I'm a queerfeminist cyborg, that's okay - Mika Murstein - E-Book

I'm a queerfeminist cyborg, that's okay E-Book

Mika Murstein

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Beschreibung

"I’m a queerfeminist Cyborg, that’s okay!" verknüpft Theorien mit biographischen Erzählungen und Formen des Aktivismus, insbesondere des Netzaktivismus. Zudem werden • das Verhältnis von Be_Hinderung und Geschlecht jenseits der cis-Normativität • Verschränkungen von Klassismus und Ableismus • Diskussionen über Empowerment, (vermeintliche) Schutzräume und institutionellen Ableismus sowie • mediale Darstellungen von Krankheit und Be_Hinderung in den Fokus genommen. Ein Interview mit der Schwarzen, queeren Autor*in und Aktivst*in SchwarzRund vertieft die Ausführungen über die Verwobenheiten von Rassismus und Ableismus. Die Gedankensammlung verdeutlicht: Ableismus erschöpft sich nicht “nur” in Be_Hinderten-Feindlichkeit, sondern ist fester Bestandteil anderer Unterdrückungen und Teil des herrschenden Wertesystems.

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FOR ALL WHO KEEP UP THE FIGHT AND FOR ALL

WHO ARE TOO TIRED TO DO SO.

FÜR ALLE, DIE DEN KAMPF NICHT AUFGEBEN UND

FÜR ALLE, DIE DESSEN ZU MÜDE GEWORDEN SIND.

Mika Murstein

I’m a queerfeminist Cyborg, that’s okay

Gedankensammlung zu Anti/Ableismus

2. Auflage 2021

ISBN 978-3-96042-809-1

© edition assemblage Postfach 27 46

D48041 Münster

[email protected]

Autor_in: Mika Murstein

Umschlaggrafik: Niklas Jacobi

Umschlaggestaltung: kv, Berlin

Satz: lou kordts

Lektorat: Ann-Christin Kumm, Carla Schäfer

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Gefördert durch das Autonome Feministische ReferatOldenburg.

Eigentumsvorbehalt:

Dieses Buch bleibt Eigentum des Verlages, bis es der gefangenen Person direkt ausgehändigt wurde. Zur-Habe-Nahme ist keine Aushändigung im Sinne dieses Vorbehalts.

Bei Nichtaushändigung ist es unter Mitteilung des Grundes zurückzusenden.

MIKA MURSTEIN

I’M A QUEERFEMINI ST CYBORG, THAT’S OKAY

GEDANKENSAMMLUNG ZU ANTI/ABLEISMUS

INHALT

VORWORT

- Was ist das für ein mika/cyborg/Buch?

I’M A QUEERFEMINIST CYBORG, THAT’S OKAY!

Eine Einführung in drei Teilen

Ein Bericht darüber, wie Ableismus sich durch mein ganzes Leben zieht

Wie ich zum Netzaktivismus kam und queerfeministische_r disability Aktivist_in wurde

GEDANKEN ZU VERWOBENHEIT, MEHRDIMENSIONALER VERLETZBARKEIT UND FRAGILEN BÜNDNISSEN

BEAUTIFUL FREAK

Wahrnehmung von Körper und Be_Hinderung

LIMITS OF CONTROL

Leben mit chronischem Schmerz

TROUBLE EVERYDAY

Be_Hinderung, Barrieren, Diskriminierung im Alltag

MORE THAN (JUST) WORDS

Warum Sprache Handlung ist

HOW I SURVIVED MY OWN THOUGHTS – AGAIN AND AGAIN

(Über-) Leben angesichts eines ableistischen Diskurses bezüglich Depression und Suizidalität

BEYOND BINARIES

Was Sexualität und Geschlecht jenseits der hetero cis Normativität für mich bedeuten

(Eine Abrechnung mit meinen Internalisierungen)

THE IMPOSSIBLE VICTIM I

THE IMPOSSIBLE VICTIM II

THE IMPOSSIBLE VICTIM III

EMPTY WORDS

Inklusion – Was heißt das schon?

CRIP FUTURES AND FUTURITIES

Warum es Zukunft im Plural geben muss

WHAT‘S LEFT?

Ausschlüsse in linken Gruppen

I AM A TREND! – BEISSREFLEXE? ICH BEISSE NICHT, ICH HEXE

Von der Schädlichkeit und den Auswirkungen aufgewärmter reaktionärer Diskurse

ALLE REDEN VON PERSPEKTIVEN… WHAT ABOUT JOY?

GLOSSAR

VORWORT

- Was ist das für ein mika/cyborg/Buch?

Das ist eine berechtigte Frage. Über mich erfahrt Ihr noch sehr viel im Laufe dieses Buches, deshalb stelle ich mich hier erstmal nur kurz und schlaglichtartig vor: Ich bin ein_e weiße_r, be_hinderte_r, nichtbinäre_r, prekarisierte_r disability Aktivist_in. Begegnungen, Bücher, Filme und Kunst halten mich wach und am Leben. Mich interessiert sehr, wie sich wissenschaftliche Theorien auf gelebte Erfahrungen von Marginalisierten beziehen lassen und wie diese anwendbar werden können, um die Gesellschaft zu verändern. Außerdem bin ich fasziniert von storytelling und Narrativen, also davon, wie Geschichten erzählt werden und aus welcher Perspektive.

Die cyborg Figur hat mich erst vor einiger Zeit angefangen zu beschäftigen. Wenn Ihr das Bild auf dem Cover des Buches betrachtet, seht Ihr das Metall, das sich sonst unsichtbar in meinem Rücken befindet, hervorleuchten. Dieses Metall ist kein Fremdkörper mehr, es ist Teil von mir geworden, es ermöglicht mir Bewegung, aber schränkt sie andererseits auch ein. Diese Hybridität macht mich nie nur funktional, gesund oder zu einer Maschine. Leben mit dieser Hybridität hat auch dazu geführt, dass es für mich kein Abspalten in „das bin nicht ich, das ist künstlich/negativ oder hinzugekommen“ gibt. Das gilt für viele Dinge, die im Laufe des Lebens hinzukommen und meine Identität beeinflussen.

Dies ist kein rein wissenschaftliches Buch, obwohl es Theorien der disability studies, der Sozialwissenschaften und der Philosophie aufgreift. Es ist kein geschichtliches Buch, obwohl es auch von Zeitzeug_innenschaft erzählt. Es ist eher ein persönlicher Bericht, wie ich zu dieser Form des Aktivismus gekommen bin, welche Erlebnisse mich auf den Weg dahin geprägt haben. Ich versuche gelebte Erfahrung und Beobachtungen mit Theorien in Beziehung zu setzen, um daraus eine antiableistische Praxis zu entwickeln. Was ist denn dieser Ableismus, der bekämpft werden soll? Ableismus ist weit mehr als Behindertenfeindlichkeit. Das Wort bezeichnet sowohl eine Unterdrückungsstruktur als auch ein Wertesystem in der Leistungs-, Verwertungsund Nützlichkeitsgesellschaft. Der Begriff leitet sich vom englischen Wort „able“ (fähig) ab, aber wenn eins dem Wort Ismus dahinter keine Beachtung schenkt, könnte eins denken, es ginge um bloß um die Anwesenheit oder die Abwesenheit von Fähigkeiten. In Wahrheit geht es um die Bevorzugung und Höherwertung bestimmter Fähigkeiten gegenüber anderen und wie diese ausgeübt werden sollen. Be_hinderte Menschen werden oft daran gehindert ihre Fähigkeiten auszuüben und an der Teilnahme in der Gesellschaft. Deshalb herrscht in diesem Buch die Schreibweise„be_hindert“ vor, um das be_hindert werden durch die Gesellschaft zu betonen.Als genderinklusive Schreibweise für dieses Buch habe ich den Unterstrich gewählt. Als nichtbinäre Person gefällt mir der Raum, der dadurch entsteht, der Platz lässt für alle Geschlechter jenseits der Zweigeschlechtlichkeit. Manche nichtbinären Menschen bevorzugen das Sternchen an der Stelle, wo ich den Unterstrich setze, deshalb richte ich mich in einem Text nach meiner Interviewpartner*in. „Frauen“ schreibe ich ohne das weit verbreitete Sternchen anzuhängen. Zum einen, weil ich mit „Frauen“ alle Frauen und Weiblichkeiten meine, die sich selbst so bezeichnen, zum anderen, weil das Sternchen zu oft mit „Frauen UND trans Frauen“ übersetzt wird, als seien letztere eine besondere Spezies. Außerdem ist es nicht so cool, wenn Menschen, die als Frauen “gelesen“ werden, aber keine sind, eingemeindet werden durch das Sternchen.

