Hypnodrama in der Praxis - Ruth Metten - E-Book

Hypnodrama in der Praxis E-Book

Ruth Metten

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Beschreibung

Mit dem Hypnodrama entdeckte Jacob Levy Moreno ein Therapieverfahren, dessen Wurzeln bis zum antiken griechischen Theater und zur Poetik des Aristoteles zurückreichen. Moreno definierte das Hypnodrama als eine Synthese aus Psychodrama und Hypnose. Seine effizienten Techniken lassen sich in vielen Arbeitsbereichen von Psychotherapien, Beratungen, Coachings oder Supervisionen bis hin zur Seelsorge nutzen. Ruth Metten verknüpft in diesem Buch die hochwirksame therapeutische Praxis des Hypnodramas mit deren spannenden und bedeutenden Traditionen aus der griechischen Antike. Nacheinander beantwortet sie die drei zentralen Fragen zu der Methode: Was ist Hypnodrama? Woher stammt es? Wie wird es gemacht? Getreu Morenos Motto "Handeln ist heilender als reden" legt die Autorin besonderes Gewicht darauf, Hypnodrama erlebbar zu machen. Zusammen mit den zahlreichen Fallbeispielen erleichtert das den Transfer in die eigene Praxis.

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Für Andres

Ruth Metten

Hypnodrama in der Praxis

2021

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

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Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Reden reicht nicht!?«

hrsg. von Michael Bohne, Gunther Schmidt

und Bernhard Trenkle

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: © fergregory/istock.com

Redaktion: Veronika Licher

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0378-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8267-2 (ePUB)

© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Vorwort

1Dem Hypnodrama auf der Spur

1.1Die Katharsis als Wirkprinzip des klassischen Psychodramas

1.1.1Greift Moreno die Katharsis von Freud und Breuer auf?

1.1.2Morenos Katharsis geht über die von Breuer und Freud hinaus

1.1.3Surplus Reality ist notwendig für Morenos Katharsis

1.1.4Schein ist nicht gleich Sein

1.1.5Tiefenproduktion statt Tiefenanalyse?

1.2Die Handlungseinsicht als Wirkprinzip der Tiefenpsychologisch fundierten Psychodramatherapie (TfPT)

1.2.1Die TfPT bleibt in der Alltagsrealität

1.2.2Einsicht allein reicht nicht

1.3Das Hypnodrama als gewinnbringende Synthese

1.3.1Psychodrama in Hypnose – geht das überhaupt?

1.3.2Was bringt die Hypnose dem Psychodrama?

1.3.3Wie kommt die Hypnose ins Psychodrama?

2Die antiken Wurzeln des Hypnodramas

2.1Schon den Heilgott zog es zum Theater

2.1.1Eine Inschrift weist den Weg

2.2Ein Philosoph erklärt das Drama

2.2.1Mimesis – Akte schöpferischer Weltgestaltung

2.2.2Was sind Dramen?

2.2.3Die Katharsis als Wirkung der Tragödie

2.2.4Die Katharsis als Wirkung der Komödie

2.3Auch wir begannen mit dem Drama

3Die Praxis des Hypnodramas

3.1Equipment

3.1.1Leiter

3.1.2Bühne

3.1.3Protagonist

3.1.4Hilfs-Ichs

3.1.5Gruppe

3.2Kunstgriffe

3.2.1Doppeln

3.2.2Spiegeln

3.2.3Rollentausch

3.3Auf die Plätze, fertig, los

3.3.1Erwärmungsphase

3.3.2Einstieg in die Hypnose

3.3.3Aktionsphase

3.3.4Abschlussphase

3.4Spielarten

3.4.1Monodrama

3.4.2Inneres Hypnodrama

Ein Wort zum Schluss

Literatur

Sach- und Personenregister

Über die Autorin

Vorwort

»Handeln ist heilender als Reden.«

Jacob Levy Moreno1

So viel steht fest: Führten Psychotherapeuten2 und Berater keine Gespräche mit ihren Klienten, könnten sie ihre Praxen in der Regel schließen. Ohne zu reden, geht’s nicht. Aber reicht Reden allein aus? Viele Vertreter der genannten Berufsgru ppen zweifeln inzwischen daran. Warum? Zugegeben, Reden kann Einsicht en vermitteln. Das ist keineswegs zu verachten. Doch ändern Menschen daraufhin ihr Erleben und Verhalten? Hören wir sie nicht oft genug sagen: »Eigentlich weiß ich ja, dass unangemessen ist, was ich gerade erlebe oder tue. Aber es geschieht trotzdem. Immer wieder tappe ich in dieselbe Falle.« So stellt es auch der Arzt, Psychotherapeut und Entwickler der hypnosystemischen Konzeption Gunther Schmidt fest. Nicht selten berichteten ihm Klienten in den Therapien oder Coachings, mehr als 300 professionelle Stunden an ihren Problemen gearbeitet, diese auch sehr gut verstanden und sich trotzdem nicht in der gewünschten Weise verändert zu haben (vgl. Schmidt 2014, S. 69). Humorvoll bringt der Arzt, Psychoanalytiker und Psychodramatherapeut Jochen Peichl diese bittere Erkenntnis in folgendem Witz auf den Punkt: Jahrelang sei ein Mann dreimal die Woche wegen Einnässens zur Psychoanalyse gegangen. Am Ende habe ihn ein Freund gefragt: »Na, hat’s geholfen, nässt du immer noch ein?« Worauf der Mann geantwortet habe: »Ja, schon, aber ich weiß jetzt, warum« (vgl. Peichl 201 5, S. 78). Soll verhindert werden, dass bei ent sprechenden Auslösern immer wieder der alte, unpassende Film abläuft, reicht es meist nicht, dem Betroffenen lediglich verbal zu deuten, aus welchem Grund dies ständig bei ihm geschieht. Ausgerechnet zwei Psychoanalytiker – Franz Alexander und Thomas Morton French – vertraten bereits 1946 diese Auffassung.3 Sie forderten deshalb, dass den Klienten korrigierende Erfahrungen ermöglicht werden müssten (vgl. Alexander a. French 1946, p. 22).4 Erfahrungen prägen unser künftiges Erleben und Verhalten in der Tat weit wirksamer als verbal vermittelte Einsicht en. Ein simples Beispiel mag das verdeutlichen. Wie viele Kinder berühren die heiße Herdplatte, obwohl sie eindringlich vor dieser Gefahr gewarnt worden sind? Wie viele von ihnen würden es wieder tun, nachdem sie selbst die bittere Erfahrung machten, sich an ihr verbrannt zu haben?

