Ich bin - John A. Williams - E-Book

Ich bin E-Book

John A. Williams

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Beschreibung

Ein Klassiker der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Max Reddick, Autor und Journalist, hat sein Leben dem Kampf gegen Amerikas Segregation gewidmet. Unheilbar krank kehrt er nach Europa zurück, um eine alte Schuld zu begleichen und an der Beerdigung seines Freundes Harry teilzunehmen. Doch in Amsterdam findet er in dessen Nachlass brisante Dokumente über den »King Alfred«-Plan, der im Falle von Rassenunruhen Minderheiten beseitigen soll. Als er erfährt, dass Harry ermordet wurde, setzt Max alles daran, die Papiere in sichere Hände zu bringen. In einem vielschichtigen literarischen Porträt schildert John A. Williams eindrucksvoll die Bedrohung von Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft und wirft eine eindringliche Perspektive auf die Spannungen der 1960er und darüber hinaus. »Sechzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung nimmt uns dieser schockierende Roman mit auf eine überraschende Reise durch die Welt der Schwarzen, die zwar historisch ist, sich aber völlig lebendig, energiegeladen und aktuell anfühlt.« Bernardine Evaristo

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Seitenzahl: 730

Veröffentlichungsjahr: 2025

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John A. Williams

Ich bin

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Hans-Christian Oeser

Reclam

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

 

RECLAM Nr. 962444

2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

 

Copyright © 1967 by John A. Williams

Reprinted in the UK in 2024 by Fitzcarraldo Editions and in the USA by Library of America

 

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: © Hayden Verry / Arcangel.com

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2025

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962444-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011542-8

reclam.de | [email protected]

Inhalt

Widmung

I

1 Amsterdam

2 Amsterdam

3 Amsterdam

4 Amsterdam

5 New York

6 New York

7 New York

8 Auf dem Weg nach Leiden

9 New York

10 Italien

11 New York

12 New York

13 New York

II

14 Leiden

15 New York

16 New York

17 Leiden

18 New York – PARIS

19 FRANKREICH

20 PARIS – New York

21 New York

III

22 Leiden – Afrika – Amsterdam

23 New York

24 Washington, D. C.

25 Leiden – Lagos

26 Lagos – Kongo – Amsterdam

IV

27 Amsterdam

28 Leiden

29 New York – Leiden – Amsterdam

Zu dieser Ausgabe

Für Lori

I

1Amsterdam

Es war ein später Nachmittag Mitte Mai. Max Reddick saß in einem Café am Leidseplein und spielte mit seinem Pernod. Fabriken und Geschäfte waren dabei zu schließen, und von der Leidsestraat strömte der Verkehr um den Plein. Viele Leute fuhren Rad. Mit von mehrtägigem Alkohol-, Librium- und Morphiumkonsum getrübten Augen musterte Max anerkennend die Radfahrerinnen. Die Männer waren so durchschnittlich. Er verwarf sie im Nu. Ganz anders die Mädchen, stramme Waden, stramme Hintern. (Fast wie afrikanische Frauen, dachte Max.) Sie radelten an ihm vorbei, das Kinn hochgereckt, die Knie, ein weißes Blitzen oberhalb der Strümpfe, nur für Sekundenbruchteile verheißungsvoll. Und gerade wenn etwas zu sehen gewesen wäre, schnellte ein Knie in die Höhe und verstellte ihm die Sicht. Doch hin und wieder sah Max auch ein Mädchen, das keck in die Pedale trat und sich nicht darum kümmerte, ob ihre Knie den Anblick weiter oben versperrten oder nicht. Dann dachte er: Du machst es richtig, Baby!

Das Café war leer. Ein gutes Zeichen. Es bedeutete, dass die Leute, die Max in Amsterdam kannte, die Maler, Schriftsteller und Bildhauer, die Komponisten, Sänger und Tänzer, die für die Holländer das ganze Jahr hindurch den Zwarte Piet abgaben, die Jazzmusiker, hart arbeiteten. Sie würden erst später ausgehen und so lange Genever oder Bier trinken, bis sie betrunken wären und über ihre Arbeit reden oder mit jemandem ins Bett gehen wollten. Waren sie Mitglieder oder Ehrengäste, würden sie vielleicht die Sociëteit de Kring frequentieren, Vierball-Billard spielen und dabei frischen Hering essen. Es war die Zeit für frischen Hering, grünen Hering. Max blickte zum Himmel empor. Gott!, dachte er. Wie ein klarer Mittagshimmel in New York. Hier würde die Nacht nicht vor neun hereinbrechen, der Tag hingegen würde fast schon um drei Uhr morgens herbeigaloppieren. Er trank seinen Pernod aus, drehte sich nach dem Kellner um und hob gleichzeitig die Hand. Er spürte, wie etwas an ihm zusammengedrückt wurde, als er sich bewegte, und die Bedeutung dieser Empfindung teilte sich seiner Stimme mit. »Ober«, sagte er, dann noch lauter: »Ober!« Der Kellner, gekleidet in ein rotes Jackett, schwarze Krawatte und schwarze Hose, sah mit einem Lächeln auf. Ein neues Gesicht, ein neuer Amerikaner. Etwas älter als viele andere, noch dazu leicht kränklich aussehend! Maler, Schriftsteller, Bildhauer, Jazzmusiker, Tänzer …?

»Pernod«, sagte Max. Der Kellner nickte und ging zum Tresen. Max verspürte einen scharfen, stechenden Schmerz und umklammerte fest sein Glas. Tränen traten ihm in die Augen, und auf seiner Stirn bildete sich Schweiß. »Verdammt«, flüsterte er. Als der Schmerz nachließ, stand er auf und ging zur Herrentoilette.

Als er wieder herauskam, stellte er fest, dass der Pernod bereits auf seinem Tisch stand, und er sagte zum Kellner: »Dank u!« An diese Wendung erinnerte er sich, so wie an andere auf Französisch, Deutsch, Spanisch und Italienisch, auch wenn er in keiner der Sprachen einen ganzen Satz zustande brachte. Er setzte sich wieder hin und schaute auf seine Uhr. Wo blieb sie nur?

Im Laufe ihres höflichen Briefwechsels hatte sie ihm mitgeteilt, sie sei in die Galerie zurückgekehrt. Wenn das stimmte, musste sie jeden Moment am Café vorbeikommen, mit diesen weit ausholenden, federnden Schritten, ihrer sonderbaren Art zu gehen, war sie doch klein und nicht schlank, musste vorbeikommen mit ihrem über die Schultern wallenden Haar. Viele, viele Male hatte er sie so vorbeikommen sehen. Früher. Früher, als er im Innern des Cafés gesessen, Ausschau gehalten und ihr immer erst nachgerufen hatte, wenn sie schon fast außer Sichtweite war. »Mann, da hast du die Nerven verloren«, flüsterte er sich selbst zu. »Du hast es vergeigt!« Wenn er an sie dachte, musste er immer an die Grachten denken. Jetzt würden sie mit schmerzlicher Klarheit den prächtigen Himmel der Maler spiegeln. Kähne und Boote würden einlaufen, Enten und Schwäne bald zum Schlafen die Köpfe unter die Flügel stecken. Auch er musste bald schlafen; vielleicht würde es sein Leben verlängern. Um ein paar Tage.

Ach ja, dachte er, ihr holländischen Wichser. Ich bin zurück.»Ein holländisches Kriegsschiff, das uns zwanzig Neger verkauft hat«, schrieb John Rolfe.Nun, ihr alle,ich bringe mich selbst. Frei!Dreihundertfünfundvierzig Jahre nach Jamestown. Na … da schließt sich doch der Kreis.

Aus den Holländern machte er sich nicht viel, außer dass sie Holländerin war. Inzwischen war sie fünfunddreißig, vierzehn Jahre jünger als er. Ob sie immer noch so blond war? (Wie er diese robuste Blondheit anfangs gehasst hatte, nach dem unterernährten Schwarz Afrikas. Ihre Blondheit hatte so sehr der der schwedischen Blondinen geähnelt, Freaks, die von Jazzkonzerten lebten, von den schwarzen Musikern in ihren gestellten kühlen Posen; aber wie sehr hatte er sich von ihr auch angezogen gefühlt!) Liebte er sie noch – ihr wallendes blondes Haar; ihre stämmigen Schwimmerinnenbeine; ihre weit ausholenden, kräftigen Schritte, und all das bei einem so kleinen Körper? (Und all das? Was war all das? Eine Erinnerung. Neunzehn Jahre alt.) Er vermutete, dass er sie noch immer liebte, in anderer Form, ein bisschen ausgebleicht, auf eine klinische Art, so wie man es in der Praxis eines Analytikers erörtern würde. Eines Analysten. Anal, dachte er, Listen. Scheißlisten. Mann, auf denen steh ich so was von! Trotzdem wollte er ihr sagen, dass es ihm leidtat; ihr sagen, weshalb es nicht funktioniert hatte. Er war froh, dass er sich überhaupt noch auf den Beinen halten, sich bewegen konnte. Wäre er in New York im Krankenhaus geblieben, es wäre eingetreten: sein Sterben, und irgendwie hätte sie davon erfahren. Nein. Steh auf zwei Beinen und sag ihr, dass du sie mit jemandem verwechselt hast, der vor neunzehn Jahren passiert ist.

