Ich! Die Kraft des Narzissmus - Mitja Back - E-Book
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Ich! Die Kraft des Narzissmus E-Book

Mitja Back

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Beschreibung

»Spannend wie ein Thriller und gleichzeitig fundiert, witzig und charmant. So geht Wissenschaftskommunikation. Toll!«
Dr. Leon Windscheid, Psychologe, Unternehmer und Bestsellerautor


Der Persönlichkeitspsychologe und international führende Narzissmusforscher Mitja Back zeichnet ein völlig neues Bild des Narzissmus. Er macht deutlich, dass Narzissmus keine Krankheit ist, sondern ein Persönlichkeitszug, der mehr oder weniger stark in uns allen steckt. Narzissten streben nur konsequenter als andere nach sozialem Status. Wobei neben schillerndem Reichtum auch ausgeprägte Selbstlosigkeit oder betonter Opferstatus gut geeignete Bühnen für eine narzisstische Selbstdarstellung sind. Back zeigt, warum Narzissmus Konflikte auslöst, aber auch Vorteile mit sich bringt: Ob beim Dating, in der Freundschaft oder im Beruf - Narzissten können andere Menschen begeistern und stoßen in ihrem Drang nach Anerkennung oft Innovationen und Fortschritt an. Mit vielen Beispielen, Abbildungen und einem informativen Narzissmus-Test.
»Ich empfehle dieses Buch jedem, der Narzissmus wirklich verstehen will.« (Prof. Keith Campbell, Professor für Psychologie)

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Seitenzahl: 459

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Das Buch

Der Persönlichkeitspsychologe und international führende Narzissmusforscher Mitja Back zeichnet ein völlig neues Bild des Narzissmus. Er macht deutlich, dass Narzissmus keine Krankheit ist, sondern ein Persönlichkeitszug, der mehr oder weniger stark in uns allen steckt. Narzissten streben nur konsequenter als andere nach sozialem Status. Wobei neben schillerndem Reichtum auch ausgeprägte Selbstlosigkeit oder betonter Opferstatus gut geeignete Bühnen für eine narzisstische Selbstdarstellung sind. Back zeigt, warum Narzissmus Konflikte auslöst, aber auch Vorteile mit sich bringt: Ob beim Dating, in der Freundschaft oder im Beruf – Narzissten können andere Menschen begeistern und stoßen in ihrem Drang nach Anerkennung oft Innovationen und Fortschritt an.

»Spannend wie ein Thriller und gleichzeitig fundiert, witzig und charmant. So geht Wissenschaftskommunikation. Toll!«

Dr. Leon Windscheid, Psychologe, Unternehmer und Bestsellerautor

Der Autor

Mitja Back, geboren 1977, hat 2007 an der Universität Leipzig promoviert. Seit 2012 ist er Professor für Psychologische Diagnostik und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Münster. Er ist Autor von mehr als 180 Artikeln in internationalen Fachzeitschriften und -büchern und international führender Experte in der Erforschung narzisstischer Eigenschaften. Für hervorragende innovative Arbeiten auf dem Gebiet der Persönlichkeits- und Differentiellen Psychologie erhielt er von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie den William Stern-Preis. »Ich! Die Kraft des Narzissmus« ist sein erstes Publikumsbuch.

www.mitjaback.de

MITJA BACK

ICH!

DIE KRAFT DES

NARZISSMUS

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 Mitja Back

Copyright © 2023 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Illustrationen: Malte S.

Satz: Uhl+Massopust GmbH, Aalen

ISBN 978-3-641-29961-3V001

www.koesel.de

INHALT

Vorspiel Einladung zur ICH!-Reise

I WERBINICH!?

1 ICH!Ein grandioses Selbst auf der Jagd nach sozialem Status

2 Spielfelder des ICH!Von schillerndem Reichtum, nie dagewesener Großherzigkeit und perfekten Opfern

3 Spielarten des ICH!Mit einem Lächeln strahlen und mit Ellbogen kämpfen

4 Das kranke ICH!Warum Narzissten keine armen Würstchen sind, aber zu solchen werden können

II WOHERKOMMEICH!?

5 Die ICH!-Vergangenheit Ein Podest ganz ohne Trauma

6 Die ICH!-Anlage Ein energisches Erbe

7 Männer- und Frauen-ICH!Von feinen, aber kleinen Unterschieden

8 Kollektives ICH!Warum soziale Medien die heutige Generation nicht narzisstischer machen und wir trotzdem in einer narzisstischen Zeit leben

III WASBRINGEICH!?

9 ICH! und die Freundschaft Warum Narzissten uns faszinieren, wie wir sie erkennen und mit ihnen umgehen können

10 ICH! und die Liebe Ein heißes Spiel mit dem Feuer

11 ICH! und der berufliche Erfolg Wie Narzissten zu charismatischen Bossen, genialen Erfindern und skrupellosen Hochstaplern werden

12 Politisches ICH!Vom Spalten und Heilen in polarisierten Gesellschaften

Nachspiel Der ICH!-Reisebericht

ANHANG

Dank

Anmerkungen

Literaturempfehlungen

Vorspiel Einladung zur ICH!-Reise

Endlich Freitagabend. Ein gemütliches Beisammensein unter Freunden, Arbeitskollegen oder mit der Familie. Man tauscht sich aus, spricht über Urlaub und Essen, Gott und die Welt. Und dann der Auftritt eines dieser Super-Egos. Etwas zu laut, aber, man muss es zugeben, redegewandt und hübsch anzusehen. Immer einen raffinierten Spruch auf den Lippen und etwas zum Präsentieren dabei: Bilder einer krassen Party, eine Einladung zur eigenen Kunstausstellung oder eine Geschichte, die alle in ihren Bann zieht. Man kann sich ärgern oder das Schauspiel genießen – in jedem Fall drehen sich die nächsten Stunden um diesen Narzissten*. Aus dem Beisammensein ist eine Ego-Show geworden und wir sind das Publikum.

Ich bin seit Jahren fasziniert von Narzissten. Von Menschen, die nicht »ich?« fragen, sondern »Ich!« in die Welt rufen, Ich!, großgeschrieben und mit Ausrufezeichen. Diese Ich!s machen nicht nur das gemütliche Beisammensein am Freitagabend zu ihrer Show, sie begegnen uns auch in der Bar, auf der Bahnfahrt und im Büro – und auf allen anderen Bühnen dieser Welt. Narzissten sind kraftvolle Menschen voller Widersprüche. Sie interessieren sich scheinbar nur für sich selbst und sind doch auf andere angewiesen. Denn: Ohne Publikum und Applaus keine Bewunderung. Narzissten können mit einem strahlenden Lächeln begeistern, aber auch mit Ellbogen anecken. Sie legen ein riesiges Selbstbewusstsein an den Tag und reagieren doch sehr empfindlich auf Kritik. Widersprüchlich sind aber auch die Reaktionen auf das Ich!: Obwohl angeblich niemand Narzissten leiden kann, landen sie doch in Freundschaften, sind erfolgreich beim Flirten, sammeln Likes auf Social Media und werden (von anderen) zu Führungskräften befördert. Wie passt das alles zusammen?

