Hypnose - Sina Beerwald - E-Book

Hypnose E-Book

Sina Beerwald

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Beschreibung

Journalistin Inka Meyer kämpft mit den psychischen Folgen einer Totgeburt. Dank einer Hypnosebehandlung befindet sie sich auf dem besten Weg, ihr Trauma hinter sich zu lassen, doch ein Mord im Freundeskreis bringt Inkas Vertrauen ins Wanken: Kann sie dem Geständnis ihrer Freundin Annabel Glauben schenken oder ist diese das Opfer perfider Hypnoseexperimente geworden? Die Ermittlungen bringen Inka auf eine brandheiße Spur ... und reißen sie in einen Strudel aus Wahn und Wirklichkeit.-

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Sina Beerwald

Hypnose

Thriller

Saga

Hypnose

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2012, 2022 Sina Beerwald und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728345375

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Keine Emotion beraubt den Geist so vollständig von seinen Möglichkeiten zu handeln und zu denken wie die Angst.

Edmund Burke

PROLOG

»Machen Sie es sich im Sessel bequem. Lassen Sie Ihre Gedanken kommen und gehen. Sie brauchen jetzt an nichts Bestimmtes zu denken. Suchen Sie sich irgendwo im Raum einen Punkt, und während Sie Ihren Blick darauf ruhen lassen, folgen Sie weiterhin meinen Worten. Sie hören meine Stimme, und nach einiger Zeit bemerken Sie, wie das Bild vor Ihnen unscharf wird und die Konturen verschwimmen. Sie können Ihre Augen schließen, dann auch wieder für einen kurzen Moment öffnen. Ganz wie Sie wollen. Versichern Sie sich ruhig, dass alles in Ordnung ist. Schauen Sie nun auf meinen Finger ... immer nur schauen, nichts denken, nichts wollen, nichts tun. Sie werden allmählich müder und müder ... bis das Bild meines Fingers unschärfer wird. Ihre Augenlider sind schwer, sie werden schwerer und schwerer ... Irgendwann fallen Ihnen die Augen ganz von selbst zu. So ist es gut. Und nun lassen Sie sich, ganz wie es Ihnen angenehm ist, mit jedem Atemzug tiefer und tiefer sinken. Ja, so ist es gut ...

Vor Ihnen taucht eine Treppe auf, die Stufen führen nach unten. Zehn Stufen sind es insgesamt. Sie kommen näher und gehen die erste hinunter. Eins. Ihre Gedanken können weiterhin kommen und gehen, wie sie wollen, und während Sie meine Stimme hören, bemerken Sie, wie sich Ihre Anspannung langsam löst. Die nächste Stufe. Zwei. Allmählich lockern sich Ihre Muskeln, werden weich, anfangs vielleicht nur unmerklich, doch dann fühlen sie sich deutlich schwerer an als zuvor, oder auch leichter, das ist ganz unterschiedlich. Drei. Jeder Mensch reagiert auf seine ganz persönliche Art und Weise, denn jeder trägt seine eigenen Erfahrungen mit sich, seine ihm eigene Geschichte, jeder Mensch ist so einzigartig wie sein Fingerabdruck. Aufmerksam verfolgen Sie die Veränderungen in Ihrem Körper. Vier. Ich weiß nicht, wie sich Ihre Hände nun anfühlen, schwerer oder leichter als vorher, ob Sie die Lehne in Ihrem Rücken intensiver spüren als zuvor, aber sicher ist, dass sich der Rhythmus Ihrer Atmung verändert hat, auch der Ihres Herzschlags. Sie nehmen all diese Vorgänge bewusst wahr.

Fünf. Sie sind nun auf der Mitte der Treppe angelangt und können noch tiefer gehen. Noch tiefer in die Entspannung hinein. Sechs. Sie hören meine Stimme, fühlen Ihren Körper, und zur selben Zeit beschäftigen sich Ihre Gedanken mit etwas anderem, und Ihr Unterbewusstsein öffnet Ihnen den Zugang zu einem riesigen Schatz an Erfahrungen, zu verborgenem Wissen und Fähigkeiten, die sich Ihrem Bewusstsein bisher noch nicht offenbart haben. Einzig Ihr Unbewusstes entscheidet, auf welche Weise Sie diesen Reichtum nutzen. Sieben. Ihr Körper ruht entspannt, und Sie genießen den angenehmen Zustand wie ein warmes Bad, während Ihre Gedanken kommen und gehen. Ihr Unterbewusstsein kennt diesen Ort der Ruhe und der Kraft, Ihre innere Mitte, diesen persönlichen Ort der Erholung, den niemand außer Ihnen betreten kann. Niemand verlangt dort etwas, niemand fordert etwas von Ihnen an diesem Ort, wo es nur Ruhe und Gelassenheit gibt. Acht. Vielleicht hören Sie ein Rauschen, wie das Geräusch eines Wasserfalls, vielleicht sehen Sie Farben oder riechen einen bestimmten Duft. Neun. Es ist der Ort, wo Sie sich wohlfühlen, wo Sie Kräfte sammeln und sich für die nächste Herausforderung stärken, Ihr persönlicher Ort, wohin Sie sich immer wieder zurückziehen können, hier sind Sie sicher.

Zehn. Sie sind angekommen. An diesem für Sie reservierten Ort gibt es keine Ängste und keine Zwänge. Es existiert kein Leid. Sie spüren tiefen Frieden in sich, aber dennoch werden Sie keine Ruhe finden, solange sie lebt.

Es sei denn, Sie töten diese Inka.

Ich habe Ihnen erklärt, wie Sie das machen müssen. Können Sie sich an das Stichwort erinnern? Wenn ja, heben Sie kurz den Zeigefinger Ihrer rechten Hand. So ist es gut, Sie können sich also erinnern.

Wenn das Stichwort fällt, wissen Sie, dass Sie diese Inka töten müssen.

Es ist Ihr fester Wille, und es wird ganz einfach sein. Und danach werden Sie sich ruhig und entspannt fühlen. So wie in diesem Moment. Ruhig und entspannt, mit einem tiefen inneren Frieden.

Und jetzt genießen Sie diesen angenehmen Zustand noch eine Weile. Sie können jederzeit wieder an diesen schönen Ort zurückkehren. Wann immer Sie wollen. Sie wissen, wann es an der Zeit ist, und Sie kennen das Stichwort.

Sie werden diese Inka töten.

Ich zähle nun rückwärts. Wenn ich bei Eins ankomme, werden Sie wieder ganz da sein, in den normalen Wachzustand zurückkommen. Sie werden sich aber so entspannt haben, dass Sie es schwierig finden werden, sich an irgendetwas zu erinnern. Die Dinge, die ich Ihnen gesagt habe, wissen Sie nicht mehr. Sie werden es sogar sehr mühsam finden und überhaupt keine Lust haben, sich zu erinnern. Sie werden es als angenehm und einfach empfinden, alles zu vergessen. Sie vergessen alles, bis ich Ihnen sage, dass Sie sich wieder erinnern sollen. Sobald Sie Ihre Augen geöffnet haben, verabschieden wir uns, und Sie kehren wieder in Ihren Alltag zurück.

Und wenn das Stichwort fällt, werden Sie diese Inka für mich töten.

KAPITEL 1

Komme ich zu spät?«, fragte Rebecca.

Inka schaute auf ihre Armbanduhr und dann amüsiert auf ihre atemlose Freundin. »Es ist halb acht. Wie immer eine halbe Stunde zu früh! Aber komm doch rein. Schön, dass du da bist.« Rebecca war grundsätzlich immer der erste Gast und hatte dabei stets Angst, zu spät zu kommen.

Inka freute sich unbändig auf ihre Party. Das vergangene Halbjahr war ziemlich heftig gewesen, aber jetzt ging es ihr langsam wieder besser. Auch wenn sie seelisch noch angeschlagen war, fühlte sie sich dem Leben wieder gewachsen. Deshalb hatte sie sich auch entschieden, eine Party zu geben, und sie konnte es kaum erwarten, endlich wieder ihre Freunde um sich zu haben, ausgelassen zu feiern und spannende Neuigkeiten zu hören.

»Hübsch geworden!«, rief Rebecca und sah sich im renovierten Wohnzimmer um. »Der afrikanische Stil gefällt mir richtig gut.« Sie setzte sich auf die große hellbeige Couch und ließ anerkennend den Blick schweifen. Die Wände waren in spezieller Rauputztechnik gearbeitet und terrakottafarben gestrichen, dazu ein dunkler Esstisch, an dem sechs Personen Platz fanden. Das Schmuckstück aber war der Couchtisch mit der bunten Mosaikplatte.

»Die Deko ist cool«, sagte Rebecca und zeigte auf die hüfthohe Giraffe, den Tiger und den Elefanten aus Holz. »Und wie schön mit den vielen Teelichtern und Kerzen überall ... Viel gemütlicher als bei mir.«

»Ach komm!«, wiegelte Inka ab. »Eure Villa ist doch wohl nicht zu verachten.«

»Wenn ich dort nur nicht wie ein Mauerblümchen leben würde ... Aber lassen wir das. Soll ich dir noch was bei den Vorbereitungen helfen?«

Inka winkte ab. »Nicht nötig. Was möchtest du trinken? Eine Eisschokolade vielleicht? Mit einem Schuss Rum und viel Sahne?«

»Wow, das hört sich sehr lecker an. Perfekt!«

Inka freute sich, den Geschmack ihrer Freundin genau getroffen zu haben, und ging in die Küche. Dort zündete sie sich eine Zigarette an, die sie sogleich im Aschenbecher ablegte, und machte sich an die Zubereitung der Eisschokolade. Kopfschmerzen krochen hinter ihrer Stirn entlang. So als ob sich schwere Gedanken zusammenballten und mit aller Gewalt den Weg nach draußen suchten. Ausgerechnet jetzt. Aber davon würde sie sich nicht den Abend vermiesen lassen.