Kein Mitleid. Das wollte er nicht. Vielleicht wäre er, wäre er in New York geblieben, bereits draufgegangen und hätte sich in alle Winde verstreut, um über sie zu wachen und zu versuchen, sie zu trösten, wenn sie weinte. Sie würde weinen. Er hätte – du bist betrunken, sagte er sich und signalisierte dem Kellner, dass er noch ein Glas wollte.

Pernod hatte er zum ersten Mal in einer von Wanzen befallenen Wohnung im East Village getrunken, zwischen Weihnachten und Neujahr. Damals war das East Village einfach nur die East Side gewesen. Er hatte ihn pur getrunken und war über die Straße zu einer Party gegangen, auf der ein Maler mit einer Vorliebe für Teenager Porträts von Nashörnern ausstellte, zwischen deren Beine die Wörter MAU MAU gestickt waren. Soweit Max wusste, malte der Maler nach wie vor Nashörner, heiratete junge Mädchen oder drehte ihnen ein Kind an und verließ sie dann. Als man zuletzt von ihm gehört hatte, spielte er in einem Athener Nachtklub Trompetensolos – When the Saints, die einzige Nummer, die er kannte –, und die Griechen liebten ihn, weil er ein Schwarzer war und beim Trompetenblasen hüpfte und tanzte und sie an das Frühlingsfest erinnerte, wenn sie sich das Gesicht schwarz schminkten und betrunken durch die Straßen zogen. Es wurde nicht länger auf den Hügeln gevögelt, um Ēostre zu feiern. Inzwischen trieben es die Griechen im Bett, wie alle anderen auch, fast alle. Vielleicht hatte Max den Maler deshalb so lange gehasst, nicht weil dieser ein Wichtigtuer war, sondern weil er, als er in jener Nacht aus dem East Village nach Hause ging, das Gefühl hatte, eine stahlummantelte Kugel zwischen den Augen zu haben. Zu Hause hatte nach einer Weile das Telefon geklingelt. Es war das Mädchen, das dafür verantwortlich war, dass er sich in die Straßen geflüchtet und betrunken hatte. Doch nach dem Anruf war alles wieder in Ordnung. Pernod. Was konnte er mit Scotch assoziieren? Mit Bourbon? Gin? Cognac? Bier? Etwas gab es immer.

Wo bleibt sie nur? Er würde nur ungern zu ihr nach Hause gehen, aber wenn es sein müsste, würde er auch das tun. Vielleicht hätte er nicht kommen sollen. Vielleicht hätte er gleich wieder nach Orly fahren und ins New Yorker Krankenhaus zurückkehren sollen. Zumindest etwas Komfort. Aber jetzt war er nun einmal hier, und als er beschlossen hatte, mit dem Zug hierherzukommen, war er auch nicht betrunkener gewesen als sonst. Nachdem Harry Ames so plötzlich gestorben war, kamen nur drei Ziele in Betracht – ein anderer Bezirk von Paris, New York oder Amsterdam. Zum Teufel, er hatte doch ohnehin geplant, nach Amsterdam zu gehen. Wen wollte er jetzt noch belügen? Sich selbst? Es tat regelrecht weh, daran zu denken, wie der alte Harry gestorben war. Er hätte betrunken sein, irgendeiner Tusse Unfug ins Ohr flüstern, sie streicheln, sich an ihr reiben sollen. Immer hatte er gesagt, dass er so sterben wolle.

Dann glaubte er, sie zu sehen, und erhob sich halb von seinem Stuhl, aber es war jemand anders. Langsam setzte er sich wieder. Wie würde das Treffen überhaupt ablaufen? Nähern würde sie sich mit diesen Schritten, die sie noch kleiner erscheinen ließen, so groß waren sie. Er würde sie rufen. Sie würde stehen bleiben, denn seine Stimme wäre die vertrauteste aller Stimmen. Ungläubig würde sie auf den Tisch zugehen. Er würde nicht aufstehen, sondern einfach nur dasitzen und mit einem Lächeln im Gesicht auf einen Stuhl weisen. (Haha! Überraschung!) Er würde einen Drink in der Hand halten, vielleicht sogar den, den er jetzt in der Hand hielt.

Ihre Art zu gehen war nicht mehr dieselbe: Er verglich sie mit der, die er in Holland gesehen hatte, in Spanien, Frankreich, Puerto Rico, St. Thomas, Manhattan, East Hampton, Vermont, Mexiko … Inzwischen hatte sie etwas Trauriges. Doch noch immer klapperten die Absätze ihrer Schuhe auf dem Pflaster, noch immer war das Gesicht, das schmale Gesicht mit den hohen Wangenknochen, bereit zu einem Lächeln, dem hellen, lyrischen »Daaag!«. Und dieser weise Körper, der sich bei jeder Bewegung bog. Ihr Haar war dunkler, ja, wie Gold, das man zu lange im Freien gelassen hat.

»Margrit! [Lillian!] Margrit! [Lillian!] Margrit! [Lillian!]«, rief er, erhob sich pfeilschnell von seinem Stuhl – der Schmerz griff tief in sein Rektum – und hatte schon halb die Straße überquert, die ganze Zeit gegen den Drang ankämpfend, sich in den Arsch zu fassen, sein Innerstes nach außen zu kehren.

Und sie blieb stehen. Ihr Mund sprang auf. Ihre dunkelblauen Augen traten hervor. Mit scharfem Blick sah er, wie impulsiv sie auf ihn zugehen wollte, doch dann fing sie sich und winkte, zitternd wie ein Blatt in einer leichten, launischen Brise. Auch er blieb stehen, vor Schmerz und vor Unsicherheit; er hatte vergessen, was er sagen wollte. Doch kaum hatte er innegehalten, bewegte sie sich wieder. Kam auf ihn zu, das helle Gesicht bereit, sich noch weiter aufzuhellen, ihr Gang der alte, mit klappernden Absätzen, selbstbewusst. Er stand da und winkte zurück, erstaunt über seine mangelnde Gefasstheit, bestürzt über den Wasserfall der Liebe, den er für gestaut gehalten hatte.

»Mox, Mox, bist du’s?«, sagte sie.

Dieses gottverdammte breite A, dachte er, aber er sagte: »Ja.« Seine herabhängenden Arme zitterten. Sollte er sie ausbreiten und Margrit umarmen? Sollte er einfach nur dastehen und abwarten, um dahinzuwelken, sobald sie ihn umarmte? Signale. Als sie sich näherte, schoss ihre rechte Hand nach vorn, der Daumen grotesk in die Luft gereckt. Resigniert ergriff er sie, schüttelte sie sanft und legte seine linke Hand darauf. Er führte sie zum Tisch. »Bitte setz dich.« Es schmerzte ihn, ihren Körper zu betrachten. Sie trug einen blauen Pullover, der noch so groß hätte sein können, er hätte ihre Brüste zart und erregend zur Geltung gebracht; sie waren stets so weiß und weich gewesen, so verletzlich. Inzwischen waren ihre Hüften voller. Die Zeit verrichtet nun einmal ihr Werk. Und ihre Schwimmerinnenbeine mit den strammen Waden und den nicht gar zu dicken Fesseln ließen ihn noch immer danach gieren, sie zu streicheln, von unten bis …

Er schaute in Margrits klare blaue Augen. Mit der Hand wanderte er ihren Arm hinauf. Plötzlich wurden seine Augen feucht vor Erinnerung, und schon als er den Kopf drehte, um ein Hüsteln vorzutäuschen, wusste er, dass der Pernod dazu beigetragen hatte, die Tränen auszulösen. »Whiskey«, sagte Max zum Kellner, der sie beobachtete. Bring ihr was, schnell, dachte er, bevor sie anfängt, sich zu erinnern, und davonläuft. Sich an die schlimmen Dinge erinnert.

Doch an einige Dinge erinnerte sie sich bereits. Sie sah ihn geradewegs an, starren Auges, ohne Furcht, Reue oder Mitleid – ohne, verdammt noch mal, irgendwas, dachte er. Aber zum Teufel, er hatte es noch nie vermocht, ihre Blicke zu deuten, nicht ein einziges Mal, außer wenn sie weinte. Gott, mach mich nüchtern – nein, betrunkener. »… und noch einen Pernod«, rief er und befingerte überrascht das halb volle Glas, das er in der Hand hielt. Er holte tief Luft und kämpfte gegen den aufsteigenden Schmerz an. »Wie geht es dir?«, fragte er.

»Ganz gut, Mox. Und dir? Hallo.«

»Gut. Ganz gut. Hallo.«

»Wann bist du angekommen?«

»Heute. Vor ungefähr drei Stunden.«

»Geht’s dir gut?«

»Ging mir nie besser.« Er tätschelte ihre Hand.

»Du siehst krank aus.« Dem Kellner, der die Getränke vor sie stellte, lächelte sie dankbar zu.