Wie der Altphilologe Ingemar Düring erklärt, war schon Aristoteles davon überzeugt, dass Wissen allein nicht genüge, um Menschen zu verändern (vgl. Düring 2005, S. 168). Darum galten ihm wohl auch die Dichter – und nicht die Philosophen – als die besten Lehrer des Volkes. Denn sie vermittelten Lernerfahrungen – Aristoteles verwendet dafür das Wort μάθησις (mathesis) (vgl. Poetik 1448b8). Allerdings nutzen auch sie dafür Worte. Reicht Reden zuweilen doch? Ganz bestimmt. Der Gebrauch der Worte begrenzt sich nämlich keineswegs auf den Transfer von Wissen. Durch sie hindurch kön nten zuweilen, so der Philosoph Georg Stenger, beschriebene Erfahrungen gewissermaßen auftauchen (vgl. Stenger 2006, S. 551). Worte in dieser Weise zu gebrauchen, ist nun geradezu die Spezialität der Dichter. Und nicht nur ihre. Hypnotherapeut en sind darin ebenfalls geübt. Mit ihren Worten lassen sich Menschen förmlich in Erfahrung en hineinzoomen. Diese Fähigkeit teilen sie mit den Dichter n. Sie ist nicht die einzige. Denn auch Hypnotherapeut en erschaffen Dramen. Der amerikanische Psychologe und Schüler von Milton H. Erickson, Jeffrey K. Zeig, sagt es ausdrücklich: Kliniker lernen mithilfe der Hypnose, erlebnisbasierte therapeutische Dramen zu kreieren, die die Veränderung fördern (vgl. Zeig 2015, S. 21). Um Menschen zu verändern, scheinen Aristoteles die Dramen sogar das wirkungsvollste Mittel überhaupt gewesen zu sein.

Wie effizient auf die Bühne gebrachte Dramen tatsächlich zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden können, entdeckte Anfang der 1920er-Jahre der Arzt und Philosoph Jacob Levy Moreno wieder (vgl. Moreno 1946a, p. 1; ders. 1950, p. 2.) und legte damit den Grundstein für ein neues Therapieverfahren – das Psychodrama. Knapp zwei Jahrzehnte später begann er, es auch in Hypnose durchzuführen. Das war die Geburtsstunde des Hypnodrama s. Noch heute werden dabei Wirkprinzipien angewandt, die Aristoteles bereits in seiner Poetik beschrieben hat (vgl. Dietz 1996) – mit Erfolg.

Nun ließe sich einwenden, dass das Hypnodrama nur für Psychotherapeuten interessant sein dürfte, die zugleich auch Psychodramatiker und Hypnotherapeut en sind. Zweifellos stellt eine solche kombinierte fachliche Qualifikation die günstigste Ausgangslage zur Anwendung hypnodramatischer Technik en dar. Doch diese können tatsächlich ebenso in anderen Bereichen, beispielsweise bei Beratungs-, (Weiter-)Bildungs- und Trainingsangeboten, Supervisionen, Coachings, in der Personal- bzw. Organisationsentwicklung und Seelsorge genutzt werden. So gesehen mag es für jeden, dem Reden allein nicht reicht, gewinnbringend sein, dieses Buch zu lesen.

Sein Inhalt ist nicht vollständig neu. Wesentliche Teile wurden aus der inzwischen nicht mehr verlegten Vorgängerversion dieses Buches übernommen, die 2016 unter dem Titel Bühne des Lebens erschien. Sie wurde dahingehend überarbeitet, dass sich jetzt der Mittelteil mit den antiken Wurzeln des Hypnodramas befasst. Jener wird eingerahmt von zwei weiteren Kapiteln, die zum einen den konzeptuellen Hintergrund dieser Behandlungsmethode beleuchten und zum anderen Einblicke in ihre Praxis geben. Etwas salopp ausgedrückt, ließe sich also sagen, dass das vorliegende Buch nacheinander drei Fragen zum Hypnodrama beantwortet: »Was ist es?«, »Woher stammt es?« und »Wie wird’s gemacht?«. All jene, die die »biografische Kehre« des Hypnodramas nicht bis in die Antike nachvollziehen wollen, können das zweite Kapitel überspringen, ohne den roten Faden des Buches zu verlieren.

An dieser Stelle sei mir noch erlaubt, den Mitarbeitern des Carl-Auer Verlages – im Besonderem seinem Geschäftsführer Matthias Ohler und den Lektoren Dr. Ralf Holtzmann und Nora Wilmsmann – von Herzen zu danken, die sich dafür begeistern konnten, die Vorgängerversion dieses Buches in überarbeiteter und erweiterter Fassung neu aufzulegen, und die deren Fertigstellung mit hilfreichen Ideen und Anmerkungen tatkräftig unterstützten. Mein besonderer Dank gilt ebenfalls Veronika Licher, die dem Manuskript den letzten Schliff gegeben hat. Ria Schneider unterstützte mich durch nützliche Rückmeldungen. Zutiefst dankbar bin ich auch den vielen Klienten, die diesem Buch Seele eingehaucht haben, indem sie sich damit einverstanden erklärten, dass darin ihre Erfahrungen mit dem Hypnodrama – selbstverständlich unter anderen Namen – beschrieben werden.

Und nun viel Freude beim Lesen! Mögen hilfreiche Anregungen für die eigene Arbeit darin zu finden sein.

Ruth MettenKrefeld, im Januar 2021

1Zitiert nach Pörtner (1972, S. 128).

2Um die Lesbarkeit zu erleichtern, wird nachfolgend durchgehend nur die männliche Form verwendet, die hier allerdings die weibliche Form ausdrücklich miteinschließen soll.

3»… intellectual insight alone is not sufficient …« (»… verstandesmäßige Einsicht allein reicht nicht aus …«) (Alexander a. French 1946, p. 67; Übers.: R. M.).

4Mit ihrem in der Psychoanalyse lange Zeit umstrittenen Konzept der korrigierenden emotionalen Erfahrung beziehen sich Alexander und French auf die Arbeiten von Sándor Ferenczi und Otto Rank (1925); s. a. Rank u. Ferenczi (1924).

