Mörderische Kieler Förde - Sina Beerwald - E-Book

Mörderische Kieler Förde E-Book

Sina Beerwald

0,0

Beschreibung

Wunderschöne Sandstrände und von Bäumen gesäumte Promenaden entlang der vielen Badeorte machen die Kieler Förde zum Urlaubsparadies. Doch es ist längst nicht alles so ungetrübt, wie die Landschaft vermuten lässt: Kuriose Todesfälle und bedrohliche Situationen überschatten die Region. Eine Frau wird leblos treibend im »Millionärsbecken« vor dem Kieler Yacht-Club aufgefunden, eine Entführung auf der »Kieler Woche« endet dramatisch und ein verschwundener Fördedampfer gibt Rätsel auf. Dennoch gibt es immer auch etwas zum Schmunzeln. Bisweilen jedenfalls …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 327

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kurt Geisler (Hrsg.)

Mörderische Kieler Förde

Krimis

Zum Buch

Von Laboe bis Bülk Die Kieler Förde an der Ostsee ist das reinste Urlaubsparadies. Zwischen den unzähligen weißen Sandstränden findet sich für jeden Geschmack etwas Passendes, sowohl auf dem Wasser als auch an Land. Doch längst ist nicht alles so ungetrübt, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte. »Bagaluten« versuchen sich die kalten Wintertage mit dem Diebstahl von Spirituosen aus dem Kiosk am Kieler Südfriedhof zu versüßen. Hobbydetektivin Paula ist im Ostseebad Laboe einem grausigen Geheimnis auf der Spur und auch auf dem Bülker Leuchtturm an der Außenförde kommt es zu dramatischen Ereignissen. In den 27 Kurzgeschichten geht es mal humorvoll, mal kriminell zu – allerlei Überraschungen garantiert.

Mit Beiträgen von: Sina Beerwald, Kurt Geisler, Sylvia Gruchot, Björn Högsdal, Cornelia Leymann, Jörg Rönnau, Henning Schöttke, Nadine Sorgenfrei und Simon Voß.

Kurt Geisler ist ein eingefleischter Schleswig-Holsteiner. Seit seinem Studium der deutschen, englischen und dänischen Sprache arbeitet er im Land zwischen den Meeren. Schleswig-Holstein und seine Menschen hält er nicht nur im Wort, sondern auch im Bild fest. Seine Fotografien waren bereits in verschiedenen Ausstellungen zu sehen und haben seinen Blickwinkel für das literarische Schaffen geprägt. Für diese Kurzgeschichtensammlung hat er renommierte norddeutsche Autoren gewinnen können. www.kurtgeisler.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Kurt Geisler

ISBN 978-3-8392-7144-5

Mein Kiez (Intro)

Björn Högsdal

Mein Kiez ist der Kieler Südfriedhof, und die Menschen hier sind nicht besser oder schlechter als die Menschen anderswo, aber sie sind es auf ihre eigene Weise. Und was es hier nicht alles gibt: einen Park mit einem großen Spielplatz für Kinder mit Schaukeln und Rutschen und so ’nem coolen Zeug, und gleich daneben ist ein Bunker. Und auf der anderen Seite ein großer Spielplatz für Junkies mit Spritzernadelmülleimern und Dealern und so ’nem coolen Zeug. Wir haben Inder, die einen italienischen Pizzaservice, und Türken, die einen Chinaimbiss betreiben. Es gibt meinen Friseur, der kurdischer Iraker ist, in Saddams Karate-Nationalmannschaft war, im ersten Golfkrieg gegen die Amerikaner gekämpft hat, der jetzt meine Haare schneidet und bei dem ich mich immer frage, ob jemand, der mal Kehlen durchgeschnitten hat, für den Job eines Friseurs nicht vielleicht überqualifiziert ist?

Es gibt drei Spielhöllen, die »World of Winners« heißen und aus denen ich trotzdem noch nie einen Menschen mit einem Gewinnerlächeln kommen gesehen habe. Es gibt Läden, bei denen Epileptiker nicht ins Schaufenster schauen dürfen, weil die Besitzer und Branchen schneller als der Takt eines Stroboskops wechseln. Zum Beispiel der Trödelladen »Omas Schatzkiste«, der mit dem Slogan »Schätze aus Omas Zeiten« warb und dann auch konsequent einen Stahlhelm der Wehrmacht im Fenster stehen hatte. Vor dem Laden hängt ein Plakat einer christlichen Organisation, die mit »Jesus Christus begegnen – heute ab 17.00 Uhr im Schützenpark« wirbt. Auch wenn ich denke, dass sie sich damit ein bisschen weit aus dem Fenster lehnen, finde ich das genauso originell wie den Kiosk, der Messer mit stehenden Klingen frech als »For cool Kids« anpreist. Fehlt nur noch eine Werbung für Sportschützen oder die Al Quaida.

Drei Meter weiter kann man bei der Fahrschule Lornsen seinen Führerschein auch in einem Crashkurs machen, und gegenüber befindet sich die Kindertagesstätte »Kinder für Kinder«, bei der ich mich schon eine Weile frage, wie das genau abläuft. Geht es da um ein selbstverwaltetes Kollektiv mit Rätesystem, bei dem die Kinder sich gegenseitig erziehen im Stil von »Herr der Fliegen«? Oder werden dort europäische Kinder in Kinderarbeit von Altersgenossen aus der Dritten Welt betreut? Ist das auch ein Konzept für Krankenhäuser (Kranke für Kranke) oder für von Zombies geführte Friedhöfe unter dem Motto »Tote für Tote«?

Vielleicht wäre »Alte für Alte« auch etwas für das nigelnagelneue Altersheim, das mit der guten Infrastruktur wirbt, umringt von Bestattungsunternehmen, Blumenläden und dem Südfriedhof.

Kalte Spur

Jörg Rönnau

Vor der großen Panoramascheibe wirbelten Schneeflocken durch die Luft, die immer wieder von Sturmböen durcheinandergetrieben wurden. Aus dem Lautsprecher dudelte leise Weihnachtsmusik: Last Christmas.

»Der Song ist grauenhaft, aber es gibt keine besseren Döner als hier bei Ali, oder?«, stellte Polizeiobermeister Jörg Kröger fest. Dabei sah er seinen Kollegen an und biss herzhaft in die kulinarische Spezialität, wobei die Soße aus beiden Mundwinkeln unkoordiniert auf den Imbisstisch kleckerte.