Mit diesem Buch halten Sie ein Backstage-Ticket für die Ego-Show in den Händen. Hinter den Kulissen werden Sie entdecken, dass Narzissmus keine Frage von Schwarz oder Weiß ist: Wir alle sind mehr oder weniger narzisstisch. Auch Sie selbst haben einen bestimmten Narzissmusgrad. Narzissten sind einfach Menschen mit einem besonders hohen Ich!-Score. Sie denken etwas mehr als andere, großartig zu sein und besonders viel verdient zu haben. Und sie wollen stärker bewundert werden, als andere das wollen. Um die Entwicklung und die Folgen dieser Narzissmusunterschiede ranken sich geheimnisvolle Mythen: Sind Narzissten eigentlich tief im Innern verunsichert? Durch kaltherzige Eltern traumatisierte arme Würstchen, die ihre Schwäche durch ein Ich!-Theater überspielen? Verführt Social Media die heutigen Generationen zum Narzissmus? Sind Narzissten unfähig, Mitgefühl zu empfinden? Sind sie bösartige Psychopathen, die ihre Freunde, Liebespartner und Mitarbeitenden manipulieren und ausnutzen? In den Kapiteln dieses Buchs bekommen Sie die Gelegenheit, hinter die Ich!-Kulisse zu schauen und einige lieb gewonnene Narzissmusmythen durch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zu ersetzen. Ich lade Sie ein zu einer Reise, auf deren Weg erstaunliche Einsichten in narzisstische Untiefen und weite Ausblicke von narzisstischen Gipfeln auf Sie warten. Eine Reise, durch die Sie besser verstehen, was dieses Ich! ist und woher es kommt, wie man es erkennt (bei sich und bei anderen) und wie es soziale Beziehungen, Beruf, Politik und Gesellschaft beeinflusst.

AUF DEM WEG ZUM ICH!

Meine persönlicheIch!-Geschichte begann mit einer Niederlage. Im Sommer 2008 kehrte ich von einem Auslandsaufenthalt in den USA zurück nach Leipzig, wo ich zu der Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Die Promotion lag gerade hinter mir. Nun wollte ich die spannendste Erkenntnis meiner Doktorarbeit veröffentlichen: Anhand der Persönlichkeit und dem Auftreten von Menschen konnte ich vorhersagen, wer auf den ersten Blick gut ankommt. Das war das Ergebnis eines Experiments, für das ich einen ganzen Jahrgang Psychologie-Erstsemester eine Woche vor dem Start ihres Studiums in einem Hörsaal zusammengetrommelt hatte. Die 90 Studierenden mussten nacheinander einzeln nach vorn treten und sich vor der versammelten Gruppe vorstellen. Diese Selbstvorstellungen dauerten nur fünf bis zehn Sekunden. Währenddessen beurteilten alle anderen Studierenden die sich vorstellende Person mit einem Fragebogen: »Wie sympathisch ist Ihnen diese Person?«, »Würden Sie diese Person gern näher kennenlernen?«. Dann stellte sich direkt die oder der nächste Studierende vor. Und so ging es weiter. Platz für Platz. Reihe für Reihe. Bis sich alle Studierenden vorgestellt und gegenseitig eingeschätzt hatten. Eine kreative Studie und spannende Ergebnisse – ein großer Wurf, von dem die Welt erfahren muss, da war ich mir sicher. Doch wenige Wochen, nachdem ich die Ergebnisse in einem wissenschaftlichen Artikel (im Wissenschaftsjargon: Paper) beschrieben und bei der prestigeträchtigsten Zeitschrift der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie eingereicht hatte, wurde das Paper – abgelehnt!

Mitten im selbstmitleidigen Grummeln der nächsten Tage fiel mir plötzlich wieder ein Fragebogen ein, den die Studierenden ebenfalls ausgefüllt hatten, weil ich ihn irgendwie spannend fand: das Narcissistic Personality Inventory1, damals der gängigste Fragebogen zur Erfassung von Narzissmus. Er besteht aus 40 Satzpaaren, mit denen man sich selbst beschreiben kann. Man muss sich jeweils für den Satz entscheiden, der besser zu einem passt. Zum Beispiel: »Ich will in der Menge nicht auffallen« oder »Ich bin am liebsten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit«; »Ich bin weder besser noch schlechter als die meisten Menschen« oder »Ich glaube, ich bin etwas Besonderes«; »Von anderen Menschen kann ich viel lernen« oder »Ich habe mehr Fähigkeiten als andere Leute« und so weiter. Personen, die in diesen Beispielen häufiger die zweite Variante wählen, sind narzisstischer. Und irgendwie unsympathisch, oder? Wer mag schon solche aufgeblasenen Gockel, die sich für etwas Besonderes halten?

Das Schöne an empirischer Forschung ist, dass man seine Intuitionen überprüfen kann. Also ran an die Daten. Zu meinem Erstaunen sagten die Zahlen: Narzissten sind beliebter, nicht unbeliebter! Die Studierenden sagten Ja zum Ich!: »Finde ich sympathisch«, »Möchte ich gern näher kennenlernen«. Und weil ich die Studierenden bei ihren Selbstvorstellungen gefilmt hatte, konnte ich auch herausfinden, woran das lag: Narzissten waren besser gekleidet und lächelten mehr. Außerdem hatten sie einen aufrechteren Stand und flüssigere Bewegungen. Und sie schafften es, selbst in wenige Sekunden Selbstvorstellung Humor zu packen. Das Gegrummel war verflogen und ein neues Projekt war auf dem Weg mit dem Titel: »Why are narcissists so charming at first sight?« (auf Deutsch: »Warum sind Narzissten auf den ersten Blick so charmant?«). Ironischerweise wurde dieses Paper dann in der ersehnten Zeitschrift veröffentlicht.2 Und plötzlich war ich Narzissmusforscher.

Das Ich! hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Wie ticken Narzissten? Was treibt sie an? Leiden Narzissten oder finden sie sich tatsächlich so toll? Und woher kommt das Ich!? Ist Narzissmus angeboren oder wird man zum Narzissten erzogen? Oder sind es doch die sozialen Medien, die unser Ego aufplustern? Werden wir wirklich alle immer narzisstischer? Was passiert eigentlich, nachdem man Narzissten kennengelernt hat? Sind Narzissten fähig, zu lieben? Und wie gut kommen sie im Leben voran? Sind Schauspieler, Manager und US-Präsidenten narzisstischer? Und wenn ja, warum? Und was ist das eigentlich ganz genau, dieser Narzissmus?

DER ICH!-HYPE

Schon der römische Dichter Ovid hat kurz nach Beginn unserer Zeitrechnung in der Geschichte »Narcissus und Echo«3 den schönen Jüngling Narcissus beschrieben, der das Begehren der Nymphe Echo und vieler anderer zurückwies, sich stattdessen in sein eigenes Spiegelbild verliebte und daran zugrunde ging. Narcissus war zu dem Zeitpunkt bereits fester Bestandteil der antiken Mythologie, und man darf davon ausgehen, dass das Ich! existiert, seitdem der Homo Sapiens in sozialen Gruppen die Welt bevölkert. Bekannter wurde der Narzissmus im 20. Jahrhundert, vor allem durch Sigmund Freud, der Narzissmus als psychische Störung auffasste. Spätestens seit den 1980ern hat sich auch die wissenschaftliche Psychologie dem Narzissmus angenommen – nicht mehr nur als Störung, sondern als Persönlichkeitseigenschaft, die in der Normalbevölkerung unterschiedlich stark ausgeprägt ist.