»Nein. Bin nur müde. Bin mit dem Zug aus Paris gekommen.«

»Aus Paris? Harry ist gestorben, nicht wahr? Stand in De Arbeiderspers, Het Parool und einigen anderen Zeitungen. Warst du da?«

Max lächelte. Diese Europäer. Diese gottverdammten Europäer mit ihrem Zwarte Piet, ihren Schwarzen Madonnen und ihren Blackface-Feiern. Fünfhundert Jahre Schuldgefühle, die sich in so etwas wie eine unbestimmte Sorge um jeden Menschen mit schwarzer Hautfarbe verwandelt hatten. In Europa wurde Harry mehr geliebt – und gehasst, aber nicht mehr als zu Hause. Hier herrschte, wenn es um Harry Ames ging, eine Art Ausgewogenheit, die die New York Times, die Chicago Sun-Times und die »Skibbidum Times« nicht zustande brachten. Er sagte: »Bin etwas zu spät gekommen. An dem Tag wollten wir was trinken …«

»Ach, Mox, es muss furchtbar für dich gewesen sein.«

Er wurde wütend. »Zum Teufel, es war in Ordnung! Harry war mein Freund, wie ein Bruder. Aber er musste gehen. Wir alle müssen gehen. Und er ging schnell. Tat überhaupt nicht weh. Ich komme klar. Du kennst mich doch.«

Margrit neigte den Kopf und studierte ihren Scotch. Es war sehr teurer Alkohol. Genever wäre auch in Frage gekommen, selbst wenn sie in New York Scotch schätzen gelernt hatte. Ja, sie wusste es. Harrys Tod hatte Max geschmerzt. Es gab eine Zeit, da er nichts zugeben wollte, dann wieder, dachte sie, eine Zeit, da er es tat. Heimlich warf sie einen Blick auf ihn. Er sah noch immer gut aus. Sein Haar und sein Schnurrbart waren gleichmäßig ergraut, doch die Falten in seinem kantigen Gesicht hatten sich vertieft, als seien sie von einem müden Steinmetz gemeißelt worden, um ein Gegenstück zu den großen, weichen Augen zu bilden. Aber die Augen (wie dieser weiche Blick sie getäuscht hatte!) waren gerötet, die fast bernsteinfarbenen Pupillen verschwommen, als würden sie schmelzen. Er kommt nicht klar!, dachte sie erschrocken. »Wie lange bist du hier?«

Max nahm einen Schluck von seinem alten Pernod, dann nippte er an dem neuen Glas. »Nicht lange. Ich wollte dir etwas sagen, Margrit. Margrit, Baby, ich habe Neuigkeiten für dich!«

Seine Stimme hatte sich erhoben und hallte laut ins Leere. Sie betrachtete ihn aufmerksam. Sie wusste, dass der Kellner, der Barkeeper und die Gäste, die jetzt hereinkamen, neger uitbundigheid gewohnt waren und dass sie sie belächelten. Schwarze Überschwänglichkeit, das war das Bild, das sie im Kopf hatten.

»Was für Neuigkeiten, Mox?« Plötzlich war Margrit irritiert. Sie und Max hatten so viel Zeit damit verbracht, über Bilder zu sprechen. »Schöne Neuigkeiten? Und du bist den ganzen weiten Weg hierhergekommen, um sie mir zu überbringen?« Sie lächelte dünn. »Willst du heiraten?«

Er stand auf und berührte ihre Schulter. Automatisch gab sie seinen unsicheren Fingern Halt. »Wirst du warten, bis ich zurückkomme? Ich muss pinkeln.« Er kicherte. Sie lächelte. Doch kaum hatte er sie verlassen, drehte sie sich um und sah ihm nach. Irgendetwas stimmte nicht.

Erneut wankte Max zur Herrentoilette. Ein Teufelskreis. Wenn er nicht trank, würde er nicht urinieren müssen. Urinieren bedeutete, die stärksten Schmerzen zu erleiden. Doch wenn er nicht trank, musste er entweder die Tabletten nehmen oder das Morphium, das er im Bandagebeutel seines Suspensoriums versteckt hatte. Die Schale hatte er weggeworfen. Das Morphium packt den Schmerz direkt an den Eiern, dachte er mit einem verhaltenen Glucksen, aber dann konnte er tagsüber nicht so agieren, wie er musste. Doch der Schmerz wurde von Tag zu Tag stärker. Er überfiel ihn in den unpassendsten Momenten und ließ ihn außer Atem, geschwächt und mit tränenden Augen zurück. »Mein Gott!«, stöhnte er und lehnte sich gegen eine Wand, die ein paar Sekunden lang ganz verschwunden gewesen zu sein schien. Hatte es Herodes jemals so schlimm erwischt? Er stieß sich von der Wand ab und suchte eine der Kabinen auf. Sauber. Zumindest würden die Holländer ihn nicht mit so vielen Keimen anstecken wie die Franzosen. Er nahm die Watte heraus und betrachtete sie. Sie war mit dunkelrotem Blut durchtränkt. Ist diesmal beinahe durchgesickert, dachte er, holte eine Rolle frischer Watte aus seiner Tasche und riss ein Stück ab, das er sachte an seinen Platz schob. Im Sitzen zog er an seinem Suspensorium und musterte die Fünf-Kubikzentimeter-Plastikspritze und das Morphium. Er tastete seine Brusttasche ab, um zu prüfen, ob die Nadel noch da war. Nicht jetzt, später. Der Schmerz ließ nach.

Er kehrte zum Tisch zurück und sagte, ohne sie anzuschauen: »Margrit, es tut mir leid. Das sagt sich leicht. Hab’s ja schon mal gesagt, aber glaube mir, es tut mir leid. Zu spät, ich weiß. Ich will nichts. Ich kann nichts wollen, nicht einmal dich. Ich wollte dich nur sehen und dir das sagen.«

»Nun …« Sie wollte sagen, das sei in Ordnung, aber sie wusste, dass es das nicht war, und er wusste es ebenso. Dann wollte sie über den Tisch langen und ihm eine Ohrfeige verpassen, so fest sie nur konnte. Tut mir leid! Die schwarzen Amerikaner waren alle gleich, sie liefen davon und murmelten: »Tut mir leid.« Tut mir leid! Doch nach einem Moment legte sich ihre Verbitterung. »Du siehst wirklich müde aus. Vielleicht solltest du dich ein wenig ausruhen. Wenn du möchtest, können wir später weiterreden [noch mehr Entschuldigungen!]. Wo übernachtest du?«

Was die Holländer angeht, schließt sich der Kreis, dachte er, während sie sprach. Er wusste, er würde ihr Antworten geben. (»Ja, ein bisschen müde. Weiß nicht, wo ich übernachten werde. Vielleicht im American Hotel. Wenn schon, denn schon. Letzte Reise, Schätzchen, was?«)

»Noch einen Drink«, sagte er laut. »Dann hole ich meinen Koffer und gehe zum Hotel. Wenn du mit mir essen gehst. In dem Eck. Du weißt schon.« Er überstürzte sich, weil er nicht wollte, dass sie ablehnte. »Du weißt schon, wo wir mal vier Stunden lang gesessen und die Passanten beobachtet haben …«

Margrit dachte: Ja, ich weiß, ich erinnere mich, ich erinnere mich, und die Kellner versuchten, uns loszuwerden, und es hatte den Anschein, als würde die Sonne nie untergehen.

»… und vielleicht können wir nach dem Essen Roger und einige der anderen Jungs auftreiben. Wie geht’s denen überhaupt? Siehst du sie oft?« Er hielt inne. Roger und die anderen waren ihm völlig schnuppe. Es war zu spät. »Wirst du, wirst du mit mir zu Abend essen?«

»Dann jetzt aber keine Drinks mehr«, sagte sie.

»In Ordnung.« Er atmete erleichtert durch.

»Ich werde deinen Koffer holen«, sagte sie.

»Nein, wirst du nicht«, sagte er. Dann, plötzlich heftiger werdend: »Wirst du endlich aufhören, Dinge für mich zu tun!«

Ohne sich von ihm beirren zu lassen, sagte sie: »Mox, du gehst jetzt über die Straße zum Hotel und besorgst dir ein Zimmer. Ich werde mich ein wenig zurechtmachen, ein Taxi rufen und deinen Koffer holen. Der Fahrer wird mir helfen, und die Hotelboys werden mir helfen. Gib mir den Gepäckschein.« Sie streckte ihren Arm aus, während seine Hände schlaff eine Tasche nach der anderen durchsuchten. Endlich fand er den Schein. Sie nahm ihn entgegen und sagte: »Du siehst nicht gut aus. Ich mache mir Sorgen.«

»Wieso solltest du dir Sorgen machen?«

Sie zog die Schultern hoch. »Ich mache mir einfach welche. Bitte geh jetzt.«

»In Ordnung, Maggie.« Er holte tief Luft. Der Schmerz. Sie hatte recht. Soll sie doch den verdammten Koffer holen. Geh zum Hotel. Schnell! Leg die Füße hoch. Nimm eine Tablette.

»Was ist?«, fragte sie.

»Ein Rülpser. Ich musste rülpsen.«

»Na dann frohes neues Jahr.«

»Danke. Sollen wir jetzt gehen?«

Er bezahlte den Kellner, und sie brachen auf. »Es wird nicht lange dauern«, sagte sie.

»In Ordnung. Maggie?«

»Was?«

»Es tut mir wirklich leid.«

»Halt die Klappe, Mox«, sagte sie, aber nicht unfreundlich. »Ich werde nicht lange brauchen.«

Er fragte sich, ob sie wohl noch dieselbe Wohnung hatte. Sie überblickte eine der Grachten, hatte hohe Decken und dunkle, muffige Flure. Und Katzen. Eine war ein getigerter, aufgequollener brauner Kater, der sanft durch die Zimmer tapste. Die andere eine schlanke junge Schwarze mit einem weißen Dreieck im Gesicht. Er hatte sie dabei beobachtet, wie sie sich gegenseitig den Rücken leckten und miteinander spielten, aber Paarungsverhalten gab es zwischen ihnen nicht, nur mit den anderen Katzen, die sich nachts auf den Dächern versammelten. Max fragte sich, ob die Wände noch mit den Gemälden von Freunden behängt waren, ob das Schlafzimmer noch dasselbe war, mit den Fenstern nach Osten, so dass, sobald die Sonne aufzugehen beschloss, wusch!, Tageslicht ins Zimmer fiel. Und in diesem Zimmer, dachte er, als er ohne Staunen feststellte, dass er den Schlüssel zu seinem Hotelzimmer bereits in der Hand hielt und dem Pagen folgte, würde sie sich jetzt ein wenig zurechtmachen.