»Jo!«, antwortete Michael Petersen und wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. Als dabei weiße Soße auf seine Uniformjacke tropfte, fluchte er.

»Ich kann diese Veganer nicht verstehen, immer nur so ’n Gemüsezeug. Da kann man ja gleich an der Straßenbegrünung knabbern. Dann lieber einen anständigen Döner mit Gammelfleisch.«

Beide lachten, woraufhin sich Ali, der gerade den Tresen mit einem Lappen abwischte, theatralisch lauthals beschwerte.

»Hey, ihr beiden Überwachtmeister, ihr kommt doch schon seit Jahren zu mir zum Essen, hier gibt’s ausschließlich frische Ware. Immer nur vom Feinsten, die Soßen alle selbst gemacht und lecker. Geht ihr Staatsdiener lieber raus in die stürmische Nacht und fangt fiese Kieler Ganoven, anstatt harmlose türkische Köche bei ihrer Arbeit zu belästigen.«

Nun lachten alle drei. Die beiden Beamten stürzten den Rest aus den Kaffeebechern hinunter, schmissen den Abfall in den Mülleimer und verabschiedeten sich vom Wirt. Draußen sahen sie zu, dass sie schnell in ihren Dienstwagen huschten, denn der eiskalte Wind nahm stetig zu. Ein Tiefdruckgebiet namens Hubertus fegte aus Südost über die Landeshauptstadt Kiel und brachte als Weihnachtsgabe Schnee und Eis mit. Wer dachte sich nur solche bescheuerten Namen fürs Wetter aus? Der Wetterfrosch vom Fernsehen?

Kröger sah auf seine Uhr, es war kurz nach Mitternacht. Kurz meldete er sich bei der Zentrale wieder einsatzbereit, während der Kollege Petersen die Harmsstraße Richtung Bahnhof befuhr. Beide Beamten arbeiteten bereits seit acht Jahren zusammen, fühlten sich als gutes Team und trafen sich bisweilen auch privat gerne auf ein Bierchen.

»Was macht ihr denn Weihnachten?«, fragte Petersen.

»Wiebke und ich feiern ganz gemütlich mit den Lütten zu Hause. Der Tannenbaum steht schon, ganz in Rotgold. Heiligabend gibt es traditionell Würstchen und Kartoffelsalat, und am ersten Festtag fahren wir wie immer zu Oma nach Plön. Schwiegermutter hat am 25. Geburtstag, wird 73, aber ist noch topfit. Es gibt dort immer ein großes Familientreffen.«

»Oha, Weihnachten und Geburtstag, das klingt irgendwie doof. Hoffentlich ist deine Schwiegermutter nicht so eine alte Schreckschraube wie meine olle Hilde.«

»Nee, unsere Oma Anneliese ist echt nett. Wir verstehen uns prima. Sie macht den besten Gänsebraten nördlich der Elbe, und der Rotkohl ist ein Gedicht …«

In diesem Moment quäkte das Funkgerät. Die Zentrale. Jemandem sei eine aufgebrochene Tür an einem Kiosk an der Kreuzung Kirchhofallee / Lutherstraße aufgefallen. Kröger verdrehte innerlich die Augen, rechneten die beiden einen Tag vor dem Heiligen Abend doch eher mit einer ruhigen Nacht. Er antwortete, dass sie sich der Sache annehmen würden.

Petersen wendete und fuhr zurück. Das Schneetreiben wurde heftiger, und immer mehr dicke Flocken verpassten der nächtlichen Stadt einen dicken weißen Überzug. Nur wenige Augenblicke später hielten sie direkt vor dem Kiosk. Davor stand ein alter Bekannter der Polizei und klopfte sich den Schnee von den Lumpen.

»Was will Kalle denn hier? Wieso hat der sich nicht schon längst in eine der Obdachlosenunterkünfte verkrochen?«, wunderte sich Petersen. Kröger stimmte ihm zu, und so stiegen sie aus, setzten ihre Mützen auf und zogen die Jackenkragen hoch.

»Moin, die Herren Wachtmeisters«, begrüßte sie Kalle, ein etwa 50 Jahre alter Mann mit rotem Gesicht, dem man die Auswirkungen seines jahrzehntelangen Alkoholkonsums sofort ansah.

Polizeiobermeister Kröger wurde förmlich und sah Kalle durchdringend an. »Alle Weihnachtsbesorgungen gerade erledigt?«

Kalle erhob sofort die Hände. »Mit der Sache habe ich nix zu tun, Ehrenwort. Ich habe sogar höchstselbstpersönlich die Bullerei angerufen. Hier, kommt mal mit, Jungs. Guckt euch den Scheiß an, das ist doch eine Obersauerei! Die haben von hinten den Kiosk von Tante Frieda aufgebrochen, diese Halunken, von unserer netten Tante Frieda. Aber ich habe nur geguckt, nix weggenommen. Ehrlich. Das tut ihr mir doch glauben, oder?«

Petersen und Kröger folgten dem Obdachlosen zur Hintertür und inspizierten das zersplitterte Holz vom Schloss. Es handelte sich eindeutig um einen Einbruch der gröberen Art. Anscheinend wurde die Tür mit einem Kuhfuß aufgestemmt. Kein großes Problem bei solch einem billigen Schloss und der fragilen Holzkonstruktion.

Petersen konnte sich auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass Kalle so etwas tat. Der lebte zwar auf der Straße und hielt sich mit Betteln und Hausieren über Wasser, aber so etwas traute er ihm nicht zu. Kalle nahm ihnen auch sofort die Luft aus den Segeln.

»Wir ham bei Manni nur ein wenig vorgeglüht und ’n paar Bierchen gekippt. Dann wollte ich zum Sophienhof, um an meinem Lieblingsplatz am Hintereingang Platte zu machen. Ist zwar arschkalt heute Nacht, aber dort gibt es eine warme Abluft, da geht es noch so gerade.«

Die beiden Polizisten kannten die Gewohnheiten ihrer Pappenheimer gut. »Und was wolltest du bei Tante Frieda?«

»Bei ihr wollte ich nur einen kurzen Zwischenstopp einlegen, etwas Marschverpflegung einholen.« Er machte eine Schluckbewegung.