1Dem Hypnodrama auf der Spur

»Das Psychodrama ist ›Lebenspraxis‹.«

Jacob Levy Moreno5

Am Anfang war das Spiel – genauer gesagt das Kinderspiel. Aus ihm entwickelte Jacob Levy Moreno das Psychodrama (vgl. Moreno 1950, p. 1) und knapp zwei Jahrzehnte später das Hypnodrama. Im Spiel wird weniger über etwas geredet, als vielmehr gehandelt. Dass dies durchaus therapeutische Effekte haben kann, entdeckte Moreno bereits als Medizinstudent bei seinem Spiel mit Kindergruppen in den Parkanlagen Wiens. Vielleicht war er deshalb so vom Spiel fasziniert, weil ihm das Leben bis dahin etliche Steine in den Weg gelegt hatte. 1889 als Sohn jüdischer Eltern in Bukarest geboren, musste seine Familie bereits wenige Jahre später von dort auswandern. Sie zog mit ihm nach Wien, 1899 dann nach Deutschland. Moreno kehrte 13-jährig allein nach Wien zurück. Dort schlug er sich als Hauslehrer für Kinder wohlhabender Eltern durch (vgl. Buer 1989, S. 13). Parallel besuchte er die jüdische Schule, studierte nach ihrem Abschluss zunächst Philosophie, dann Medizin. Sein Studium der Medizin schloss er 1917 ab. Noch während seiner Studienzeit begann er, Kindergruppen zu formen und mit ihnen in den Gärten und Parkanlagen Wiens aus dem Stegreif zu spielen (vgl. Moreno 1988, S. 10). Schon damals wäre ihm aufgefallen, so Moreno in dem 1950 gemeinsam mit James Mills Enneis veröffentlichten kleinen Band Hypnodrama and Psychodrama, dass solche Spiele einen heilsam en Effekt hätten – eine Katharsis bewirkten (vgl. Moreno 1950, p. 1). Das Wort Katharsis wird uns in diesem Buch noch häufiger begegnen. Sie gilt als zentrales Wirkprinzip des klassischen Psychodramas und damit auch des Hypnodramas – der Synthese aus Psychodrama und Hypnose.6 Was hat Moreno unter ihr verstanden?

1.1Die Katharsis als Wirkprinzip des klassischen Psychodramas

Reifungsprozesse vollziehen sich meist nicht in einem einzigen Schritt. Entsprechend kam auch das Psychodrama erst allmählich zu seiner Blüte. Bildeten die Spiele mit den Kindergruppen in den Parkanlagen Wiens die Saat, sollte es noch eine Weile dauern, bis sie gänzlich aufging. Denn zunächst hatte Moreno etwas anderes im Sinn, als vorrangig zu therapieren.

1921 eröffnete er ein privates Stegreiftheater in einer angemieteten Wohnung im obersten Stockwerk des Hauses Maysedergasse Nr. 2 im 1. Wiener Gemeindebezirk.7 Damit knüpfte er fürs Erste an eine damals in Wien schon lange bestehende Tradition an (vgl. Fangauf 1989, S. 98). Laut Duden leitet sich »Stegreif« von dem althochdeutschen Wort für Steigbügel ab. »Aus dem Stegreif zu sprechen« bedeutete ursprünglich, das Wort an jemand anderen zu richten, ohne vom Pferd zu steigen. Boten machten dies zuweilen so, wenn sie Nachrichten überbrachten. Traf diese nämlich auf den Unmut der Empfänger, musste man nicht erst wieder aufsitzen, um sich aus dem Staub machen zu können. Seit dem 17. Jahrhundert wird der Ausdruck im übertragenen Sinne dafür verwendet, wenn ohne Vorbereitung oder längeres Nachdenken – quasi aus dem Stand – geredet wird. Entsprechend gibt es im Stegreiftheater auch keine genau vorgegebenen Rollen, sondern die Schauspieler improvisieren das Geschehen auf der Bühne weitgehend frei. Mit der Eröffnung eines eigenen Stegreiftheaters versuchte Moreno, es wieder in seine ursprüngliche Form zu überführen (vgl. Fangauf 1989, S. 98). Denn dieses hatte im Laufe der Zeit, wie den Ausführungen der Ärztin und Psychodramatikerin Ulrike Fangauf in ihrem 1989 veröffentlichten Buchbeitrag Moreno und das Theater zu entnehmen ist, mehr und mehr an Spontaneität verloren (vgl. Fangauf 1989, S. 97 f.). Das zu ändern, war Moreno seinerzeit offenbar ein Anliegen. Mit der Ausschaltung des geschriebenen Stücks habe er sich, so Fangauf weiter, abermals auf der Grundlage der frühen Stegreifspiele befunden (vgl. Fangauf 1989, S. 98). Aber Moreno wäre nie und nimmer Moreno gewesen, hätte er nur zu einer alten Form zurückfinden wollen, ohne diese radikal weiterzuentwickeln. Nichts Geringeres als die Revolution des Theaters strebte er damals an (vgl. Moreno 1924, S. XIV; vgl. Moreno 1947, pp. 4–7, 51). Jeder – Schauspieler wie Zuschauer – sollte in seinem Stegreiftheater mitspielen, darin Akteur sein können (vgl. Moreno 1947, p. 84).

Moreno war mit dem hehren Vorsatz angetreten, das Stegreiftheater zu revolutionieren. Im Laufe der Zeit musste er allerdings feststellen, dass die Spontaneität und Kreativität der Teilnehmer nicht ausreichte, um eine ästhetisch befriedigende Vorstellung zu geben (vgl. Pörtner 1972, S. 119; vgl. Buer 1989, S. 16; vgl. Fangauf 1989, S. 104). Wie sehr Moreno sich auch bemühte, er konnte das Problem einfach nicht lösen, die ästhetische Qualität seines Stegreifspiels auf ein Niveau zu bringen, das die Anforderungen erfüllte, die an ein Kunstwerk üblicherweise gestellt werden (vgl. Fangauf 1989, S. 104). Doch, wie sagt schon Don Quixote in dem spanischen Roman von Miguel de Cervantes Saavedra? »Wo sich eine Tür schließt, geht eine andere auf.« (vgl. de Cervantes Saavedra 1867, S. 214). Eine Erfahrung, die auch Moreno machte. Denn in seinem Stegreiftheater sei ihm wieder klar geworden, welche therapeutischen Möglichkeiten im Ausspielen, im aktiven und strukturierten Ausleben von seelischen Konfliktsituation en liegen (vgl. Moreno 1988, S. 14) – etwas, das ihn schon die Kinderspiele in den Parkanlagen Wiens gelehrt hatten. Und das kam so oder – besser gesagt – durch sie …

