarz, 1930

Foto: Wikimedia commons, Norbert Schnitzler

Das erklärt den Minimalismus der Mittel, die Schwarz einsetzt. Die weiße Wand ohne Kruzifix, die Reduktion der Anschaulichkeit, die Rudolf Schwarz bei seiner berühmten Kirche St. Fronleichnam in Aachen den Vorwurf einbrachte, er habe einen kahlen Kasten gebaut, ohne »Gemütstiefe«, jedenfalls ohne ein »gewisses Maß von sakraler Weihe«, ist folgerichtig aus seiner Theorie des Kirchenbaus entwickelt. Wenn die Gemeinde in Aachen ein Kruzifix oder ein Bild an der weißen Altarwand will – was bisher nicht der Fall ist –, oder einen zweiten Altar, der nicht an der Wand steht, sondern näher bei der Gemeinde – was der Fall ist –, dann tut sie etwas, was man sonst nur evangelischen Gemeinden vorwirft: Sie agiert in ihrer Kirche verzweifelt gegen die (minimalistischen) Intentionen ihres Erbauers. Selbst Romano Guardini meldet in Aachen Bedenken an gegen die Kargheit der Mittel, mit denen Rudolf Schwarz diese Kirche baut. Die Aufgabe, »die äußerste Einfachheit einer Kirche von der eines Nutzbaues zu unterscheiden, scheint mir im Außenbau nicht voll bewältigt«102.

Abb.13: St. Fronleichnams-Kirche, Chor rechts, Aachen, Rudolf Schwarz, 1930

Foto: Wikimedia commons, Norbert Schnitzler

Nun liegt es nicht am Unvermögen des Architekten, dass die Kirche in Aachen von einer Fabrik kaum mehr zu unterscheiden ist. Es gehört zum Programm von Rudolf Schwarz, das Sakrale nur als Verweigerung eines numinosen Erlebens im Kirchenraum präsent werden zu lassen. Der Minimalismus und die Kargheit der Mittel haben Methode. Nur so kann Sakralität in den modernen Kirchenbau integriert werden, nur so kann eine Kirche die Gemeinde räumlich vor das Heilige stellen, indem der Raum das Numinose als räumliche Qualität verweigert. Das Heilige wird im Kirchenraum nur im architektonisch präzise gestalteten Entzug der räumlichen Sakralität anwesend.

Rudolf Schwarz potenziert die Frage nach der auratischen Leerstelle, die den funktionalen Kirchenbau in der Moderne begleitet. Die Kirche in Aachen wird bei Rudolf Schwarz so radikal als Abwehr und Verweigerung von sakraler Aura und Atmosphäre verstanden, dass es keine wie auch immer gearteten Vermittlungsversuche geben kann. Die Sehnsucht, affektiv angesprochen zu werden von einer numinosen Atmosphäre, muss dem modernen Kirchenbau ausgetrieben werden, damit die Kirchen als Schwellen an das Heilige heranreichen. Aber genau so, als ein Stück gebauter negativer Theologie, als die Schwelle, die zum Heiligen führt, sind die Kirchen von Rudolf Schwarz, anders als die nachsakralen Gemeindezentren der Nachkriegszeit, sakrale Bauwerke. Es ist Sakralität des Entzuges räumlicher Sakralität.

e) Liturgisch-sakrale Hybridbildung – Otto Bartning

Otto Bartning ist die prägende Figur des evangelischen Kirchenbaus im 20. Jahrhundert. Seine späte Programmformel von 1957 lautet: »Liturgische, sagen wir, geistige Spannung und architektonische Spannung im Raum sind in lebendige Wechselwirkung zu bringen.«103 Mit dieser Formel, so meine These, gibt Bartning eine Antwort auf die Frage, ob und inwiefern ein evangelischer Kirchenraum mehr ist als ein funktionaler Raum, nämlich ein sakraler Raum, eine Frage, die Bartning von seinen Anfängen bis ans Ende seines Wirkens begleitet. Was ist mit dieser Formel gemeint?

Zum 75. Geburtstag Otto Bartnings erscheint eine Auswahl seiner Aufsätze zum Kirchenbau in chronologischer Reihenfolge unter dem Titel »Vom Raum der Kirche«. Folgt man dieser zeitlichen Anordnung, dann ist das Jahr 1919 für Otto Bartning ein entscheidendes Jahr. In einem knappen Text »Erlebnisse«104