»Und dann?«

»Dann habe ich den Scheiß hier gesehen und gleich von drüben die Bullerei angerufen.«

Die beiden Beamten nickten und zogen sich Lederhandschuhe über. Langsam öffneten sie die Kiosktür und leuchteten mit ihren Taschenlampen ins Innere. Sie konnten auf den ersten Blick nicht erkennen, ob etwas fehlte, denn hier lagerten diverse Kisten hochprozentige Spirituosen und jede Menge Stangen Zigaretten. Eine gute Beute für Einbrecher.

Kröger nickte und ging zurück zum Auto, um der Zentrale die Sachlage zu erklären und zu bitten, die Besitzerin über den Einbruch zu informieren. Plötzlich rief ihn sein Kollege und verwies auf frische Spuren im Schnee, während er sich am Hinterkopf kratzte.

»Sag mal, werde ich nun bekloppt? Diese Fährte führt eindeutig vom Kiosk weg, direkt die Lutherstraße hinunter.«

»Mach keinen Scheiß, Petersen. So dämlich kann kein Einbrecher sein.«

Der Kollege lachte aber laut auf. »Anscheinend doch. Ich folge der Spur. Sag du der Zentrale Bescheid und komm mit dem Fahrzeug langsam hinterher.«

Wenig später holte Kröger seinen Kollegen wieder ein. Beide grinsten sich an, denn sogar vom Wagen aus konnte Kröger die Fährte im frischen Schnee erkennen. Sie führte einige Hundert Meter die Lutherstraße hinunter und bog dann nach links in die Lüdemannstraße ein. Bald überquerten sie die Calvinstraße, wo nur noch wenige Straßenlaternen das nächtliche Geschehen beleuchteten. Die Spur endete an einem Wendehammer direkt vor der Hintertür von einem ziemlich verrosteten Ford Transit. Die Spuren im Schnee deuteten darauf hin, dass hier etwas umgeladen wurde. Danach führten die Fußstapfen weiter zu einem der großen Mehrfamilienhäuser.

Die Halteranfrage ergab, dass der Besitzer des Transit tatsächlich in einem der Häuser wohnte und bei der Polizei kein Unbekannter war. Auch Kröger und Petersen kannten den Burschen, mit dem sie bereits des Öfteren zu tun hatten: Kevin Korn, ein Kleinkrimineller und nicht gerade die hellste Kerze auf der Geburtstagstorte.

Es war kaum zu glauben, aber die frischen Fußspuren im Schnee führten sie direkt zur Haustür des Übeltäters, die wegen des heftigen Schneeeinfalls nicht verschlossen war. Während sie zu der Wohnungstür hochschlichen, mussten Kröger und Petersen sich zusammenreißen, um keinen Lachanfall zu bekommen. Das würde in diesem Jahr die beste Anekdote vom ganzen Revier werden. Die Kollegen würden vor Lachen nur so brüllen, wenn sie die Story erzählten.

Aus der Wohnzimmer donnerte »Highway to Hell« von AC/DC aus den Lautsprechern, und offenbar vollführte dieser Kevin den Geräuschen nach ein beachtliches Headbanging im Rhythmus der Musik. Unbemerkt enterten Kröger und Petersen die offen stehende Wohnungstür und beobachteten ihren erschöpften Verdächtigen, der gerade begann, aus mehreren Plastiktaschen seine Beute herauszuholen und zu zählen.

Zehn Flaschen Weinbrand und zwölf Stangen Zigaretten, mehr konnte er offensichtlich in seinen beiden Einkaufstaschen nicht mitnehmen. Dann sprang er auf, schnappte sich den Kuhfuß und die beiden leeren Einkaufstaschen. Er prostete sich im Flurspiegel zu und genehmigte sich einen großen Schluck. »So geil. Jo, ich geh noch mal los. Umsonst einkaufen, einfach genial!«

In diesem Augenblick baute sich Kröger vor ihm auf. »Wenn wir behilflich sein können. Ist ja recht glatt draußen.«

Petersen zog die Handschellen hervor und setzte augenzwinkernd nach. »Aber keine Angst. Wir geleiten Sie sicher durch Eis und Schnee, Herr Korn.«

Der verblüffte Dieb ergab sich seinem Schicksal ohne Gegenwehr. »Darf ich wenigstens einen letzten Schluck nehmen? Ist ja Weihnachten.«

Kröger reichte ihm eine Weinbrandflasche, die der Kleinkriminelle unerwartet in einem langen Zug leerte.

»Frohe Weihnachten, die Herren.«

Schnell schloss Kröger die Handschellen. »Von uns auch. Nur das mit dem Frohen Neuen Jahr für Sie, das können wir uns vermutlich schenken.«

Dass Polizeihauptmeister Petersen einen Rettungswagen rief, das bekam Kevin Korn schon nicht mehr mit.

Kapitäne

Kurt Geisler

Es war schon erstaunlich, wie schnell im Herbst das schöne Wetter im Norden umschlagen konnte. Vor Kurzem noch tauchten die wärmenden letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne die entspannten Gesichter der Besucher der Kieler »Seebar« in ein warmes Licht, bis plötzlich ein heftiger kalter Regen aus grauen Wolken erbarmungslos auf den hölzernen weißen Pfahlbau inmitten der Förde prasselte. Hektik breitete sich beim Personal aus, das hastig die Polster einsammelte, um wenig später die Pforten zu schließen.

Notgedrungen flüchtete Helge Stuhr über die weiße Holzbrücke durch die ihm entgegenstiebenden Schauerböen zum rettenden Ufer, an dem er sich unter einer Eberesche unweit des Bushaltestellenschildes halbwegs ins Trockene retten konnte. Zwar wich der Regen im Laufe der Zeit einem aufkommenden feuchtkalten Seenebel, aber ein Bus ließ sich weit und breit nicht sehen. Stuhr wurde zunehmend von dicken Regentropfen erfasst, die von den Blättern tropften.

Dafür tauchte urplötzlich als unerwarteter Retter in der Not aus dem Nebel ein Fördedampfer auf, der sich trotz der Waschküche und der aufkommenden Dämmerung schnell den Weg zum benachbarten Anleger Bellevue bahnte. Die »Laboe« war mit Sicherheit das letzte Schiff, das heute noch Richtung Innenstadt verkehren würde. Sofort machte sich Stuhr frierend auf die Socken, denn der Dampfer würde ihm jegliche weitere Warterei auf den Bus ersparen.