Die Rede ist von Barbara, einer herausragenden Schauspielerin in seinem Stegreiftheater. Wie Moreno selbst berichtet (vgl. Moreno, 1946a, pp. 3–5; vgl. Moreno 1988, S. 14 f.), habe sie dort mit Vorliebe die Rolle der Unschuldigen, Heldin oder Geliebten verkörpert. Georg, ein junger Poet und Stückeschreiber, sei einer ihrer glühendsten Verehrer gewesen. Stets habe er bei ihren Aufführung en in der ersten Reihe gesessen. Beide hätten sich ineinander verliebt und geheiratet. Sie sei danach auch weiterhin die Hauptdarsteller in und er sozusagen der Hauptzuschauer von Morenos Stegreiftheater geblieben. Eines Tages habe sich Georg an ihn gewandt und ihm sein Leid geklagt. Er könne es einfach nicht mehr ertragen. Seine Frau, dieses süße, engelgleiche Wesen, das sie alle bewunderten, verhielte sich wie eine teuflische Kreatur, wenn sie mit ihm allein sei. Sie sage dann sehr Beleidigendes und wenn er daraufhin ärgerlich werde, schlage sie sogar mit ihren Fäusten auf ihn ein. Moreno habe daraufhin angeboten, dass er versuchen wolle, ihrem Problem Abhilfe zu schaffen. Sie sollten nur weiter, wie gewöhnlich, in sein Theater kommen. Als Barbara das nächste Mal wieder eine ihrer üblichen Rollen habe spielen wollen, sei sie von ihm gestoppt worden. Er habe ihr erklärt, dass sie zwar bisher ganz fabelhaft gewesen sei. Nun aber befürchte er, ihr Spiel könne fade werden. Sie dürfe sich nicht zu einseitig auf die Rolle verehrungswürdiger Frauengestalten festlegen. Die Zuschauer würden sie auch gern in Rollen sehen, in denen sie Menschen verkörpere, die schlimmer seien als sie selbst, die ihnen den Schmutz, die Rohheit der menschlichen Natur, ihre Obszönität, Dummheit und zynische Realität nahebrächten. Und er habe sie gefragt, ob sie versuchen wolle, solche Rollen zu spielen. Begeistert habe sie seinen Vorschlag aufgegriffen. Noch am selben Abend sei sie in die Rolle einer Straßendirne geschlüpft. Darin habe sie agiert, wie niemand es bis dahin von ihr erwartet hätte. Sie habe höllische Flüche ausgestoßen, ihr Gegenüber sogar wiederholt körperlich attackiert. Das wiederum sei daraufhin wild geworden, habe sie mit einem Messer über die Bühne gejagt und schließlich (im Spiel) ermordet. Fasziniert habe das Publikum die Geschehnisse miterlebt. Das Spiel sei ein großer Erfolg gewesen. Im Anschluss habe sich Barbara überschäumend vor Freude gezeigt. Sie und Georg seien begeistert nach Hause gegangen. Von da an sei sie vorzugsweise in derartigen Rollen aufgetreten. Sie habe rachsüchtige Ehefrauen, boshafte Geliebte, Barmädchen und Gangsterbräute verkörpert. Georg sei sofort klar gewesen, dass es sich hierbei um eine Art Therapie gehandelt habe. Täglich sei er zu ihm gekommen, um Bericht zu erstatten. Nach einigen Abenden habe er eine Veränderung feststellen können. Irgendetwas sei mit Barbara passiert. Sie bekomme zwar noch immer ihre Zorn ausbrüche, aber sie hätten an Intensität verloren. Sie seien auch von kürzerer Dauer, und manchmal beginne sie plötzlich zu lächeln, weil sie sich selbst an ähnliche Szenen erinnere, die sie auf der Bühne spiele. Und auch er lache mit ihr aus dem gleichen Grund. Es sei, als ob sie einander in einem psychologischen Spiegel sähen. Manchmal beginne sie sogar schon zu lachen, bevor sie ihren Anfall bekomme, weil sie genau wisse, wie es sich abspielen werde. Sie steigere sich zwar unter Umständen doch noch hinein, aber in viel schwächerer Form als früher.

Der Fall Barbara hatte Moreno erneut klargemacht, welche therapeutischen Möglichkeiten im Ausspielen, im aktiven und strukturierten Ausleben von seelischen Konfliktsituation en liegen. Denn was war geschehen? Moreno erklärt es selbst, indem er in seiner Fallschilderung unmittelbar fortfährt, dass es wie eine Katharsis gewesen sei (vgl. Moreno 1988, S. 15). Da ist sie wieder – die Katharsis. Rückblickend hatte Moreno sie schon als Wirkung seiner Spiele mit Kindern in den Gärten und Parkanlagen Wiens erkannt. Hier aber wird nun deutlich, was er unter ihr verstanden hat. Auf der Bühne des Stegreiftheaters konnte Barbara ihre seelischen Konfliktsituation en ausleben. Infolgedessen nahmen Intensität und Dauer ihrer Zornausbrüche ab.

Damit scheint Morenos Katharsis das gewesen zu sein, was damals auch zwei Wiener Ärzte unter ihr verstanden hatten. Zumindest einen von ihnen kannte er persönlich. Denn während seines Medizinstudiums hatte er dessen Vorlesung in Wien gehört.8 Sein Name war Sigmund Freud …

1.1.1Greift Moreno die Katharsis von Freud und Breuer auf?

In den Jahren 1880 und 1881 entdeckte der Wiener Arzt Josef Breuer eine neue Behandlungsmethode, als er die hysterische Störung einer seiner Patientinnen zu heilen versuchte. Ihr Fall wurde später von ihm unter dem Pseudonym Anna O. berichtet (Breuer u. Freud 1895, S. 15–21). Die neuartige Technik, mit der es Breuer gelungen war, ihre Symptomatik zum Abklingen zu bringen, nannte er Katharsis. Für die Namensgebung werden ihm wohl seine Kenntnisse in Altgriechisch und sein Philosophiestudium zupassgekommen se in. Zunächst ließ es Breuer mit der kathartischen Methode bei seinem Erfolg im Fall der Anna O. bewenden. Etwa ein Jahrzehnt später konnte allerdings der Wiener Arzt und Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, sein Interesse daran erneut wecken und ihn dazu bewegen, sie gemeinsam mit ihm zu erforschen. Bereits 1893 präsentierten sie ihre Ergebnisse im Zentralblatt für Neurologie unter dem Titel Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene – vorläufige Mitteilung.9 1895 folgten dann die Studien über Hysterie (s. Breuer u. Freud 1895).

Doch was ist unter der darin beschriebenen kathartischen Methode zu verstehen? Freud erklärte dazu in einem Vortrag, den er am 11. Januar 1893 in der Sitzung des »Wiener med. Club« hielt, dass sie einem der heißesten Wünsche der Menschheit entgegenkomme, nämlich dem Wunsch, etwas zweimal tun zu dürfen. Wenn jemand ein psychisches Trauma erfahren habe und ihm verwehrt gewesen sei, darauf genügend zu reagieren, lasse man ihn bei dieser Behandlungsmethode das Gleiche ein zweites Mal erleben, jetzt aber in Hypnose, und nötige ihn dazu, die Reaktion zu vervollständigen, sich nun des Affekts der Vorstellung zu entledigen, der früher sozusagen eingeklemmt gewesen sei.10

Die kathartische Methode befreit also von Affekten, die eingeklemmt waren, weil nicht genügend auf sie reagiert werden konnte. Das wird nun in Hypnose nachgeholt. Der Betroffene bekommt auf diese Weise eine zweite Chance, seine Reaktion auf den Affekt zu vervollständigen und sich dadurch seiner zu entledigen. Was dabei geschieht, wird deshalb von Breuer und Freud nicht nur Katharsis, sondern auch Abreaktion genannt (vgl. Freud u. Breuer 1925b, S. 179). Beide vergleichen es metaphorisch mit dem Aufschließen einer versperrten Türe (vgl. Freud u. Breuer 1925b, S. 212).