Plötzlich wollte er den Rhythmen eines anderen lauschen; seine eigenen waren zu sonor, zu mühsam. Er blieb stehen. Da war doch noch etwas, was er wollte, etwas … Ah, eine Zeitung. Er hatte eben die Tribune zur Hand genommen, als er aus den Augenwinkeln einen anderen Schwarzen sah. Wie das Auge in einem Land, wo es so wenig davon gibt, Farbe erhascht! Oder wie dasselbe Auge keine Farbe erhascht, wo reichlich Farbe vorhanden ist – ein Albino in Afrika. Leck mich am Arsch, Alfonse Edwards, dachte Max und schrak zurück, ohne zu wissen, weshalb.

2Amsterdam

Er saß hüfttief im lauwarmen Wasser seiner Badewanne und beobachtete, wie es sich langsam rosa verfärbte. Er hörte die Straßenbahnen klingeln, wenn sie von der Haltestelle vor dem Hotel abfuhren. Wieso, fragte er sich, sollte sich nicht auch Alfonse Edwards in Amsterdam aufhalten? Welcher Instinkt (Schwarze verfügten nicht nur über jenen guten alten natürlichen Rhythmus, sondern auch über Instinkt) hatte ihn zurückschrecken lassen? Zugegeben, er hatte Edwards von Anfang an nicht leiden können, schon in Nigeria nicht. Noch weniger, seit er mit Harry zusammen gewesen war, als dieser starb.

Edwards hatte es so erzählt:

Er und Harry waren aus der Rue de Berri gekommen, hatten an der Ecke angehalten und darauf gewartet, dass die Ampel umsprang. Harry war zu Boden gegangen wie ein Angehöriger der Forces françaises de l’intérieur, der ins Kreuzfeuer von Scharfschützen geraten ist. Max stellte sich vor, dass sich eine Menschenmenge versammelt und irgendjemand schließlich das dunkle, runde Gesicht erkannt hatte, dessen Verbitterung plötzlich der Überraschung wich, dann der Ruf: »Le M’sieu Ames, le romancier américain.«

»Bumm, einfach so«, hatte Edwards in Paris gesagt, und sein hageres Gesicht hatte Trauer eher angedeutet als wirklich empfunden. Max erinnerte sich daran, dass er sich schon damals gefragt hatte, weshalb Harry sich mit einem solchen Typen abgab. Er musste wohl schon senil geworden sein. Edwards war ein schwarzer Ivy Leaguer. Die Haare kurz geschoren, denn die Europäer sollten wissen, dass er Amerikaner war. Die anderen Schwarzen ließen ihre Haare lang und buschig wachsen – kraus –, um für Afrikaner gehalten zu werden. Nicht so Edwards. Amerikaner durch und durch. Rot, weiß und schwarz.

Jedenfalls lag Harry auf der Straße, an der Ecke, wo die Rue de Berri in die Champs-Élysées mündet, und durch den Mittagsdunst ragte der Arc de Triomphe. Harry war zu Boden gegangen und stand nicht mehr auf, und später beschrieb Edwards seinen Tod mit »Bumm, einfach so«, und Max dachte damals auch: Diese Hippies, ob Ivy League oder Watermelon League, sie lernen es nie. Die englische Sprache schränkt uns ein, aber sie ist alles, was wir haben, und es gibt Zeiten und Orte, an denen sie verwendet werden sollte, zum Beispiel wenn man beschreiben will, wie Harry starb. Harry wäre niemals »bumm, einfach so« gestorben.

Warum nicht? Weil er zu verflucht böse war. Und warum sonst nicht? Darum.

 

Max hatte das Morphium sowohl wegen der Erschütterung über Harrys Tod als auch wegen der Schmerzen genommen. Er stand am Ende der kleinen, eilends versammelten Menschenmenge innerhalb der Mauern des Cimetière du Montparnasse. Edwards war da. Charlotte, Harrys Frau, war da, ein paar Amerikaner, wie Iris Stapleton aus den Nachtklubs, Maler und Schriftsteller. Ein paar Afrikaner, ein paar Inder. Und es war nur zwanzig Stunden nach Harrys Tod. Nur sehr wenige von ihnen waren von Charlotte informiert worden. Die Zeitungen hatten über sein Ableben berichtet, und sie waren unaufgefordert erschienen. Max stand da, berauscht von der Droge, krank vor Schmerz und Erschütterung, und plötzlich bemerkte er, dass ihn Michelle Bouilloux anstarrte, in der kleinen Schar noch isolierter als er selbst. Er glaubte, dass sie ihn anstarrte. Max drehte sich zurück und lauschte wieder den Grabreden. Als er sich erneut zu Michelle umwandte, ließ er seinen Blick schweifen; ihr Mann war nicht da. Sie schien näher an ihn herangetreten zu sein, und jetzt wusste er, dass sie ihn durch ihren Schleier anstarrte. Und sie machte etwas mit ihren Händen, er konnte nicht sagen, was, denn sie trug schwarze Handschuhe und bewegte ihre Hände vor einem schwarzen Kostüm. Doch dann zog sie einen Handschuh aus, wobei eine erstaunlich weiße Hand zum Vorschein kam, und winkte ihn mit dem Zeigefinger zu sich. Ihre Augen schienen durch den Schleier herauszutreten. Max dachte: Ach, Michelle, Michelle, er ist tot. Die Grabreden waren zu Ende. Die Menge begann sich zu zerstreuen. Michelle warf einen Blick auf Charlotte, die gerade auf Max zusteuerte, lüftete mit einem Ruck ihren Schleier, der einen roten Haarschimmer freigab, deutete heftig auf sich selbst und stolperte dann zum Tor. »Bitte komm mit uns mit, Max«, sagte Charlotte. Alfonse Edwards stand neben ihr.

»Nein«, sagte Max. Er hatte genug Männer gesehen, die in Panzern verbrannt waren, deren Körper sich krümmten und zerbrachen und in ihrem eigenen Saft brieten. Er hatte nicht vor, in irgendeinem Vorzimmer zu sitzen und darauf zu warten, dass Harry zu Asche verbrannte. »Warum?«, krächzte er, als sich die anderen, die nicht aufgefordert worden waren, auf den Harry-Braten zu warten, hinter ihr und Edwards versammelten. »Warum konntest du ihn nicht eine Weile aufgebahrt liegen lassen, damit die Leute kommen und ihn betrachten können? Das hätte ihm gefallen.«

»Ach, Max, halt den Rand«, sagte Charlotte und wandte sich von ihm ab. Edwards hielt inne, bevor er sich umdrehte, und in seinem Blick lag nichts und doch alles. »Fahr selbst zur Hölle«, sagte Max und ging, nahm sich ein Taxi, holte seinen Koffer und fuhr mit dem Zug nach Amsterdam.

 

Warum sonst nicht? Michelle Bouilloux. Er sah auf seine Uhr. M. Bouilloux würde jetzt zu Hause sein. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte er sie auf der Beerdigung ja gar nicht gesehen. Verdammt, er war sich über nichts mehr sicher, außer dass er große, rasende Schmerzen im Arsch hatte. Und dann, als er an Charlotte dachte, gestand er sich zum ersten Mal ein, dass er sie, seit er sie kannte, höllisch hasste. Sie hatte Harry aus einer Ehe heraus- und in eine zweite mit ihr hineingelockt. Sie verstehe ihn, hatte sie gesagt. Aber natürlich ließ es nach, das Verständnis. Sie beanspruchte immer mehr Zeit von dem großen Mann (und es hatte Zeiten der Größe gegeben, aber Amerika gab vor, sie nicht wahrzunehmen, und Harry wollte, dass Amerika seine Größe anerkannte. Aber im Grunde hatte Amerika gesagt: Vielleicht studieren wir Sie in Anthologien für Erstsemester, und wenn wir jemals an den Punkt kommen, an dem wir unsere Angst zeigen oder zugeben, dass wir schuldig sind und diese Schuld ignorieren, werden wir Sie zuerst studieren, Harry Ames!). Charlotte war ihm auf den Sack gegangen. Immer wenn es hart auf hart kam, beeilte sie sich, Harry daran zu erinnern, wie viel sie dafür aufgegeben hatte, ihn zu heiraten: Familie, Freunde, eine ganze Kultur. Und immer hatte Harry gekontert: »Pech gehabt. Du kannst gehen. Ich wollte dich nicht, weil du eine Weiße bist. Geh.« Aber Charlotte ging nie. Sie blieb und schmollte, und wenn alles gut lief, schmollte sie noch mehr. Schließlich war sie eine mittelmäßige Person, wenn es darum ging, sich mit den Dingen zu beschäftigen, mit denen Harry mühelos jonglierte: Geschichte, Politik, Wirtschaft, Menschen. Charlotte konnte sich nur mit sich selbst beschäftigen. Wann hatte ihr Schmollen sich in Hass verwandelt?