Als Kieler fuhr man normalerweise nicht allzu gerne mit den Schiffen der Fördeflotte, weil bei schönem Wetter, am Wochenende und in den Ferien die Sonnendecks der Dampfer meistens überfüllt waren. Also eigentlich immer. Wenn er dennoch einen der wenigen begehrten freien Plätze entdeckte, wurde durch aufgelegte Pullover oder Strandtaschen angezeigt, dass diese bereits besetzt waren.

Heute wurde die Gangway von einer weiblichen Person heruntergelassen, was ungewöhnlich war. Zum Glück musste sich Stuhr auf dem Anleger nicht durch Massen anderer Sonnenhungriger kämpfen. Lediglich zwei andere Gäste, die ihm in der »Seebar« gegenübersaßen, bestiegen vor ihm den Fördedampfer. Der durchnässte Stuhr folgte ihnen über die Gangway, wo es ihn in den warmen Bauch des Schiffes zog. Die beiden anderen zugestiegenen Passagiere verdingten sich unerwartet auf das unwirtliche Oberdeck.

Stuhr dagegen war angenehm überrascht, dass es im gut beheizten Salon des Schiffes eine kleine Kantine im Design der 1960er-Jahre gab, in der man neben dem üblichen Kiosksortiment einen wunderbar duftenden Kaffee für kleines Geld erstehen konnte. Von der Festmacherin, die sich nun als schlagfertige Wirtin entpuppte, erhielt man zudem ohne Aufpreis auch wohlgemeinte Lebensratschläge mit auf den Weg.

»Mit dem Kaffee am besten aufs Oberdeck, der Herr. Ansonsten schwappt die braune Suppe noch über das glänzende Parkett.«

Stuhr nickte verständig, während der aufbrüllende Dieselmotor den Stahlrumpf des Schiffes erzittern ließ. Obwohl das Ablegemanöver bereits eingeleitet wurde, unternahm der neben dem Tresen stehende leicht wankende hagere Kapitän des Fördedampfers keinerlei Anstalten, sich auf die Schiffsbrücke zu begeben. Im Gegenteil, er belehrte gerade eine ältere Passagierin.

»Ha, von wegen! Ich kenne genau die vornehmsten Aufgaben eines Kapitäns, mein Mädel: ablegen, anlegen, umlegen. Erst in der Koje beweist ein richtiger Kapitän sein Stehvermögen. Hat man unlängst beim letzten Unglück im Mittelmeer mit dem großen italienischen Kreuzfahrtschiff gesehen.«

Die betagte Dame nahm ihn nicht sonderlich ernst und schmunzelte belustigt. »Na, dann sollten Sie besser schnell wegtreten und beide Hände ans Schiffsruder legen. Sonst liegt dieser Pott auch bald auf einem Felsen.«

Der Kapitän ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. »Abwarten und Tee trinken. Ich bin hier noch nicht ganz fertig.«

Vertraulich beugte sich Stuhr zur Kantinenwirtin vor. »Muss der Kapitän nicht langsam mal nach oben auf die Brücke?«

Die Frau blickte nur kurz geringschätzig auf zu dem Mann in der blauen Uniform mit den polierten Goldknöpfen, denen Anker aufgeprägt waren. »Der da? Nein, den nennen wir Käpten Daddeldu. Der albert hier unten nur mit den Fahrgästen herum und lässt sich als Seebär feiern. Mit seiner Alkoholfahne würde ich ihm nicht einmal einen Einkaufswagen zum Steuern anvertrauen.«

Sie vollführte mit den Fingern eine eindeutige Schluckbewegung. Sofort mischte sich Käpten Daddeldu lallend ins Gespräch ein.

»Rosi, rede nicht schlecht von mir vor dem Herrn. Ein richtiger Seemann wie ich geht durch dick und dünn und hat vor nichts Angst, nicht einmal vor dem Alkohol. Gerade neulich erst …«

Die resolute Kantinenwirtin unterbrach seine begonnene Erzählung harsch auf ihre Art. »Komm, hör auf! Abtanz, Daddeldu.«

Stuhr zog es wegen der angespannten Stimmung vor, sich mit seinem Kaffee auf das Oberdeck zu verziehen. Mühselig jonglierte er sein Heißgetränk den steilen Treppenaufgang hoch. Unter der Persenning auf dem Oberdeck war es im Schutz der Kajütwand unerwartet angenehm. Die beiden anderen Gäste aus der »Seebar« waren nicht zu entdecken. Hatten sie sich in Luft aufgelöst?

Skeptisch blickte Stuhr zu den hoch liegenden Fenstern der Schiffsbrücke, aber huschende Schatten menschlicher Konturen wiesen darauf hin, dass von dort aus das Schiff gesteuert wurde. Beruhigt zog es Stuhr zum Heck des Schiffes zu einem der beiden schräg stehenden gelb gestrichenen Schornsteine, auch wenn es dort ein wenig nach Diesel roch. Dafür war es aber angenehm warm im Rücken, und aus dieser Position konnte man normalerweise das prächtige Fördepanorama genießen: die vielen kleinen Strandbäder, die Leuchttürme, den Ostuferhafen und die Schwentinemündung.

Heute im Küstennebel waren allerdings gerade noch die Laternen von der nahen Uferpromenade zu erkennen, zwischen denen bisweilen suchende Scheinwerferkegel langsam schleichender Fahrzeuge aufleuchteten.

Dann wechselte das Schiff abrupt den Kurs und entfernte sich vom Ufer. Als sie endgültig vom Seenebel eingehüllt waren, erschreckte ihn ein klatschendes Geräusch von der Wasseroberfläche. Hatte etwa jemand Müll verklappt? Im nächsten Moment wurde seitlich von ihm im schäumenden Kielwasser eine leblose Person in Kapitänsuniform vorbeigespült. Ein eiskalter Schauer durchfuhr Stuhr. War es der Seebär aus der Kantine? War er in seinem Rausch aus Versehen ins Wasser getorkelt? Oder hatte ihn jemand über Bord geworfen? Das war ein Fall für Kommissar Hansen. Stuhr zog sein Handy, um Hilfe anzufordern. Er hatte jedoch keinen Empfang.

Er löste sich von dem wärmenden Schornstein und stürmte nach vorne, um gegen die Kajütwand der Schiffsbrücke zu trommeln, damit er mit dem restlichen Personal des Fördedampfers Kontakt aufnehmen konnte. Eine Reaktion blieb jedoch aus. Waren sie führerlos?