Im Fall Barbara geschah im Prinzip das Gleiche. Nur ereignete sich die Abreaktion dort nicht auf einer Bühne in der Innenwelt, zu der die Hypnose Zugang verschaffte. Vielmehr stand eine solche hier in der Außenwelt des Stegreiftheaters. Wo auch immer die Bühne verortet sein mag, ihre Bretter bedeuten jedenfalls eine Welt, 11 in der eingeklemmte Affekte – Moreno spricht von Konfliktsituation en – auf eine unschädliche Weise abreagiert bzw. ausgespielt und ausgelebt werden können. Dadurch gelinge es, so auch der Psychodramatiker Eberhard Scheiffele, sich von nicht ausgedrückten Emotion en zu befreien, ohne befürchten zu müssen, andere hiermit zu verletzen (vgl. Scheiffele 2008, p. 152). Das Betreten der Bühne öffnet, um im Bild von Breuer und Freud zu bleiben, sozusagen eine versperrte Tür, um sich »einen der heißesten Wünsche der Menschheit« zu erfüllen, nämlich den, »etwas zweimal tun zu dürfen« und jetzt »die Reaktion zu vervollständigen« (Freud u. Breuer 1925a, S. 11). Als Freud seiner Zuhörerschaft am 11. Januar 1893 die kathartische Methode erklärte, war Moreno nicht einmal vier Jahre alt. Die Entwicklung seines Psychodramas lag noch vor ihm. Später wird er dessen Effekt als eine wahnsinnige Passion beschreiben, eine Aufrollung des Lebens im Schein, die nicht wie ein Leidensweg wirke, sondern den Satz bestätige, dass jedes wahre zweite Mal die Befreiung vom ersten sei (vgl. Moreno 1988, S. 89; vgl. Moreno 1924, S. 77).

Die Übereinstimmung mit den von Freud gewählten Worten ist verblüffend. Beide reden davon, dass etwas ein zweites Mal erlebt werde und dadurch befreiend wirke. Und es gibt noch einen weiteren Punkt, in dem Moreno und Freud konform gehen: die Bewertung des Effekts der Katharsis. So wenden Breuer und Freud in ihren Publikationen zur kathartischen Methodee inschränkend ein, dass diese nur vorübergehend entlaste, weil sie die Bedingungen unbeeinflusst lasse, die den eingeklemmten Affekt en ursächlich zugrunde lägen. Sie wirke symptomatisch, aber nicht kausal. Anstelle der beseitigten Symptome könnten folglich wieder neue entstehen (vgl. Freud u. Breuer 1925b, S. 186; 1925a, S. 24). Auch Moreno sieht in der Katharsis keinen kurativen Behandlungserfolg, sondern lediglich »eine vorbeugende Maßnahme gegen das ›irrationale Handeln‹ im Leben selbst« (Moreno 1988, S. 60; vgl. Moreno a. Moreno 1959, p. 98).

Der Vergleich macht es deutlich: Moreno hat mit seinem Katharsisbegriff auf die Wortbedeutung bei Breuer und Freud zurückgegriffen. Ganz in ihrem Sinne versteht er sie als ein Ausspielen, ein aktives und strukturiertes Ausleben, das zwar nur vorübergehend, nichtsdestotrotz sehr effektiv von Affekt en befreit, die zu irrationalem Handeln führen können. Doch das ist nicht das Einzige, wozu Morenos Katharsis in der Lage ist …

1.1.2Morenos Katharsis geht über die von Breuer und Freud hinaus

In Morenos Psychodrama soll sich die Katharsis keineswegs auf die Abreaktion beschränken. Sie bedeutet hier weit mehr, als sich einiger Affekte zu entledigen. Wäre das nämlich ihr alleiniger Gewinn, bestünde darin, so Moreno, auch eine Gefahr. Denn die Abreaktion trüge nicht dazu bei, Symptome zu heilen. Allenfalls würden sie in ihrer Ausprägung gelindert, blieben aber grundsätzlich erhalten, oft sogar hartnäckiger als zuvor.12 Daher erschöpfe sich, wie die Psychodramatiker Christoph Hutter und Helmut Schwehm erklären, die Katharsis bei Moreno nicht in der Abreaktion (vgl. Hutter u. Schwehm 2012, S. 160). Hier geschehe deutlich mehr. So bestätigt es auch der Psychodramatiker Eberhard Scheiffele. Vorrangiges Ziel der Katharsis in Morenos Psychodrama sei nicht, bestimmte Affekte, sondern eher Blockaden und Hemmungen loszuwerden (vgl. Scheiffele 2008, p. 111). Genau dazu befähigt dort der Schein der Bühne. Er gewähre die Freiheit des Ausdrucks, erlaube, frei zu handeln, wie es einem gerade in den Sinn komme, so Moreno (vgl. Moreno 1988, S. 78). Hier könne man alles Hinderliche – veraltete Vorstellungen und Gewohnheiten, Konditionierungen oder Rollen – hinter sich zurücklassen (vgl. Moreno 1947, p. 66; vgl. Scheiffele 2008, p. 64) und stattdessen volle und ungehemmte schöpferische Spontaneität erfahren (vgl. Moreno 1946a, p. 111; 1988, S. 78). Denn nicht Schnelligkeit oder gar Impulsivität charakterisieren bei Moreno die Spontaneität (vgl. Moreno et al. 2000, p. 12), wie es die Wortbedeutung von spontan – »aus eigenem Antrieb« – nahelegen könnte. Vielmehr erkennt er in ihr die Bereitschaft (vgl. Moreno 1946a, p. 85, 111), frei zu handeln, alte, ausgetretene Pfade verlassen und angemessene Antworten auf neue Situationen bzw. neue Antworten auf alte Situationen finden zu können (vgl. Moreno 1946a, p. XII, 50; 1953, p. 42; 1988, S. 34). Im Erleben seiner vollen und ungehemmten schöpferischen Spontaneität habe das eigene Ich, wie Moreno erklärt, die Gelegenheit, sich zu finden und wieder zu ordnen, die Elemente zusammenzusetzen, die durch tückische Kräfte auseinandergehalten waren, sie zu einem Ganzen zu fügen und ein Gefühl von Macht und Erleichterung zu gewinnen, eine Katharsis der Integration, eine Reinigung durch Vervollständigung (vgl. Moreno 1988, S. 83; 1950, p. 4). Sie bereichere das eigene Leben, alles, was man getan habe und tue, um den Aspekt des Schöpfers (vgl. Moreno 1988, S. 89).