Die Beschäftigung mit dem Ich! ist also nichts Neues. In den letzten zwanzig Jahren jedoch ist das Interesse am Narzissmus regelrecht explodiert. Allein im Jahr 2021 sind über 1000 wissenschaftliche Studien zum Ich! erschienen, während es in den 1990ern und bis Ende der 2000er nur zwischen 100 und 200 pro Jahr waren. Gleichzeitig hat sich Narzissmus zu dem Zeitgeistphänomen entwickelt. Das Ich! ist in aller Munde. Wir sehen Narzissten in unliebsamen Kollegen, aufgeblasenen Passanten, nervenden Verwandten und selbstverliebten Expartnern. Angeblich wimmelt es nur so von narzisstischen Politikern, Musikern, Sportlern, Managern, Schauspielern und sonstigen Promis. Donald Trump, Kanye West, Madonna, Cristiano Ronaldo, Elon Musk, Kim Kardashian oder der »Pop-Titan« Dieter Bohlen** … die Liste ließe sich endlos weiterführen. Jedes Jahr wird über 100 Millionen Mal nach »Narzissmus« oder »Narzissten« gegoogelt. Die Selbstbespiegelungen scheinbar narzisstischer Influencer werden auf Instagram, Twitter, TikTok und YouTube tausendfach vervielfältigt und kaum eine Netflix-Serie kommt ohne narzisstische Hauptfigur aus. Laut dem Journalisten Tobias Becker hat der Narzissmus sogar unsere ganze Gesellschaft im Griff: »Zeitdiagnostiker, Soziologen und Psychologen reden von einer ›Narzissmus-Epidemie‹, einer ›Generation Ich‹, einer ›Ich-Inflation‹ – und davon, dass sich die Verbreitung der narzisstischen Störung kaum noch beherrschen lasse, ›ähnlich der Pest im Mittelalter‹.«4 Leben wir in einer narzisstischen Zeit?

DAS ICH!-CHAOS

Im Ich!-Hype begegnet uns ein Wirrwarr an Begrifflichkeiten und Ideen, die mit der modernen wissenschaftlichen Narzissmusforschung der letzten 20 Jahre nur wenig zu tun haben. Oft wird Narzissmus als Krankheit dargestellt: »Narzissmus ist das Krankheitsbild unserer Zeit« titelt die FAZ 20155 und »Kollektiv gestört – sind wir alle Narzissten?« fragte der Deutschlandfunk 20186. Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass die Öffentlichkeit vor allem von Psychiatern und Therapeuten über den Narzissmus erfährt. In Büchern, Interviews und YouTube-Videos berichten sie von ihren individuellen Erfahrungen mit narzisstischen Patienten und schließen daraus auf Narzissten allgemein. Ich!s, die in therapeutischer Behandlung Hilfe suchen und bei denen eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wird, sind aber nur ein verschwindend kleiner Anteil an Narzissten. Und ein sehr ungewöhnlicher obendrein. Mit dem Narzissmus, dem wir tagtäglich begegnen, hat das relativ wenig zu tun. Auch die unzähligen Ratgeberhefte, Blogs, Podcasts und Selbsthilfekanäle zum Narzissmus orientieren sich meistens an diesem Krankheitsbild des Narzissmus. Sie rufen uns zu: »Das Ich! ist krank und böse!« In raunendem Ton wird vor »toxischen Beziehungen« und manipulierenden Narzissten gewarnt, und es wird verraten, wie man ihnen entkommt. Egal ob private, berufliche oder politische Katastrophen: Narzissmus ist der Sündenbock unserer Zeit.

Vielleicht ja auch zu Recht? Schließlich kann der narzisstische Egoismus in unseren Beziehungen, auf der Arbeit und in der Politik ganz schön viele Probleme bereiten. Die Faszination für scheinbar krankhaft narzisstische Freaks, drastische Ratschläge für den Umgang mit narzisstischen Beziehungspartnern und düstere Zeitprognosen – all das verstellt allerdings den Blick dafür, was es mit dem Phänomen Narzissmus tatsächlich auf sich hat. Mit diesem Buch möchte ich Ordnung in dieses Durcheinander bringen, mit einigen Mythen aufräumen und Ihnen ein klares, aktuelles und ehrliches Portrait des Ich! zeichnen.

DIE ICH!-REISE BEGINNT

Es geht in diesem Buch also um Narzissmus, wie er uns allen im Alltag immer wieder begegnet. Und wie er in uns allen selbst, mehr oder weniger stark, steckt. Hierbei baue ich auf den Ergebnissen vieler Forschender auf der ganzen Welt auf. Wie es sich für das Thema Narzissmus gehört, werde ich immer mal wieder auch von unseren eigenen wissenschaftlichen Studien berichten, an denen ich zusammen mit meinem wunderbaren Team gearbeitet habe: mit all den Mitarbeitenden und Studierenden, die mit mir gemeinsam Ideen ausgetüftelt, Daten erhoben, analysiert und an wissenschaftlichen Artikeln gefeilt haben.

Die Erkenntnisse der aktuellen Forschung erlauben einen völlig neuen Blick auf eines der schillerndsten Phänomene unserer Zeit. Narzissten sind in der Regel weder selbstunsicher noch bösartig. Sie sind auch nicht einfach nur selbstverliebt: Ihr eigenes Spiegelbild genügt ihnen nicht, um glücklich zu sein. Vielmehr strebt das Ich! mit voller Kraft nach der Bewunderung durch andere, nach sozialem Status – ohne Wenn und Aber. Und diese Kraft des Narzissmus kann sehr negative, aber auch sehr positive Konsequenzen haben. Um das zu verstehen, werden wir durch die bunten Weiten der Ich!-Welt reisen: Angefangen bei Geschichten aus dem Alltag über den roten Teppich von Hollywood bis hinein in die Influencer-Kultur des Internets lassen wir dabei kein Reiseziel und keine Sehenswürdigkeit aus. Schnallen Sie sich an, denn es wird ein wilder Ritt, mit vielen Aufs und Abs: Wir steigen mit narzisstischen Ich!-Unternehmern auf die höchsten Gipfel des Erfolgs und blicken in die tiefsten Tiefen des Ich!-Gehirns, analysieren die Höhenflüge narzisstischer Spitzensportler und Künstler und begleiten auch einige Narzissten bei ihrem tiefen Fall. Wir setzen uns mit dem Ich! an den Dating-Tisch und erleben eine Trennung von einem Narzissten, entdecken einen Narzissten im Bewerbungsgespräch, ergründen die Ich!-Kindheit und vieles mehr.