In diesem Moment tauchte ein dunkler Schattenumriss an einem der Fenster auf, der vermutlich das Oberdeck inspizieren wollte. Die Kopfform erinnerte Stuhr an einen der beiden Gäste von der »Seebar«. Was hatten die auf der Schiffsbrücke zu suchen?

Schnell duckte sich Stuhr weg und drückte sich an der Kajütwand entlang zur Treppe, die zum Unterdeck führte. Behutsam schlich er hinunter und öffnete leise die Tür zur Kantine. Nach wie vor tummelte sich dort Käpten Daddeldu in voller Lebensgröße im Rampenlicht der trüben Decksbeleuchtung und gab seine Schoten vor dem spärlichen Publikum zum Besten.

Der nächste Schauer durchfuhr Stuhr. Wenn es Daddeldu nicht erwischt hatte, dann musste der echte Kapitän über Bord gegangen sein. Stuhr beschloss, sich der resoluten Kantinenwirtin zu offenbaren, die geschäftig hinter der Ausgabe hantierte. Als er sich näherte, wurde er schroff abgewiesen.

»Kaffee ist aus, der Herr. Tut mir leid, aber in zehn Minuten legen wir am Bahnhofskai an. Feierabend.«

Leise, aber eindringlich sprach Stuhr auf sie ein. »Das glaube ich nicht. Ihr Kapitän ist soeben über Bord gegangen. Der echte. Mein Ehrenwort.«

Die ihn ungläubig musternde Wirtin griff zum Bordtelefon, aber alle Versuche blieben ergebnislos, ihren Schiffsführer zu erreichen. Der Blick aus dem Fenster zauberte noch mehr Sorgenfalten auf ihre Stirn.

»Unser Kurs stimmt nicht, wir sollten längst an der Re­ventloubrücke angelegt haben. Mein Gott, wir müssen oben nach dem Rechten sehen. Kommen Sie mit?«

Stuhr war unschlüssig. »Das kann gefährlich werden. Auf der Brücke agieren Personen. Vermutlich die beiden Fahrgäste, die vor mir das Schiff betreten haben.«

Die Kantinenwirtin musterte ihn nachdenklich. »Die habe ich nicht bemerkt.«

»Ja, weil die gleich die Treppe zum Oberdeck hochgestürmt sind. Vermutlich haben sie die Brücke eingenommen und …«

Das Gesicht der Kantinenwirtin wurde kreidebleich. Sie zückte ihr Handy. »Hören Sie auf! Ich rufe die Leitzen­trale an.«

»Kein Empfang«, gab Stuhr Entwarnung.

Das versetzte sie in höchste Alarmstufe. »Das kann nicht sein. Wir haben auf der Kieler Förde überall Empfang. Was ist denn nur los?«

Stuhr hatte eine Vermutung. »Ein Störsender vielleicht. Wo geht unsere Reise denn hin?«

Die patente Kantinenwirtin schaute ratlos aus dem Fenster. »Vermutlich ins Nirwana. Der Nebel verhüllt alles. Jedenfalls geht die Fahrt nicht wie geplant zum Kieler Bahnhofsanleger, das ist sicher.«

Stuhr schwieg. Angst kroch in ihm hoch. Die Stimme der Kantinenwirtin holte ihn in die Realität zurück. »Wir werden anscheinend gleich den Ausrüstungskai der HDW-Werft auf dem Ostufer passieren. Wir befinden uns auf der falschen Seite der Förde.«

Das war in der Tat ungewöhnlich. Seitdem Stuhr ein kleiner Junge war, hatte sich die Route der Fördeflotte kaum geändert. »Denken Sie, dass wir dort anlegen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Bei der Werft? Das glaube ich nicht. Die bauen Fähren, Containerschiffe und Luxusjachten.«

Schlüssig erschien Stuhr das alles nicht. Warum sollte jemand einen Kapitän umbringen und einen mit wenigen Passagieren besetzten Fördedampfer kapern? Plötzlich wurden sie zur Seite gerissen, weil das Schiff hart backbord beidrehte, während es anschließend mit voller Kraft Fahrt aufnahm. Das Brüllen der Schiffsmotoren hielt die Kantinenwirtin nicht mehr unter Deck. Alarmiert eilte sie zum Treppenaufgang. Das ließ der falsche Käpten nicht unkommentiert.

»Rosi, mein Schatz. Willst du mich verlassen? Schade. Wir werden uns lange Zeit nicht mehr sehen. Cheerio, ich muss morgen leider nach Shanghai. Oder war es Honolulu?«

Die wenigen Passagiere im Unterdeck hatten den Ernst der Lage nicht erfasst, deswegen amüsierten sie sich noch über Käpten Daddeldu. Die resolute Kantinenwirtin war jedoch bereits die Treppe hochgestürmt und beugte sich auf dem Oberdeck weit über die Reling. Stuhr tat es ihr nach, aber in der trüben Suppe war außer den mächtigen Portalkränen der Gaardener Werft wenig zu erkennen. Auf einmal schrie sie auf und zeigte aufgeregt nach vorne.

»Dort drüben, sehen Sie. An der Pier!«

Tatsächlich, jetzt konnte auch Stuhr eine riesige hell erleuchtete weiße Luxusjacht ausmachen, die nicht mehr allzu weit vor ihnen lag. Die Kantinenwirtin packte Stuhr an den Armen.

»Schauen Sie, dort geht unsere Reise hin. Wir steuern genau auf die neue Jacht von diesem russischen Milliardär zu. Prochorov oder so, stand gestern in der Zeitung. Es wird bald scheppern. Tun Sie etwas.«

Es schepperte aber nicht, sondern zunächst waren erneut zwei harte Aufschläge im Wasser zu vernehmen. Dann passierten sie schon die beiden im Wasser paddelnden Gäste von der »Seebar«, die von der Schiffsbrücke gesprungen waren.

Der Fördedampfer nahm jedoch unbeirrbar weiter volle Fahrt voraus Kurs auf die Luxusjacht, von deren Vorderschiff dunkle Gestalten inzwischen Warnsalven in die Luft feuerten, während vom Achterdeck mit mächtigem Getöse ein Hubschrauber aufstieg. Stuhr löste sich von der Reling und hastete die Treppe hoch zur verschlossenen Tür der Schiffsbrücke. Während er noch überlegte, wie er sie am besten aufbrechen konnte, öffnete die nachdrängende Kantinenwirtin die Tür kurzerhand mit ihrem Dreikant. Das Schiff war führungslos. Sofort sprang Stuhr der Tampen ins Auge, mit dem das Steuerruder am Brückenpult festgebunden war. Es war absolut erschreckend, mit welcher Geschwindigkeit sie sich der Luxusjacht näherten.