Michelle. Nein, lange vor Michelle. Max blickte erneut auf seine Uhr. Er würde Michelle anrufen. Er rief die Vermittlung an und lehnte sich zurück. Großartige Tabletten, absolut phantastische Tabletten. Und bald würde Margrit kommen. Nicht zu früh. Sie würde ihm die Chance geben, sich ein wenig auszuruhen. Aber der Zug war abgefahren. Als das Telefon klingelte, sagte er: »Max. Michelle?«

»Ja. Wie geht’s Margrit?«

Verdammt, diese Frauen, dachte er. »Ganz gut. Wir essen bald zusammen zu Abend. Hör zu«, sagte er vorsichtig, »mir geht’s nicht gut. Nichts Ernstes. Aber habe ich mir nur eingebildet, dass du mir auf der Beerdigung Zeichen gegeben hast?«

»Nein, ich wollte dich sehen. Es ist äußerst dringend. Es geht um Harry.«

Max drückte seine Zigarette aus.

»Es geht um Harry«, sagte sie noch einmal.

»Was ist mit Harry?« Dann fragte er: »Edwards?«

»Ich komme heute Abend mit dem Express nach Rotterdam. Von da nehme ich den Zug nach Leiden. Kannst du dich morgen mit mir treffen?«

»Wo?«

Sie nannte ihm die Adresse und legte schnell auf. Max lehnte sich abermals zurück und schloss die Augen. Was zum Teufel ging hier vor? Warum ließ er die Sache nicht einfach auf sich beruhen? Harry würde nicht wieder zu Fleisch und Blut werden. Charlotte. Ich wette, die hat sich gerne ausgemalt, wie er hinter der Wand verbrennt und sich krümmt. Hat jede verdammte Minute, die’s gedauert hat, einen regelrechten Kitzel verspürt.

Margrit. Selbst wenn er Margrit zurückhaben wollte, er konnte sie nicht zurückhaben. Vielleicht war es gut so, wie es war. Er hätte es gehasst, sie jetzt um sich zu haben, vierundzwanzig Stunden am Tag, zwischen Haus und Spital pendelnd, sie mit einem Lächeln die Arbeiten verrichten zu sehen, bei denen jede Krankenschwester, die er bis dahin gehabt hatte, die Nase rümpfte.

Er hatte sich angekleidet und döste auf dem Bett, als Margrit aus der Lobby anrief. Er fühlte sich besser und lächelte, während er seine Krawatte zurechtrückte. Die alte Margrit hätte forschen Schrittes die Lobby durchquert, den Aufzug genommen, das Zimmer aufgesucht und sich, während er sich ankleidete, mit ihm unterhalten. Und angekleidet hätte er sich erst danach.

Er holte tief Luft, klopfte seinen Anzug ab und ging nach unten. Sie hatte gesagt, sie werde am Tisch sitzen. Beinahe hätte er gefragt: »An welchem Tisch?«, aber es fiel ihm noch rechtzeitig ein. Natürlich an dem Tisch.

Sie lächelte zu ihm auf. »Wie ich sehe, hast du deinen Koffer bekommen.«

»Klar«, sagte er und rutschte auf dem Sitz ans Fenster. Wovon redete sie? Natürlich hatte er seinen Koffer bekommen. Dann entsann er sich. Wann hatte er geschlafen? Als er aufgewacht war, war er direkt zu seinem Koffer gegangen, hatte ihn geöffnet und ihm ein frisches Hemd und Unterwäsche entnommen. Er hatte sich nicht einmal daran erinnern können, dass er beim Betreten des Zimmers keinen Koffer dabeihatte. Jesus, dachte er, Jesus Christus. »Drink?«, fragte er.

»Ja, natürlich.«

Er lächelte, und als er über die Straße zu den Seiteneingängen der Stadsschouwburg blickte, dachte er wieder einmal, dass Amsterdam neben New York die einzige Stadt war, in der er hätte leben können. Müßig beobachtete er einen Surinamer, der am Fenster vorbeischlenderte. Der Verkehr war jetzt viel dünner, nicht mehr so viele Fahrräder, nicht mehr so viele Autos; dafür viele Fußgänger. »Sie bleibt beständig, nicht wahr?«

Margrit wandte sich zum Fenster – sie hatte ihn angeschaut. »Die Gleiche, meinst du? Ja, fast.«

»Phantastische Stadt.« Während sie an ihren Getränken nippten, wunderte er sich darüber, dass in Amsterdam, außer wenn man ein wenig nach Süden fuhr, alles Neue um das Alte herum erbaut worden war, dass es weder die schmalen Häuser mit den steilen Giebeln noch die Grachten überwältigt hatte. Plötzlich wünschte er, er wäre jünger und könnte noch einmal von vorn anfangen.

»Was ist los, Mox?«

»Nichts, Margrit. Hallo. Schön, dich wiederzusehen. Warum hast du nicht irgendeinen Glückspilz von Holländer geheiratet?«

»Gewartet habe ich auf dich nicht«, sagte sie.

»Das hätte ich auch nicht gewollt. Und nicht gedacht, dass du’s tust.«

»Und du, Mox, mit wem bist du jetzt zusammen?«

»Ich bin eine Art Flüchtling.«

»Flücht…?«

»Ich bin mit niemandem zusammen.«

»Oh. Oh, das glaube ich dir nicht, Mox.«

Er lachte. Von der Tablette und dem Alkohol hatte er leicht einen sitzen. »Damit habe ich auch nicht gerechnet, aber es ist die Wahrheit.«

Sie prustete. »Dann hat man dir wohl etwas weggeschnitten.«

»Ja.« Er blickte sich in dem riesigen Speisesaal um. Tische und Stühle waren in einem satten, warmen Braunton gehalten, die weißen Tischdecken frisch und steif. Am Lesetisch saß ein älterer Mann in die Zeitungen aus den Regalen vertieft.

»Du bist noch bei derselben Zeitschrift, Mox?«

Er blickte rasch auf. Auch das hatte er vergessen. »Nein«, sagte er.

»Was machst du dann?«

Er blickte sie verärgert an, dann fiel ihm ein, dass sie nicht mehr seine Frau war und er kein Recht hatte, über sie verärgert zu sein. Aber sie hatte seinen Blick bemerkt. »Oder sollte ich besser nicht fragen?«

»Ich habe mir Urlaub genommen«, sagte er. »Bin müde.«

»Ja«, sagte sie und wandte sich noch einmal zum Fenster, ihr wallendes Haar ein zartes Gold, »müde warst du schon immer, Mox.«

Max gab dem Kellner ein Zeichen, neue Getränke zu bringen. Ja, vermutlich war er schon immer müde gewesen. Gelangweilt, das war der Grund dafür, gelangweilt von allem, der Vorhersehbarkeit von Kriegen, dem Verhalten von Staatsmännern, Taxifahrern, den meisten Männern, den meisten Frauen. Gelangweilt, weil das Schreiben von Büchern zuletzt nicht mehr aufregend war; gelangweilt, weil auch die Zeitschrift und alle Leute, die mit ihr zu tun hatten, nach Formeln arbeiteten und lebten. Gelangweilt von New Deals und Square Deals und New Frontiers und Great Societies; argwöhnisch gegenüber der Zukunft, misstrauisch gegenüber der Vergangenheit. Nur einer Sache war er sich sicher: dass er war; dass er existierte. Der Schmerz in seinem Arsch verriet es ihm.

»Ja, ich denke, müde war ich schon immer. Vielleicht war ich schon müde, als ich geboren wurde.«

»Das hast du immer gesagt.«

»Siehst du? Nichts Neues. Wie geht es Roger?«

»Roger? Roger ist immer noch Roger, was sonst?«

»Immer noch auf seine intellektuelle Art am Baggern?«

»Immer noch am …?«

»Am Baggern. Am Baggern. Ach, Margrit, du weißt doch, was Baggern ist.«

»Aber nein, das weiß ich nicht.«

»Wir haben darüber gesprochen«, beharrte er. Halt die Klappe, sagte er bei sich.

»Nein, haben wir nicht.«

»Okay, okay. Roger ist immer noch derselbe, das heißt, er baggert.«

»Wenn du meinst.«

»Danke.«

Roger war kein gewöhnlicher Macker; er investierte ein bisschen mehr als die meisten Schwarzen in Europa, die sich neben Büchern oder Artikeln oder Ausstellungen oder Jazz-Engagements auf diese Weise beschäftigten. Roger brachte seine Frauen zum Lachen und vermittelte ihnen kurze Einblicke in Kafka, Mann, Wright, Dschāmi aus Samarkand, die unterdrückten Henochbücher; und er sprach in klingenden poetischen Tönen über Wardell Gray, Bird, Pres; über Fats Navarro und den frühen Miles; und dann kam er, das Tempo steigernd, in einen sanften, gestreckten Galopp übergehend, auf Kant, Kierkegaard, Spinoza und Walter Van Tilburg Clarks philosophische Handhabung des Ritts zum Ox-Bow zu sprechen; er studierte Hausa und Swahili und hatte vor, sich mit Yoruba, Ga und Ibo zu befassen – oh, erinnerte sich Max, Roger baggerte mit Finesse. Und erst danach ergatterte er das Geld einer Pariserin, einer gut betuchten Schwedin, Dänin oder Holländerin, und zum Dessert kletterte er an Bord, zog das Periskop ein und lenkte das U-Boot davon. Roger verfeinerte das Baggern. Er gab etwas, wofür ein gewöhnlicher Macker wie Mackie Messer nie Zeit hatte. Die anderen, die ließen sich von den Muschis hinreißen. Sie mochten am Verhungern sein, aber zuerst kam die Muschi. Immer die Muschi.