Als sie den Oberschrank aufmachte, stieß sie anstelle der Gläser auf Suppenvorräte, Zucker und Mehl. Inka erkannte ihren Irrtum und öffnete seufzend den richtigen Schrank. Seit der Komplettrenovierung fühlte sie sich wie in einer fremden Wohnung, nichts fand sich mehr an seinem angestammten Platz, stattdessen suchte sie unentwegt etwas. Sie wusste, Peter hatte es mit seinem Renovierungsvorschlag gut gemeint, und für den afrikanischen Stil hatten sie sich schließlich beide entschieden, weil es eine Erinnerung an die fantastische Hochzeitsreise durch den Krüger Nationalpark war. Dennoch fühlte sich Inka in ihren eigenen Räumen wie in einem Möbelhaus beim Probesitzen. Dafür erinnerte in der Wohnung tatsächlich nichts mehr an die Zeit vor dem 22. Dezember. Nur in ihrem Kopf waren die Spuren auch sechs Monate später noch nicht verwischt.

»Wo ist denn dein Mann?«, hörte sie Rebecca aus dem Wohnzimmer fragen.

Inka stellte die fertige Eisschokolade sowie etliche Gläser und Teller auf ein Tablett. »Peter macht Überstunden«, rief sie zurück. Aber ich hoffe, er kommt rechtzeitig, setzte sie in Gedanken hinzu. Er hat es versprochen. Sie drückte die heruntergebrannte Zigarette aus.

Rebecca entgegnete nichts. Es gab auch nichts dazu zu sagen. Peter machte seit einem halben Jahr bei der Kripo zusätzlich zu seinen Bereitschafts- und Nachtdiensten regelmäßig jede Menge Überstunden.

»Wo bleiben denn Annabel und Jannis?«, fragte Rebecca.

Wahllos drückte Inka auf dem Display des neuen Herdes herum, um den Backofen für die Bruschette vorzuheizen, und hoffte, mit etwas Glück die richtige Temperatureinstellung zu finden. Wenn nur diese Kopfschmerzen nicht wären! Sie fühlten sich anders an als sonst, wenn sich eine Migräne ankündigte. Ein gewisses Unwohlsein begleitete sie schon seit zwei Stunden, obwohl ihr die Therapiesitzung am Nachmittag gutgetan hatte. Nun ja, auch dieser Zustand würde vorübergehen. Es gab Tage, an denen man sich einfach merkwürdig fühlte, befand Inka, und heute war vielleicht ein solcher Tag.

»Es ist doch erst Viertel vor acht!«, rief sie mit Blick auf die Digitaluhr am Backofen. »Die beiden sind sicher pünktlich!« Ein liebevoller Seitenhieb auf die Überpünktlichkeit ihrer Freundin.

»Was gibt’s denn zu feiern?«, fragte Rebecca, als Inka mit dem Tablett ins Wohnzimmer trat.

Sie sah in ihrem schwarzen Strickkleid einfach umwerfend aus. So etwas könnte ich nie tragen, dachte Inka mit gewohntem neidvollem Blick auf Rebeccas endlos lange Beine bis hinunter zu den lachsfarbenen Ballerinas. Zudem betonte das eng anliegende Kleid Rebeccas vollen Busen und ihre sonst schlanke Figur an den richtigen, wohlgeformten Stellen, hingegen würde es über ihrem burschikosen Knochengerüst eher sackartig wirken. Rebeccas hübsches Gesicht wurde noch dazu von wilden dunklen Naturlocken umrahmt, über die sie sich immer aufregte und die Inka liebend gerne gegen ihren hellen Kurzhaarschnitt getauscht hätte. Warum ihre Freundin keinen Mann fürs Leben fand, war ihr ein Rätsel. Auf ihre Umwelt mochte sie vielleicht wie ein Mauerblümchen wirken, weil sie als Bibliothekarin arbeitete und bei ihren pflegebedürftigen Eltern in der Villa am Killesberg lebte, aber Rebecca war eine, mit der man die berühmten Pferde stehlen konnte. Mit ihrer Meinung hielten sie gegenseitig nie hinterm Berg, und was hatten sie schon nächtelang dagesessen und über Gott, die Welt und die Männer diskutiert ...

Inka stellte das Tablett auf den Couchtisch und grinste. »Warum ich eingeladen habe? Tiramisu, Tiramisu, Tiramisu. Das sind schon drei gute Gründe für eine Party, oder nicht?«

Rebecca fiel in ihr Lachen mit ein und strich sich eine widerspenstige Lockensträhne hinters Ohr. »Endlich mal wieder dein megagutes Tiramisu! Was habe ich das vermisst ... Und die Eisschokolade sieht verdammt lecker aus, danke!«

Es war ein so schönes Gefühl, anderen mal wieder eine Freude zu machen und selbst dabei Glück zu empfinden. »Na ja, ich dachte, wir machen eine kleine Einweihungsparty und stoßen darauf an, dass es mir wieder besser geht.«

Kaum ausgesprochen, wurden ihre Kopfschmerzen noch drückender. Inka versuchte, sich nicht davon beeinflussen zu lassen, und stellte Sektgläser und Tellerchen auf den Mosaik-Couchtisch.

»Geht es dir wieder richtig gut? Kannst du wieder schreiben?«, fragte Rebecca und griff ohne eine Antwort abzuwarten nach einem Magazin in der Ablage neben der Couch, auf dessen Titelseite es Inka mit einer Reportage geschafft hatte. »Das war bestimmt lukrativ.«

»Nein. Der Artikel zu Stuttgart 21 ist schon ein gutes halbes Jahr alt und war ein gewisser Erfolg, ja. Aber lukrativ?«Inka musste lächeln. Falls es dieses Wort in ihrer Branche überhaupt noch gab, so galt es nicht für ihre Aufträge als freie Journalistin. Wäre da nicht Peters Beamtenjob als Kriminaltechniker, sie hätten sich dieses Reihenhäuschen am Botnanger Sattel und jetzt die teure Renovierung bestimmt nicht leisten können.

Rebecca band ihre Mähne zu einem Pferdeschwanz, schlug den Artikel auf und begann zu lesen.

Inka nutzte die Gelegenheit, ging durch die offene Terrassentür nach draußen und zündete sich wieder eine Zigarette an.

Die Nächte waren hell zu dieser Jahreszeit. Anfang der Woche war Sommersonnenwende gewesen. Inka schaute in den Himmel. Ob sie ihren kleinen Stern heute sehen würde? Ein Kloß füllte ihre Kehle. Niemand, der das Drama im Hause Mayer vor einem halben Jahr, zwei Tage vor Weihnachten, in irgendeiner Form mitbekommen hatte, sprach das Wort Baby in ihrer Gegenwart aus. Und wenn sie jetzt weiter daran dachte, würden sich ihre latenten Kopfschmerzen doch noch zu einer Migräne auswachsen.

Ob Peter wie versprochen rechtzeitig nach Hause kam? Aber selbst wenn nicht, dann bräuchte er sie nur mit seinen unverschämt tollen bernsteinfarbenen Augen anschauen, ihr über die Wange streicheln, sich entschuldigen und ihr mit sanfter Stimme ins Ohr flüstern, wie sehr er sein kratzbürstiges Igelchen liebte und den ganzen Tag vermisst hatte, und schon würde sie ihm nicht mehr gram sein können. Igelchen, so nannte er sie. Nicht nur, weil der Spitzname zu ihren blonden abstehenden kurzen Haaren und ihrer Stupsnase passte – sondern auch zu ihrem Wesen. Sie war nachtaktiv, eher ein Einzelgängertyp, der sich auf wenige Freundschaften beschränkte, und obwohl sie friedliebend war, zeigte sie in Bedrängnis gerne mal ihre Stacheln. Das Gefühl von Freiheit brauchte sie wie die Luft zum Atmen, darin bestätigte sich auch ihr Sternzeichen Schütze. Und wäre sie nicht eine Kämpfernatur, wäre sie heute wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben.

Beim Blick auf den Aschenbecher bemerkte Inka, dass die Zigarette dort klemmte und sie nach dem Anzünden keinen einzigen Zug mehr genommen hatte. Sie hatte den Glimmstängel tatsächlich vergessen. Verblüffend, wie diese Therapie wirkte, dachte Inka, und fühlte sich zufrieden.

Als Inka ins Wohnzimmer zurückkam, legte Rebecca die Zeitschrift beiseite und fragte: »Und was gibt es sonst so Neues?«

»Oh, da wüsste ich schon etwas. Aber das erzähle ich erst später, wenn alle da sind«, sagte Inka.

Rebecca hob die Augenbrauen. »Warum erst später? Sag doch bitte gleich. Bitte, bitte, bitte.«

Inka lächelte, weil sie wusste, wie sehr sie die Neugier ihrer Freundin strapazierte, blieb aber konsequent.