Euch werden hier gleich in dem Vorwort einige unbekannte Begriffe begegnet sein, aber keine Panik! Im Einführungstext werden diese ausführlich erklärt. Sollte Euch einmal entfallen, was ein Begriff meint, werdet Ihr in Fußnoten oder dem Glossar, das die wichtigsten Begriffe nochmal kurz definiert, Aufschluss finden. Der dreiteilige Einführungstext bietet verschiedene Zugänge. Im ersten Teil erkläre ich Theorien, im zweiten lassen sich diese mit meiner Biographie in Beziehung setzen, sowie auch mit dem dritten aktivistischen Teil, wo beides zusammenwirkt. Das „Netz“ ist ein unglaublicher und unterschätzter Lernort. Vor allem ist er Teil der gesamtgesellschaftlichen Realität. Auch das möchte ich gerne sichtbar machen. Nach dem dreiteiligen Einführungstext folgen einzelne Texte, die ein paar der zuvor in ihm erwähnten Themen vertiefen.

#CN

#CN bedeutet „Inhaltsnotiz“, sie weist darauf hin, wovon ein Abschnitt explizit handeln wird. Wann immer es bei Zitaten nicht anders angegeben ist, habe ich frei übersetzt.

Ich möchte so vielen Leuten danken, ich tue das noch mal ausführlicher im Nachwort. An dieser Stelle danke ich den folks<3 auf twitter, Willi von der edition assemblage, der die Idee hatte, es müsse mal ein Buch von mir geben, dem FemRef Oldenburg für die Unterstützung, die dazu beigetragen hat, dieses Buch zu realisieren und allen anderen, die sich am Produktionscrowdfunding beteiligt haben, ich danke SchwarzRund, mit der ich ein großartiges Interview führen durfte, das Ihr in diesem Buch lesen könnt, Niklas für’s Wunschcoverbild, der fabelhaften Lou für Satz und Layout, der ganzen edition assemblage, speziell Klaus und Carina. Ganz ganz doll danke ich Carla und Stine für das Lektorat, Carla obendrein für sehr viel Orgakram und Stine für’s dichte Begleiten durch das Buch und überhaupt.

Jetzt könnt Ihr umblättern, ich wünsche Euch eine gute Zeit!

mika

I’M A QUEERFEMINIST CYBORG, THAT’S OKAY!

Eine Einführung in drei Teilen

TEIL I

- DISABILITY IS NOT A BAD WORD!

Eine Adaption meines Vortrags über Ableismus, meinen Weg zum disability Aktivismus und die Notwendigkeit antiableistischer Praxis im Queerfeminismus und anderen Gruppenkontexten

(Kurz vorab: Dieser Text ist viel länger und ausführlicher als mein ursprünglich gehaltener Vortrag, welcher live 90 Minuten dauerte und den ich, jedes Mal, wenn ich ihn hielt, aktualisierte, dafür ließ ich etwas früher Erwähntes weg. In dieser Version ist vieles auserzählt, was ich live nur schlaglichtartig geschildert habe. Der jetzige Umfang wäre als Vortrag gar nicht zu verarbeiten, aber in diesem Buch eröffnet sich die Möglichkeit vorund zurückzublättern. Daher habe ich mich ans „Auserzählen“ gewagt.)

Hey hey, ich bin Mika Murstein und ich habe die Überschrift “Disability is not a bad word!“ für den ersten Teil gewählt, weil ich diesen Satz auf einem T-Shirt von Amythest Schaber sah und dachte: Hey, das ist nicht nur ein cooles lilafarbenes T-Shirt mit Glitzerschrift, sondern eine wirklich wichtige Aussage, die meine Einstellung zu Be_Hinderung vermittelt.

Nun wird eins vielleicht denken: Klar ist Behinderung an sich nichts Negatives…und im nächsten Moment fällt eins dann doch schnell ein, wie „behindert“ als alltägliche Beleidigung benutzt wird. Wie sollte da das Label (hier: Selbstbezeichnung) be_hindert etwas Empowerndes haben?

Ich selbst habe mich auch nicht immer so gelabelt. Ein paar Jahre bevor ich mit dem Netzaktivismus begann, fing ich an, mich selbst manchmal so zu bezeichnen. Dies tat ich, um Menschen klar zu machen, dass meine Einschränkungen ein Fakt sind und dass ich aufgrund meiner gesundheitlichen Grenzen mit zusätzlichen Grenzen von außen, zum Beispiel bürokratischen, konfrontiert bin, die Prekarität zur Folge haben. Das Wort Ableismus allerdings kannte ich nicht, obwohl es ein Unterdrückungsverhältnis bezeichnet, das mich fast mein ganzes Leben lang stark betrifft. Zum Netzaktivismus gekommen zu sein ist für mich tatsächlich ein mittleres Wunder, ich war nicht sehr netzaffin, weil mich Technik und die Voraussetzung digitaler skills (Fähigkeiten), besonders aus meiner prekären Perspektive, sehr gestresst haben.

Dieser Text ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil erkläre ich nützliche theoretische und aktivistische Begriffe aus dem disability Aktivismus und aus den disability studies, stelle verschiedene Definitionen von Ableismus und Modelle von Be_Hinderung vor und zeige auf, in welchen unterschiedlichen Formen sich Ableismus äußern kann. Der zweite Teil ist ein biographischer Teil, in dem ich von meinen gelebten Erfahrungen mit Ableismus erzähle. Vielleicht lässt sich das ein oder andere aus dem ersten Teil darauf anwenden. Im dritten Teil berichte ich über meine Erfahrungen mit Ableismus im Netzaktivismus und im Queerfeminismus und erläutere, wie sich aus theoretischem Wissen und gelebter Erfahrung eine Notwendigkeit antiableistischer Praxis ergibt. Dieser Text ist sehr umfangreich und kompakt, aber keine Sorge, um die Inhalte zu verstehen, auf die ich in loops zurückkommen werde, muss eins nicht alles zu 100% mitschneiden. Es gibt hoffentlich viele Zugänge in diesem Text und für die Einen funktioniert der theoretische besser, für die Anderen der erzählerisch-biographische, für die Nächsten der aktivistische.

Es wird Zeit zu sagen, wer hier eigentlich spricht und in welcher Rolle: Ich spreche als weiße_r, queerfeministische_r, be_hinderte_r Netzaktivist_ in, als Betroffene_r, als wissenschaftsaffines mika. Mit wissenschaftsaffin meine ich, dass ich es sehr wichtig finde, Wissenschaft als Werkzeug zum Analysieren von Problemstellungen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu nutzen, zum Hinterfragen des Status Quo. Weniger interessiert bin ich daran, damit meine Wahrheit beweisen zu müssen. Auch Wissenschaft ist in Hierarchien und Machtverhältnisse eingebettet. Entscheidend erscheint mir zu fragen: Was kann Wissenschaft den Akteur_innen (handelnden Personen) bieten und welches relevante Wissen haben Akteur_innen, zum Beispiel Betroffene/Aktivist_innen, der Wissenschaft anzubieten?

Von den folgenden Unterdrückungsverhältnissen bin ich betroffen: von Ableismus, Klassismus (Prekarisierung), cisSexismus, weil ich nichtbinär bin, und von Ageism (Diskriminierung aufgrund des Alters). Ich bin jetzt etwas über Mitte 40 und da geht es langsam mit Ageism los.

Nichts davon hebt mein white privilege1 auf, also mein Privileg des Weißseins. Wie Personen of Color insbesondere von rassifiziertem Ableismus betroffen sind, erläutere ich nach den ersten Definitionen zum Thema.

Hier zwei wissenschaftliche Definitionen von Ableismus. Die erste Definition stammt von Fiona Kumari Campbell. Ableismus ist nach ihrer Definition:

„[…] ein Netzwerk von Überzeugungen, Prozessen und Praktiken, das eine besondere Art von Selbst und Körper(physischer Standard) erzeugt, und als perfekt, arttypisch und daher wesentlich und komplett menschlich projiziert. Behinderung ist dann ein minderwertiger Zustand des Menschseins.

[…] Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen wird auch Disablismus genannt. Gregor Wolbring, Assistant Professor in der Abteilung ‚Community Health Service‘ der ‚University of Calgary‘ (Kanada) erklärt Disablismus zum ‚Begleiter‘ des Ableismus:

In seiner allgemeinen Form ist Ableism ein Bündel von Glaubenssätzen, Prozessen und Praktiken, das auf Grundlage der je eigenen Fähigkeiten eine besondere Art des Verständnisses des Selbst, des Körpers und der Beziehungen zu Artgenossen, anderen Arten und der eigenen Umgebung erzeugt und schließt die Wahrnehmung durch Andere ein. Ableism beruht auf einer Bevorzugung von bestimmten Fähigkeiten, die als essentiell projiziert werden, während gleichzeitig das reale oder wahrgenommene Abweichen oder Fehlen von diesen essentiellen Fähigkeiten als verminderter Daseinszustand etikettiert wird, was oft zum begleitenden ‚Disableism‘ führt, dem diskriminierenden, unterdrückenden oder beleidigenden Verhalten, das aus dem Glauben entsteht, dass Menschen ohne diese„essentiellen“ Fähigkeiten anderen unterlegen seien.“2

Bei Ableismus geht also um das Höherwerten bestimmter Fähigkeiten, die ein reibungsloses Funktionieren und Nützlichsein in dieser Gesellschaft ermöglichen. Mangel an diesen und von der Norm abweichendes Sein werden abgewertet. Be_Hinderung, Krankheit und neuroatypisch sein werden als Abweichung von der als „gesund“ bezeichneten Norm und als Schwäche empfunden. Wie das passiert, wird später bei der Darstellung verschiedener Modelle von Behinderung deutlich.