Sie bestellten. Es war nach neun, und allmählich brach die Nacht herein. Mitten im Essen fragte sie: »Möchtest du ihn sehen?«

»Wen?«

»Roger.« Sie hasste es, wenn er so war, wenn seine Gedanken so schnell von einer Sache zur andern wanderten, dass sie ihnen nicht folgen konnte. Ihr war aufgefallen, dass er das Lendenstück gut durchgebraten, das Gemüse gut gegart und die Kartoffeln püriert bestellt hatte. Daran war nichts Ungewöhnliches, außer wie er immer wieder mit der Gabel ins Fleisch stach, um zu sehen, ob es auch tatsächlich gut durchgebraten war.

»Ja. Und sag mir, kennst du einen Typen, einen Schwarzen, namens Alfonse Edwards?«

»Klar doch.«

Max kam die Galle hoch. Was soll das denn heißen, fragte er stumm. Klar doch.

»Was treibt der inzwischen? Ich meine, schreibt er wirklich, oder ist er Maler oder Bildhauer geworden oder Tourist?«

Margrit war bei ihrem dritten Drink angelangt und brach in Gelächter aus. »Tourist«, wiederholte sie. »Tourist.«

»Ja, ja, also, was macht er nun?« Man kann New York verlassen, dachte Max, aber New York verlässt einen nie; man fühlt sich besser, wenn man weiß, in welche Schublade man einen Typen stecken kann.

»Es heißt, er sei Schriftsteller.«

Max lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. In diesem Moment fühlte er sich so gut, dass er sich fragte, ob der Arzt nicht unrecht hatte. Dann erinnerte er sich an die lange Sitzung in der Arztpraxis nach der ersten Biopsie. Jene lange Sitzung, als Margrit glücklich in der Galerie in New York arbeitete. Trotzdem, er fühlte sich gut. Aber sie sprachen über Edwards. Was in aller Welt hatte der in Holland zu suchen? Schrieb er? Wer, Edwards? In Paris hatte er sich mit ihm nicht über das Schreiben unterhalten. Wieso nicht? Wenn Harry zu beschäftigt war, um sich über das Schreiben zu unterhalten, wandten sie sich an ihn – Max. Die jüngeren Burschen erinnerten sich daran, dass es früher geheißen hatte, Max sei besser als Harry, ein Umstand, der Harry mehr als zwei Jahre lang die Laune verdorben hatte. Sie wandten sich an Max, wenn Harry auf einer der panafrikanischen Konferenzen Reden hielt oder mit etwas anderem beschäftigt war. Das war das Seltsame: In letzter Zeit hatte Edwards sich mit keinem Wort erklärt. Ein Hipster dagegen würde irgendwie, mit einer beiläufigen Wendung, ein, zwei hier und da eingeworfenen Worten, dafür sorgen, dass man die Teile einsammeln und das Puzzle vervollständigen konnte. Ein Hipster wusste, wie man das Spiel spielt. Niemand kam auf einen zu und sagte: Mein Name ist Rinky-Dink, und ich bin Landschaftsmaler. Jeder, der hip war, sandte kleine Signale aus, und man verstand sie. Der Großteil der Welt verfuhr so.

»Was hat er geschrieben?«

»Es heißt, er arbeitet an ein paar Romanen, und er verfasst Artikel.«

»Ach ja?«

»Ja.«

Na schön, dachte er. Edwards ein Schriftsteller? Ich weiß, was er war, aber ist er es immer noch? Seine Gedanken wanderten weiter. Nein, mit seiner Vorgeschichte hockt er nicht einfach in Europa herum, hungert zwischen Büchern und Artikeln und wartet darauf, dass in den Staaten Rassenunruhen ausbrechen, damit er sie für die europäische Presse analysieren kann. Wie lange bis zu den nächsten Rassenunruhen? Edwards in Nigeria, Edwards in Europa.

Nachspeise, Kaffee und Cognac, dann durchbrach Margrit das Schweigen, das sich auf sie gesenkt hatte, und fragte: »Was ist los mit dir, Mox? Willst du’s mir nicht verraten?«

Er blickte auf, war versucht, sie zu bitten, anderntags mit ihm Michelle zu treffen, falls es zu anstrengend für ihn werden sollte. Sie hatten sich gut verstanden, die beiden. Aber dann dachte er: Zum Teufel mit ihr. Ich fahre allein. Er würde sich ein Auto mieten; das wäre sinnvoller, als mit der Bahn zu fahren. Wenn es sein musste, könnte er anhalten und sich hinlegen. Könnte die Watte wechseln, wenn sie sich zu schmutzig anfühlte. Im Zug wäre es unangenehm – er erinnerte sich an die Herfahrt von Paris – und im Bus noch schlimmer. »Hab’s dir doch gesagt«, antwortete er. »Bin müde.«

»Diesmal ist es mehr als das. Willst du’s mir nicht sagen?«

»Nein.«

»Ist es schlimm?«

»Maggie, es war schon schlimm, als ich geboren wurde.«

»Du meinst, als Schwarzer geboren?«

»Wenn du so willst.«

Margrit sagte: »Irgendwie klingt dieses Gespräch wie so viele, die wir hatten, als wir noch zusammen waren.«

Max lachte und nahm ihre Hand. »Nicht wahr? Ach, Margrit. Ist alles ein bisschen zu viel für den alten Max. Jetzt erzähl mir von Edwards. Kommt er oft hierher? Hat Roger ihn davon freigesprochen, Spitzel der US-Regierung zu sein? Roger hat einen Riecher dafür, weißt du. Und in Nigeria hat Edwards für die Regierung gearbeitet.«

»Alle sagen, er arbeitet nicht länger für eure Regierung, aber sie mögen ihn trotzdem nicht. Er stiftet Unruhe. Sucht grundlos Streit. Niemand mag ihn. Wenn er in der Stadt ist, wird es still an den Tischen auf dem Leidseplein. Ich weiß nicht, wer seine Freunde sind. Roger spricht manchmal mit ihm.«

»Hat er je über Harry Ames gesprochen?«

»Nicht mit mir, und ich kenne niemanden, der je erwähnt hätte, dass er über Harry gesprochen hat. Was ist los, Mox? Was geht vor?«

Er sagte: »Ich weiß es nicht«, und blickte auf ihre Hände. Weiß, mit ersten Falten, der Ehering an der rechten. Er betrachtete die Hand und drückte sie. Auch er fragte sich, was vorging. Manchmal ergaben Kleinigkeiten plötzlich einen Sinn. Ihre Stimme trieb mit einer Frage dahin. Er beantwortete sie. Sie fragte erneut, und wieder antwortete er, war aber in Gedanken zurück in Paris, bei seinem allerersten Besuch dort, auf Urlaub vom Century, und der Koreakrieg war drei Jahre alt.

 

Er hatte gearbeitet, wie gewöhnlich. (Dritter Roman, vierter Roman?) Von Zeit zu Zeit hielt er inne und blickte auf die Dächer von Paris, ein buntes Sammelsurium vor dem blauen Sommerhimmel. Das Telefon klingelte. Harry.

»Hey, Mann, hör zu. Komm sofort her, kannst du? Ich sag dir, was los ist: Hab gerade ’n Anruf von Senator Bradens Nummer eins bekommen. Genau. Ist der vielleicht ’ne Schwuchtel, weißt du das? Jedenfalls kommt er rüber, um über einige meiner Ansichten zu reden, die ich im Café geäußert habe. Er hörte sich ganz schön ominös an, weißt du? Nach der Sache mit der miesen Zeitschrift. Ich will mit keinem reden, es sei denn, ich hab ’n Zeugen dabei. So kann man ’ne Million Dollar verdienen. Komm rüber und hör dir den Scheiß an. Die gottverdammte Regierung lässt mich einfach nicht in Ruhe, Max, ich sag’s dir, ein Mann mit Stift und Papier ist gefährlich, und wenn er dazu noch ein Schwarzer ist, ist es hundertmal schlimmer. Schaffst du’s in fünfzehn Minuten? Los, Max. Bis gleich.«

Als Max ankam, rieb Harry sich vor Freude die Hände. »Diese Leute halten sich wirklich für verdammt clever. Sie mögen den ganzen Vereinigten Staaten Angst einjagen, aber Harry Ames können sie keine Angst einjagen. Scheiße, ich komme aus Mississippi; das restliche Amerika kann sich mit dem weißen Gesocks, das sie da hervorbringen, nicht messen. Wo soll ich dich hinstecken? Ich wünschte, das Tonbandgerät würde funktionieren. All das Zeug von Philips, das sie hier in Europa haben, ich weiß nicht, Mann. Können General Electric nicht leiden, Westinghouse nicht ausstehen, aber irgendetwas müssen sie ja haben. Nimm den Calvados und versteck dich hinter dem Vorhang zur Kammer. Genau. Warte. Der Calvados stinkt. Ach, verdammt, nimm den Scotch, aber trink nicht zu viel davon, du Hund. Nein! Nicht so! Max, sei doch nicht so ’n verfluchter Clown. Wenn du den ganzen Scotch aussäufst, macht Charlotte dir die Hölle heiß …«

Max nippte daran, während er einen Blick auf Michael Sheldon warf. Ein gutaussehender junger Mann, höflich, selbstsicher. Max sah, wie Harrys Augen vor falscher Fröhlichkeit funkelten; Harry benahm sich genau so, wie sich ein Hai benehmen muss, wenn er einem erlesenen Bissen begegnet.