Es wird aber nicht nur um all das gehen, was wir heute über das Phänomen Narzissmus wissen – sondern auch darum, was wir damit anfangen können. Was Sie über sich selbst, die Erziehung von Kindern, Ihre Freundschaften, Familien-, Liebes- und Arbeitsbeziehungen und über Politik und gesellschaftliche Konflikte lernen können. Unsere Reise erstreckt sich über drei Etappen, auf denen Sie lernen, I) Wer das Ich! eigentlich ist, II) wo es herkommt und III) was es uns bringt. Auf jeder Etappe werden wir an vier Stationen (Kapiteln) Halt machen und das Ich! genauer unter die Lupe nehmen. Mit diesem Buch werden Sie in die Lage versetzt, das Ich! zu erkennen und besser mit ihm umzugehen – auf Ihre eigene Art und Weise. Ich möchte Sie außerdem dazu einladen, das Thema Narzissmus für eine Selbstreflexion zu nutzen: Wer sind Sie eigentlich selbst? Wie wählen Sie Ihre sozialen Beziehungen aus und gestalten diese? Und in was für einer Gesellschaft wollen Sie leben?

Beginnen wir die Ich!-Reise und tauchen wir dabei gleich ein in die Gedankenwelt einer Narzisstin – der 27-jährigen Investmentbankerin Lena, auf dem Weg in die lokale Szenebar …

* Mit »Narzissten« bezeichne ich Menschen jedweden Geschlechts, die eine hohe Ausprägung in der Persönlichkeitseigenschaft »Narzissmus« haben. Aus stilistischen Gründen entspricht in diesem Buch das verwendete grammatische Geschlecht nicht unbedingt dem biologischen oder sozialen Geschlecht. Personalpronomen und andere personenbeschreibende Ausdrücke stehen für Personen jeden Geschlechts.

** Aussagen zum Narzissmus von Personen in diesem Buch beziehen sich nicht auf Diagnosen einer Krankheit, sondern auf Fremdeinschätzungen des Autors im Hinblick auf eine im Vergleich zu anderen Menschen hohe Ausprägung der Persönlichkeitseigenschaft Narzissmus. Diese Einschätzungen sind weder abwertend noch stigmatisierend zu verstehen, zumal – wie sich in diesem Buch herausstellen wird – hohe Ausprägungen in Narzissmus nicht nur negative, sondern auch positive Konsequenzen haben.

I WER BIN ICH!?

Narzissmus ist eines der schillerndsten Phänomene unserer Zeit. Mit dem Begriff Narzissmus beschreiben wir im Alltag Personen mit einer Persönlichkeitsstörung, aber auch einfach aufgeblasene Menschen, die uns faszinieren oder uns auf den Zeiger gehen. Wir bringen es in Zusammenhang mit einem charmanten und selbstsicheren Auftreten, aber auch mit der aggressiven Abwertung anderer und sogar mit überspielten Selbstzweifeln. Wie passt das alles zusammen? Im ersten Teil des Buches wird Narzissmus in all seinen grundlegenden Facetten beschrieben, und zwar so, dass sich aus dem Haufen glitzernder Steinchen ein klares Mosaik ergibt: ein grandioses Selbst, das sich mit einem Strahlen und mit Ellbogen auf den Weg macht, die Welt zu erobern – oder daran zu scheitern.

Auf dem Weg, meinem Weg.

Trockene Kälte, pure Klarheit, Energie pumpt.

Das Pflaster fliegt unter mir hinweg, schnelle Schritte,

lautes Lachen im Dunkeln, ein warmes Grinsen brennt sich ins Gesicht.

Und hier bin ich, Tür auf, Stimmengewirr, hinein mit mir ins Licht.

Dort hinten sitzen die anderen, sie erwarten mich schon.

Federnd, fließend durch die Menge, den Armen entgegen,

Gemurmel, offene Münder, ein Magnet bin ich.

Sie lieben mich, sie können gar nicht anders,

Blicke, die mich wollen, mich allein.

Kennen Sie dieses Gefühl, unbesiegbar zu sein, zumindest für einen Moment? Etwas ganz Besonderes? Tagträumen Sie manchmal davon, Großes zu erreichen? Genießen Sie es, von anderen betrachtet und bewundert zu werden? Während manche Menschen nur wenig mit diesen Gedanken anfangen können, treten sie bei anderen häufiger auf. Und wieder anderen, Narzissten, sind sie gut bekannt. Wie unserer Protagonistin Lena, die gerade in der Szenebar ZumWeißen Elephanten angekommen ist. Wir werden auf der Reise durch die Welt des Ich! noch häufiger von ihr hören.

1 ICH!Ein grandioses Selbst auf der Jagd nach sozialem Status

Narzissten wie Lena haben ein ausgeprägtes Super-Ego. Aber was genau macht dieses Ego aus? Was ist es, das Narzissten antreibt? Was gibt ihnen den Schwung, mit dem sie ihre Umwelt charmant begeistern oder arrogant nerven können? Im Zentrum des narzisstischen Denkens stehen Grandiositätsvorstellungen und Anspruchsdenken.

GRANDIOSITÄT UND ANSPRUCH

Narzissten sind von ihrer eigenen Großartigkeit begeistert und halten sich für etwas Besonderes. Lassen wir ein berühmtes Ich!, den Maler Salvador Dalí, sprechen: »Jeden Morgen, wenn ich erwache, erlebe ich die allergrößte Freude: nämlich Salvador Dalí zu sein!«7. Gar gottgleich sieht sich Conor McGregor, der bekannteste Mixed-Martial-Arts-Kämpfer: »Ich und Jesus kommen miteinander klar. Ich komme mit allen Göttern klar. Götter erkennen Götter.«8 Und auf den Punkt brachte es der Ex-Boxweltmeister Muhammad Ali: »Ich bin der Größte!«9 Bei Narzissten dreht sich alles um das eigene grandiose Ich!.

Positive Selbsteinschätzungen sind erst mal nichts Ungewöhnliches. Die meisten von uns neigen dazu, sich in einem positiven Licht zu sehen. Um es mit den Worten des amerikanischen Arztes und Schriftstellers Oliver Wendell Holmes zu sagen: »Nichts ist so gewöhnlich wie der Wunsch, bemerkenswert zu sein.«10 Ein kleines Gedankenspiel: Wie intelligent sind Sie im Vergleich zu anderen Menschen? Auf folgender Prozentskala können Sie angeben, zu welchem Teil der Bevölkerung Sie Ihrer Meinung nach gehören. 50 Prozent heißt, dass Sie intelligenter sind als die unteren 50 Prozent der Bevölkerung (und weniger intelligent als die oberen 50 Prozent), also genau im Durchschnitt liegen. 20 Prozent heißt, dass Sie zu den unteren 20 Prozent gehören, 80 Prozent, dass Sie intelligenter sind als 80 Prozent der Bevölkerung, also zu den Top 20 Prozent gehören. Machen Sie einmal spontan ein Kreuz an der Stelle, die für Sie am ehesten passt:

Meine Vermutung: Sie haben Ihr Kreuz im Bereich 60 bis 80 Prozent gemacht, also leicht über dem Durchschnitt. Und das muss auch gar nicht falsch sein, denn schließlich ist die tatsächliche Intelligenz von Menschen sehr unterschiedlich verteilt. Interessant wird es aber nun, wenn wir uns anschauen, was Menschen im Durchschnitt auf diese Einschätzung antworten: ebenfalls 60 bis 80 Prozent! Das kann natürlich nicht stimmen. Es können ja nicht alle Menschen im Durchschnitt besser sein als der Durchschnitt (50 Prozent). Viele Menschen überschätzen also ihre eigene Intelligenz. Dieser sogenannte Besser-als-Durchschnitt-Effekt findet sich in sehr vielen Studien und bei vielen weiteren positiven Eigenschaften wie Aussehen, Sportlichkeit, Geschicklichkeit oder Humor.