Die Kantinenwirtin schrie laut auf, als das Fenster vor ihr zersplitterte. Stuhr riss sie herunter, denn er hatte den metallischen Klang von Einschüssen auf der hinteren Kajütwand mitbekommen. Anscheinend wurde scharf geschossen. Während er in gebückter Haltung mit der einen Hand die Kantinenwirtin niederrang, drückte er mit der anderen den auffällig großen roten »Emergency«-Knopf auf das darunterliegende gelbe Signalfeld.

Sofort erlosch die Beleuchtung. Das Vibrieren des Schiffsdieselmotors verringerte sich, und sie verloren an Fahrt. Dann ging der Motor aus, während gleichzeitig der Lärm über ihnen zunahm. Der Hubschrauber von der Luxusjacht musste direkt über ihnen schweben.

Ein zweites Fenster zersprang krachend in Tausend Splitter, und der Querschläger ließ die Kantinenwirtin lauthals aufschreien, bevor sie zu Boden sank. Während Stuhr sich vorsichtig durch viele scharfe Glassplitter zu ihr schlich, zerbarsten fast gleichzeitig die beiden Seitenscheiben der Schiffsbrücke. Dieses Mal aber nicht von Geschossen, sondern von Springerstiefeln. Die auf sie gerichteten Maschinenpistolen zweier vermummter Eindringlinge sprachen ihre eigene Sprache, die Stuhr mehr als die Nachfrage irritierte.

»Maschina stop?«

Es klang russisch. Heftig nickte Stuhr, während er die Hände hob.

»Du Kapitan?«

Die Antwort gab Stuhr multinational, indem er kopfschüttelnd vorsichtig eine Hand senkte und den Zeigefinger quer gegen den Hals strich.

»Wer hat dann das Schiff gelenkt?« Diese Nachfrage in lupenreiner deutscher Sprache hinter ihm ließ die Maschinenpistolen der vermummten Gestalten senken, was Stuhr mehr als die friedliche Stimmlage beruhigte.

»Zwei Männer. Sie haben den Kapitän umgelegt und das Steuerruder fixiert. Vor einer halben Minute sind sie von der Schiffsbrücke in die Förde gesprungen. Wir haben sie im Wasser vorbeischwimmen sehen.«

Die Stimme hinter ihm gab knappe Anweisungen in russischer Sprache, und die beiden Vermummten entfernten sich unerwartet gesittet durch die offen stehende Tür. Das Brummen des Hubschraubers über ihnen wurde kurzfristig lauter, dann entschwand es schnell, um vermutlich nach den beiden abgetauchten Entführern zu fahnden.

Die deutsche Stimme hinter Stuhr meldete sich wieder. »Wir werden sie aufspüren, keine Angst. Ich bin Kapitän Nemitz von der ›Nadyesta‹, der Luxusjacht dort drüben. Gehört einem russischen Milliardär, der muss sich natürlich in allen Lagen zu schützen wissen. Selbstverständlich in Absprache mit den deutschen Sicherheitsdiensten.«

Stuhr nickte. »Selbstverständlich.«

Der Kapitän der russischen Luxusjacht brachte die Kantinenpächterin schnell in eine stabile Seitenlage und setzte mit geübten Griffen einen Druckverband an, bevor er den Tampen am Schiffsruder durchschnitt. Dann betätigte er einige Knöpfe, woraufhin nicht nur die Beleuchtung wieder ansprang, sondern auch der Schiffsmotor unter dem Deck zu rumoren begann. In aller Seelenruhe schlug er einen neuen Kurs ein, der sie in beruhigendem Abstand an der schon wieder verdunkelten Luxusjacht vorbeiführte.

Mit seiner ruhigen Stimme informierte der Kapitän über das weitere Vorgehen. »Die Frau am Boden muss dringend in ärztliche Behandlung. Am besten fahren wir direkt über die Förde zum Uni-Klinikum. Keine Angst, ich habe alle notwendigen Qualifikationen und bringe Sie sicher dorthin. Meine Kollegen nennen mich übrigens Käpten Nemo. Vertrauen Sie mir. Es war eng, und Sie hatten viel Glück.«

Stuhr nickte skeptisch. Wenn das Glück sein sollte, was war dann Pech?

Kapitän Nemo steuerte jetzt zielsicher das Kieler Westufer an und erteilte neue Order. »Mein Herr. Gehen Sie bitte hinunter und teilen Sie den Fahrgästen mit, dass gleich am Anleger Seegarten Endstation ist. Der liegt unweit vom Uni-Klinikum. Rettungswagen sind bereits unsererseits dorthin beordert worden.«

Stuhr zögerte, aber die Kantinenwirtin schien einigermaßen gut versorgt zu sein. So machte er sich auf den Weg ins Unterdeck. Käpten Daddeldu hatte es sich dort inzwischen in der kleinen Getränkeausgabe gemütlich gemacht, indem er hinter der Getränkeklappe mit Bierflaschen Kasperle spielte. Allerdings mehr für sich selbst als für die anderen Passagiere, die inzwischen offenbar verängstigt von den Schüssen auf dem Boden zwischen den Sitzen kauerten.

Stuhrs spröde Stimme beendete die groteske Veranstaltung. »Die Vorstellung ist aus für heute, Käpten Daddeldu. Am Anleger Seegarten geht es gleich von Bord. Nicht nur für Sie, für alle. Endstation.«

Daddeldu legte seine gläsernen Figuren ab. »Seegarten? Warum das denn? Hier geht jetzt die Post erst so richtig ab.«

Stuhr hatte wenig Lust, mit dem angeschickerten Kasper zu streiten. »Schluss mit lustig, Daddeldu. Wir haben keine andere Wahl. Es gab eine Menge Ärger oben an Deck, sogar Schüsse. Rosi, die Kantinenwirtin, ist verletzt.«

Käpten Daddeldu fasste sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Schüsse? So ein Quatsch. Das hätten wir hier unten schon mitbekommen. Die zwei, drei harten Kurswechsel, die gehören zur christlichen Seefahrt genauso dazu wie die Kaffeebohne zum Sambuca.«

Stuhr blieb hart. »Endstation, sagte ich.«

Käpten Daddeldu blies zum Finale. »Tüdelüt, tüdelüt, tüdelüt. Jeglichem Unbill sind wir früher stets mit breiter Brust entgegengetreten. Macht mir aber nix, vom Seegarten ist es schließlich nicht weit bis zum Kieler Puff.«

Mit staksigen Schritten bewegte er sich auf den Ausgang des Salons zu, während es die aufgeschreckten Passagiere vorzogen, zunächst wie Stuhr unter Deck das Anlegemanöver abzuwarten. Unheimlich wurde die Stimmung, als der Dieselmotor das Schiff erzittern ließ, um seitlich am abgedunkelten Seegarten anzulegen. Von Rettungswagen oder der Polizei war allerdings weit und breit nichts zu sehen.