»Im Ausland, insbesondere in Ländern mit einer starken Neigung zum Kommunismus«, begann Sheldon, »möchten wir, dass Amerikaner sich mit Kritik zurückhalten. Nun, Sie, Mr Ames, sind ziemlich streng mit uns ins Gericht gegangen.«

»Ach ja?«, fragte Harry unschuldig. »Ich kann mich nicht erinnern. Hätten Sie da ein Beispiel?«

Sheldon zog ein paar Kärtchen aus seiner Tasche. »Das ist einer Ihrer Aussprüche: ›Senator Bradens Ausschuss hat die Amerikaner in die hintersten Winkel der Angst getrieben.‹ Oder der hier: ›Wenigstens ein Mal sollte Amerika es mit dem Kommunismus versuchen.‹«

Harry sagte: »Was den zweiten Spruch betrifft, so glaube ich gesagt zu haben, wenn alles andere scheitert, sollte Amerika es mit irgendeiner Art Kommunismus versuchen, weil der Kapitalismus, Hand in Hand mit dem amerikanischen Traum, einfach nicht funktioniert; es gibt zu viele Menschen, denen das Recht, zu wählen und zu arbeiten, verwehrt wird. Das habe ich gesagt.«

»Aber es gibt noch andere«, sagte Sheldon und verlas sie mit gemessener, selbstbewusster Stimme. Max kamen die Sätze bekannt vor. Wer im Café würde Harrys Worte der US-Regierung melden?

»Was erwarten Sie jetzt von mir?«, fragte Harry.

»Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie nicht so kritisch wären. In der Öffentlichkeit. Sie schaden nur sich selbst. Die Alternative ist schlicht und einfach Ärger.« Sheldon lächelte. Der Assistent des Senators erinnerte Max an jeden hochrangigen Vertreter der Sittenpolizei, den er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte ebenmäßige Züge, die Haare waren perfekt gekämmt, die Schuhe geputzt, und natürlich trug er einen dunkelblauen Anzug.

»Nein«, sagte Harry. »Ich berufe mich auf die Redefreiheit. Ich sage meine Meinung, wo immer ich bin und wann immer ich will. Wir sind hier in Frankreich, nicht in Amerika.«

Sheldon stand auf. »Es gibt Mittel und Wege, Ihnen den Mund zu stopfen, Ames.«

Harry höhnte: »Kleiner alter weißer Junge.«

»Das ist Ihr ganzes Problem, diese Rassengeschichte.«

»Kleiner alter weißer Junge.«

»Bolton Warren dachte auch, er wäre ziemlich ausgekocht, aber wir haben ihn nach Washington zitiert. Er stand vor Gericht, hat aber nicht viel gesagt. Wir haben die Verhandlung vertagt, ihn in einen anderen Raum gebracht und ihm seine Akte vorgelesen, und seitdem hat er nicht aufgehört, mit uns zu reden.«

Max wartete, während Harry mit Warren die Vergangenheit durchstreifte. Warren war nach Spanien gegangen, um in den Internationalen Brigaden zu kämpfen, und hatte heftig mit der Partei geflirtet, aber wer zum Teufel hatte das nicht?

»Wollen Sie mir etwa drohen, Sheldon?«

»Im Namen von Senator Bradens Ausschuss warne ich Sie. Ihr Reisepass könnte annulliert werden, wenn Sie so weitermachen.«

»Das ist es, was passieren wird, wenn ich mein Kaffeehausgeplauder nicht einstelle?«

Sheldon lächelte und baute sich breitbeinig auf. »Sehen Sie’s mal so, Ames. Mein Besuch kann offiziell oder inoffiziell sein. In Paris war ich ohnehin, auf Durchreise. Es liegt ganz an Ihnen. Aber denken Sie an Ihre früheren Verbindungen zur Partei; denken Sie an Ihre Affären mit etlichen weißen Damen von gutem Ruf, bevor Sie Amerika den Rücken kehrten. Mehr noch, verlassen Sie sich nicht allzu sehr auf die Franzosen. Die sind von Ihnen immer weniger entzückt. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf. Trotz all ihrer Parolen werden die Franzosen allmählich modern. Liberté, ja; égalité, ja, in gewisser Weise; fraternité – mit ihren Frauen – höchst fragwürdig.«

Auf Harrys Gesicht zeichnete sich ein engelhaftes Lächeln ab. »Sie würden also alle meine schmutzigen Affären enthüllen?«

»Nur, wenn wir dazu gezwungen werden, und nur den richtigen Leuten gegenüber.«

»Donnerwetter«, sagte Harry, und Max wusste, dass das der Auftakt zur ultimativen Verarsche war. »Ich frage mich, ob Sie mir einen Gefallen tun würden. Sie haben mich wirklich an den Eiern, Sheldon. Sie kennen Max Reddick, den anderen schwarzen amerikanischen Schriftsteller? Seien wir ehrlich, Warren hat seine beste Zeit hinter sich, somit ist Max der andere schwarze Schriftsteller, stimmt’s? Dann ist ja alles in Butter, wie wir früher zu sagen pflegten. Wie auch immer, schauen Sie doch mal in die Kammer hinter dem Vorhang.« Sheldon rührte sich nicht. »Max ist hinter dem Vorhang, Sie Hundesohn, und er hat jedes Wort gehört, das Sie gesagt haben. Tatsächlich hat er sogar alles auf Band aufgenommen und in Kurzschrift notiert. Sie wussten wohl nicht, dass er Kurzschrift beherrscht, stimmt’s? Nun, er ist halt einer von diesen intelligenten Farbigen. Max!«

Hastig stellte Max die Scotchflasche ab und kam durch den Vorhang geschlendert. »Hallo, Sheldon, was gibt’s Neues?«

Sheldon war schnell und wütend gegangen und hatte gedroht, sie beide zu vernichten, sollten sie je wieder amerikanischen Boden betreten. Sie hatten fünfzehn Minuten lang gelacht, bis Harry daran dachte, die Scotchflasche zu inspizieren. Als er sie sah, rief er: »Max, du Gierschlund, sie wird mir die Hölle heißmachen! Im Budget ist für den ganzen Monat kein Geld mehr für Scotch drin. Du Mistkerl, oh, du mieser schwarzer Mistkerl! Aber hast du den Gesichtsausdruck des Jungen gesehen? Schlag ein, Mann, schlag ein!« Und ihre Handflächen klatschten gegeneinander.

 

Später war es nicht mehr so lustig. Später schlussfolgerten Max und Harry, wenn schon Michael Sheldon interessiert war, dann auch jemand anderes, der Spitzel im Café. Also hatte alles mit einer US-Regierungsbehörde angefangen und war bis zu Braden und seinem Ausschuss vorgedrungen. Und die spanische Regierung ließ Harry wissen, dass sie mit der Artikelserie, die er über das Franco-Regime geschrieben hatte, ganz und gar nicht zufrieden war. Dazu begann eine Reihe von Westafrikanern, Harry wegen seiner Äußerungen über sie wie Luft zu behandeln. Und die Kommunisten Europas misstrauten ihm generell. Schließlich war er aus der amerikanischen Kommunistischen Partei ausgetreten. Harry schrieb über sie alle; er sprach über sie. Er tanzte barfuß auf einer heißen Herdplatte, aber das wusste damals niemand.

Inzwischen liefen Max und Margrit die Singel entlang. Er ging langsam, und entsprechend hatte auch Margrit ihr Tempo verlangsamt. Zu dieser Nachtzeit waren keine Bordsteinschwalben zu sehen. Allmählich wurde er müde, und er musste früh aufstehen, aber jetzt würden sie Roger besuchen. Der Schmerz kehrte in langen, magenumdrehenden Krämpfen zurück.

»Zurück nehmen wir uns ein Taxi«, schlug Max vor. Er sah Margrit nicken. »Wird dein Freund heute Abend nicht ein bisschen sauer auf dich sein?«

»Ja«, sagte sie, »das wird er, aber er wird es verstehen.«

»Ach, tatsächlich«, sagte er und dachte belustigt bei sich: Du Luder, Margrit.

3Amsterdam

Als Roger Wilkinson ihnen die Tür öffnete, gab er in Max Reddicks Augen ein Bild des Schriftstellers als Versager ab. Max schob Margrit in eine schmuddelige Wohnung und schüttelte Roger die Hand, den der unangekündigte Besuch sowohl zu überraschen als auch in Verlegenheit zu bringen schien.

Doch er rang sich ein Lächeln ab und sagte: »Setzt euch, Leute, falls ihr einen Stuhl findet. Du siehst ziemlich müde aus, Max. Warst du in Paris? Zur Beerdigung? Ja?« Er kramte zwischen einigen Flaschen. »Hab nicht viel anzubieten. Ein bisschen Bier, ein bisschen Genever.« Roger lächelte durch seinen rötlichen Bart. »Wie habt ihr mich gefunden? Bin ja umgezogen, wie ihr seht.« Seine Adressen hatte er stets geheim gehalten. »Ich mache mein eigenes Ding«, erklärte er dann und verschwand, und in Europa kamen die schwarzen Künstler dem Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, meist nach. Bis man anfing, Erfolg zu haben, dann kehrten sie zurück und brachten einen zum Scheitern. »Du hättest mich wissen lassen sollen, dass ihr kommt«, sagte Roger.