Bei Narzissten zeigt sich der Besser-als-Durchschnitt-Effekt allerdings deutlicher. Ein Ich! sagt, dass es klüger, attraktiver, sportlicher, humorvoller ist als 90 Prozent oder im Extremfall 99 Prozent der anderen Menschen. Als der selbstverliebte Chefarzt Prof. Dr. Cox in der Fernsehserie Scrubs mal wieder einen Patienten gerettet hat, kann er nicht mehr an sich halten: »Oh mein Gott! Das war ich selbst! Das war ich, ich bin ein Genie, ich bin ein Meisterdenker in einem traumhaften Körper. Ich bin Dr. Jesus Cox. Der Messias!«11 Und wo wir schon bei Ärzten sind: Erinnern Sie sich an Interviews mit dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, nachdem seine geistige Leistungsfähigkeit von Ärzten untersucht worden war? Er prahlte ausgiebig damit, wie gut er die Testaufgaben lösen konnte. Er habe den Test »mit Bravour« bestanden und seine Ärzte seien »sehr überrascht gewesen. Sie sagten, das ist unglaublich. Kaum jemand schafft, was Sie gerade geschafft haben.«12 Tatsächlich geht es bei dem eingesetzten MoCA(Montreal Cognitive Assessment)-Test13 gar nicht um die Erfassung einer besonderen Begabung, sondern nur darum, Demenz auszuschließen. Die Aufgaben des Tests sind entsprechend einfach und werden von allen geistig gesunden Menschen problemfrei bearbeitet. Man muss zum Beispiel einfache Abbildungen von Tieren richtig benennen (»ein Löwe«, »ein Nashorn«). Oder eine Uhr mit der Uhrzeit »10 nach 11« malen. Einen Satz wiederholen. Sich an vorher genannte Wörter erinnern. Hieraus auf eigene geistige Überlegenheit zu schließen – das schafft nur ein besonderes Ich!. Narzissten finden sich grandios. Wie wir noch sehen werden, verleiht ihnen das im Alltag eine Kraft, die andere Menschen charmant in den Bann ziehen, aber auch arrogant abstoßen kann.

Aus der gefühlten Großartigkeit leiten Narzissten den Anspruch ab, mehr vom Leben erwarten zu dürfen als andere. Aus ihrer Sicht sind sie es einfach wert, mehr beachtet zu werden. Ihnen sollte Besonderes widerfahren, weil sie etwas Besonderes sind. Anflüge von so einem Anspruchsdenken kennen wir alle. Wenn wir zum Beispiel Geburtstag haben, dann darf sich für einen Tag lang ruhig einmal alles um uns drehen. Und irgendwie sollte es das auch. Oder wenn wir mit einer wirklich schlimmen Erkältung darniederliegen – dann gebührt uns das Mitleid, das Tätscheln und der vorbeigebrachte Tee. Ein Narzisst muss für eine solche Sonderbehandlung nicht krank sein oder Geburtstag haben. Jeder Tag ist ein Ich!-Tag. Mit unvergleichlichem Charme drückte der irische Schriftsteller und Lebemann Oscar Wilde dieses narzisstische Selbstverständnis aus: »Ich habe einen ganz einfachen Geschmack: Ich bin immer mit dem Besten zufrieden.«14 Das narzisstische Anspruchsdenken zeigt sich deutlich in Situationen, in denen es um die mehr oder weniger gerechte Verteilung von Ressourcen geht. Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, dass Sie und sechs andere Angestellte bei einer Internetfirma arbeiten. Um den Gewinn der Firma aufrechtzuerhalten, soll durch die Kürzung von Gehältern ein fixer Betrag eingespart werden. Auf wie viel Gehalt wären Sie bereit zu verzichten und auf wie viel sollten die anderen verzichten? Wie viel mehr Gehalt haben Sie verdient? Das ist eines der Entscheidungsspiele, die eingesetzt werden, um dem narzisstischen Anspruchsdenken auf die Schliche zu kommen.15 Narzissten entscheiden sich in dieser Situation eher dafür, die Gehaltskürzung auf die anderen Angestellten abzuwälzen. Ein Ich! verzichtet nicht gern. In einer Meta-Analyse (das sind gemeinsame Auswertungen von vielen einzelnen Studien) mit mehr als 9000 Teilnehmenden konnte die Psychologin Isabel Thielmann diese Effekte für viele solcher Entscheidungsspiele bestätigen16: Narzissten nehmen sich das größte Stück vom Kuchen. Sie haben es einfach verdient.

Sehr deutlich sieht man das an der Vorstellung des Musikers Kanye West, all der Ruhm auf der Welt gebühre ihm: »Ich bin die Nummer eins im Musikgeschäft. Das heißt, dass jede andere Person, die lebt oder atmet, Nummer zwei ist.«17 Und als der ehemalige Entertainer und Bürgerrechtler Harry Belafonte dem ersten Milliardär der Hip-Hop-Branche JayZ fehlende soziale Verantwortung vorgeworfen hatte, antwortete JayZ, dass er schlicht mehr Geld verdiene und anderen nichts abgeben müsse, denn: »Meine Anwesenheit ist Nächstenliebe.«18 Faszinierend, diese aufgeblasenen Ich!s, oder? Glauben sie wirklich an das, was sie sagen? Und wissen Narzissten eigentlich, dass sie mit ihrer Art nicht nur charmant und selbstbewusst, sondern manchmal auch ziemlich arrogant rüberkommen? Bevor wir die Frage der Ich!-Einsicht klären, lassen Sie uns zunächst mit Ihnen selbst beginnen. Wie sieht es eigentlich mit Ihrem Ich! aus? Haben Sie wirklich gar keine Anflüge von Großartigkeit und gefühlter Besonderheit? Und denken Sie wirklich niemals, dass Sie etwas einfach mehr verdient haben als andere?

DER ICH!-TEST

Narzissmus, das betrifft nicht nur die anderen. Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein und mehr zu verdienen als andere, ist keine Krankheit. Narzissten sind nicht nur irre Freaks, die wir bestaunen und kopfschüttelnd belächeln können. Wir alle sind mehr oder weniger narzisstisch, so wie wir alle irgendeine Körpergröße haben. Die einen sind besonders klein, die anderen besonders groß und die allermeisten Menschen liegen irgendwo dazwischen. Die Großen fallen uns am meisten auf. Genauso ist es auch mit dem Ich!. Die einen haben sehr niedrige Ich!-Werte: Sie sind fast übermäßig bescheiden, halten sich extrem zurück und wollen nie im Mittelpunkt stehen. Die anderen sind voll ausgeprägte, nicht zu übersehende Ich!s: Grandiosität und Anspruch in vollster Blüte. Und viele Menschen liegen irgendwo dazwischen: Sie finden sich durchaus hin und wieder toll und fordern auch mal Dinge ein, aber nicht in dem Ausmaß, dass man sie Narzissten nennen würde. Wenn wir schauen, wie häufig Ich!-Ausprägungen auf dem Spektrum von sehr niedrig (0 Ich!-Punkte ganz links in der folgenden Abbildung) bis sehr hoch (100 Ich!-Punkte ganz rechts in der Abbildung) vorkommen, sehen wir, dass sich die meisten Menschen in einem niedrigen und mittleren Ich!-Score-Bereich befinden. Hin zu sehr hohen Ich!-Scores werden es immer weniger Personen.