Ableismus „überschneidet“ sich oft mit anderen Unterdrückungsformen, wie zum Beispiel Rassismus, (cis) Sexismus und Klassismus, die einander verstärken, beziehungsweise sich untrennbar miteinander verbinden bei Mehrfach-Marginalisierten. Bei letzterem spricht eins von Intersektionalität. Intersektionalität ist ein Begriff, der von der Schwarzen US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw3 aufgegriffen und theoretisch weiterentwickelt wurde. Ohne ein Verständnis von Intersektionalität sind die Verwobenheiten von race, class und gender etc. kaum zu begreifen. Intersektionalität ist auch für das Verständnis von Ableismus unverzichtbar. Der Begriff Verwobenheiten stammt von der Schwarzen Sozialwissenschaftlerin Christiane Hutson.4 Ich bin sehr froh, den Text „Mehrdimensional verletzbar – Eine Schwarze Perspektive auf Verwobenheiten zwischen Ableism und Sexismus“ von ihr gelesen zu haben. Bis dahin war meine Auffassung von Intersektionalität sehr abstrakt. Zu sagen: „Unterdrückungsverhältnisse verstärken einander“, klang zu sehr nach Addition oder Multiplikation, bei der sich etwas vage potenziert. Mit „Verwobenheiten“ hat Christiane Hutson einen Begriff geschaffen, der anschaulich macht, dass der Ableismus, den Personen of Color erfahren, immer schonrassifiziert ist. Mehrere Unterdrückungsformen sind also untrennbar miteinander verwoben und nicht addiert. Ein Beispiel für rassifizierten Ableismus ist die Benachteiligung von Personen of Color im Gesundheitssystem. Das äußert sich dann in weniger Repräsentation und weniger Hilfsangeboten und führt zu schlechterer Versorgung und Zugang zu selbiger. Wenn ich eine Broschüre zu Depression in die Hand nehme, ist dort meist eine weiße Person abgebildet und selten eine Person of Color, als sei Depression etwas, was diese Gruppe von Menschen nicht beträfe. US-amerikanische Studien zeigen, dass Personen of Color oft weniger Schmerzmittel in Krankenhäusern erhalten und dass an Schwarzen Männern und Männern of Color eher irreversible Eingriffe (zum Beispiel Amputationen) vorgenommen werden. Auch werden be_hinderte Menschen of Color öfter Opfer von tödlicher Polizeigewalt.

Um die Wirkungen, die die jeweiligen Perspektiven auf Be_Hinderung haben, zu verdeutlichen, stelle ich erst einmal die zwei gängigsten Modelle von Be_Hinderung vor. Anschließend werde ich ein drittes, von mir bevorzugtes, Modell erläutern.

Die zwei bekanntesten Modelle von Be_Hinderung sind:

1. Das medizinische Modell von Behinderung

Das medizinische Modell von Behinderung definiert Behinderung und Krankheit als defizitären Zustand, der überwunden werden muss (durch Heilung), um ein „normales“ Leben führen zu können. Es stereotypisiert, ist paternalistisch und definiert Menschen nach ihrer gesundheitlichen Verfassung, ihren Begrenzungen und ihrem auszuschöpfendem Leistungspotenzial. Behinderung ist in diesem Modell ein individuelles Problem und eine persönliche Tragödie. Die gesellschaftliche Verantwortung an jedweder sozialen Ungleichheit/Benachteiligung wird nicht wahrgenommen, denn angeblich resultiert sie „natürlich“ aus der Behinderung der Person.

2. Das soziale Modell von Be_Hinderung

In dem sozialen Modell von Be_Hinderung ist nicht die Be_Hinderung selbst der Ausschlussfaktor, sondern die Gesellschaft und ihr Umgang mit Be_Hinderung. Die Gesellschaft be_hindert durch Barrieren und Nichtbereitstellung von Werkzeugen und Hilfsmitteln, die Teilhabe, Partizipation und Gleichstellung ermöglichen würden. In der Gesellschaft werden Behinderung und Krankheit als Schwäche, individuelles Problem oder Last gesehen und so der Wert des nicht der Norm entsprechenden Lebens in Frage gestellt. Das genau kritisiert das soziale Modell von Be_ Hinderung. Für die be_hinderte Person ist es in der Regel nicht möglich sich anzupassen, sich wie erwartet zu normalisieren. Der Gesellschaft wäre es aber möglich Selbstbestimmung und Partizipation des be_hinderten Individuums durch Abbau von Barrieren und Bereitstellung von Werkzeugen und Hilfsmitteln zu unterstützen.

Die großartige Stella Young hat in ihrem TEDtalk “I am not your Inspiration, thank you very much!” („Ich bin nicht deine Inspirationsquelle, herzlichen Dank“) Folgendes gesagt:

„Warum das Zitat ‘Die einzige Behinderung ist eine negative Einstellung’ bullshit (Mist) ist: Egal wie viel eins lächelt, dieses Lächeln wird nie eine Treppe mit vielen Stufen in eine Rampe verwandeln. Niemals. Den Fernseher anzulächeln lässt keine Untertitel für Gehörlose erscheinen. Und egal wie jemand und mit welcher Intensität jemand in der Mitte eines Buchladens steht und dort eine positive Einstellung ausstrahlen mag: Es wird nie alle Bücher drum herum in Brailleschrift verwandeln.“5

Sehr oft versuchen Nichtbehinderte auf be_hinderte Menschen, die sich eins zum Vorbild nehmen sollte, hinzuweisen. Diese Ausnahmen sollen mir zeigen, dass ich mich nicht von meiner Behinderung stoppen lassen soll. Dahinter steckt der Glaube, alles sei erreichbar, wenn eins nur will, und dass be_hinderte Menschen mit fantastischen Eigenschaften und Fähigkeiten punkten müssen, um Einschränkungen wieder wettzumachen. Geschichten von den Ausnahmen, die etwas Großes erreicht haben, nennen Aktivist_ innen„inspiration porn“. Hier meine Reaktion auf so ein Beispiel in einem tweet:

„Schau Dir mal Stephen Hawkins als Beispiel an… * schaut Stephen Hawkins an* *nichts passiert*“6

Ableismus erfährt eins aber nicht nur durch Nichtbetroffene/Ableisierte. Internalisierter (verinnerlichter) Ableismus ist ein Ding und so erwarten manche Betroffene, dass eins es ihnen nachmacht:

„Ich war wie Du, doch dann (Wunder/Heilung/Erleuchtung!)“7

Auch der Mythos vom Überwinden der Behinderung stirbt nicht. Ungebetene Ratschläge sind für be_hinderte, chronisch kranke und neuroatypische Menschen Alltag:

„Du kannst jedes Hindernis überwinden, wenn Du nur wirklich willst/Deine Einstellung änderst/positiv denkst. Und übrigens, hast Du es schon mit Yoga versucht?“8

Ich habe objektive körperliche Begrenzungen durch einen Mangel an Gesundheit. Es gibt Dinge, die ich nie tun kann, zum Beispiel schwer tragen oder zu lange sitzen, andere nur zu einem hohen Preis, zum Preis der Verschlechterung meiner Gesundheit und der Erhöhung des chronischen Schmerzes. Diese Verschlechterung und Überforderung könnten verhindert werden, wenn mir die Gesellschaft die nötigen Anpassungen (geeignete Möbel, barrierefreies Wohnen/Technik und geeignete Mobilität/geeigneten

Zugang zu Bildung) ermöglichen würde. Ich selbst kann mir diese Anpassungen oder Ent_Hinderungen (accommodations) größtenteils nicht leisten, da ich wegen meiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht arbeiten kann. Die Prekarität, die deswegen besteht, hat Erhöhung der Barrieren, Nichtpartizipation und Verschlechterung meiner Gesundheit zur Folge. Es ist ein Teufelskreis. Wenn mich jemensch fragen würde, was mich mehr be_hindert, mein Körper oder die Gesellschaft, würde ich in meinem Fall antworten: Fifty-fifty (50/50).

So stößt auch ein rein soziales Modell von Be_Hinderung auf Grenzen. Deshalb möchte ich auf Alison Kafers politisch-relationales Modell von Behinderung9 aufmerksam machen. Innerhalb dieses Modells ist es kein Verrat eine Verbesserung des Gesundheitszustands zu wollen, ohne die Verpflichtung und unrealistische Erwartung, komplett zu heilen, ohne die „Normalisierung“ zum Ziel zu haben.

Das politisch-relationale Modell von Be_Hinderung baut auf dem sozialen Modell von Be_Hinderung auf. Es gibt aber mehr Raum für die individuellen Empfindungen gegenüber Be_Hinderung, denn nicht alle Betroffenen wollen und brauchen das Gleiche. Es spielt eine entscheidende Rolle, von welchen anderen Unterdrückungsstrukturen das be_hinderte Individuum betroffen ist, über welche Ressourcen, Privilegien und welche Unterstützung es verfügt. Das politisch-relationale Modell versucht der Entpolitisierung von Be_Hinderung, wie es beim rein medizinischen Modell der Fall ist, entgegenzuwirken, aber es ist nicht so luftig und entfernt von der Materialität der Körper und wie diese von be_hinderten Individuen erfahren werden, wie das soziale Modell. Es berücksichtigt, von wo aus das Individuum spricht. Race, class, gender sind Kategorien, die hierbei ins Gewicht fallen.