Ungerührt machte sich Käpten Daddeldu auf den Weg ins Freie und trat krachend mit dem Fuß die Gangway auf den Anleger, um anschließend breitbeinig auf den Seegarten zu schreiten. Erst als von Weitem die Sirenen von Hilfsfahrzeugen zu vernehmen waren, wagte sich Stuhr gebückt aus dem Salon heraus und lugte vorsichtig über die schützende Bordwand zum Ufer.

Die Szenerie war gespenstisch. Über der schmucklosen entleerten Parkfläche des Seegartens thronte das schwach erleuchtete Kieler Schloss, dem schon vor Jahrzehnten genau wie dem davorliegenden Platz jegliche Eleganz durch Beton und Asphalt entzogen worden war.

Plötzlich blendeten Autoscheinwerfer auf, gegen die Stuhr den Schatten des torkelnden Käptens erspähte, der lustvoll in die Nacht wankte. Das kurz aufblitzende Mündungsfeuer einer Maschinenpistole aus dem Seitenfenster des Fahrzeugs streckte den Seebär sofort nieder. Nun wurde von der Schiffsbrücke über Stuhr erbittert auf das Fahrzeug geschossen. Dann schwebte schon der Hubschrauber mit vertrautem Getöse ein, und Maschinengewehrgarben fegten über den gesamten Seegarten.

Stuhr steckte mitten in der Scheiße. Wo blieb nur die Polizei?

Fördeblick

Henning Schöttke

Was für ein sterbenslangweiliger Job, dachte Markus Sellmer. Er zog seinen Tennisball aus der Jackentasche, ging in der Wohnung umher, ließ dabei den Ball auf das dunkle Eichenparkett prallen und fing ihn wieder auf. Seine Schritte und das Dopsen des Balles hallten ein wenig verloren in den leeren Räumen.

Auf den etwa 170 Quadratmetern fand er vier große Zimmer und zwei kleinere, zwei Bäder und eine geräumige, nach modernsten Standards eingerichtete Küche. Er öffnete die Schränke der Einbauküche. In einer Schublade fand er übrig gebliebenen Krimskrams: Heftzwecken, Klebeband, eine Schnur, Streichhölzer. Ansonsten gab es nichts, was auf frühere Bewohner hinwies. Die Räume waren beinahe unangenehm kahl. Es gab nicht einmal Fußleisten, alles schien von äußerster Schlichtheit und Funktionalität.

Er ging in einen Raum, der nach Nordosten lag und ein schönes Schlafzimmer abgeben würde, und trat ans Fenster. Von hier aus hatte man einen wunderbaren Blick über die Kieler Förde. Das war nicht übertrieben. Gut, bei einer anderthalb Millionen Euro teuren Eigentumswohnung konnte man auch eine luxuriöse Umgebung erwarten.

Dabei war das Gebäude alles andere als repräsentativ. Bei seiner Erbauung vor mehreren Jahrzehnten hatte man einen solchen Stil wohl als vornehm und schlicht bezeichnet, aber – auch wenn er dies einem Kunden gegenüber nie zugegeben hätte – Markus fand das kastenförmige Gebäude einfach nur hässlich.

Dafür, dass draußen die Sonne schien, war es in der Wohnung eigenartig kühl. Offenbar war sie gut isoliert. Was er hier zu tun hatte, war sterbenslangweilig, dachte er noch einmal – aber einfach. Er hatte in den letzten Wochen so viel gearbeitet und freute sich darauf, einen ganzen Spätnachmittag und eine Nacht lang nichts anderes zu tun als zu faulenzen. Und für sein Maklerbüro einen Bericht ins Mikro seines Laptops zu sprechen.

Er schlenderte durch den geräumigen Flur und trat ins Wohnzimmer, in dem er seine Sachen auf dem Parkettboden abgelegt hatte – den Rucksack, die Isomatte und den Laptop –, und sah auch hier aus dem Fenster, das fast die gesamte Breite des Raums einnahm. Und das war also dieser ominöse Balkon, den er in seinem Bericht auf keinen Fall erwähnen sollte. Er ließ den Tennisball noch ein paarmal auf das teure Eichenparkett dopsen und steckte ihn wieder in die Jackentasche.

Markus trat an die Balkontür und versuchte sie zu öffnen. Erst kam es ihm vor, als würde sie ein wenig klemmen, aber dann schlug sie mit solcher Wucht nach außen auf, dass sie ihm fast aus der Hand riss. Ein unerwartet kalter Wind strich ihm übers Gesicht, und mit einem Mal klopfte sein Herz heftig. Er glaubte, ein Zischen zu hören oder eine Art Fauchen. Er trat vor an die Brüstung und sah auf die Uferstraße, die wenige Meter vor dem Haus verlief. Vier Stockwerke unter ihm wendete dort ein schwarzer Wagen. Vielleicht war das Geräusch von ihm gekommen.

Die Balkonbrüstung war bis in Bauchhöhe aufgemauert, darauf verlief ein Handlauf aus Edelstahl. Markus’ Herzschlag beruhigte sich, und er hob den Kopf. Von hier aus war der Blick über die Förde noch beeindruckender als vom Schlafzimmerfenster. Er konnte bis zu ihrem Anfang sehen, dort wo die beiden Landspitzen wieder aufeinander zuliefen. Dazwischen war nur die Linie, an der Himmel und Meer sich berührten. Wieder zischte etwas, er beugte sich ein Stück über die Brüstung, konnte aber nicht entdecken, was das Geräusch verursacht haben mochte.