Deshalb spricht Moreno auch von kreativer Katharsis (vgl. Buer 2010, S. 50). Sie vervollständigt, indem sie sämtliche kreativen Kräfte schöpferisch wirksam werden lässt, auch solche, die im Leben draußen blockiert waren (vgl. Leutz 1974, S. 141). Nichts muss mehr zurückgehalten werden. Alles darf kreativ Gestalt annehmen. Der Schein der Bühne werde, so Moreno, zur Entfesselung des Lebens (vgl. Moreno 1924, S. 77 f.; 1988, S. 89) oder, wie es an anderer Stelle bei ihm heißt, zu einer »totalen Inszenierung des Lebens«.13 Kein Weg ist hier versperrt. Jeder kann sich hier schöpferisch ganz erleben. Moreno spricht von Reinigung durch Vervollständigung (Moreno 1988, S. 83). Wir könnten auch Heilung dazu sagen. Von der Wortbedeutung her ist Heilung nämlich als ein »Ganz-Werden« zu verstehen. Doch Moreno geht sogar darüber noch hinaus. Für ihn heißt »Ganz-Werden« zugleich »Gott-Werden«. Denn in Gott sei alle Spontaneität Kreativität geworden (vgl. Moreno 1953, p. 39). Der Mensch erfährt also bei More no mit der Katharsis durch Vervollständigung nicht nur Heilung, sondern geradezu Vergöttlichung. So lässt sich auch sein Ausspruch verstehen, dass er täglich Gottes Komödiant werde, um im Wahn himmlischen Lebens Gott zu sein (Moreno 1919, S. 49) – ein Gedanke, der auf uns vielleicht etwas befremdlich wirken mag, für jemanden wie Moreno, der aus der jüdischen Tradition der Chassidim stammte (vgl. Geisler 1 989, S. 45), jedoch völlig natürlich war. Denn der jüdische Mensch gelte dort gerade deshalb als Ebenbild Gottes, so die Psychodramatikerin Friedel Geisler, weil er die Welt »gottgleich« kreativ und spontan schöpferisch gestalte (vgl. Geisler 1989, S. 55).

Ein solches »Gott-Werden« verändert die Perspektive. Und das wirkt sich zweifellos auf den »Gott-Gewordenen« aus. Wie genau, erklärt Moreno so: Auch beim zweiten Mal im Psychodrama werde – zum Schein – gesprochen, gegessen, getrunken, gezeugt, geschlafen, gewacht, geschrieben, gestritten, gekämpft, erworben, verloren, gestorben. Doch derselbe Schmerz wirke auf Spieler und Zuschauer nicht mehr als Schmerz, dieselbe Begierde nicht mehr als Begierde, derselbe Gedanke nicht mehr als Gedanke, sondern schmerzlos, bewusstseinslos, gedankenlos, todlos (vgl. Moreno 1924, S. 75–78; 1988, S. 89). Wenn jetzt alles möglich sei, dann sind die einstigen Qualen gegenstandslos geworden, wirken nun sogar lächerlich. Daher bringe, wie Moreno ergänzt, das erste Mal durch ein solches zweites Mal zum Lachen. Jede Gestalt aus Sein werde durch sich selbst in Schein aufgehoben und Sein und Schein gingen in einem Lachen unter (vgl. Moreno 1924, S. 75–78; 1988, S. 89). Dies sei das wahre zweite Mal, was vom ersten befreie (vgl. Moreno 1924, S. 77; 1988, S. 89). Jenes wahre zweite Mal kann allerdings nur vom ersten befreien, wenn es auf der Bühne des Psychodramas in einer besonderen Realität stattfindet.

1.1.3Surplus Reality ist notwendig für Morenos Katharsis

Der Schein der Bühne soll dazu befähigen, frei zu handeln, wie es einem gerade in den Sinn kommt, ohne dafür ernsthafte Folgen tragen zu müssen (vgl. Moreno 1988, S. 78). Eines ist klar: Unsere Alltags realität kann hier kaum gemeint sein. Jene Realität, die Moreno für sein Psychodrama fordert, sprengt zweifellos ihren Rahmen, geht weit über sie hinaus. Deshalb gab er ihr wohl auch den Namen surplus reality. Das Wort surplus wurde von ihm nämlich in Anlehnung an den Begriff des Mehrwertes – engl. surplusvalue – bei Karl Marx verwendet (vgl. Moreno 1965, p. 212). Danach würde Surplus Reality so etwas wie »Mehrwert-Realität « bedeuten. Moreno selbst übersetzt sie in seinem Werk Gruppenpsychotherapie und Psychodrama mit »Überschuss-Realität « (vgl. Moreno 1988, S. 83). Leider hat er nur wenig zu ihr geschrieben. Angesichts der zentralen Bedeutung, die die Surplus Reality für sein Psychodrama hat, mag das durchaus überraschen (vgl. Moreno et al. 2000, p. ix; vgl. Watersong 2011, p. 18). Fügen wir zusammen, was über sie in Morenos Schriften zu finden ist, dann soll sie den Menschen mit einem »Mehr« an Realität versehen, als ihm das Leben erlaubt (vgl. Moreno 1988, S. 93), ihm eine neue, erweiterte Erfahrung von Wirklichkeit vermitteln (vgl. Moreno 1950, p. 4; 1988, S. 83). Denn Realität und Fantasie stünden hier nicht in Konflikt (vgl. Moreno 1946a, p. a.; 1946b, p. 249; 1953, p. 82), ganz im Gegenteil: In der Surplus Reality werde die Imagination zur Realität der Bühne (vgl. Moreno 1965, p. 212; vgl. Watersong 2011, p. 18). So beschreibt sie auch Morenos dritte Ehefrau – Zerka Toeman Moreno (vgl. Moreno et al. 2000, pp. 1 f., 20) –, die die Arbeit ihres Mannes über Jahrzehnte als Co-Therapeutin und Mitautorin begleitete. Ergänzend fügt sie hinzu, dass die Surplus Reality die Darstellung jener Dimensionen, Rollen, Szenen und Interaktionen erlaube, die das Leben weder zulassen konnte noch kann und die es vermutlich auch in Zukunft nicht gestatten wird (vgl. Moreno 1979, S. 33; vgl. Moreno et al. 2000, p. 5). Geschehe dies, bewirke das sog ar die tiefste Form der Katharsis (vgl. Moreno et al. 2000, p. 18).