Offenkundig war das Rebecca schnell klar und sie suchte sich ein neues Thema: »Übrigens hat Annabel vorgeschlagen, morgen Vormittag zusammen bummeln zu gehen. Sie hat sich in den letzten Monaten auch ganz schön rar gemacht. Magst du mitkommen? Ich habe morgen Spätdienst in der Bibliothek und muss deshalb erst mittags anfangen, und Annabel hat ohnehin frei.«

»Hat sie immer noch keinen neuen Job gefunden?«

»Als Reiseverkehrskauffrau ist das heutzutage nicht mehr so einfach, die Leute buchen ja meistens selbst übers Internet. Also, bist du dabei morgen?«

Inka überlegte. Ein paar Schuhe könnte sie immer gebrauchen. Und mit ihren Freundinnen zu shoppen wäre ein Vergnügen, das sie schon lange nicht mehr gehabt hatte. »Ich habe nur um ein Uhr einen wichtigen Termin am Killesberg.«

»Wir könnten noch durch den Schlossgarten spazieren«, sagte Rebecca ohne auf ihren Einwand einzugehen, »und anschließend fahren wir zum kleinen Teehaus rauf und genießen die Aussicht auf Stuttgart. Ich muss wirklich mal wieder raus, mir wächst langsam alles über den Kopf. Meine Mutter im Rollstuhl braucht schon viel Hilfe bei der Pflege, aber seit mein Vater im Dezember den Schlaganfall hatte, ist es richtig schwer geworden.«

»Ganz schön hart für dich, die beiden zu pflegen und deinem Job nachzugehen. Warum bekommst du nicht endlich Unterstützung durch die häusliche Krankenpflege?«

»Denk dran, wie sehr meine Eltern fremde Leute im Haus hassen. Es ist ja alles rollstuhlgerecht umgebaut, aber bei der Pflege meines Vaters braucht meine Mutter jetzt Unterstützung. Bislang kommt die Nachbarin regelmäßig vorbei, und ich habe einen Antrag auf Beurlaubung ohne Bezüge gestellt – wenn der durchgeht, dann nehme ich meinen Resturlaub und bin erst mal weg aus der Bibliothek ... Dann also um neun Uhr bei Annabel? Von dort sind wir zu Fuß ja gleich in der Innenstadt.«

Inka seufzte verhalten. Neun Uhr. Für ihre Langschläfer-Verhältnisse und die anstehende Party heute Abend ziemlich früh, aber angesichts des Programms wohl angebracht.

»Gib dir einen Ruck, Inka. Den gemeinsamen Vormittag mit leckerem Frühstück haben wir uns doch verdient, oder?Joghurtmüsli und O-Saft, wie klingt das?«

»Für mich Butterbrezel und um die Uhrzeit Kaffee intravenös, aber okay. Ich freu mich sehr drauf.«

Es klingelte, und als Inka an die Tür ging, breitete sich ein solcher Schmerz hinter ihrer Stirn aus, dass ihr einen Augenblick schwarz vor Augen wurde und sie sich am Türgriff festhalten musste. Erst nachdem sie ein paarmal geblinzelt und tief durchgeatmet hatte, konnte sie öffnen.

Annabel und Jannis kamen mit großem Hallo herein. Die beiden passten einfach gut zusammen. Er, der lebensfrohe gebürtige Grieche, und sie, die blonde, langhaarige Annabel, die jeglichen Genüssen des Lebens sehr zugetan war.

»Inka, wie schön!«, sagte Jannis und begrüßte sie mit Küsschen auf die Wangen. Annabel hatte mit diesem Mann wirklich einen guten Fang gemacht, das gestand sie ihrer Freundin neidlos zu. Obwohl beide schon vor ihrem Kennenlernen im Stuttgarter Olgaviertel gewohnt hatten, musste Annabel vor vier Jahren erst eine Singlereise nach Kreta unternehmen, wo sich Jannis als Reiseleiter in die füllige und ebenfalls sehr lebenslustige Frau verliebte. Er hatte sein Glück kaum fassen können, weil Annabel es tatsächlich ernst mit ihm meinte und sie keine dieser Frauen war, die es nur auf ein Urlaubsabenteuer abgesehen hatten. Jannis hatte einen südländischen Charme, dem sich auch Inka nicht immer entziehen konnte, besonders wenn seine Umarmung mal wieder etwas länger dauerte.

»Na, na«, schimpfte Annabel gespielt eifersüchtig und drängte sich zur Begrüßung vor. »Lass dich umarmen, meine Süße. Ich freu mich so auf den Abend!«

Auf den ersten Blick war Annabel im Vergleich zum letzten Winter auffallend schlank geworden – augenscheinlich zeigte dieses Mal eine ihrer Diäten doch ihre Wirkung. Dabei passten die Rundungen zu Annabel, und sie war mit ihrem hübschen bunten Oberteil und dem Rock wie immer sehr gut angezogen. Niemand konnte sich erinnern, sie je in einer Hose oder gar in einem Jogginganzug gesehen zu haben. Weil sich Annabel jedoch nichts sehnlicher wünschte, als endlich schwanger zu werden, hatten ihr die Ärzte dringend dazu geraten, ihr Gewicht zu reduzieren. Offensichtlich war ihr Kinderwunsch dieses Mal ein großer Ansporn gewesen.

»Ich darf doch wohl die Gegenwart von drei gut aussehenden Mädels genießen, solange ich hier der Hahn im Korb bin«, warf Jannis ein und umarmte Rebecca. Danach wandte er sich wieder Annabel zu und gab ihr einen Kuss. »Von denen du mir allerdings die Liebste bist.« Auch wenn er es etwas ungeschickt formuliert hatte, so wusste doch jeder, dass Jannis eine treue Seele und kein Schürzenjäger war, sehr wohl aber die Gesellschaft hübscher Frauen schätzte.

Rebecca, Annabel und Inka – das gefürchtete Dreiergespann, dem schon in der Schulzeit kein Lehrer gewachsen war. Vor gut fünf Jahren hatten sie sich beim zehnjährigen Abitreffen wiedergefunden, festgestellt, dass sie nach Studium und Ausbildung alle wieder in derselben Stadt lebten und immer noch auf einer Wellenlänge lagen, und seither trafen sie sich so oft wie möglich. Da Inka im vergangenen halben Jahr jedoch nicht der Sinn nach Besuch gestanden hatte und die Wohnung ohnehin eine Baustelle gewesen war, war es für ein Wiedersehen nun höchste Zeit geworden.

»Schaut mal, wie ich abgenommen habe!«, rief Annabel. Sie drehte sich um ihre eigene Achse, ließ ihre Hüfte kreisen und machte mit den Händen Bewegungen wie ein Cheerleader-Girl. Bei ihrer üppigen Figur mutete das befremdlich an, obwohl Annabel wirklich einige Kilos verloren hatte.

»Ich fühle mich wie neugeboren! Ich passe jetzt in Größe 44!« Wieder eine von tausend Diäten, die Annabel vom Jammertal des Hungerns auf den Siegesolymp erhoben und zurück ins tiefe Verlies bei Wasser und Brot stießen – und das mit der Geschwindigkeit eines Achterbahnwagens. Für Inka war es leidvoll mit anzusehen, doch Annabel sprang trotzdem immer wieder auf den Zug auf – in der Hoffnung, eines Tages Größe 38 tragen zu können.

»Ich weiß schon, was ihr denkt, aber dieses Mal habe ich sechzehn Kilo abgenommen und durch die Hypnosetherapie halte ich mein Gewicht ohne Probleme!«

»Hypnose?« Jannis legte die CD, die er aus dem Regal genommen hatte, wieder aus der Hand. »Davon hast du mir nichts gesagt.«

Annabel wirkte verlegen. »Na ja, ich habe nur meinen Mädels davon erzählt, ich weiß doch, wie ihr Männer auf Sachen reagiert, die man nicht rational erklären kann. Seit der Therapie bringe ich jedenfalls kein Stück Sahnetorte mehr runter, weil die für mich jetzt widerlich bitter nach Oliven schmeckt – das klingt verrückt, ich weiß. Erklären kann ich’s auch nicht, aber ich schwör’s euch. Aber meinem Schwager, der die Privatklinik meines Vaters hier in Stuttgart übernommen hat, kann ich schließlich vertrauen. Mein Vater war ein Verteidiger der alten psychiatrischen Schule, aber seit Walter die Klinik leitet, bietet er Hypnoanalyse in Verbindung mit Musikund Atemtherapie, Feldenkrais und solche kreativen Gestaltungsgruppen an, und er kann sich vor Anfragen kaum retten. Die meisten haben, so wie ich, viele gescheiterte Therapien hinter sich und werden durch die Hypnotherapie endlich geheilt. Die sechzehn Kilo habe ich zuvor mit Hilfe einer Diät abgenommen, das habe ich ja schon öfters geschafft. Aber dann dachte ich mir, ich muss dem Jo-Jo-Effekt zuvorkommen, und habe mich zu diesen ambulanten Hypnose-Gruppenstunden angemeldet. Das war im Nachhinein die einzig richtige Entscheidung!«

»Okay, aber das hättest du mir ruhig vorher sagen können«, sagte Jannis und klang noch immer verstimmt.

Inka schaute unauffällig auf die Uhr. Peter hatte versprochen, spätestens zum Eintreffen der Freunde da zu sein.

»Was wollt ihr denn trinken? Annabel, ein Bitter Lemon, wie immer? Und Jannis, ein Ginger Ale?«

»Gerne!«, sagten beide wie aus einem Mund.