Die Kurven zeigen die Häufigkeiten der Körpergrößen und Ich!-Scores. Je höher die Kurve, desto mehr Personen haben den entsprechenden Wert, der unten auf der Körpergrößen- bzw. Ich!-Score-Skala abzulesen ist. Die Balken umfassen jeweils einen Bereich von 10 Zentimeter bzw. 10 Ich!-Scores. Jeder Punkt innerhalb der Balken symbolisiert eine Person. Die Ich!-Kurve ist im Vergleich zur Körpergrößenkurve etwas nach links verschoben, weil es etwas mehr Menschen mit niedrigen Ich!-Werten als solche mit hohen Ich!-Werten gibt.

Schauen wir uns Ihr Ich! einmal an. Wo liegen Sie auf dieser Kurve? Egal was herauskommt, Sie können etwas über sich, Ihre Vorlieben und Einstellungen lernen. Und darüber, wie Ihr Ich! so dasteht: im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, Personen Ihres Alters oder auch im Vergleich mit den eigenen Freunden, Partnern und Familienmitgliedern. Psychotests gibt es wie Sand am Meer und Sie haben vielleicht schon selbst den ein oder anderen ausgefüllt. Viele der in Selbsthilfebüchern, Magazinen und Internet-Blogs dargebotenen Tests sind allerdings Unfug. Weil sie wissenschaftlich nicht überprüft sind, alles Mögliche auf einmal messen und versuchen, Sie in Schubladen zu stecken, die es so nicht gibt. Ich habe für dieses Buch aus verschiedenen wissenschaftlich überprüften Narzissmustests die geeignetsten Fragen zusammengestellt. Dieser Ich!-Test kommt ohne Hokuspokus daher: Er erfasst Ihr Ich! in feinen Abstufungen (von 0 bis 100) und erlaubt eine Einordnung dazu, wie stark narzisstisch Sie sind. Wenn Sie Lust haben, dann füllen Sie den Ich!-Test gleich hier aus oder nutzen Sie folgende Online-Version mit automatischer Auswertung: www.mitjaback.de/ich-test.

Mit Ihrem Ich!-Score können Sie natürlich erst mal noch wenig anfangen. Was genau bedeutet denn nun ein Wert von 42 oder von 9, 76, 28 oder 65? Um Ihr Ich! richtig einschätzen zu können, brauchen Sie Vergleichswerte. Bei welchen Ich!-Scores landen andere Menschen denn so? Und ab wann gilt ein Wert als hoch, niedrig oder durchschnittlich?

An dem Test, den Sie gerade ausgefüllt haben, haben bereits mehr als 10000 Frauen und Männer aus ganz Deutschland teilgenommen. Hierbei waren alle Altersgruppen, Bildungsschichten und Bundesländer vertreten. Der durchschnittlicheIch!-Score in Deutschland liegt bei 37, wobei die meisten Menschen einen Wert zwischen 16 und 58 haben. Wenn Sie in diesem Bereich liegen, dann haben Sie ein Ich! wie 60 bis 70 Prozent der Menschen in Deutschland und gelten damit als durchschnittlich narzisstisch. Bei Werten, die kleiner als 16 sind, haben Sie ein unterdurchschnittliches Ich!. Sie sind dann weniger narzisstisch als die meisten Menschen. Und bei Werten, die größer als 58 sind, haben Sie ein überdurchschnittlich ausgeprägtes Ich!: Sie dürfen sich nun offiziell einen Narzissten nennen. Etwa 16 Prozent der Deutschen haben einen solchen überdurchschnittlich hohen Ich!-Score. Wenn Sie durch das Einkaufscenter laufen, ist etwa jede sechste Person, die Sie sehen, ein Narzisst.

Aber natürlich sind nicht alle Narzissten gleichermaßen narzisstisch. Als Narzisst kann man einen gerade so überdurchschnittlichen Wert haben (beispielsweise 60) oder die Ich!-Skala fast komplett ausreizen (zum Beispiel mit 93). Und es gibt auch innerhalb der Menschen mit unterdurchschnittlichen Ausprägungen solche mit besonders niedrigen Werten (beispielsweise 5). Durchschnittliche Werte wiederum reichen von ziemlich niedrig (schon fast unterdurchschnittlich, wie 18) bis ziemlich hoch (schon fast überdurchschnittlich, zum Beispiel 55). Beim Ich! geht es nicht um Schwarz oder Weiß. Narzissmus ist ein Spektrum, das von sehr wenig bis sehr stark narzisstisch reicht und alle Grauschattierungen beinhaltet. Diese Abstufungen gibt es in allen sozialen Gruppen, in denen Sie sich in Ihrem Leben bewegen. Ob Sie beim Bäcker in der Schlange stehen, in der S-Bahn die Zeitung lesen, in der Vorlesung oder im Meeting sitzen, mit Freunden im Fußballstadion jubeln oder sich beim Familienfest zuprosten – Sie sind umgeben von Menschen mit unterschiedlichsten Ich!-Scores. Und Sie selbst befinden sich eben auch irgendwo auf diesem Narzissmusspektrum. Wenn Sie einen unterdurchschnittlichen Wert haben oder einen überdurchschnittlichen, also ein echtes Ich! sind, dann werden Sie das vielleicht insgeheim auch schon geahnt haben. Interessanterweise können wir nämlich relativ gut einschätzen, wie narzisstisch wir selbst sind.

ICH!-EINSICHT

Eine Kollegin von mir, Erika Carlson von der University of Toronto in Kanada, beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, wie gut wir uns selbst und andere Menschen einschätzen können. In mehreren Studien hat sie die verbreitete Annahme getestet, dass Narzissten eine schlechte Selbsteinsicht haben und gar nicht wissen, wie sie bei anderen rüberkommen. Hierbei hat sie das Ich! aus mehreren Perspektiven beleuchtet: Sowohl für sehr positive Eigenschaften (zum Beispiel intelligent, attraktiv) als auch für typisch narzisstische negative Eigenschaften (beispielsweise arrogant, angeberisch) hat sie getestet, wie Narzissten sich selbst einschätzen (Selbstwahrnehmungen). Und sie hat auch untersucht, wie Narzissten denken, von anderen – zum Beispiel ihren Mitstudierenden, ihren Arbeitskollegen oder ihrem Partner – eingeschätzt zu werden (Metawahrnehmungen). Die Ergebnisse wurden in einer Studie mit dem legendären Titel You probably think this paper’s about you berichtet. Der Titel ist eine Anspielung auf das Lied You’re so vain der Sängerin Carly Simon über einen narzisstischen Exfreund, in dem sie singt: »You’re so vain. You probably think this song is about you.« (»Du bist so eingebildet. Du denkst wahrscheinlich, dieser Song handelt von dir«).19 Wie in vielen anderen Studien nahmen Narzissten sich selbst als besonders klug, schön und offen wahr. Interessanterweise beschrieben sie sich aber auch selbst als angeberisch, impulsiv und machtorientiert. Und Narzissten wussten, dass andere sie nicht ganz so positiv beurteilen und durchaus als narzisstisch einschätzen. Personen mit einem ausgeprägten Ich! wissen also recht gut, dass sie narzisstisch sind und wie arrogant das bei anderen ankommt.