Be_Hinderung und Krankheit werden innerhalb des medizinischen Modells als zeitlich begrenzt gedacht. Mit folgenden Fragen wird ein be_ hinderter Mensch mit dieser als zeitlich begrenzt vorgestellten„Heilungszeit“ (curative time) konfrontiert:

#CN_ Ableismus für Zitate bis Fußnote 13.

„Wurdest Du so geboren? Wie lange wirst Du noch so leben müssen? Wie lange dauert es noch, bis sie eine Heilmethode finden? Wie lange wird die Heilung brauchen? Wie bald wirst du wiederhergestellt sein?“10

Was gänzlich fehlt, ist die Vorstellung von Be_Hinderung als andauerndem und lebenswertem Zustand, ein Leben lang. Kafer erwähnt die Notwendigkeit anderer Zeitlichkeiten und nennt diese “crip time“.

Crip time wäre das Ausrichten der Zeit danach, wie viel Zeit das be_ hinderte Individuum tatsächlich braucht. Es wäre auch die Zeit, die in die Vorbereitung von Barrierenabbau investiert wird. Ebenso Zeit zum Heilen, Lindern oder Schmerzen. Crip time verändert unsere Sicht darauf, wie lange Dinge dauern (sollen). Die Flexibilität von crip time fordert die normativen Vorstellungen von Geschwindigkeit, Planung und, wie ich auch hinzufügen würde, Effektivität heraus.

Crip future11 ist ein Gegenentwurf zu der Zukunft, die nur als fortschrittlich gedacht wird, wenn in ihr die Abwesenheit von Krankheit und Behinderung wahr wird. Als erstrebenswerte Zukunft gilt meist die Zukunft ohne Behinderung. Crip future ist eine Zukunft, in der Behinderung und ein lebenswertes, erfülltes Leben, wie es schon heute be_hinderte Menschen führen, nicht als Gegensatz konstruiert werden. In meiner Vision von crip future besitzen wir alle Werkzeuge und Hilfsmittel, die wir brauchen, die Teilhabe, Partizipation und Mobilität bedeuten würden. Diese Werkzeuge, Technik und Hilfsmittel gibt es schon reichlich, aber in der Gegenwart ist der Zugang zu ihnen beschränkt. Mich macht die Vorstellung einer Zeit sehr happy, in der diese Mittel und diese Leben aufgewertet wären. Hilfsmittel sind cool. Nur leider nicht im herrschenden Diskurs. Zum Beispiel sagt die Redensart „Das ist doch nur eine Krücke!“ viel über die Sicht auf gesundheitliche Einschränkungen aus. Sie spiegelt die Wahrnehmung, es sei eine Schwäche, eine Krücke zu brauchen, wider. Dabei ist eine Krücke hilfreich, weil sie Halt und Mobilität bedeutet, genauso wie eins nicht an den Rollstuhl „gefesselt“ ist, sondern dieser ermöglicht, von A nach B zu kommen und an der Welt teilzuhaben. Hilfsmittel sind alles andere als ein Gefängnis. Wären da nicht noch die von der Gesellschaft aufrecht erhaltenen Barrieren.

Die Fragen zur Heilungszeit sind aber nicht die einzigen, die gestellt werden. Infragestellungen und Verhöre ziehen sich ein Leben lang durch. Es folgt ein Zitat von C. Thomas Couser aus seinem Essay “Disability, Life, Narrative and Representation“:

„Du lässt Dich doch nicht durch den Schmerz abhalten, oder?“

„Wenn ich so leben müsste wie Du, ich würde mich umbringen!“

„Eine der sozialen Belastungen des Be_hindertseins ist, dass es die betroffenen Personen der Überprüfung, Befragung, Interpretation und Grenzüberschreitung des Privaten aussetzt.“12

Auch Susan Wendell schreibt vom Misstrauen gegenüber der Legitimität von chronischer Krankheit und Be_Hinderung:

„Menschen mit chronischer Krankheit sind verdächtig, Misstrauen gilt dem, wie krank/wie behindert wir wirklich sind und warum wir krank wurden, ob wir alles Mögliche getan haben, um gesund zu werden. Wie wir das Leben, unseren Geist, unsere Seele nicht ausreichend bewältigen, mag zu unserer anhaltenden Krankheit beitragen.“13

Von bevormundender „Behindertenpädagogik“ hin zu einer interdisziplinären Betrachtung des Begriffes Be_Hinderung war es ein weiter Weg. In den disabilitystudies forschen mittlerweile auch oft be_hinderte Akademiker_innen, so dass es weniger ein Sprechen über andere und das Analysieren einer fremden Realität zum Gegenstand hat.

Simi Linton beschreibt in ihrem Essay “Reassigning Meaning“14 Ableismus als eine machtvolle Rhetorik, in der die Dichotomie „normal“ versus „abnormal“ vorherrscht. Dieser ableistischen Rhetorik stellt Simi Linton eine antiableistische Rhetorik gegenüber, die von Begriffen und Definitionen der disability studies und des disability Aktivismus geprägt ist, also von den Betroffenen selbst. Selbstbezeichnung ist immer noch eine der wirksamsten Selbstermächtigungsstrategien. Als Erstes ist es wichtig die Unterdrückung zu benennen und der Gruppe von Betroffenen einen Namen zu geben. Die Selbstdefinition dient als empowerment (Selbst/Ermächtigung).

Wer qualifiziert sich also für diese Selbstbezeichnung als be_hindert/dis_abled? Die Person, die sich damit identifiziert. That’s it!

Deshalb bezeichnen sich so auch Menschen, die nicht klassisch als behindert gedacht wurden, weil der Begriff lange auf stark wahrnehmbare körperliche oder geistige Einschränkung als Zuschreibung beschränkt war und ohne, dass die Berücksichtigung des Be_Hindert_Werdens verhandelt wurde. Im Sinne des sozialen Modells von Be_Hinderung können sich zum Beispiel auch autistische Menschen, Menschen mit Depressionen und chronischen Krankheiten als be_hindert bezeichnen.

Eine weitere Klammer ist der Begriff neuroatypisch. Eine Person mit Lernschwierigkeiten kann neuroatypisch sein. Alle, deren Verhalten oder Lernen von der Erwartung, wie „neurotypisches“ Verhalten oder Lernen zu sein habe, abweichen, können neuroatypisch sein. Von der community autistischer Menschen habe ich in diesem Zusammenhang wohl am meisten gelernt. Dort wurde der Begriff neurodivergent15 als Selbstbezeichnung geprägt. Neurodivers16bezeichnet demnach antiableistisch die Diversität neurologischen Seins und schließt neurotypische Menschen mit ein. Der Begriff versucht die Trennung von normal und abweichend aufzuheben und alle Formen neurologischen Seins als gleich_gültige Formen zu begreifen. Angreifbar ist er dann, wenn dadurch der Eindruck entsteht, es gebe keine Ungleichbehandlung mehr, weil sich oberflächlich zu dem Begriff bekannt wird. Neurodivergent dagegen spiegelt Nichtbehinderten, dass sie neuroatypische Menschen als abweichend markieren. Ein sehr guter Blog zu diesen Themen ist der neuroqueerblog.17

Sehr viel zu diesen Fragen von Selbstbezeichnung habe ich am Anfang von und durch den Austausch mit zum Beispiel in der deutschsprachigen Twittertimeline @JulesEins, @disabilisaur, @project1enigma und @theRosenblatts gelernt. In der englischsprachigen waren es @riotheatherrr und @EverydayAbleism, durch die ich obendrein auf viele intersektionale disability Aktivist_innen stieß. Dazu aber mehr im dritten Teil.

Der Austausch darüber war nicht nur wichtig für das eventuelle sich selbst bezeichnen, sondern auch für das Vermeiden falscher Bezeichnungen, wenn es um Be_Hinderungen und Barrieren geht, die mich nicht selbst betreffen, zum Beispiel, dass es Lernschwierigkeiten statt „Lernbehinderung“ heißt. Oder nicht Gebärdendolmetscher_in, sondern Gebärdensprachdolmetscher_in.