Inka ging in die Küche und warf einen Blick auf ihr Handy, das sie nur privat nutzte. Eines, mit dem man nur telefonieren und SMS schreiben konnte, steinalt und ohne Schnickschnack. Auch wenn sie ansonsten mit der Technik ging – schon allein ihres Berufs wegen –, so hatte sie doch eine Schwäche für alte Sachen, für Dinge mit Bestand, vielleicht auch, weil in ihrem schnelllebigen Job die Tageszeitung von gestern schon ein Archivprodukt war.

Hatte Peter angerufen? Nein, nichts. Bestimmt hatte er nicht bemerkt, wie spät es bereits war. Sie wählte seine Nummer, doch anstelle des Rufzeichens ertönte wie so oft diese elend vertraute weibliche Stimme vom Band: »Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen ...« Dabei wusste sie, dass Peter heute keine Tatortbereitschaft hatte, weil er noch einen Fall abschließen wollte – und das bedeutete Schreibtischarbeit.

Irritiert legte Inka ihr Handy zurück auf die Küchenzeile. Diese Kopfschmerzen. Verdammt, warum ausgerechnet heute? Zeit für eine Schmerztablette.

Nachdem sie diese mit einem Schluck Wasser hinuntergespült hatte, legte sie die vorbereiteten Bruschette in den Ofen, nahm die Flaschen für Annabel und Jannis aus dem Kühlschrank und machte sich selbst einen Wodka Lemon.

Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, stand Annabel in der offenen Terrassentür und warf einen despektierlichen Blick auf den Aschenbecher mit der verglommenen Zigarette.

»Wolltest du dir das Rauchen nicht abgewöhnen?«, fragte sie. »Drei Schachteln am Tag können nicht gesund sein ...«

»Lass sie doch«, sagte Jannis, und es klang so, als wollte er Inka trotz ihrer Unvernunft in Schutz nehmen.

»Zwei Schachteln«, korrigierte sie ihre Freundin.

»Jede Zigarette ist zu viel«, sagte Annabel ungerührt.

Erst recht, wenn ich wieder schwanger werden will, setzte Inka gedanklich hinzu, und sagte dann: »Das ist gar nicht so einfach einzusehen, wenn man süchtig ist.«

»Du hast es doch schon einmal geschafft!« Im selben Augenblick wurde Annabel offensichtlich bewusst, dass sie diese Bemerkung besser nicht gemacht hätte.

Ja, dachte Inka. Ich habe es schon einmal geschafft. Ich habe fast zehn Monate lang nicht geraucht, bin von zwei Schachteln am Tag auf Null runter, als ich von meiner Schwangerschaft erfahren habe. Und am 22. Dezember, dem Tag der Geburt, habe ich wieder damit angefangen, nachdem ich unser Kind hier in diesem Wohnzimmer tot zur Welt gebracht habe.

Mit gesenktem Blick und einem dicken Kloß im Hals servierte sie die Getränke. »Ich versuche es ja, wieder aufzuhören. Auch mit Hypnose.«

»Was?«, fragte Jannis und sah erneut vom CD-Regal auf.

»Ja, mit Gruppenhypnose«, wiederholte Inka. »Wie Annabel bei Doktor Brinkhus.« Jetzt war die Neuigkeit heraus.

»Aha«, sagte Rebecca.

»Und ohne mir etwas davon zu sagen?«, rief Annabel.

Inka wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als sie ein Geräusch an der Haustür hörte. Kurz darauf folgten Schritte im Flur.

Peter kam lächelnd herein, sein Jackett lässig über der Schulter. Er hätte für ein Männermagazin Modell stehen können – mit seiner Größe und der Figur sowieso. In seine Augen, eingerahmt von dichten, schön geschwungenen Brauen, hatte sie sich damals zuerst verliebt. Rund um die Pupille waren sie bernsteinfarben und gingen dann in einen sanften graublauen Ring über. Selten, so etwas. Heute allerdings lag ein Schatten in seinem Blick, und er wirkte ziemlich abgekämpft.

»Warum gehst du nicht an dein Handy, Igelchen?«, fragte er und gab ihr einen Kuss. Sein Bart piekte, wie immer am dritten Tag, an dem er sich vor dem Rasieren drückte. »Ich habe dich von unterwegs angerufen. Die Rotenwaldstraße raus war totaler Stau, nichts zu machen!« Jetzt erst wandte er sich an die Gäste. »Hallo, ihr Lieben, schön, dass ihr da seid! Wie gefällt euch unser neu gestaltetes Reich? Jannis, ich muss dir nachher unbedingt noch mein neues Heimkinosystem vorführen. Aber erst will ich noch schnell duschen! Wenn der Sommer so weitergeht, wie er anfängt ...« Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die kurzen dunklen Haare.

»Hallo, Rebecca, hallo, Annabel!« Wie immer, wenn er Annabel umarmte und ihr ein Küsschen zur Begrüßung auf die Wange gab, war es Inka leicht unwohl. Die Sache zwischen den beiden war zwar schon knapp fünf Jahre her – ein einmaliger Ausrutscher unter Alkoholeinfluss, den beide ihr gegenüber bereut hatten –, aber ein kleiner Stachel steckte immer noch in Inkas Herz und piekte in solchen Momenten, auch wenn sie ihrem Mann und ihrer Freundin offiziell verziehen hatte.

»Warte mal«, sagte Annabel. »Wusstest du, dass Inka Gruppenhypnose bei meinem Schwager macht?«

»Bitte was?«, fragte Peter. »Hypnose? Das finde ich aber nicht wirklich gut, mein Schatz.«

Inka stutzte. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Und warum?«

»Weil ... Mensch, das weiß man doch! Das ist alles ausgemachter Blödsinn! Bei diesen Massenveranstaltungen geht es zu wie auf der Theaterbühne, die armen Leute werden vorgeführt und erleben wahre Horrortrips. Und der Einzige, der wirklich davon profitiert, ist der Hypnotiseur selbst.«

»Das ist kein Blödsinn!«, verteidigte sich Inka. »Doktor Brinkhus hat sich auf Hypnotherapie spezialisiert. Er betreibt eine von nur fünf anerkannten Hypnosekliniken in Deutschland. Es gibt stationäre und ambulante Einzeltherapien und eben diese Gruppenangebote. Er behandelt Raucher, Übergewichtige, aber auch Patienten mit schweren psychischen Auffälligkeiten wie Zwangsneurosen, massiven Persönlichkeitsstörungen, Borderline-Patienten ...«

»Und wie soll ich mir das vorstellen?«, fragte Peter und behielt seinen skeptischen Blick bei.

»Die Gruppentherapien finden in einem abgedunkelten Turmzimmer statt, wo wir im Kreis auf Ledersesseln sitzen. Doktor Brinkhus steht in der Mitte und führt seine Hypnose durch. Alle anderen Räume sind schön hell, wie eine moderne Klinik eben. Mittlerweile mache ich auch Einzelsitzungen, morgen ist die nächste Therapiestunde. Doktor Brinkhus sagt, ich muss erst den ... den Verlust meines Babys verkraften, um auch wieder die Zigaretten loslassen zu können. Hypnose fühlt sich an wie eine tiefe Entspannung. Das ist ganz harmlos, wirklich! Er selbst versichert das auch. Und es hilft mir. Ich hatte vor der ersten Sitzung solche Angst. Aber ein Mensch tut nichts gegen seinen eigenen Willen, auch nicht unter Hypnose. Der freie Wille ist durch einen Hypnotiseur nicht beeinflussbar, das hat er mehrfach betont. Alles andere geschieht nur in Hollywood.«

»Igelchen, sei mir nicht böse«, wand Peter ein, »aber ich finde das nicht wirklich gut, was du da machst.«

Verärgerung machte sich in ihr breit. Nicht nur, dass er ihren mutigen Schritt vor den Freunden kritisierte, er machte damit auch ihren Versuch schlecht, endlich die Heilung ihrer Seele in Angriff zu nehmen.

»Und warum hast du tatsächlich etwas dagegen?«, fragte sie ihn offen.

»Warum?«, entgegnete Peter leicht gereizt. »Weil ... weil das für mich eben doch nach Hollywood klingt. Und dafür ist mir unser Geld zu schade. Außerdem wäre es nett gewesen, wenn du das vorher mit mir abgesprochen hättest ... Ich gehe jetzt erst mal duschen, derweil könnt ihr euch ja noch über eure Hypnoseerfahrungen austauschen.«

Kopfschüttelnd sah Inka ihrem Mann nach. In letzter Zeit gab es immer wieder kleinere Kontroversen zwischen ihnen, die sie nicht hatte vorhersehen können. Gut, es war ungeschickt gewesen, dass Peter von ihrer Therapie im Beisein der Freunde erfahren hatte, aber eigentlich konnte sie ihn nach dreizehn Jahren Beziehung ganz gut einschätzen, und früher hätte er bestimmt nicht so reagiert, wenn sie es auf der Suche nach Linderung ihrer Probleme mit Hypnose probiert hätte – ohne ihm das vorher zu sagen. Vertraute er ihr nicht mehr? Oder gab es finanzielle Probleme, von denen sie nichts ahnte? Vielleicht hätte er selbst gerne therapeutische Hilfe in Anspruch genommen, konnte das aber nicht zugeben? Auch bei Peter hatte das vergangene halbe Jahr deutliche Spuren hinterlassen, aber er hatte kaum mit ihr darüber gesprochen. Peter war noch nie der große Redner in ihrer Partnerschaft gewesen. Und wenn er abgekämpft nach Hause kam, wollte sie ihn nicht auch noch auf seinen Kummer ansprechen. Er betäubte seinen Schmerz mit Arbeit. Bei ihr half das nichts.