Die Surplus Reality gestaltet sich also offenbar getreu dem Motto »anything goes«. Ein wenig mag das an die Methode des Brainstormings zur Ideenfindung erinnern. Nur dass diese hier nicht gedanklich in den Raum gestellt, sondern bereits in die Tat umgesetzt präsentiert werden. Doch Vorsicht …

1.1.4Schein ist nicht gleich Sein

Was im Schein der Bühne funktioniert, muss im Leben draußen keineswegs gelingen. Das »anything goes« mag für die Surplus Reality des Psychodramas gelten. Anzunehmen, dass es auch auf die äußere Realität zutrifft, wäre ein verhängnisvoller Fehler. Auch das Brainstorming kreiert zunächst ein Feuerwerk an mitunter tatsächlich recht abstrusen Ideen, von denen dann einige wirklich in die Lage versetzen können, ein real gegebenes Problem zu lösen. Diese herauszufinden, ist ja gerade Sinn und Zweck der Übung. Doch nicht jede der dabei aufkommenden Ideen stellt sich hernach als erfolgreiche Strategie heraus. Das trifft auch auf die kreativen Lösungswege in Morenos Psychodrama zu. Um diejenigen auszumachen, die sich angemessen in die äußere Realität implementieren lassen, bedarf es der Realitätsprobe (vgl. Leutz 1974, S. 78). Wird auf sie verzichtet, besteht die Gefahr, dass wir mit den Lösungsmöglichkeiten der Surplus Reality im Leben draußen gehörig auf die Nase fallen. Eine schmerzliche Erfahrung, die Moreno bereits im Alter von viereinhalb Jahren machte.

Damals habe er mit Nachbarskindern im Keller seines Elternhauses Gott und Engel spielen wollen. Alle hätten sie gemeinsam Stühle zusammengetragen und diese auf einen großen Tisch bis knapp unter die Kellerdecke getürmt. Er habe in dem Spiel Gott sein wollen. Die anderen hätten ihm dabei geholfen, auf den obersten Stuhl zu klettern und dort Platz zu nehmen. Singend seien sie dann um den Tisch gelaufen, ihre Arme wie Flügel um sich schlagend. Plötzlich sei von einem der Kinder die Frage an ihn gerichtet worden, warum er selbst nicht flöge. Moreno habe daraufhin seine Arme ausgebreitet und sich nur einen Augenblick später mit einem gebrochenen rechten Handgelenk auf dem Boden wiedergefunden (vgl. Moreno 1946a, p. 2).

Eindrücklich führt uns diese Geschichte die Bedeutung der Realitätsprobe vor Augen. In der Surplus Reality lassen sich spontan kreative Lösungswege ausprobieren, von denen der eine oder andere sogar geeignet sein mag, erfolgreich in der äußeren Realität umgesetzt zu werden. Dies aber bedarf stets der Überprüfung. Werden die gefundenen Lösungswege kritiklos auf das Leben draußen übertragen, besteht die Gefahr, kläglich mit ihnen zu scheitern, sich gar mehr Probleme einzuhandeln, als vorher bestanden.

Und einen weiteren Stolperstein gilt es zu umgehen. Moreno war sich dessen Existenz durchaus bewusst. Zwar steht bei ihm die integrative Katharsis zweifellos im Vordergrund. Daneben kommt in seinem Psychodrama allerdings weiterhin auch die Abreaktion vor (vgl. Masserman a. Moreno 1960, p. 19 f.; vgl. Krüger 1997, S. 74 f.; vgl. Hutter u. Schehm 2012, S. 160). Hierbei führt Handeln zur Entladung angestauter Affekte (siehe Abschnitt 1.1.1). Von einer solchen Abreaktionskatharsis14in einer Psychodrama-Sitzung, die nach Morenos Tod an seinem Schaffensort in Beacon, im Staat New York, stattfand, berichtet der Arzt und Psychologe Andreas Ploeger.

Ein 35-jähriger Arzt hätte dort beklagt, sich in der Schule von seiner Lehrerin ungerecht behandelt und gegenüber seinen Mitschülern zurückgesetzt gefühlt zu haben. Daraufhin wären Szenen aus seiner Schulzeit auf die Bühne gebracht worden. Sie hätten ihm deutlich gemacht, dass es nicht die Lehrerin war, die ihn zurückgewiesen hatte. Er hatte sie nur wie seine Mutter erlebt, die ihm die Geschwister ständig vorgezogen und ihn hintangestellt hatte. Auch diese Kränkungen wären in Szene gesetzt worden. Dabei hätten sich die anderen Gruppenteilnehmer vorbehaltlos auf seine Seite gestellt und den Jungen in seiner Wut auf die Mutter bestärkt. Dann wäre er aufgefordert worden, sich die Mutter vor der eigens dafür präparierten rückwärtigen Wand des Bühnenraumes vorzustellen, um an ihr nun seine angestauten Aggression en abzulassen. Ermutigt durch die Zurufe der Leiterin und der anderen Teilnehmer, hätte er dieser dann bis zur Erschöpfung wüste Beschimpfungen sowie eigens dort für solche Aktionen bereitgehaltene verbeulte Bleche entgegengeschleudert. Am Ende der Sitzung hätten alle Beteiligten das Wohlgefühl geteilt, »reinen Tisch« gemacht zu haben (vgl. Ploeger 1983, S. 33).

Dieses Fallbeispiel von Ploeger illustriert prägnant, welch zweischneidiges Schwert die Abreaktionskatharsis tatsächlich ist. Einerseits gelingt es mit ihr sehr erfolgreich, Dampf abgelassen. Das wirkt zunächst einmal erleichternd – und zwar nicht nur für den, der sein Thema eingebracht hat, sondern auch für die anderen. Ploeger vergleicht das Gefühl, das sich hernach zumeist bei allen einstelle, mit der Zufriedenheit einer siegreichen Sportmannschaft (vgl. Ploeger 1983, S. 34; 1990, S. 95 f.).

Andererseits werden die angestauten Affekte in der Abreaktionskatharsis nur ausagiert. Damit verhindert sie leider nicht, dass sich künftig wieder neuer Druck aufbaut. Dazu müsste es ihr gelingen, an dessen Entstehungsbedingungen anzusetzen und diese zu bearbeiten (vgl. Ploeger 1983, S. 33). Das jedoch bleibt außen vor. Die daraus resultierende Gefahr sei, so Ploeger, offenkundig: Der Konflikt zwischen dem Klienten und seinen Bezugspersonen werde geschürt anstatt gelöst, die Front unnachgiebig verhärtet anstatt infrage gestellt, der Klient einseitig gegen seine Angehörigen gestärkt (vgl. Ploeger 1983, S. 32; 1990, S. 94). So kommt am Ende einer solchen Sitzung zu Recht die Frage auf, wie der Klient denn wohl in Zukunft mit jenen umgehen wird, an denen er soeben seine Affekte derart heftig abreagiert hat (vgl. Ploeger 1983, S. 32 f.; vgl. Scheiffele 2008, S. 152). Ein Problem, das Moreno schon erkannt hatte (siehe Abschnitt 1.1.1). Auch für ihn trug die Abreaktion nicht dazu bei, Symptome zu heilen. Sie würden allenfalls in ihrer Ausprägung gelindert, blieben aber grundsätzlich erhalten, oft sogar hartnäckiger als zuvor (vgl. Moreno 1950, p. 9). Aus diesem Grund wandte sich Freud später selbst von dieser Form der Katharsis ab. Sie wirkte eben nur symptomatisch, nicht kausal. Die Bedingungen, die den eingeklemmten Affekt en ursächlich zugrunde lägen, blieben unbeeinflusst (vgl. Freud u. Breuer 1925b, S. 186; 1925a, S. 24).