Eine weitere Differenzierung gilt unsichtbarer und sichtbarer Behinderung. Unsichtbare Be_Hinderungen, wie neuroatypisch sein oder chronische Schmerzen haben, scheinen den nichtbehinderten Mitmenschen erst einmal weniger real, nachprüfbar und glaubhaft. Als Mensch, di_er sowohl körperlich sichtbar als auch neuroatypisch be_hindert ist, halte ich es aber für eine ableistische Finte daraus zu schließen, körperlich oder sichtbar behinderte Menschen würden besser behandelt werden. Menschen, die immer wieder einen wechselnden Krankheitsverlauf zwischen guten und schlechten Phasen durchlaufen, und vielleicht dann einmal kurz im Supermarkt aus dem Rollstuhl aufstehen, um an ein Produkt weiter oben im Regal zu kommen, müssen mit behindertenfeindlichen Kommentaren à la „Betrüger_in“ rechnen. Außerdem wird ständig gemutmaßt, was die behinderte Person hätte anders machen können, damit es nicht zu einer Behinderung/Erkrankung kommt. Selbst bei nachweisbaren Krebserkrankungen wird Menschen die (Mit-)Schuld an ihrer Erkrankung gegeben und so ein schlechtes Gewissen erzeugt. Es werden hanebüchene ableistische Behauptungen aufgestellt: Sie hätten sich zu viel Stress gemacht (als könne sich das jede_r aussuchen!), sich ungesund ernährt, mangelnde seelische oder spirituelle „Hygiene“ betrieben. Es gibt in der Regel nichts, was Nichtbehinderte nicht sagen würden. Ich habe sowohl für Körperlich-Chronisches als auch für Seelisch-Chronisches oft dieselben Tipps bekommen: Yoga, Ernährung, Sport, Gymnastik und die Reise zur Sonne antreten. Yoga ist schön und gut bei Kompatibilität, aber auch ein trauriger running gag, den Menschen mit unterschiedlichsten Be_Hinderungen sehr häufig zu hören bekommen. Dennoch verweist diese Einteilung in sichtbar und unsichtbar zumindest darauf, wie die am Visuellen orientierte Gesellschaft vorgibt wenigstens zu glauben, was sie sieht. Aber wenn sie es sehen kann und es nicht passt, wird auch das angezweifelt oder geleugnet.

Geht es nur darum nette Worte und einen netten Umgang zu etablieren? Nein. Auch nett Gemeintes kann diskriminieren, wenn die Perspektive eine herablassende und nicht durch Betroffene informierte ist.

@autistichoya schrieb einen Blogpost18 über den Ausdruck “differently abled“, was so viel heißen soll wie „anders begabt/befähigt“, und darüber, wie sehr dieser Ausdruck und seine Verwandten diskriminieren. Auch “challenged“ („herausgefordert“) funktioniert nicht, weil sowieso alle Menschen unterschiedliche Fähigkeiten in unterschiedlichem Ausmaß besitzen. Ich habe keine speziellen oder magischen Fähigkeiten als Ausgleich für die eingeschränkten oder abwesenden, die wesenhaft für meine Be_Hinderung wären.

Warum sollen meine Bedürfnisse/mein Bedarf “special needs“ („besondere Bedürfnisse“) genannt werden, wenn ich bloß partizipieren und teilhaben will, und Dinge brauche, die das ermöglichen? Behindertenrechte sind Grundrechte und Menschenrechte!

„Sind wir nicht alle ein bisschen be_hindert?“ Klare Antwort: Nein. Denn nicht alle erleben be_hindert werden als länger andauernden, intensiven, alltäglichen, ausgrenzenden Zustand und die daraus resultierende Diskriminierung auf einer täglichen und strukturellen Basis. Auch wenn Nichtbehinderte den Hauch einer Ahnung bekommen können, zum Beispiel in Zeiten vorübergehender Krankheit und beim drohenden Verlust des Arbeitsplatzes bei zu langem Ausfall. Was Be_Hinderung aber ausmacht, ist die gemeinsame soziale und politische Erfahrung und die Zentrierung genau dieser.

Ebenfalls sehr verbreitet ist die Auffassung von Nichtbehinderten, dass eins sich nicht auf seine Be_Hinderung reduzieren lassen soll. Eins sei doch mehr als die Be_Hinderung. Deshalb heiße es „richtig“: Mensch mit Behinderung und nicht: be_hindert. Selbst Organisationen für Behinderte benutzen diese “person first language“ (Person zuerst nennende Sprache) und kümmern sich wenig darum, dass viele be_hinderte Aktivist_innen dis_abled, also be_hindert als label vorziehen. Natürlich reduzieren wir uns nicht mit der “identity first language“ (Identität zuerst nennende Sprache) nur auf die Be_Hinderung. Dass Außenstehende das annehmen, spricht Bände über ihre Sicht auf Be_Hinderung als etwas Negatives. Ich bin kein Mensch mal mit Be_Hinderung und mal ohne. Ich kann nicht von ihr Pause machen und natürlich beeinflusst sie mich, aber vor allem beeinflusst mich, wie mit dem Umstand, dass ich be_hindert bin und werde, umgegangen wird. Die Be_Hinderung ist nicht alles, was ich bin. Das weiß ich auch ohne Belehrung besser als jede_r Andere. Aber sie ist ein zugleich äußerst intimer UND politischer Aspekt meiner Identität.

Auch „gesunde“ Menschen werden nicht unwesentlich von Ableismus geprägt. Sie machen von klein auf Erfahrungen damit in der Leistungs-, Verwertungsund Nützlichkeitsgesellschaft. Ableismus ist in den Werten und Praktiken der Gesellschaft allgegenwärtig und daher kaum wahrnehmbar. Die Matrix halt. Ableismus und seine Werte werden von Kindheit an durch Familie, Institutionen, Gruppen und Medien vermittelt.

Bedürfnissen be_hinderter Menschen nachzukommen wird mit Bevorzugung (oder „Extrawurst“) verwechselt.

„Wir können für Dich keine Ausnahmen machen, das würde Dir Vorteileverschaffen und wäre nicht fair gegenüber anderen (=gesunden).“1919

Dass die awareness („Aufmerksamkeit/Sensibilisierung“) für Ableismus so gering ist, auch in emanzipatorischen Gruppen, hat mich zum disability Aktivismus geführt, denn ich brauche die Veränderung dieser Gesellschaft ganz dringend.

#CN #Eugenik #NS-Zeit

Warum Antiableismus wichtig ist, erschließt sich mir schon bei der Geschichte dieses Landes. 70.000 Menschen mit Behinderung starben durch die Ideologie des Nationalsozialismus. Oft wird von Euthanasie gesprochen, obwohl es sich hierbei um unfreiwillige Tode handelte. Eugenik ist sozusagen die zugespitzteste Form von Ableismus, indem sie Leben in lebenswerte und „minderwertige/lebensunwerte“ Leben unterteilt und sich zur Vernichtung von „minderwertigen“ Leben berechtigt sieht.

Während der NS-Zeit gab es dieses Poster20, das eine behinderte Person zeigt und diese als reinen Kostenfaktor darstellt. „60.000 Reichsmark“ prangt groß und deutlich neben der abgebildeten Person. Die Botschaft war klar: Be_hinderte Individuen belasten die gesamte Gesellschaft. Wenn ich an dieses Poster denke, das eine Person nur als Kostenfaktor darstellt, wird mir klar, dass die Aussage: „Für so jemenschen zahle ich doch keine Steuern!“ nicht wirklich harmlos ist, wenn es um Steuern/Beiträge nach dem Solidaritätsprinzip geht. Der erste behinderte Mensch, der von den Nazis innerhalb des T4-Programms ermordet wurde, erhielt die Diagnose „Idiotie“. Warum Wörter wie „dumm“ und „Idiot“ keine Bagatellen sind und wie verheerend das Gleichsetzen von Intelligenz mit

„ein guter/erleuchteter/aufgeklärter Mensch sein“ ist, ist Gegenstand vieler Überlegungen meines Aktivismus. Ergebnisse dazu erwähne ich im dritten Teil. Auch auf ein Hassverbrechen der jüngsten Zeit gegen behinderte Menschen in Sagamihara werde ich im letzten Teil noch zurückkommen.

Der Abbau von Sozialleistungen hat in Großbritannien in den letzten Jahren vielen chronisch kranken und be_hinderten Menschen das Leben gekostet, sei es durch den Wegfall von medizinischer Versorgung oder der Unterkunft. Tatsächlich sind Menschen infolge dessen an Hunger oder an der daraus resultierenden Verzweiflung über die Erschwerung des Überlebens gestorben, weil diese zu Suiziden führte.

In Norwegen fand in den Nullerjahren eine Veränderung der Arbeitslosenbetreuung statt, ganz ähnlich dem Modell von Hartz IV. Hartz IV ist wiederum angelehnt an die Jobcenter-Modelle Großbritanniens der 90er Jahre. Es gibt sie also nicht wirklich, diese letzte Bastion des angeblichen Wohlfahrtsstaates. Lange Zeit galt Skandinavien als positives Beispiel für eine andere Sozialpolitik in neoliberalen Zeiten. Es wird also deutlich, dass der Abbau sozialer Leistungen nicht nur ein nationales Problem ist. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass Menschen sterben, wenn sie nicht als Leistungsberechtigte anerkannt werden. Als Leistungsberechtigte_r anerkannt zu werden wird mehr und mehr erschwert. Die Gesellschaft entsolidarisiert sich parallel zunehmend.

Ein Beispiel für eine solche Entsolidarisierung ist in den USA die Diskussion in der Bevölkerung um Obamacare/ ACA (affordable care act, was sich mit Gesetz für erschwingliche Gesundheitsversorgung übersetzen lässt)nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten. Plötzlichwar es debattierbar, ob die „Gesunden“ für die Kranken die Gesundheitsleistungen mitfinanzieren sollten. Völlig außer Acht lassend, dass Krankheit und Behinderung jede_n treffen können. Tagespolitik hat auch hier großen Einfluss darauf, was sagbar und denkbar wird.