»Nun ja«, sagte Max und nahm ein Bier entgegen. »Was gibt’s Neues?«

Roger räusperte sich laut und sah sich im Zimmer um. »Mann, du weißt schon, immer das Gleiche. Ich versuche halt, den Durchbruch zu schaffen.«

Max nickte. Roger war schon lange in Europa. Er hatte drei Romane geschrieben, für die er keinen Verleger fand. Roger war mit sich selbst beschäftigt, hatte Max gefolgert. Roger für Roger.

»Artikel?«, fragte Max. Roger war einer jener Schriftsteller, die, wenn zu Hause Rassenunruhen ausbrachen, von den Redakteuren der örtlichen Zeitschriften oder Zeitungen eilends herbeigerufen wurden, um zu erklären, was vor sich ging. »Le célèbre écrivain noir américain Roger Wilkinson explique pourquoi les noirs des États-Unis …« Mit einem Foto von Roger, wie er das beigefügte dreispaltige Bild von Aufrührern begutachtet, bärtig und nachdenklich, künstlerisch.

»Nun ja, damit verdiene ich mir mein Brot. Aber hier in Holland Hans Brinker Geld abzuluchsen, Mann, das ist, als würde man versuchen, sich mit Gewalt Zutritt zu Fort Knox zu verschaffen. Knauserig mit dem Kleingeld, Mann. Knauserig.«

»Ja, ja«, sagte Max. Er hatte Roger schon in den Staaten gekannt. Dann war Roger nach Europa gegangen. Um frei zu sein. Er war kurz nach New York zurückgekehrt, dann endgültig wieder nach Europa. Er kannte alle europäischen Hauptstädte, hatte zeitweise in ihnen gelebt, bis er sich in Amsterdam niederließ. Skandinavien wäre ihm lieber gewesen; die Frauen waren die schönsten in ganz Europa. Aber es war ihm zu kalt.

»Hör zu«, sagte Max. »Ich bin nicht lange in der Stadt. Bin nur hergekommen, um mich mit Margrit zu treffen. Muss wieder nach Hause.«

»Du bleibst nicht für eine Weile, Max? So ein Mist, Mann. Wirklich.«

»Ja. Kennst du Alfonse Edwards?«

Roger tat so, als weiche er vor einem schädlichen Gegenstand zurück. »Diesen Typen? Schon – aber auch wieder nicht. Ich meine, ich bin nicht so eng mit ihm; das ist niemand. Ich sehe ihn manchmal, wenn er in der Stadt ist. Das ist so ziemlich alles.«

»Weißt du, wo er wohnt?«

»Ich habe gehört, in einem Hotel. Was ist los, Max?«

»Ich weiß es nicht. Margrit hat mir gesagt, er schreibt.«

Roger fuhr sich mit einem schmutzigen Fingernagel durch den Bart. Sein Haar war sehr dicht, aber niemand hätte ihn für einen Afrikaner gehalten; seine Hautfarbe war zu hell. »Ich schätze, dass er schreibt. Ich habe gehört, dass er schreibt. Er belädt ein Auto mit Artikeln und tourt damit durch Europa, um sie an Zeitungen und Zeitschriften zu verhökern. Du weißt schon, alles vorbereiteter Scheiß und die Hälfte davon abgekupfert. Ich meine, die Leute hier wissen es einfach nicht besser.«

»Kommt er damit über die Runden?«

»Scheint so. Trägt immer die schicksten Klamotten und hat ’n heißen Feger am Arm. Er muss wohl über die Runden kommen.«

»Ja«, sagte Max.

»… und er speist sehr vornehm«, fügte Roger hinzu.

»Ist er ein Spitzel?«

»Ein Spitzel? Nein, Mann, der macht nur sein Ding, und es funktioniert. Wenn die Regierung einen Spitzel einschleusen wollte, würden sie ihn dann nicht zu einem von den Jungs machen? Du weißt schon, nicht clever, ein Künstler, der am Verhungern ist und versucht, so viele Muschis wie möglich aufzureißen. Dafür ist Edwards einfach ’n bisschen zu weit weg von allen. So geht Uncle Sam nicht vor. Mittendrin, mittenmang.«

Margrit beobachtete Max. Was ist los mit ihm?, fragte sie sich. Die Hand, in der er das Bierglas hielt, zitterte plötzlich, und Max stellte es beiläufig auf den Tisch. Aber Margrit hatte es gesehen. Sie wünschte, sie könnte froh sein, dass er krank war, aber das konnte sie nicht; sie hatte die Vergangenheit überwunden und sich sogar gefreut, ihn wiederzusehen. Sie hätte nie gedacht, dass es so kommen würde. Sie fühlte sich noch immer zu ihm hingezogen; das Mysterium, das er zu sein schien, als sie einander kennenlernten, war nach wie vor greifbar. Vielleicht lag es in gewisser Weise an jenem großen, schwerfällig einherschreitenden Schwarzen, der einen Trupp schwarzer Amerikaner durch die Straßen von Groningen geführt hatte – die Befreier. Groningen war eine Stadt, die man verließ, sobald man merkte, dass die Menschen dort mehr Deutsche als Niederländer waren. Er war, wie Margrit sich erinnerte, mit großen Schritten gegangen, hatte ein Grinsen im Gesicht getragen, und aus seinen Taschen ragten Schokoriegel. Sie hatte sich von ihren Eltern losgerissen und war mit einer Gruppe anderer kleiner Kinder, die winzige amerikanische Flaggen schwenkten, die ihre Eltern versteckt hatten, auf die Straße gerannt. Der große schwarze Mann hob sie hoch und lachte, schenkte ihr Süßigkeiten und setzte sie wieder ab. Als sie Max einmal von jenem Tag erzählte, sagte er: »Nun, die Welt dreht sich für verschiedene Leute aus verschiedenen Gründen und zu verschiedenen Zeiten. Wenn ich dem Kerl jemals begegne, werde ich ihm danken.«

»Noch ein Bier?«, fragte Roger. »Mann, echt schade – ich wusste nicht, dass ihr kommt. Wir hätten einen draufmachen können.«

»Wenn dein erstes Buch erscheint, machen wir einen drauf. Dann wirst du nach Hause kommen, schätze ich?«

»Ja, ich schätze, dann hab ich genug Zeit hier verbracht.«

Max fragte sich, wann er jemals daran gedacht hatte, mit dem Schreiben aufzuhören. Ständig. Roger hatte nie daran gedacht und hätte schon vor langer Zeit aufhören sollen. Nach einer Weile, dachte Max, ist all das Gerede über das Schreiben, sind all die Ratschläge nichts mehr wert, wenn sie nicht von einem selber kommen. Mit Harry sprach er nur selten über das Schreiben oder auch nur über andere Schriftsteller. Das lag hauptsächlich daran, dass sie ständig über Frauen oder über das Problem in den Staaten sprachen. Und es lag daran, dass Harry, was seine französischen, britischen und amerikanischen Schriftstellerfreunde betraf, immer so geheimnisvoll tat, wenn es denn gute Schriftsteller waren. Max wusste nie, wer sie waren; sie tauchten auf einer Party auf, und der Art, wie Harry mit ihnen redete, konnte Max entnehmen, dass sie schon lange miteinander befreundet waren. Harry öffnete sich nur ungern. So wie Roger, der noch immer sehr jung aussah, jedoch auf seltsam distanzierte Art zu altern begann, sich nur ungern öffnete. Aller Wahrscheinlichkeit nach, sinnierte Max, hatte Roger doch noch irgendwo eine Flasche versteckt, für eine ganz besonders scharfe Braut, die er beeindrucken wollte. Die Flasche holte er deshalb nicht hervor, weil er sich für die Störung seiner Privatsphäre irgendwie rächen musste. In dieser Privatsphäre, wusste Max, kratzte er Popel aus der Nase, rieb sie in seine Hose und hing schweren Gedanken nach, über eine Welt, die sich weigerte, seine Werke zu lesen. Vor allem aber tat er sich selbst leid, ob als Schwarzer oder als Schriftsteller, wusste Max nicht. Als Schwarzer hatte er nicht gelitten, hatte nicht im Süden als Soldat gedient, hatte keinen Hunger erduldet und sich nie südlich von Manhattan aufgehalten. Rogers Wut als Schwarzer war ein Surrogat; nur ein Surrogat, aber nützlich. Wäre er kein Schwarzer gewesen, hätte er weiß Gott keinen Grund gehabt, seine Stimme zu erheben oder schreiben zu wollen.

»Hör zu«, sagte Roger. »Sollen wir Edwards’ Hotel suchen?«

Max drehte sein Glas zwischen Daumen und Zeigefinger. »Morgen vielleicht.«

»Aber ich dachte, du wolltest, zack!, wieder abreisen.«

»Muss mich erst noch um ein paar Dinge kümmern. Hab morgen früh was zu erledigen, danach sehen wir weiter.«

»Wo wohnst du?«, fragte Roger und ließ seinen Blick zu Margrit wandern.

»Im American Hotel«, sagte Max und stand auf. Auf halbem Weg ein stechender Schmerz; damit sie es nicht mitbekamen, machte er schlurfende Schritte.

»Nicht schlecht«, sagte Roger. Sein Lächeln war verzerrt. »Eines Tages, Baby, eines schönen Tages.«

»Musst dranbleiben«, murmelte Max.

»Sehen wir uns morgen? Könnten auf dem Plein was trinken. Ich komme im Hotel vorbei, in Ordnung?«

»Na schön, in Ordnung, am späten Nachmittag vielleicht.« Max machte Anstalten, Margrit durch die Tür zu folgen, dann