Freud war nicht der Einzige, der andere Wege einschlug, nachdem er die Abreaktionskatharsis eine Weile praktiziert hatte. Auch Ploeger machte zunächst Erfahrungen mit ihr. Allerdings wendete er dabei keine Hypnose an, wie Breuer und Freud es noch getan hatten. Ploeger war am Psychodrama interessiert. Erste Gehversuche auf diesem Terrain machte er ab 1961 an der Universitäts-Nervenklinik Tübingen im Rahmen der dortigen stationären Psychotherapie. Seitdem ließ ihn das Psychodrama nicht mehr los. Mit seinem Wechsel an die RWTH Aachen setzte er es ab 1969 als Oberarzt der Abteilung für Psychiatrie und von 1977 bis zu seiner Emeritierung als Lehrstuhlinhaber des Fachbereichs Medizinische Psychologie ein. Wie Ploeger erklärt (vgl. Ploeger 1979, S. 841; 1983, S. 15), hättener und seine Mitarbeiter anfangs in Tübingen versucht, biografische Begebenheiten eines der Klienten der Therapiegruppe im Stegreifspiel zu reproduzieren und auf diese Weise die damit einhergehenden Konflikte zu entschärfen. Die Wirkweise sei die Katharsis, also die entlastende Abreaktion emotional-affektiver Stauungen gewesen, die der Betreffende im Leben draußen, aus welchen äußeren oder inneren Gründen auch immer, nicht zu entladen vermochte. Hierzu sei er erst durch die beschützende Scheinwelt des Psychodramas befähigt worden. Denn diese Welt habe ihn vor ernsthaften Bedrohungen bewahrt, die sich sonst bei affektiven Entladung en im Leben außerhalb der Therapie einzustellen pflegten. Bis hierher wären sie noch ganz Moreno gefolgt. Aber dann hätten sie sich dazu veranlasst gesehen, neue Wege zu beschreiten. Die Wende in ihrer Psychodrama -Technik habe ungewollt der Psychoanalytiker Wolfgang Loch herbeigeführt (vgl. Ploeger 1983, S. 10). Loch war damals Inhaber des ersten Lehrstuhls für Psychoanalyse und Psychotherapie in Deutschland. Diesen hatte man eigens für ihn an der Universität Tübingen eingerichtet. Seinerzeit seien von ihm, so Ploeger weiter, Balint-Gruppen15 für Mitarbeiter durchgeführt worden. Die Anregungen, welche er ihnen dort gegeben habe, hätten sie gelehrt, das Psychodrama aus der Sicht der Psychoanalyse zu beurteilen. Noch in Tübingen hätten sie deshalb damit begonnen, es grundlegend umzugestalten. Diese Ve ränderungen seien dann später an der RWTH Aachen fortentwickelt worden (vgl. Ploeger 1983, S. 10, 15).

Nun ist Moreno ebenfalls mit der psychoanalytischen Sichtweise konfrontiert worden. Freud kannte er sogar persönlich, weil er einmal dessen Vorlesung besucht hatte (vgl. Moreno, Moreno a. Moreno 1964, pp. 16 f.). Dieser verabschiedete damals jeden einzelnen seiner Hörer persönlich an der Türe und nutzte dabei die Gelegenheit, ein paar Worte mit ihnen zu wechseln (vgl. Schur 1973, S. 9). Dabei soll er Moreno gefragt haben, was er mache, was seine beruflichen Interessen seien. Moreno habe ihm geantwortet:

»Nun, Dr. Freud, ich beginne, wo Sie aufhören … Sie analysieren die Träume (der Menschen). Ich gebe ihnen den Mut, wieder zu träumen. Ich lehre sie, wie sie Gott spielen können« (vgl. Moreno 1946a, pp. 5 f.; vgl. Hutter u. Schwehm 2012, S. 96).

Das klingt nun nicht gerade so, als ob Moreno damals bereit gewesen wäre, sich auf Freuds Sichtweisen einzulassen oder diese gar in sein Psychodrama zu integrieren.

1.1.5Tiefenproduktion statt Tiefenanalyse?

Moreno stand der Psychoanalyse anfänglich tatsächlich sehr ablehnend gegenüber. Er folgte dem Grundsatz: Tiefenproduktion statt Tiefenanalyse (vgl. Moreno 1924, S. 71; 1950, p. 10). Seine Frau Zerka erklärt, warum: Moreno habe einfach bezweifelt, dass man die gesamte Seele allein durch Worte mitteilen könne. Das reine Sprechen sei für ihn kein Königsweg zur Psyche gewesen (vgl. Moreno et al. 2000, p. xv; vgl. Moreno 1988, S. 103). Auch er gehörte also zum Kreis derer, denen Reden nicht reicht. Was aber dann? Moreno hätte auf diese Frage geantwortet, dass statt des Redens das Handeln ideal dafür geeignet sei, der Seele Ausdruck zu verleihen (vgl. Moreno et al. 2000, p. xv; vgl. von Ameln u. Kramer 2015, S. 12). Denn dieses bringe die versteckte Dynamik des Patienten besser zum Vorschein, als Worte es je könnten (Moreno 1955, p. 17; vgl. Moreno a. Moreno 1959, p. 98). Darum lautete seine Devise: »Das Handeln kommt vor dem Wort.«16 Wolle man die Wahrheit der Seele ergründen, müsse man das Handeln dem Wort vorziehen und deshalb anstelle der Psychoanalyse die Methode des Psychodramas wählen (Moreno 1988, S. 77).

Der Primat des Handelns veranlasste Moreno dazu, sein Psychodrama anfangs geradezu als Gegenkonzept zur Psychoanalyse zu verstehen (vgl. Leutz 1974, S. 3). Strikt grenzte er die beiden voneinander ab. Hätte ihm mit dieser Einstellung daran gelegen sein können, das Psychodrama aus der Sicht der Psychoanalyse zu beurteilen und daraufhin ggf. sogar umzugestalten? Kaum vorstellbar. Doch Menschen ändern sich und mit ihnen ihre Lehrmeinungen. Das trifft auch auf Moreno zu. Später sprach er deutlich versöhnlicher, wenn es um das Verhältnis zwischen Psychodrama und Psychoanalyse ging. 1944 schlug er gar vor, das Psychodrama mit der Psychoanalyse zu einem analytischen Psychodrama zu verbinden (vgl. Moreno 1988, S. 90). Nun war er fest davon überzeugt, dass sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Schulen auflösen ließen, weil sie ohnehin nur aus Versäumnissen und Unkenntnis entstanden wären (vgl. Moreno a. Moreno 1959, p. 58). Zwar erkannte Moreno in der psychodramatischen Produktion ein Pendant zur freien Assoziation17