Und ihnen ist das alles andere als peinlich. Ich!s haben in der Regel kein Problem mit ihren narzisstischen Eigenschaften. Für Narzissten sind die offene Darstellung der eigenen Fähigkeiten (Angeberei), die schnelle Umsetzung eigener Wünsche (Impulsivität) und die konsequente Verfolgung eigener Interessen (Machtorientierung) keine Schwächen. Für sie sind es Stärken, die sie voranbringen und die nur von weniger gesegneten Kleingeistern nicht wertgeschätzt werden. Genauso dachte zum Beispiel der narzisstische Star-Architekt Frank-Lloyd Wright, als er sagte: »Früh im Leben musste ich mich zwischen ehrlicher Arroganz und scheinheiliger Bescheidenheit entscheiden. Ich entschied mich für ehrliche Arroganz und habe seitdem keinen Anlass gesehen, daran etwas zu ändern.«20 Ehrliche Arroganz ist aus der Sicht von Narzissten die logische Konsequenz ihrer tatsächlichen Überlegenheit. In der Missgunst und im Neid ihrer Zweifler sehen sie nur eine Bestätigung für ihre eigene Großartigkeit. Ihr Motto lautet Let the Haters hate! (Lass die Hasser hassen!). Wie bewusst sich Narzissten ihrer Außenwirkung sind, zeigt sich auch an einem typischen Sprachspiel, das manche Ich!s in ironischer Perfektion beherrschen: ein kurzer Anflug von (scheinheiliger) Arroganzverneinung oder gar Bescheidenheit, nur um diese im nächsten Moment mit vollem Ich!-Karacho in die Luft zu jagen. Noel Gallagher, der Frontmann von Oasis, sagt: »Wir sind nicht arrogant. Wir glauben nur, dass wir die beste Band der Welt sind.«21In der gleichen Struktur, aber mit noch subtilerer Schönheit, soll es Noel Gallaghers Trauzeuge, der Komiker, Schauspieler und Aktivist Russel Brand formuliert haben: »Ich bin nicht besser als du – ich bin nur anders als du, auf eine Art, die besser ist.«22

Und wie ist es mit Narzissten in Ihrer Umgebung? Füllen Sie den Ich!-Test doch mal so aus, wie Sie denken, dass Ihr narzisstischer Partner oder Bruder, Ihre narzisstische Tante oder Kollegin ihn ausfüllen würde. Und wenn die Person mitmacht, dann legen Sie ihr den Test wirklich vor und gleichen Sie ab. Das können Sie natürlich auch mit Personen machen, von denen Sie denken, dass sie sehr wenig narzisstisch sind. In vielen Fällen werden Sie mit Ihren Einschätzungen richtig liegen. Aber es wartet sicher auch die ein oder andere Überraschung auf Sie.

AUF DER JAGD NACH DER STATUSDROGE: ICH! WILL BEWUNDERT WERDEN

Grandiosität und Anspruch stehen also im Zentrum des Ich!s. Ich habe Ihnen aber noch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Im Ich!-Test stecken noch Aussagen, die eine weitere zentrale Zutat des Ich! erfassen: »Es macht mir Spaß, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein«, »Ich möchte bewundert werden« und »Ich strebe danach, von vielen Menschen gekannt zu werden«. Das Ich! will bewundert werden, bekannt sein, oben stehen. Es ist der tiefsitzende Wunsch nach sozialem Status, der Narzissten antreibt. Für das Ich! gibt es nichts Belohnenderes als die soziale Droge der Bewunderung, aber auch nichts Bestrafenderes als sich diese vor der Nase wegschnappen zu lassen. Der Stadtplaner, Architekt und Autor Georg Franck bringt es auf den Punkt: »Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen.«23 Das gilt für viele Menschen, aber Narzissten sind besonders süchtig danach. Das euphorische Schreien der Massen, das Gefeiert-Werden für die eigene Leistung, die anerkennenden Blicke im Familien- oder Freundeskreis und die vielen Twitter- und Instagram-Follower: Es ist die Bewunderung der anderen, die die gottgleiche Selbstsicht von Narzissten befriedigt.

In wissenschaftlichen Studien zeigt sich immer wieder, dass nicht nur Promis, sondern auch die Allerwelts-Narzissten unter uns stark nach sozialer Bewunderung streben.24Ich!s sind also nicht einfach nur selbstverliebt. Sie wollen immer neue Anerkennung. Ovids Geschichte von Narcissus hinkt also etwas: In Wirklichkeit hätte sich der schöne Jüngling nicht einfach selbst genügt. Die Bewunderung durch Echo und die anderen Nymphen hätte ihn nicht kaltgelassen – er hätte sie genossen. Im Spiegel sehen Narzissten nicht nur sich selbst, sondern immer auch das Glänzen in den Augen der anderen. Das unterscheidet sie auch von Menschen, die nur einen hohen Selbstwert haben, also zufrieden mit sich sind und sich sozial aufgehoben fühlen. Das ist für Narzissten nicht genug. Sie wollen etwas Besonderes und besser als andere sein. Das Maximum aus dem Leben herausholen. Auf einem sozialen Podest stehen. Und einmal oben angekommen, muss es weitergehen. Wie bei jeder Droge muss auch bei der Statusdroge die Dosis erhöht werden: »Ich werde nicht glücklich sein, bis ich so bekannt bin wie Gott«, sagte Madonna.25

Entsprechend dreht sich auch im Ich!-Alltag alles um das Erreichen von sozialem Status. Narzissten suchen nach Situationen, in denen sie bewundert werden können. Sie wollen auf die Bühnen des Lebens. Zum Beispiel gehen sie eher auf eine Party, bei der sie die Gelegenheit haben, neue Menschen kennenzulernen – und diese zu begeistern – als zu einem gemütlichen Abend mit Freunden, bei dem es für sie weniger zu gewinnen gibt. Und wenn es sie dann doch mal in die gemütliche Runde verschlägt? Dann muss die Bühne eben schnell selbst gezimmert werden. Eine spontane Gesangseinlage könnte helfen. Oder eine spannende Geschichte – eine wohlbekannte, von den alten Lebenshöhepunkten oder auch eine ganz frische, von den neuesten Erfolgen und Erlebnissen. Vom neuen, aufregenden Start-up-Projekt. Der bewusstseinserweiternden Meditationserfahrung. Dem exotischen Urlaubstrip. Oder ein kleiner Wettbewerb: Wer schafft mehr Liegestütze? Wer kann den Zungenbrecher am besten aufsagen? Wessen Allgemeinwissen leuchtet beim Trivial Pursuit auf? Narzissten beobachten in sozialen Situationen außerdem sehr aufmerksam, wie gut sie und andere ankommen. Und sie denken dann darüber nach, wie sie ihren eigenen Status im Vergleich zu anderen erhöhen können. Begeben wir uns noch einmal in die Gedankenwelt der in der Bar angekommenen Lena:

Um mich herum

Stimmen und Staunen.