In Deutschland ist es zum Beispiel das Bundesteilhabegesetz, das viele Errungenschaften, wie zum Beispiel „ambulant geht vor stationär“, vermindert hat. Konkret heißt das, dass selbstständig in einer eigenen Wohnung und mit Assistenz zu leben unter Umständen als zu großer Kostenfaktor gesehen werden kann, falls es nach bestehendem Sozialrecht als unangemessen beschieden wird, also falls es kostenaufwändiger als ein Heimplatz ist. Für viele Hilfen muss eins in fünf von neun Lebensbereichen eingeschränkt sein. Die Messlatte, die entscheidet, wer der Hilfe bedarf, hängt somit enorm hoch. Menschen, die Hilfen zur Kommunikation benötigen, sollen diese nur zu besonderen Anlässen gewährt bekommen. Es sondert also wieder die prekärer lebenden be_hinderten Menschen mit kostenaufwändigerem Bedarf aus. Dass be_hinderte Menschen zusammen in einem Wohnheim untergebracht werden, welches freundlicherweise in einem Wohngebiet liegt, wird als Fortschritt dargestellt.2121Dabei geht es in erster Linie um den Kostenfaktor der Assistenz und in Wohnheimen werden Assistenzen und Leistungen „gepoolt“. Das heißt, dass eine Assistenz in einem Wohnheim mehr Menschen betreut, als bei der Betreuung einer be_hinderten Person in den eigenen vier Wänden außerhalb eines Wohnheims.

#CN_Sanism

Psychische Erkrankungen und sogenannte „psychische Störungen“ werden besonders häufig diskriminierend in den Medien dargestellt. Nachdem ein Pilot von der Fluggesellschaft German Wings angeblich eine Passagiermaschine mit Absicht hat abstürzen lassen und herauskam, dass dieser Pilot an Depressionen litt, wurde eine Berufsverbotsdiskussion22 für chronisch Depressive in verantwortungsvollen Positionen laut. Als wenn nicht täglich Menschen, die an Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen leiden, in Job und Umfeld große Verantwortung übernehmen würden.

Nach sogenannten Amokläufen meist weißer Männer wird schnell nach einer psychischen Erkrankung und Ähnlichem als Auslöser gesucht. Da kann jemensch vorher ellenlange hasserfüllte politische Pamphlete ins Internet gestellt haben, plötzlich ist die Person, ohne vorher jemals diagnostiziert worden zu sein, angeblich „geisteskrank“, „persönlichkeitsgestört“ oder, auch sehr beliebt: „autistisch“. Für Betroffene der disability community (Gemeinschaft) ist es immer sehr furchtbar, wenn eine solche Tat passiert und wenn bei der darauffolgenden Berichterstattung auf diese ableistischen Tropen (Sprachfiguren)zurückgegriffen wird. Obendrein wird vernachlässigt, dass be_hinderte/neuroatypische Menschen ein viel größeres Risiko haben Gewalt zu erfahren als nichtbehinderte/ neurotypische Personen. Einem noch höheren Risiko, Gewalt zu erfahren, sind dis_ableisierte Personen of Color ausgesetzt, für die eine Konfrontation mit der Polizei viel häufiger tödlich ausgeht. Was dann bei solchen Ereignissen im Netz los ist, schildere ich im dritten Teil.

#CN #Rassismus #Ableismus

Rassismus enthält unweigerlich Ableismus als festen Bestandteil. Es geht dabei um Zuschreibungen an Körper, die in abwertender Weise als „das Andere“ konstruiert werden. Während der Kolonialzeit waren die Kolonialisator_innen scheinbar zutiefst davon überzeugt, dass die als „ganz anders“ konstruierten Menschen nicht so arbeitsam, zivilisiert oder für Hochgeistiges befähigt sein könnten wie sie selbst. Manche_r sprach ihnen den Besitz einer Seele ab. Auch die widerlegte „Rassentheorie“ ging von solchen genetischen Unterschieden aus, die die behauptete Minderwertigkeit anderer belegen sollten. Körper, Physiognomie und Schädel wurden vermessen. Aus den Ergebnissen wurden Werturteile abgeleitet. Dies geschah auch mit den Körpern jüdischer Menschen, um Antisemitismus eine pseudowissenschaftliche Grundlage zu verleihen.

Oft erklären wir uns die extremen Taten der Vergangenheit mit: „Damals dachten viele Menschen einfach so.“ Als sei eine bestimmte Art zu denken ein Zufall oder eine Vorgabe, der nicht zu entgehen sei. Das erklärt aber nicht, warum ein paar Wenige im Stande waren anders zu denken. Auch das Ergebnis eines solchen default23 Denkens, Profit und Vormachtstellung, ist wohl kaum zufällig. Eine Ideologie wie Rassismus dient dem Machterhalt und der Stärkung des weißen Ichs, dessen Eigenschaften aufgewertet werden. Die Eigenschaften der Gruppe, die geandert (othered) wird, werden zu diesem Zweck als das binäre Gegenstück abgewertet.24 Viele dieser Stereotype wirken bis heute und stützen die Unterdrückungsstruktur namens Rassismus. Kultureller Rassismus25verdeckt oft den Ursprung von Rassismus in biologistischen Theorien. Es wird heute mehr von Prägung durch Sitten und Gebräuche gesprochen und diese werden dann genauso essentialisiert, das heißt für wesenhaft erklärt, wie zuvor die biologistischen Zuschreibungen an Körper.26

Ein Buch wie “The Bell Curve“, das Armut als Folge von Genetik und Milieu erklärt und einen „Zusammenhang“ zwischen „geringem IQ“ und race konstruiert, macht deutlich, wie eng Klassismus, Ableismus und Rassismus miteinander verwoben sind. Das Buch hat eigentlich nichts Anderes getan, als Benachteiligung als etwas „Natürliches“ zu erklären, ganz oldschool (althergebracht) Sozialdarwinismus. Dabei erschien es erst 1994 und die Wirkung von sozialdarwinistischen/eugenischen Thesen sollte nie unterschätzt werden. Strukturelle Unterdrückung wird hingegen von Unbetroffenen oft nicht als Ursache von Benachteiligung gedacht. Beim antiblack Rassismus wird sich die Schwarze Person als Bedrohung/ungestüme/unverletzbare Kraft vorgestellt. So hat der Polizist Darren Wilson, der den Schwarzen Jugendlichen Mike Brown erschossen hat, behauptet, Mike Brown sei ihm wie „ein großer Dämon“ erschienen. Dabei ließ der weiße Polizist außer Acht, dass er genauso groß ist wie sein Opfer und sogar eine ähnliche Statur besitzt.

Wie kommt es zu dieser Umkehrung des Faktes von „wer wen bedroht“ und von wem die Gefahr ausgeht? Ist es ein Zufall, dass die Nachfahr_ innen derer, die andere Länder kolonisiert/besiedelt haben, die Menschen versklavt haben und noch heute von dem Reichtum und der Ungleichheit der Kolonisation profitieren, Angst haben davor, Menschen könnten sich zurücknehmen, was ihnen gehört? Grada Kilomba, eine Schwarze interdisziplinäre Theoretikerin und Künstlerin, würde das vermutlich mit „Nein“ beantworten. In „Plantation Memories“ beschreibt sie, wie weiße Menschen Verantwortung für koloniale Vergangenheit, Sklaverei und deren Folgen (unbewusst) verdrängen oder (bewusst) leugnen. Die eigenen negativen Anteile und negativen Taten (weißer Menschen) werden auf Schwarze Personen projiziert. Klassiker in dieser Richtung sind: „Die wollen nur unser Geld/unsere Frauen.“ Auch die Dämonisierung von Mike Brown durch Darren Wilson ist eine entmenschlichende Umkehr der Macht-und Gewaltverhältnisse: Die Angst vorm „Anderen“, die versuchte Rückkehr des Verdrängten, ein Abwehren der Schuld und der Verantwortung für Ungleichheit und Entmenschlichung durch Rassismus. Grada Kilomba beschreibt diesen Mechanismus folgendermaßen:

„Innerhalb von Rassismus wird Leugnung benutzt, um gewaltvolle, rassifizierte Strukturen aufrecht zu erhalten und zu legitimieren. ‚Sie wollen nehmen, was uns gehört, und müssen daher kontrolliert werden.‘ Die erste und ursprüngliche Information – ‚Wir nehmen uns, was ihnen gehört.‘wird geleugnet und auf den‚Anderen‘ projiziert –‚Sie nehmen, was uns gehört‘ – dieser‚Andere‘ wird zu dem, von dem das weiße Subjekt nichts wissen will. Während das Schwarze Subjekt in einen feindlichen Eindringling verwandelt wird, wird das weiße Subjekt zum mitfühlenswerten Opfer, das gezwungen ist zu kontrollieren. Mit anderen Worten: Di_er Unterdrücker_in wird zu_r_m Unterdrückten unddi_er Unterdrückte zu_r_m Tyrann_in.“27

Auf das Buch “Plantation Memories“ bin ich durch di*en disableisierte*n queere*n Schwarze*n Aktivist*in @hrmpfm aufmerksam geworden. Dank an dieser Stelle für auf twitter geteilte Leseempfehlungen und das Teilen gelebter Erfahrung.