Sie brauchte ein anderes Ventil, und das war Reden, Reden, Reden. Peters Devise war Schweigen. Und wenn sie doch einmal das Gespräch auf jenen schrecklichen Abend lenkte, an dem sie ihren Sohn tot zur Welt gebracht hatte, dann verzog sich Peter ins Arbeitszimmer an den PC, um einer Konfrontation mit dem Thema zu entgehen. Später tat es ihm leid, dass er sie abgeblockt hatte. Er nahm sie in den Arm und erklärte ihr, dass er seine Gefühle immer noch nicht in Worte fassen konnte, und mehr als einmal hatten sie dann zusammen geweint. Sie hielten sich gegenseitig fest und schworen sich, dass all das Schlimme, das über sie hereingebrochen war, zumindest ihrer Liebe keinen Abbruch tun würde. Sie hoffte, dass es so sein würde.

Inka atmete tief durch. In ihrem Kopf kribbelte es.

»Lasst uns endlich anstoßen«, sagte Jannis und nahm sein Glas vom Couchtisch. »Darauf, dass es dir wieder besser geht, Inka.«

»Ja, natürlich«, sagte sie gedankenverloren. »Auf euch, und schön, dass ihr gekommen seid!«

Die Gläser klirrten gegeneinander, alle lachten, und Inka entging dabei nicht, dass Jannis sie aufmerksam beobachtete. Skeptisch, könnte man fast sagen. So, als würde er spüren, dass es ihr nicht ganz so blendend ging, wie sie nach außen hin vorgab.

Unvermittelt quäkte eine blecherne Stimme Alle meine Entchen, und Annabel begann, in ihrer Handtasche zu graben. Sie strich sich eine lange blonde Strähne hinters Ohr und zog ihr Handy heraus. Dabei entdeckte Inka das Tattoo an der Innenseite von Annabels rechtem Handgelenk. Das war neu. Ein kleines, kunstvoll gestaltetes Jaus farbigen Blumenranken. Sehr hübsch auf ihrer leicht gebräunten Haut. Und wie romantisch, dachte Inka, sie hat Jannis auf ihrer Haut verewigt.

Annabel drückte ein paar Tasten und seufzte dann. »Eine SMS von meiner Schwester. Ich soll morgen um fünfzehn Uhr Vater in der Psychiatrie besuchen. Evelyn kann nicht, weil sie am Nachmittag die Patienten ihres kranken Kollegen übernehmen muss – sie arbeitet doch in der Praxisgemeinschaft. Das wird dann zwar etwas stressig wegen unserem Stadtbummel, aber ich komme trotzdem mit, sonst habe ich für morgen gar keinen Lichtblick.«

»Wie geht es deinem Vater?«, fragte Rebecca.

»Nicht gut. Die Schizophrenie spricht nur langsam auf die Medikamente an. Es ist schlimm, ihn so zu sehen.«

»Echt schrecklich«, sagte Rebecca, »ein Leben lang als Psychiater gearbeitet, und dann so etwas!«

»Das macht mich selbst ganz krank, ja. Und es ging alles so schnell. Ende letzten Jahres, als mein Vater die Klinik an Walter übergeben hat, um sich in den wohlverdienten Ruhestand zurückzuziehen, war die Welt noch in Ordnung. Aber schon nach den ersten acht Wochen zu Hause hat sich mein Vater recht merkwürdig benommen, immer wieder Türen und Fenster kontrolliert und ununterbrochen geredet. Entweder mit sich selbst oder mit seiner Haushälterin, die uns irgendwann ganz verzweifelt angerufen hat. Nach Ostern wurde es immer schlimmer, und keine drei Monate später mussten wir ihn mit Wahnvorstellungen in die Klinik einliefern lassen.«

»Gehst du ihn oft besuchen?«, fragte Inka betroffen, da sie Annabels Vater früher gut gekannt hatte, weil sie als Schülerin häufig Gast zum Mittagessen bei den Brunners gewesen war.

»Ja, freitags und sonntags. Evelyn geht mittwochs und samstags. Das geht jetzt seit vier Wochen so. Er braucht diesen strengen Rhythmus, sagt sein Arzt. Feste Strukturen sind wichtig. Mein Vater fragt immer nach uns, aber wenn wir da sind, bildet er sich manchmal ein, wir würden ihn bedrohen. Reden wir nicht mehr davon.« Annabel seufzte wieder. »Der klassische Verlauf.«

»Soll ich eine Flasche Wein zum Essen aufmachen?«, fragte Inka, um die niedergedrückte Stimmung etwas aufzulockern. »Ich habe Bruschetta im Ofen.«

»Das ist eine sehr gute Idee!«, rief Jannis. »Ich bin dabei.«

»Du musst noch fahren, Schatz«, wandte Annabel ein. »Ich fahre nachts nicht gerne, schon gar nicht durch Stuttgart. Das weißt du.« Sie wirkte plötzlich angespannt.

Jannis verzog kurz das Gesicht, nickte dann jedoch friedfertig.

»Aber ein kleines Gläschen Sekt zum Anstoßen?«, schlug Inka vor und erhielt von allen Seiten freudige Zustimmung.

»Und – was hältst du von ihm?«, fragte Jannis sie.

Inka runzelte die Stirn. »Von wem?«

»Walter Brinkhus. Was hältst du von meinem zukünftigen ... Schwippschwager, glaube ich, nennt sich das?«

»Schwippschwager?«, echote Inka. »Ihr habt euch verlobt?« Inka und Rebecca gerieten vor Freude ganz aus dem Häuschen und umarmten die beiden überschwänglich. »Darauf müssen wir aber nun wirklich anstoßen!«

 

Der weitere Abend verlief noch sehr harmonisch. Annabel und Jannis erzählten von ihrer geplanten Hochzeit auf Kreta, das Thema Hypnose kam nicht noch mal auf, stattdessen interessierten sich alle sehr für die Auswanderungspläne der beiden, die sie schon ziemlich bald in die Tat umsetzen wollten und Peter führte schließlich frisch geduscht und sichtlich stolz sein Heimkinosystem vor.

Während sich Annabel und Rebecca Filme empfehlen ließen, kam Jannis zu Inka in die Küche und fragte, ob er etwas helfen könne.

»Nein, nein – ich räume nur schnell die Teller in die Spülmaschine, solange Peter seine Filmsammlung zeigt. Ich bin sofort wieder bei euch.«

Als sich Jannis trotzdem mit einem Teller in der Hand zur Spülmaschine bückte, sah Inka an der empfindlichen Stelle hinter seinem Ohr den Buchstaben A zwischen zwei griechischen Säulen eintätowiert.

»Oh, du hast dir ja auch ein Tattoo machen lassen«, sagte sie und reichte ihm den nächsten Teller, da er sie mit einer Geste dazu aufforderte. »Du liebst dein Heimatland und Annabel wirklich sehr.«

»Ja, sehr sogar«, sagte Jannis.

War da ein Missklang in seiner Stimme? Nur ein Hauch, aber genug für Inka, um aufzuhorchen.

Jannis bemerkte ihren fragenden Gesichtsausdruck. »Du registrierst aber auch alles mit deinen feinen Antennen.«

Versuchte er da etwas mit seinem kurzen Auflachen zu überspielen? Inka ließ die restlichen Teller stehen, lehnte sich gegen die Küchenplatte und verschränkte die Arme.

»Was ist los?«, fragte sie.

Jannis schloss die Spülmaschine. Er horchte hinaus ins Wohnzimmer, wo gerade Johnny Depps Rolle in The Tourist das Thema war.

»Der Film war gut«, sagte Jannis mit Blick in die Ferne. Mit seinen lagunenblauen Augen räumte Jannis gründlich mit dem Klischee auf, alle Griechen müssten braune Augen haben. In dem wässrigen Grünblau glaubte sie jetzt einen Tränenschimmer zu sehen. »Darin waren die beiden auch auf der Flucht«, fügte er hinzu.

»Wieso auch? Siehst du eure Pläne als Flucht an?«

»Na ja, ist eine Auswanderung nicht immer so etwas wie eine Flucht?«

»Willst du denn nicht weg?«

Jannis zuckte mit den Schultern. »Ein bisschen wehmütig bin ich schon, und offen gestanden kommen mir immer wieder Zweifel, ob das alles so richtig ist. Ich meine, natürlich stehe ich hinter Annabels Idee, wieder in meinem Heimatland zu leben und dort spannende und verrückte Guided Tours anzubieten. In Deutschland bin ich aber groß geworden, und alle meine Freunde sind hier.«

»Sieht so aus, als würde es Annabel leichter fallen, die Zelte hier abzubrechen.«

Jannis nickte. »Wenn es nach ihr ginge, würden wir schon übermorgen den Container bestellen. Ich versuche sie jetzt auf Herbst zu vertrösten. Sie stellt sich das vielleicht auch ein bisschen wie Urlaub vor. Sommer, Sonne, Strand. Wie anstrengend die Arbeit bei kretischen Temperaturen sein kann, weiß sie nicht. Sie hat nur von Kindesbeinen an mit ihren Eltern auf Kreta Urlaub gemacht.«

»Stimmt. Ich kann mich an Sommerferien erinnern, in denen ich neidisch zu Hause oder in einem verregneten, langweiligen Ferienlager saß, weil meine Mutter sich als Alleinerziehende keinen solchen Urlaub leisten konnte. Und was habe ich für einen Schock bekommen, als Annabel mir sagte, dass ihr Vater über eine Auswanderung nach Kreta nachdenke. Zum Glück stand ihre ältere Schwester vor dem Abitur, und ihr Vater wollte ihr dann doch keinen Schulwechsel in ein fremdes Land zumuten, sonst hätte ich wohl meine beste Freundin verloren. Später sind seine Pläne dann irgendwie wieder im Sande verlaufen. Wahrscheinlich auch nur ein kurzzeitiger Fluchtgedanke, weil ihm die Klinikleitung über den Kopf gewachsen ist.«

»Willst du manchmal nicht auch davonlaufen?«, fragte Jannis.