Da er sein Handy im Auto vergessen hatte, musste er noch mal nach unten. Als er an dem opulenten Blumenbeet vorbei zurück zum Haus ging, hielt auf der Straße ein Taxi. Er schloss die Haustür auf und hörte Schritte. Eine gebückte alte Dame kam von hinten, elegant gekleidet mit teurem Schmuck, die grauen Haare wirkten ein bisschen nachlässig frisiert. Sie zog einen großen, offenbar schweren Rollkoffer hinter sich her. Markus hielt ihr die Tür auf und deutete auf den Koffer.

»Darf ich Ihnen beim Hochtragen helfen?«

»Sehr gern, junger Mann«, sagte sie.

Ihre Stimme war brüchig, aber ihr Blick freundlich und klar. Während sie die Treppe hochgingen, bedankte sie sich immer wieder. »Ich war schon in Sorge, wie ich den schweren Koffer in den dritten Stock hochbekommen soll.« Dann plapperte sie von ihrer Enkelin, die sie eine Woche lang in Hannover besucht hätte. Sie blieb vor ihrer Wohnungstür stehen und zog den Schlüssel aus der Tasche.

»Sind Sie der Neffe von Herrn Kuberczyk?«, fragte sie. »Der aus München?«

»Nein, ich bin Wohnungsmakler.«

Ihr Blick wurde ernst, und sie wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger nach oben.

»Etwa von der …?«

Markus nickte.

Sie klopfte mit den Fingerknöcheln drei Mal gegen die Zarge ihrer Tür und deutete mit den Lippen eine Bewegung des Ausspuckens an.

»Diese Wohnung mindert so sehr den Wert der anderen Wohnungen.« Aber dann entspannte sich ihr Gesicht wieder. »Es wäre nur schön, wenn mit dem verdammten Ding endlich eine Lösung gefunden werden würde. Entschuldigen Sie bitte, Sie tragen mir so freundlich meinen Koffer hoch, und ich belästige Sie mit meinen Vorhaltungen.«

Nicht einmal einen einzigen mickrigen Stuhl gab es hier, dachte Markus wenige Minuten später leicht verärgert. Er setzte sich auf das Eichenparkett, den Tennisball in der Hand, und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Vielleicht sollte er runtergehen zu der alten Dame und sie um eine Sitzgelegenheit bitten. Aber nein, das war albern. Außerdem hatte sie gewirkt, als würde sie dringend jemanden zum Unterhalten brauchen. Dann kam er vielleicht gar nicht wieder hier nach oben, und er war schließlich hier, um endlich mal einen halben Tag zu entspannen. Und auch ein bisschen zum Arbeiten.

Er warf den Ball mit der rechten Hand gegen die Wand, badamm, sodass er auf dem Rückweg einmal auf dem Parkett aufprallte, und fing ihn mit der linken auf. Er versuchte ihn so zu werfen, dass er ihn auch wieder mit der rechten fangen konnte, aber das gelang ihm nicht. Der Ball schien einen Linksdrall zu haben.

Markus runzelte die Stirn. Er hielt den Ball einen Meter über den Boden, öffnete die Finger und beobachtete, wie er aufsprang. Der Ball kollerte von ihm weg und rollte langsam auf die Balkontür zu. Markus betrachtete den dunkel glänzenden Parkettfußboden. War er schief? Jetzt hätte er eine Wasserwaage gebrauchen können.

Er überwand sich, ging nach unten und klingelte bei der alten Dame.

»Eine Wasserwaage? Oh, da haben Sie Glück. Mein Mann war ein begeisterter Heimwerker. Einen Moment …«

Sie verschwand in der Wohnung. Während er wartete, sah er durch die halb offene Tür zu ihr rein. Das war allerdings merkwürdig – obwohl ihre Wohnung einen Stock tiefer lag und noch dazu mit Möbeln vollgestellt war, schien sie deutlich heller zu sein. Ob das an dem dunklen Parkett oben lag?

Kurz darauf war er mit der ausgeliehenen Wasserwaage wieder oben und vermaß den Fußboden. Er maß an verschiedenen Stellen, aber der Boden schien eben zu sein. Einer Eingebung folgend, holte er in der zur Schale geformten Hand ein bisschen Wasser aus der Küche und goss es auf die Dielen. Es bildete eine zusammenhängende Lache, die ruhig vor ihm dalag. Und dann begann sie fast wie in Zeitlupe auf die Balkontür zuzufließen.

Er hatte für seinen Bericht zwar eine ganze Nacht lang Zeit, aber er beschloss, gleich damit anzufangen. Dann hatte er es hinter sich und konnte entweder seinen Roman lesen oder ein paar YouTube-Videos ansehen. Er öffnete seinen Laptop. Mit dem Blick über die Förde würde er beginnen. Er sah zur Balkontür und spürte, wie ein eigenartiger Widerwille in ihm aufstieg.

Da klopfte es zaghaft an der Wohnungstür. Er erhob sich, öffnete, und die alte Dame stand da, einige Schritte von der Tür entfernt.

»Ich wollte nur schauen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist.«

»Aber ja, selbstverständlich. Was sollte sein?«

»Nichts.« Ihre Finger tasteten unstet über ihre dreireihige Perlenkette. Sie beugte sich zur Seite und versuchte an ihm vorbei in die Wohnung zu schielen. »Früher hab ich dort Blumen gegossen. Ich hab ja einen Schlüssel, für alle Fälle. Aber dann wurde es immer schlimmer …«

»Hier ist wirklich alles in Ordnung.« Er wies mit einer Hand hinter sich und lächelte. »Sie können gern reinkommen und sich überzeugen.«

Sie zuckte zusammen und schien plötzlich in sich selbst zu versinken.

»Ich will sie nicht beunruhigen«, sagte sie, und ihre brüchige Stimme war noch dünner geworden. »Aber in dieser Wohnung gab es im Frühjahr einen Einbruch.«

»Machen Sie sich mal keine Sorgen. Die Wohnungstür sieht recht stabil aus. Und darüber hinaus weiß ich mich durchaus zu wehren.«

»Das meine ich nicht«, sagte sie, und ihr Blick irrte umher. »Ich … die …« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Die Einbrecher waren zwei kräftige Männer. Abgebrühte Typen, die wohl schon einiges auf dem Kerbholz hatten, wie einer der Polizisten mir sagte. Aber beide fand man morgens tot unten im Blumenbeet. Sie waren, warum auch immer, vom Balkon gestürzt.«