Was deutliche Ungleichbehandlung von Schwarzen/Indigenen/Personen of Color angeht, schauen weiße Menschen in Europa meist anderswohin, das gilt als Problem der USA in der Vergangenheit und Gegenwart. Und bestimmte Länder hatten eine bekanntere koloniale Vergangenheit, auf die weiße Menschen hierzulande verweisen. Über die deutsche koloniale Vergangenheit lernte ich gar nichts in der Schule. Nur über kolonialen Handel, als sei dieser nur ein weiteres Geschäftsmodell gewesen, nichts sonst. Es wurden Güter und Körper getauscht. Körper, denen die Menschlichkeit abgesprochen wurde und die nur als Arbeitskraft einen Wert zugesprochen bekamen. An der Uni, auf einer Konferenz mit etlichen panels (Diskussionsgruppen) und durch einen Roman erfuhr ich erst etwas über den Völkermord an den Herero und Nama in „Südwestafrika“, dem heutigen Namibia, durch die Deutschen.

Uwe Timm nahm sich der hierzulande wenig präsenten deutschen Kolonialgeschichte in Namibia in seinem Roman„Morenga“ an. Der Roman verknüpft Dokumente der Zeit, die die rassistische Ideologie offenlegen, mit Fiktion. Ein paar seiner Figuren beginnen diese Ideologie zu hinterfragen, ohne dabei zu Helden zu werden, denn bloß abweichende Meinungen zu haben, ohne zu handeln, ändert wenig. Durch den Roman wurden viele Leser_innen zum ersten Mal mit dem von Deutschen begangenen Völkermord an den Nama und Herero konfrontiert. Viele Nama und Herero verhungerten oder starben an Erschöpfung und Krankheiten in Arbeitslagern. Oder sie starben im Kampf gegen die Unterdrücker_innen. Es ist ein immenses Versäumnis, dass wir darüber nichts in der Schule lernen. Kolonialgeschichte wird oft nur allgemein dargestellt und als sehr geschäftsmäßig, wie eine rein logistische Unternehmung. Die ISD (Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland) macht immer wieder auf die fehlenden Reparationen gegenüber Nama und Herero in Namibia aufmerksam.28

Die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit wird institutionell und offiziell vielleicht nicht gerade auf dem Tablett serviert, aber es gibt dennoch viele Zugänge, wenn es an offizieller Erinnerungskultur fehlt: Literatur, Kunst und Filme.

Nichts dergleichen ersetzt von Rassismus Betroffenen zuzuhören, soziale Medien sind dafür ein möglicher Ort. An dieser Stelle will ich intersektionalen disability Aktivist_innen danken: @hrmpfm, @Mali_2, @ vertigoxoxo und @xOuryx schreiben auf Twitter unter anderem über gelebte Erfahrungen mit Rassismus und Ableismus und analysieren diese. Sie weisen kritisch darauf hin, was es zu ent_lernen gilt. Ich bin sehr dankbar und froh über das Interview, dass ich mit der Schwarzen queeren Schriftsteller*in SchwarzRund über die Verwobenheiten von Rassismus, Ableismus und anderen Unterdrückungsformen sowie über Aktivismus „und“ Kunst führen durfte. Ein weiterer Zugang ist die Beschäftigung mit post-colonial theory und critical race studies, in denen die Schwarzen Theoretiker_innen/Theoretiker_innen of Color zugleich auch die Akteur_ innen sind. Bei Literatur, Kunst und Filmen wiederum ist der Vorteil, dass sie Menschen mit unterschiedlichem Wissenshintergrund erreichen und Gedanken anstoßen können. Ein paar meiner Quellen (Bücher/Filme/Kunst von Schwarzen Personen/Personen of Color) erwähne ich ausführlicher in der Fußnote.29

Mein Wissen über eine Betroffenheit, die nicht meine eigene ist, ist nicht „mein“ Wissen, sondern mir vermitteltes Wissen und basiert somit auf der Arbeit anderer. Die Perspektiven Betroffener sind die notwendigen und entscheidenden. Weiße Menschen müssen ihre Verstrickung in die Unterdrückung von durch Rassismus Betroffene und das Profitieren von dieser Unterdrückung begreifen. Ein Kampf gegen Ableismus ohne Kampf gegen Rassismus ist nutzlos.

Sehr disempowernd ist die Darstellung be_hinderter Menschen in den Medien im Allgemeinen. Nebensächlich ist das nicht, denn wie in den genannten Beispielen nachvollziehbar wird, strukturiert Repräsentation unsere Wahrnehmung der Realität. Im dritten Teil werde ich das Thema mediale Repräsentation ausführlicher behandeln.

#CN #Fettenfeindlichkei

Viele werden bei dem Wort Dicken-/Fettenfeindlichkeit stutzen und denken, es gehe bloß um Schönheitsideale, eins solle sich doch nichts daraus machen. Dicke Menschen werden aber permanent policed (überwacht/bewertet). Es wird kommentiert, was und wie viel sie essen und was für Kleidung sie tragen. Es wird vermutet, sie lebten nicht gesund. Diese Pathologisierung ist eine Form von Ableismus. Im Gesundheitssystem kann sie sogar zu Fehlbehandlung, beziehungsweise Vernachlässigung führen, weil viele Erkrankungen auf einen konstruierten Zusammenhang zwischen Gewicht und Ernährung geschoben werden, ohne noch weiter bis ins Detail zu prüfen. Auch ist ein Zusammenhang zwischen mehr als „Durchschnittsgewicht“ wiegen und Krankheit nicht gegeben. Ich meine, es gibt auch dünne Menschen, die nicht gesund sind. Wie stark Menschen, die dick sind, diskriminiert werden, war mir vor dem Netzaktivismus nicht klar. Ich habe in Wien bei einem fatpositiven Vortrag, den @nightlibrarian 2015 beim FemCampWien hielt, begriffen, wie umfassend diskriminierend auch Fettenfeindlichkeit ist. Zu diesem Thema bietet Magda Albrecht den sehr guten Vortrag „Mein Fett ist politisch!“ an.30

Eine lange Zeit herrschte das Sprechen über Be_hinderte vor. „Nichts über uns ohne uns“ war erst in jüngerer Geschichte eine Reaktion darauf. Als positiv galten bis dahin Narrative, die von der Überwindung der Behinderung Zeugnis ablegten. Die folgende Abbildung zeigt ein kleines Kind, das den Rollstuhl verlässt und sagt: „Schaut, ich kann wieder laufen.“ Dieses Poster sollte dem March of Dimes zu Aufmerksamkeit verhelfen, eine karitative Aktion ganz typisch für die Zeit. Es wurde also Geld gesammelt für das Gesunden und die Heilung von Menschen, nicht aber für Hilfsmittel, die ein Leben mit Behinderung oder chronischer Krankheit erleichtert hätten. Auch das ist “inspiration porn“, der dazu dient, dass sich nicht mit der unbequemen Realität be_hinderter und chronischkranker Menschen auseinandergesetzt werden muss.

„Schaut, ich kann wieder laufen“31

An dieser Stelle sollte eigentlich ein fantastisches Foto des US-amerikanischen Models Aimee Mullins abgebildet sein, welches ich zum ersten Mal in einem Disability Studies Reader erblickte. Das Foto zeigt eine andere Form der (Selbst-)Repräsentation von Behinderung, nämlichvon Behinderung als integralem Teil der Person. Diese Darstellung weckt in mir Assoziationen bezüglich crip future. Da die Bildrechte leider unbezahlbar sind, werde ich es kurz beschreiben. Mir begegnete das Foto in der Schwarz-Weiß-Version zuerst, in der es seltsamerweise viel futuristischer anmutet als im Original. Aimee Mulllins ist eine normschöne Person, deren blondes Haar etwas gewellt und toupiert wurde. Sie trägt ein Oberteil mit Puffärmeln und hat ein Reifrock-Gestänge an, über das kein Rock gestreift wurde. So schimmern durch die einzelnen Reifen ihre Beine durch, welche vom Knie abwärts von prothetischen, kosmetischen Beinen aus Silikon verlängert werden. Die Hände und Arme sind etwas erhoben, Aimee scheint zu schweben. Die ganze Szene mutet cyborgisch an. Die prothetischen, kosmetischen Beine stehen in keinem Gegensatz zur Schönheit. Alles ist eine Einheit. Die Be_Hinderung nicht zu kaschieren ist etwas Seltenes im fashion shoot (bei Modeaufnahmen), weil Be_Hinderung oft als Makel wahrgenommen wird. Hier ist Be_Hinderung Teil des Gesamtkunstwerks, das dieses Foto darstellt. Aimee Mullins, die an die zwölf Paar Beine besitzt, auch Sprints bei den Paralympics gewonnen hat und in Filmen als Schauspielerin mitgewirkt hat, ist sicher nicht repräsentativ für alle be_ hinderten Menschen und ohne Zweifel werden ihre Erfolge auch teils dazu benutzt, anderen be_hinderten Menschen Schuld am eigenen ausgegrenzt sein und Nichterfolg zu geben. Dennoch, dieses Bild hat sehr viel Potential, die Vorstellungskraft anzuregen, wie eine crip future aussehen könnte, in der es nicht mehr Wenigen vorbehalten wäre, über die besten Hilfsmittel und Ent_Hinderungen zu verfügen und in der Funktionalität und Ästhetik vereint und kein Widerspruchsind. Eine crip future, in der die Coolness dieser Hilfen, die temporär oder dauerhaft integraler Teil unseres Körpers sind, offenbar ist, in der es keine Aufspaltung in „künstlich“ und „natürlich“ gibt, denn für viele be_hinderte Menschen bildet beides längst ein Ganzes.32