»Ach weißt du, vor mir selbst kann ich nicht weglaufen. Und so blöd das klingt, aber es ist wahr: Die Zeit heilt alle Wunden. Irgendwann werde ich mit Jonas’ Tod umgehen können. Überwinden werde ich es aber wohl nie.«

»Du leidest noch sehr, nicht wahr?«

Inka machte eine vage Geste mit den Händen. »Ja, natürlich gibt es noch Tage, an denen es mir nicht gut geht, aber ich stehe das schon durch. Ich habe ja auch schon einigen Abstand gewonnen, vielleicht habe ich auch viel verdrängt, kann sein, weil ich mich an vieles rund um die Geburt gar nicht mehr richtig erinnern kann. Aber dadurch wird der Schmerz kleiner. Und durch die Hypnose hoffe ich jetzt, das alles zu verarbeiten.«

Die Unstimmigkeiten mit Peter muss ich auf jeden Fall vor der nächsten Hypnosestunde klären, dachte Inka.

Wenn nur diese verdammten Kopfschmerzen nicht wären. Wahrscheinlich fehlten ihr doch die Zigaretten. Zwar hatte sie sich welche angezündet, aber danach keinen einzigen Zug mehr genommen. Einfach vergessen. Aber nicht nur die Kippen. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, was Doktor Brinkhus unter Hypnose zu ihr gesagt hatte. Beinahe gespenstisch. Aber darüber nachzudenken war müßig – Hauptsache, die Hypnose half.

»Ach, Inka, ich wünsche dir von Herzen, dass du wieder ganz die Alte wirst und du dein Leben mit Peter genießen kannst. Das ... das habt ihr euch mehr als verdient.«

Sie wurde verlegen. »Ach, was hat man im Leben schon verdient, Jannis. Komm, lass uns wieder zu den anderen gehen. Es ist Zeit fürs Tiramisu.«

 

Peter war schon im Bett, als sie nach Mitternacht aus dem Bad ins Schlafzimmer kam. Auch das ein Traum aus Schöner Wohnen: in Blau und Weiß gehalten mit Korbmöbeln und einer sattgrünen Palme am Fenster. Peter lag nur mit einem Laken bedeckt auf der Seite, und seinen tiefen Atemzügen nach zu urteilen, war er bereits eingeschlafen. Ein Bild von einem Mann, zum Anbeißen. Am liebsten hätte sie sich bemerkbar gemacht und sanft an seinem Ohrläppchen geknabbert, um ihn zu einer kleinen Runde Sex zu bewegen. Sie wollte seine Nähe spüren und hoffte, dadurch den schwelenden Kontroversen die Glut zu nehmen.

Doch das Diensthandy neben seinem eigenen Handy auf dem Nachttisch sagten ihr, dass er heute Nacht Bereitschaft hatte, und sie wusste, wie ungehalten er reagieren würde, wenn sie ihn jetzt noch einmal weckte, wo ihm vielleicht sowieso nicht viel Schlaf blieb.

Ein wenig enttäuscht schlüpfte Inka unter ihre Bettdecke. Diese Bereitschaftsdienste waren einfach unerträglich. Nicht nur für Peter, auch für ihre Beziehung. Keine klärenden Worte, kein Kuscheln und wieder ein Abend, an dem sie kein Herzchen in ihren Zykluskalender malen konnte. Dabei wollte sie doch so gerne wieder schwanger werden.

Mit diesem Gedanken fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Es war so warm, fast schwül. Sie wand sich hin und her, spürte die rasenden Kopfschmerzen, dachte an die Tabletten in der Nachttischschublade, aber sie war wie gefangen in einem merkwürdigen halb wachen Zustand, wie in Trance, unfähig, etwas daran zu ändern.

Da klingelte das Handy.

Peter befreite sich aus ihrem Klammergriff. Hatte sie die Hand an seinem Hals gehabt? Schlaftrunken hörte Inka, wie Peter sagte: »Olgastraße, okay. Bin gleich da.«

Sie blinzelte und schaute auf den Radiowecker. Ein Uhr zwölf. Eins, zwölf. Wie die Ziffern ihres Geburtstags. Erster Dezember. Dann dachte sie noch, dass Annabel und Jannis dort wohnten und dass die Olgastraße sich aber glücklicherweise sehr lange hinzog, und schlief wieder ein.

*

Inka blinzelte in die Morgensonne. Beim Blick auf den Wecker sprang sie aus dem Bett, huschte unter die Dusche, rubbelte ihre Haare nur mit einem Handtuch trocken, zog Jeans und Bluse von gestern Abend an und verließ ohne Morgenkaffee das Haus.

Neun Uhr. Die Glocken der Leonhardskirche läuteten, als sie kurz darauf auf ihrem himmelblau-weißen Oldtimer-Moped die Olgastraße hinunterfuhr. Die rüstige Dame, von ihr liebevoll Mathilda genannt, war eine NSU Quickly, vom schwäbischen Hersteller ursprünglich als Fahrrad mit Hilfsmotor angepriesen, Baujahr 1963, generalüberholt, und brachte es bergab immerhin auf fünfzig Stundenkilometer. Sie hatte Mathilda vor zwei Jahren zum erschwinglichen Preis von eintausendzweihundert Euro gekauft und sich damit einen Traum erfüllt. Gerade in einer Stadt wie Stuttgart leistete ihr das Moped hervorragende Dienste, besonders wenn sie als Journalistin schnellstmöglich in die hintersten Ecken fahren musste. Bis die anderen einen Parkplatz hatten, war sie längst an Ort und Stelle.

Vor dem Mehrfamilienhaus, in dem Annabel und Jannis in einer großzügigen Jugendstilwohnung im dritten Stock lebten, stellte sie ihre Mathilda kurzerhand in eine kleine Parkplatzlücke zwischen zwei Autos, die heute sogar mal wieder in zweiter Reihe standen.

Die Haustür war offen, und Inka betrat den halb dunklen Hausflur. Die geschwungene Holztreppe hinauf nahm sie zwei Stufen auf einmal. Doch schon im zweiten Stock wurde sie jäh gestoppt. Dort saßen Rebecca und Evelyn auf den Treppenstufen. Was machte Annabels ältere Schwester hier? Evelyns kinnlanger blonder Pagenkopf war gestylt, als käme sie eben vom Friseur. Wollte Evelyn auch mit zum Stadtbummel?

Inka wollte sich gerade für ihre kleine Verspätung entschuldigen, doch dann sah sie Evelyns verweinte Augen hinter der Brille und bemerkte Rebeccas leeren Blick.

»Was ist denn hier los?«

Rebecca hob den Kopf und sah sie an. »Jannis ist tot. Ermordet. Und Annabel ist geständig.«

Die Worte hallten in ihrem Kopf nach, und Inka versuchte zu begreifen. »Jannis ist ... was? Und Annabel ...« Ungläubig schaute sie zwischen Evelyn und Rebecca hin und her. Ein Albtraum. Mehr noch, das Ganze war vollkommen surreal.

Annabels ältere Schwester brach wieder in Schluchzen aus und schüttelte dazu fortwährend den Kopf. »Sie haben meine Schwester mitgenommen. Festgenommen. Sie hat die Tat zugegeben!«

Inka suchte Halt am Treppengeländer. Ihr war, als würde es ihr den Boden unter den Füßen wegziehen. »Das glaube ich nicht!«, flüsterte sie.

»Aber Annabel hat gestanden«, wimmerte Evelyn. »Das sagte mir der Beamte vorhin an der Wohnungstür. Mehr durfte er nicht sagen ... obwohl ich ihre Schwester bin! Die Spurensicherung ist auch noch da.«

»Oh Gott, jetzt fällt es mir wieder ein ... Ich habe heute Nacht mitbekommen, wie Peter in die Olgastraße gerufen wurde ...« Während sie ahnungslos geschlummert hatte, war Jannis ermordet worden. Ermordet! Das durfte nicht wahr sein. Seit vier Jahren waren Annabel und Jannis ein Paar. Die beiden wollten heiraten, Kinder bekommen!

»Ich habe nach Peter gefragt«, sagte Evelyn und hob ihre rote Brille etwas an, um sich mit dem Taschentuch über die geschminkten Lidränder zu tupfen. »Aber man sagte mir, er habe sich von einem Kollegen ablösen lassen, weil er sich nicht gut fühlte.«

»Aber er ist nicht nach Hause gekommen. Mein Handy habe ich in der Eile zu Hause liegen lassen. Was machen wir denn jetzt? Das darf doch alles nicht wahr sein! Ich muss mehr wissen. Ich fahre zu Peter auf die Wache!«

*

Inka drückte die angelehnte Tür zu Peters Büro auf und fand seinen Schreibtischstuhl leer vor.