Das letzte Foto in diesem Kapitel zeigt die„liebesdefizitäre Frau“.33

Die Frage ist ja, warum sich der Feminismus und auch der Queerfeminismus so schwer mit Antiableismus und einer Kritik an Ableismus tun. Meine These dazu ist, dass die meisten Frauen und Weiblichkeiten alles taten nie wieder als Schwache und „Minderwertige“ wahrgenommen zu werden. Frauen galten als schwach, irrational und nicht zu Höherem befähigt. Die Herleitung für die Ursache von Hysterie war ziemlich absurd. Nicht etwa die Hinderung am selbstbestimmten Leben führte zur Hysterie, sondern Mediziner glaubten anfangs, die Wanderung des Uterus dafür verantwortlich machen zu können. Freud ist ein Schüler des Pathologen und Neurologen Jean-Martin Charcot gewesen. Charcot versuchte anhand von Hypnose der Hysterie auf den Grund zu gehen und hatte einen enormen Einfluss auf die Psychoanalyse, obwohl seine Methoden Hysterie zu ergründen fragwürdig waren und seine Forschung zu diesem Gegenstand in Frage gestellt wurden, gab er den Anstoß nach Ursachen dieser emotionalen und seelischen Erregung zu suchen. Freud brachte Hysterie, Kindheit und Neurosen in einen Zusammenhang. Auffällig ist in jedem Fall die Zuschreibung dieser Störung an das„weibliche Geschlecht“, die leider auch bis heute noch verbreitet ist, obwohl die Störung nicht mehr als Hysterie bezeichnet wird, sondern als histrionisch. Freud und Breuer kamen gemeinsam zu dem Schluss, dass nicht nur Frauen „hysterisch“ sein können.

Um sich gegen diese Pathologisierung zu wehren, grenzten sich vor allem weiße Feminist_innen „der ersten Stunde“ von allen„Schwachen“, die vermeintlich zu Recht vom politischen Leben ausgeschlossen waren, ab. Auf der National Women Suffragette Convention protestierte Elizabeth Cady Stanton, Suffragette ihres Zeichens, dagegen, in einen Topf mit „Minderjährigen, Schmarotzern, Verrückten, Verrätern und Idioten“ geworfen und vom politischen Leben ausgeschlossen zu werden.34

In dem Film“Suffragettes“ wird die Geschichte der„Frauenbewegung“, des Feminismus und der Emanzipation„weiß gewaschen“ dargestellt. Hat es etwa keine Suffragetten of Color/ Schwarze Suffragetten gegeben? Doch, hatte es.35 Waren die Schwarzen Frauen, die für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft haben, etwa keine Frauen? “Ain’t I a women“ fragte Sojourner Truth die Anwesenden der Womens Convention in Akron, Ohio, im Jahre 1851. Der shitstorm,36den die Promotion für den Film “Suffragettes“ erntete, war mehr als gerechtfertigt, denn die weißen Schauspielerinnen in den Hauptrollen trugen bei einem shooting T-Shirts mit folgendem slogan von Emmeline Pankhurst, die im Film von Meryl Streep verkörpert wird: “I’d rather be a rebel than a slave.“, also: „Ich bin lieber ein_e Rebell_in als ein_e Sklav_in.“ Das setzt Sklav_in sein mit mangelndem Mut sich zu befreien gleich, wenn es als Gegensatz zu Rebell_in konstruiert wird. Als wäre es eine Wahl gewesen, Sklav_in zu sein, als hätte es nicht ein sehr machtvolles, gewaltvolles System gegeben, dass auch weißen Frauen mit aufrechterhielten. Und womöglich verstehen Schwarze Frauen, die sowohl für die Abschaffung der Sklaverei als auch für Frauenrechte gekämpft haben, etwas mehr von Emanzipation, als die weißen Personen, die Frauen of Color und Schwarzen Frauen nur in ihren Rettungsphantasien einen Platz geben.

Diese „Wir sind nicht so wie die!“-Narrative sind nie ganz aus dem Feminismus verschwunden. Leider werden so sehr viele Gruppen und ihre „Beiträge“ zum Feminismus unsichtbar gemacht.37

Pathologisierung erleben auch bis heute homosexuelle Menschen. Homosexualität wurde lange als Krankheit bezeichnet. „Feminität“ (was als solche empfunden wird38) wird auch hier bei abweichendem Verhalten von Geschlechterrollen und beim Abweichen von Heteronormativität besonders geahndet.

Trans Personen müssen noch immer ein Procedere der Pathologisierung über sich ergehen lassen, um ihren Personenstand zu ändern, was nur nach etlichen Gutachten möglich ist. Dabei dienen grenzüberschreitende Fragen der Erörterung, ob eine sogenannte Störung der Sexualität, „Transsexualität“, vorliegt. Der Leidensdruck, den die trans Person verspürt, wird auf die „Störung“ und nicht auf das Leiden unter Diskriminierung in der Gesellschaft zurückgeführt. Biologistischer cisSexismus ist nicht einmal im Queerfeminismus abwesend.

Intergeschlechtliche Menschen werden ebenfalls, weil sie den biologistischen zweigeschlechtlichen Kategorien nicht entsprechen, gewaltvoll behandelt. Operationen an intergeschlechtlichen Kindern sind die Regel, obwohl von diesen kein Konsens eingeholt wird, bzw. kein Konsens eingeholt werden kann, da diese Eingriffe oft im Säuglingsalter vollzogen werden.

TEIL II

HOW I MET ABLEISM AND IT NEVER LEFT ME

Ein Bericht darüber, wie Ableismus sich durch mein ganzes Leben zieht

Ableismus begleitet uns vom allerersten Lebenstag an. Wir werden gewogen und gemessen, für normal oder abweichend befunden. Einer der häufigsten Sätze werdender Eltern ist: „Hauptsache gesund!“ Unsere Entwicklungsschritte werden dokumentiert, es wird dabei geprüft, ob wir uns altersgemäß verhalten und entwickeln. Eltern sind meist stolz, wenn ihr Kind früh laufen und sprechen kann. Ein krankes Kind scheint für viele eine Tragödie zu sein. Anstatt: „Hauptsache gesund!“, wird selten: „Hauptsache eine möglichst schöne Kindheit“ gewünscht. Eine schöne Kindheit, ein lebenswertes Leben, Perspektiven haben, scheint für viele Menschen nicht assoziierbar mit einem kranken/be_hinderten Kind.

Folgende Tropen (Sprachfiguren) begegnen dem kranken, behinderten Individuum in der Kindheit:

das bedauernswerte Kind vs. das besondere Kind (tapfer/“inspiration porn“)

Person ohne Zukunft vs. Beispiel dafür, was mensch erreichen kann

Last für das Umfeld/ Schwäche vs. Aufmerksamkeit heischend

Stärke durch die angebliche Herausforderung vs. besonders feinfühlig für die Bedürfnisse anderer

Wird ein krankes/be_hindertes Kind in eine Familie hineingeboren, oder tritt eine Be_Hinderung später ein, kommt es oft zu bestimmten Dynamiken. Die Rivalität zwischen Geschwistern um Aufmerksamkeit kann sich verstärken. Gaslighting durch die Erwachsenen ist ebenfalls keine Seltenheit. Das kann sich in etwa wie folgt äußern: „Ich leide so sehr, weil du leidest/ich mich einschränken muss. Ich habe kein Leben mehr etc.“

Was nun folgt, ist eine Stelle aus einem Kapitel meines unveröffentlichten Romans.

Mit sechs Jahren beschloss ich von zu Hause auszuziehen. Nicht wie andere Kinder, die auf dem elterlichen Grundstück blieben, sich in einem Baumhaus einrichteten, die in einem Zelt oder in einem Schuppen nächtigten, bis sie herzlichst oder unter Tränen wieder hineingebeten wurden. Und später lachte man gemeinsam drüber. Nein. Alleine leben erschien mir als echte Alternative.

Ich packte ein paar Dinge in einen winzigen Koffer, sicher ein Lieblingsbuch oder zwei und etwas Kleidung, ich sagte:

„Ich ziehe jetzt zu Papa!“

Wirklich zu ihm gewollt habe ich nicht. Ich wusste wohl, dass man nicht verschwindet ohne Angabe eines Zielortes, ich wollte einfach nur, dass man mich gehen ließ.