Dann ging alles ganz schnell. Ein kleiner Pfeil sauste wie aus dem Nichts durch die Luft, direkt auf sie zu. Reflexartig riss sie die Tür wie ein Schutzschild vor ihren Körper.

»Do kennsch doch auf d’r Sau naus!«, hörte sie Peters Kollegen Andi Dormann fluchen. Normalerweise war er die gute Seele im Büro, bei dem sich jeder nach einem anstrengenden Einsatz ausheulte. Jetzt aber, nachdem Inka sich aus der Deckung hervorgewagt hatte, schaute er sie an wie ein kampfbereiter Giftzwerg. Andi war gut eineinhalb Köpfe kleiner als Peter, und damit allerdings so groß wie sie.

»Der wär direkt ins Bullaug nei, wenn ich getroffen hätt!«

»Entschuldige, Andi«, sagte sie mit Blick auf die Dartscheibe neben der Tür, wo bereits zwei Pfeile mittig steckten.

»Schön, dass du mal wieder vorbeischaust, Katinka. Hast dich lange nicht blicken lassen. Beschtimmt ein halbes Jahr nicht.«

»Ich heiße Inka. Einfach Inka«, korrigierte sie ihn.

»Ach, du lieb’s Herrgöttle, natürlich, Inka!«, verbesserte er sich. Andi gehörte definitiv zu jenen Schwaben, die alles konnten – außer hochdeutsch. Und wenn er es doch versuchte, klang es ungewollt komisch. Wegen seines Dialekts und seines deutlichen Bauchansatzes wirkte er etwas unritterlich, das war allerdings nur dem ersten Eindruck zuschulden, den leider auch die meisten Frauen von ihm gewannen. Er rubbelte über seine braunen streichholzkurzen Haare. Auf der Stirn und an den Unterarmen hatte er Narben, die von einem Verkehrsunfall herrührten, wie Peter ihr mal erzählt hatte. Die Haare standen Andi jetzt wirr vom Kopf ab und symbolisierten seine Zerstreutheit auch nach außen hin, über die man sich im Kollegenkreis gerne amüsierte. Andernteils wurden seine Kombinationsgabe und seine Hilfsbereitschaft überaus geschätzt.

»Peter isch drüben im Brutkasten und denkt nach. Heute Nacht hat’s einen Mann erwischt. Bin ich froh, dass ich allein leb, da kann mich schon mal keine Frau umbringen.«

Ein typischer Andi-Kommentar, dachte Inka, lächelte schief und ging hinaus auf den Flur. Sie klopfte an die geschlossene Tür nebenan. Peter ließ sich grundsätzlich nur ungern bei der Arbeit stören, wenn er sich in dieses Zimmer zurückgezogen hatte, aber das hier war eine Ausnahme. Der Raum war karg und nur mit den notwendigsten Dingen zur Rekonstruktion einer Tat ausgestattet, darunter ein Flipchart, wo von Hand angefertigte Tatortskizzen aufgehängt wurden, und ein Notebook.

Als sie eintrat, saß Peter mit dem Rücken zu ihr am Schreibtisch. Er schien wenig überrascht, sie zu sehen.

»Gibt es etwas Dringendes?«, fragte er beiläufig.

»Was ist das denn für eine Frage? Peter! Das Mordopfer heute Nacht war nicht irgendwer ...« Weiter kam sie nicht.

Peter stand abrupt auf, zog sie in den Raum hinein und schloss die Tür. »Himmel!«, zischte er sie an. »Wenn jemand merkt, dass du dich für den Fall interessierst – dass deine beste Freundin da mit drinhängt –, dann kann es sein, mein Chef entscheidet, mich aus den Ermittlungen rauszunehmen! Kapierst du das?«

Inka schossen die Tränen in die Augen.

Da zog Peter sie in seine Arme. Er atmete tief aus, drückte ihren Kopf sanft an seine Brust und streichelte ihr über die kurzen Haare. »Ich bin auch verzweifelt, verstehst du? Ich weiß es auch nicht, was da passiert ist«, sagte er und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter. So standen sie ein paar Sekunden lang bewegungslos da.

Dann nahm er wieder Haltung an, hob ihr Kinn und küsste ihr die Tränen von den Wangen. »Wenn mir jemand persönliche Betroffenheit nachweist, dann ist die Chance groß, dass ich von dem Fall abgezogen werde.«

Inka nickte, wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute hinüber zum Notebook, wo jetzt Peters Wahlspruch auf dem Bildschirmschoner zu lesen war: Wenn einer zu dir sagt, die Zeit heilt alle Wunden, dann hau ihm in die Fresse und sag: Warte ab, bald ist’s wieder gut.

Nichts würde mehr gut werden. Ihre Welt war letzte Nacht komplett aus den Angeln gehoben worden. Ein eiskalter Mord in ihrem Freundeskreis!

»Peter, du warst doch am Tatort. Sie sagen, Annabel ist geständig. Stimmt das? Sag mir, was passiert ist ...«

»Das, was ich gesehen habe, willst du nicht wirklich wissen.«

»Aber die beiden haben sich doch geliebt. Annabel hat sich erst kürzlich ein J am Handgelenk tätowieren lassen. Sie wollten heiraten und zusammen auswandern ...«Jetzt liefen ihr die Tränen. »Ich muss mit Annabel reden! Wo ist sie?«

»In Gewahrsam. Wahrscheinlich wird sie gerade dem Haftrichter vorgeführt. Und noch heute Nachmittag kommt sie in U-Haft nach Schwäbisch-Gmünd.«

»Ich fahre zu ihr!«, rief Inka.

»Langsam! So einfach ist das nicht. Erst musst du zum Gericht und einen Besuchsantrag stellen. Du kannst von Glück sprechen, wenn man dir als Freundin überhaupt einen Besuch genehmigt. Und wenn sie das tun, würde er wegen der Tatverschleierungsgefahr sowieso nur unter Kripo-Aufsicht stattfinden. Und dieser Aufwand wird von den Behörden meist nur für den Besuch von engen Verwandten in Kauf genommen.«

»Hat Annabel die Tat wirklich gestanden?«

Peter nickte, und diese schlichte Geste erschütterte mit einem Mal die Grundfeste ihrer Freundschaft zu Annabel – ihre Freundin, die sie seit Schulzeiten kannte, sollte eine Mörderin sein?

»Warum?«, fragte Inka flüsternd. »Warum hat Annabel das getan? Ist es im Streit passiert? Vielleicht hat sie sich über irgendetwas furchtbar aufgeregt und die Kontrolle verloren? Oder es gab ein Gerangel, bei dem Jannis unglücklich gestürzt ist?« Inka merkte selbst, wie sie ihre Erklärungen an den Haaren herbeizog. Streit war ein Fremdwort in der Beziehung der beiden gewesen. Inka brachte ihren Gedanken zu Ende: »Ob Annabel trotz ihres Geständnisses vielleicht unschuldig ist, kann man doch bei der Spurensicherung feststellen, oder?«

»Ja, so ist es.«

»Zeig mir das Bild vom Tatort. Bitte.«

»Ich glaube nicht, dass das gut für dich wäre.«

»Bitte, Peter. Ich will es mit eigenen Augen sehen.«

»Nein, das wäre zu viel für dich. Glaub mir.«

Obwohl sie Peter verstehen konnte, nervte sie seine bevormundende Art. Sie liebte Peter für seine Geradlinigkeit, die ausgleichend auf ihr emotional überschwängliches Wesen wirkte, aber sie konnte es nicht ertragen, wenn er sie in die defensive Rolle drängte.

»Ich will Annabels Geständnis nicht einfach so hinnehmen, Peter. Und so lange ich nicht mit meiner besten Freundin reden kann, will ich mir wenigstens ein Bild von dem machen, was passiert ist. Vielleicht hat Annabel aus Notwehr gehandelt, vielleicht musste sie sich wehren ...«

»Vielleicht, vielleicht, vielleicht ... Ganz wie du willst«, stieß Peter ergeben hervor und klickte ein Bild an, das vor ihren Augen aufsprang. »Wonach sieht das aus? Wo soll ich hier eine Notwehr herauslesen? Es gibt keine Anzeichen für einen Kampf. Die Wohnung ist aufgeräumt, die Gläser stehen heil auf dem Couchtisch. Das ist Heimtücke.«

Inka starrte auf das Foto vom Tatort. Ihr wurde übel. Da war Blut, überall Blut auf dem ehemals schneeweißen Sofa. Jannis hing bäuchlings darauf, so als habe man ihn zuvor gezwungen, vor dem Sofa niederzuknien. Er lag in seinem eigenen Blut, das Gesicht in den Kissen. Eine zerbrochene Weinflasche neben seinem Kopf, überall Scherben.

Inka würgte. »Ich glaube, ich muss ...« Sie hielt sich die Hand vor den Mund und rannte auf den Flur hinaus, die Treppen hinunter und zum Ausgang. Draußen vor der Tür übergab sie sich.

»Katinka, bist du etwa wieder schwanger?«

Inka richtete sich auf und sah Andi neben sich. Sie schluckte, ihr Hals brannte wie Feuer. Sie brachte keinen Ton heraus, schüttelte nur den Kopf.

»Ich wollte gerade in die Mittagspause, hab aber meinen Geldbeutel vergessen und bin deshalb noch mal zurück. Kann ich was für dich tun? Mensch, du bist ja ganz bleich. Komm, wir rauchen eine zusammen, und du erzählst mir, was los isch.« Er kramte sein schwarzes Lederetui aus der Jackentasche und hielt es ihr hin. Inka nahm sich zitternd eine Zigarette. Dabei bemerkte sie den Totenkopf in Silberprägung auf der Rückseite des Etuis. Andi hatte schon einen merkwürdigen Humor. Warum benutzte er eine solche Hülle, deren Sinn und Zweck es doch war, die Todeswarnungen auf den Schachteln zu verdecken?

Andi zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Und?«, fragte er einfühlsam. Seine wachen grünbraunen Augen musterten sie interessiert, und sie war versucht, ihm von ihren Verwicklungen im neuesten Fall zu erzählen, aber weil Peter von der Ermittlungsarbeit nicht abgezogen werden sollte, behielt sie besser für sich, dass die Tatverdächtige ihre beste Freundin war.

»Es tut mir leid, Andi, aber ich muss jetzt zu einem Termin.« Sie gab ihm die Zigarette zurück. »Ich rauche eigentlich nicht mehr. Außerdem heiße ich Inka, wie gesagt, nicht Katinka.« Sie lächelte, obwohl ihr eigentlich nicht danach zumute war. Aber genau dieses Talent zur Aufmunterung besaß Peters Kollege.

»Wo habe ich nur meinen Kopf?«, schimpfte er über sich selbst. »Kannst du mir hoch mal verzeihen? Wo Inka doch ein so schöner Name ist ... Schönen Tag noch!« Zum Gruß hob er die Hand mit dem schwarzen Lederetui, und ihr war, als würde sie der Totenkopf hämisch angrinsen.

*

Sitzen, endlich sitzen. Inka sank in den bequemen Ledersessel. Die weiche Lehne in ihrem Rücken vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

Das erste Mal durchatmen seit heute Morgen. Seit vier Stunden wusste sie, dass Jannis tot war und ihre beste Freundin den Mord gestanden hatte. Seitdem war nichts mehr wie vorher! Ihre Gedanken kreisten unablässig um ihre Freunde, die doch noch am Vorabend ihre Gäste gewesen waren. Hatten die beiden sich irgendwie anders als sonst verhalten? Hatte Annabel zum Schluss verärgert gewirkt? Hatte Jannis im Gespräch mit ihr in der Küche etwas angedeutet?

An die Fahrt mit ihrem Moped in den Stuttgarter Norden, wo das Zentrum für Klinische Hypnose am Killesberg in schöner Halbhöhenlage lag, konnte sie sich kaum mehr erinnern. Jeder mit zwei Promille Alkohol hätte wohl zuverlässiger am Straßenverkehr teilgenommen als sie in ihrem momentanen Zustand. Inka bezweifelte, überhaupt die notwendige Entspannung zu finden, um sich jetzt in Hypnose versetzen zu lassen – bis zuletzt hatte sie noch überlegt, den Termin abzusagen. Aber sie hoffte, hier für eine Stunde etwas Ruhe und Abstand zu gewinnen, um anschließend wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Und in dieser Erwartung saß sie nun hier.

Doktor Brinkhus justierte die surrenden Lamellen der Jalousien an der Rundumverglasung so, dass noch genügend Licht hereinkam, um sich orientieren zu können und Inka zudem das sichere Gefühl zu verleihen, die Außenwelt müsse draußen bleiben. In dem großen Raum standen auf weinrotem Teppich zehn im Kreis angeordnete cremefarbene, drehbare Ledersessel für die Gruppentherapie, dazwischen auf kleinen Podesten Salzkristallleuchten, die für angenehme Beleuchtung sorgten. Zu Hause hätte sie sich so ein Ding nicht hingestellt, aber hier passten sie ins Bild. Einzig störend empfand sie den Geruch nach Mittagessen – Chinesisch, vermutete Inka. So wie die warme Luft draußen stand, half aber auch kein Lüften.

Es war Punkt ein Uhr, als Doktor Brinkhus sich ihr gegenübersetzte und zwei Trinkgläser mit Wasser auf das Podest zwischen ihnen stellte. Vom Erscheinungsbild her war dieser Mann nicht ihr Typ, aber dennoch wirkte er auf eine Art sympathisch, denn er hatte ein offenherziges Lächeln, mit dem er das Vertrauen jeder verängstigten Kinderseele gewonnen hätte, wäre er denn ein Kinderarzt geworden. Doktor Brinkhus war groß gewachsen, ungefähr so wie Peter, hatte aber ein ziemliches Feinkostgewölbe. Seine dichten, bis in den Nacken gewellten dunklen Haare waren an den Schläfen leicht ergraut. Er war älter als Peter, musste jetzt knapp über fünfzig sein. Es war irgendwann im letzten Jahr gewesen, als Annabel erwähnte, zum runden Geburtstag ihres Schwagers ins Schloss Ludwigsburg eingeladen zu sein. Die beiden Fachärzte Evelyn und Walter Brunner hatten keine Kinder und somit zum runden Geburtstag für ihre Gäste gerne tief in die Tasche gegriffen.

Als Therapeut strahlte er eine Selbstüberzeugung aus, die nicht überheblich schien, sondern bewirkte, dass Inka sich ihm gerne anvertraute. Überhaupt fühlte sie sich bei Männern, die Führungsrollen übernahmen, gut aufgehoben, auch wenn sie durchaus selbst eigenständige Entscheidungen treffen konnte und auch mal ihren Dickkopf hatte. Aber für einen Psychologen war – nicht zuletzt aufgrund des frühen Verlustes ihres Vaters – unschwer zu erkennen, warum ihre Wahl auf einen selbstsicheren Mann wie Peter gefallen war.

Doktor Brinkhus lehnte sich zurück und führte die gespreizten Finger an den Kuppen zusammen. »Wie geht es Ihnen? Es ist sehr heiß heute, nicht wahr? Trotzdem ein wunderschöner Tag. Eigentlich der richtige Moment, um in einer Eisdiele ein Eis zu genießen.«

Inka nickte automatisch. Doktor Brinkhus schaute sie über den Rand seiner Brille hinweg an. Es war ein wohlwollender Blick, keineswegs durchdringend oder penetrant. »Heute ist Ihre nächste Einzelsitzung, wie besprochen. Es kann sein, dass Sie während der Hypnose in eine unangenehme Trancephase geraten, und deshalb benötigen Sie besonders meine Führung. Sie müssen mir vertrauen, denn nur ich kann Sie da wieder herausholen. Aber es kann Ihnen nichts passieren. Sie können ganz unbesorgt sein, Sie können sich entspannen, mir vertrauen, indem Sie meinen Worten folgen. Und danach sollten Sie sich wie immer eine halbe Stunde Zeit lassen, bevor Sie wieder am Straßenverkehr teilnehmen. Sind Sie bereit, Frau Mayer?«

Inka lief ein Schauer über den Rücken, und sie erinnerte sich an die Therapievereinbarung. Nach einer Erstanamnese war Doktor Brinkhus zu der Einschätzung gelangt, dass die Teilnahme an einer Gruppentherapie zur Raucherentwöhnung durchaus sinnvoll für sie wäre und dies auch therapeutisch zu verantworten sei, da sie durch den Verlust ihres Babys zwar an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, aber keine psychotischen Schübe zu erwarten seien. Darum könne die Hypnose gefahrlos bei ihr angewendet werden. Es stünde nicht zu befürchten, dass sie nicht mehr aus der Trance zurückgeholt werden könne. Um ihre traumatischen Erlebnisse verarbeiten zu können, seien allerdings Einzelsitzungen notwendig. Sechs bis zehn Termine voraussichtlich, Kosten pro eineinhalbstündiger Sitzung neunzig Euro.

Leicht angespannt, aber mit dem Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein, signalisierte sie ihm ihre Bereitschaft. Den Gedanken an Annabel und ihren toten Freund versuchte sie zu verdrängen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie fasste sich ein Herz und sagte: »Entschuldigen Sie bitte, Doktor Brinkhus. Ich müsste vorab noch etwas mit Ihnen besprechen.«

»Bitte, nur zu«, forderte er sie freundlich auf.

Inka holte tief Luft, versuchte im Geist Worte zu formulieren. Worte für das unbeschreibliche Geschehen letzte Nacht. »Annabel Brunner, Ihre Schwägerin ... sie ist eine meiner besten Freundinnen ... und jetzt ... Haben Sie schon von ihrer Verhaftung gehört?«

Doktor Brinkhus nickte. Nicht mehr und nicht weniger.

»Die Sache ist ... ich kann mir nicht vorstellen, dass Annabel in der Lage ist, jemanden ... Und trotzdem hat sie es getan. Und ich ... ich bin ganz durcheinander ...«

»Weil Sie sich nicht erklären können, wie es zur Tat gekommen ist? Es ist verständlich, dass Sie diffuse Ängste haben, Ihre Gedanken heute nicht zur Ruhe kommen und Sie Mühe haben, sich zu entspannen und fallen zu lassen.«

Doktor Brinkhus hatte ihre Gedanken ausgesprochen. Sie vertraute dem Therapeuten zwar, dennoch kostete es sie heute nach der Tat noch mehr Überwindung als in den Sitzungen zuvor, sich in Hypnose versetzen zu lassen.

»Ich ... ich glaube, ich bin heute zu aufgewühlt«, sagte Inka. »Ich muss ständig an Annabel denken und warum sie das wohl getan hat.«

»Was zwischen meiner Schwägerin und ihrem Partner vorgefallen ist, werden die Ermittlungsbehörden klären. Es ist wichtig, dass Sie