Der Lacher hat gesessen.

Hören mir alle zu?

Und wer ist der Typ da hinten,

an dessen Lippen sie hängen?

Ich haue noch mal einen raus

und ziehe sie

an mich heran.

Narzissten beobachten also sehr genau, wie sie auf andere wirken. In gewisser Weise tun wir das natürlich alle. Der Mensch ist ein soziales Tier: Zufriedenheit und Erfolg im Leben ist von Beziehungen mit anderen Menschen abhängig. Für uns ist es sehr wichtig, dass andere Menschen uns als wertvolles Mitglied der Gemeinschaft sehen und unsere Leistungen wertschätzen. Deshalb haben sich in der Menschheitsgeschichte Fähigkeiten entwickelt, die uns dabei helfen, unseren »sozialen Wert« zu erkennen. Empfindliche Messgeräte (engl.: meter) in unserem Kopf, die überwachen, wie gut es gerade sozial funktioniert. Wie stark die Messgeräte allerdings ausschlagen, darin unterscheiden sich Menschen. Die meisten Menschen haben ein ausgeprägtes Soziometer, ein Messgerät, das registriert, wie gut man momentan sozial eingebunden ist. Wenn wir wahrnehmen, dass uns andere gerade mögen, dann sind wir froh und fühlen uns wertvoll. Wir haben einen hohen Selbstwert. Wenn wir uns allerdings ausgeschlossen fühlen, dann sind wir traurig, zweifeln an uns. Der Selbstwert ist angeknackst. Personen mit einem hohen Selbstwert machen häufig die Erfahrung, sozial eingebunden zu sein.

Dazuzugehören ist für Ich!s, wie für uns alle, sehr wichtig – aber nicht das Wichtigste. Narzissten wollen nicht nur akzeptiert werden, sondern oben stehen, bewundert werden. Andere dominieren. Sie haben ein stärker ausgeprägtes Hierometer. Das Hiero steht hierbei für Hierarchie (Rangordnung) – zusammengesetzt aus dem altgriechischen hieros für »heilig« und archē für »Herrschaft«. Mit anderen Worten: Narzissten haben ein empfindliches Messgerät für Rangordnungen. Sie achten sehr genau auf sozialen Status – ihren eigenen und den der anderen. Wie das Soziometer, so ist auch das Hierometer ein Messgerät, das alle Menschen besitzen: Wir alle beobachten in einem gewissen Ausmaß, wie wir mit unserem Status gerade so dastehen. Narzissten tun das aber deutlich häufiger und intensiver. Je höher der Ich!-Score, desto stärker schlägt das Hierometer aus. Wie wir in Kapitel 3 noch genau sehen werden, reagieren Narzissten stärker positiv als andere auf Anzeichen des sozialen Respekts und der sozialen Bewunderung (vor allem mit Stolz), und sie reagieren stärker negativ als andere, wenn Respekt und Bewunderung verwehrt werden (vor allem mit Ärger). Narzissten haben häufig auch einen höheren Selbstwert, zumindest solange sie auch sozial gut eingebunden sind (wann es mit dem Selbstwert von Narzissten bergab geht, schauen wir uns in Kapitel 4 an). Andersherum sind nicht alle Menschen mit sehr hohem Selbstwert automatisch Narzissten: Man kann sehr zufrieden mit sich sein, ohne bewundert werden zu wollen. Das Ich! aber will bewundert werden – Narzissten streben nach sozialem Status.

Das narzisstische Streben nach Bewunderung ist aufs Engste mit den anderen beiden Zutaten des Ich! verbunden: Grandiosität und Anspruch. Zum einen wird erst durch die Bewunderung die eigene Grandiosität sichtbar und der Anspruch befriedigt. Beim Blick in den Spiegel sind Narzissten nicht nur von sich selbst begeistert, sie wollen auch, dass andere diese Begeisterung teilen – das Spiegelbild schaut aufs Ich! und sagt: Die Welt soll sehen, wie großartig Ich! bin und wie viel ich verdient habe! Zum anderen verstärkt das Statusstreben die Grandiosität und den Anspruch von Narzissten: Narzissten erwarten und spüren die Bewunderung, und das füttert ihr Ego. Beim Blick in den Spiegel nimmt das Ich! immer auch die Rolle des jubelnden Publikums ein – es schaut auf sein Spiegelbild und sagt: Wow, du bist etwas Besonderes und hast mehr verdient! Nicht nur narzisstische Promis drehen sich voller Energie in diesem Ich!-Kreis. Denken Sie einmal an die Bekannte, die mit der Erwartung, bewundert zu werden, auf der Party erscheint – weil sie sich für besonders schön, witzig und klug hält. Und die sich die gesammelte Aufmerksamkeit als Futter für ihren Ich!-Hunger einverleibt. Oder den selbstverliebten Neffen mit einem Hang zum Redenschwingen und einer Vorliebe für teuren Wein. Der mit dem Gefühl, ein besonderer Gast zu sein, im Restaurant erwartet, sofort bedient zu werden. Und der sich gleichzeitig im Licht der exklusiven Behandlung sonnt. Und wenn Sie selbst auf der Arbeit mal so richtig abliefern können, dann fühlen Sie sich doch schon auch ganz gut und erwarten etwas Anerkennung, die wiederum dem eigenen Ego schmeichelt. Oder? Für Personen mit sehr hohen Ich!-Scores gilt das halt einfach viel stärker: Sie fühlen immer wieder, dass sie toller sind, erwarten deutlich mehr und sind ganz besonders daran interessiert, von anderen bewundert zu werden.

Aber welche Ziele sind es, die Narzissten typischerweise im Leben verfolgen, um Grandiosität, Anspruchsdenken und Statusstreben gerecht zu werden? Diese Ich!-Ziele wollen wir uns jetzt genauer anschauen. Auch im Vergleich dazu, was weniger narzisstische Menschen anstreben.

ICH!-ZIELE – DIE LEBENSENERGIE AUFS VORANKOMMEN SETZEN

Wir alle haben zahlreiche Ziele. Manche dieser Ziele sind kurzfristiger, beispielsweise, wenn wir unser Wohnzimmer streichen wollen, einen Kurzurlaub oder einen schönen Abend zu zweit planen. Wenn wir an einer Präsentation, einer Tabellenkalkulation oder einer Rundmail arbeiten. Wenn wir einen Ausflug mit den Kindern oder Freunden unternehmen. Andere Ziele sind langfristiger, sie geben unserem Leben eine Richtung: Wir möchten ein ruhiges Familienleben, Spaß und Genuss im Leben. Eine erfolgreiche Karriere, glückliche Kinder und enge Freunde. Und Sie wissen nur zu gut, dass wir zwar vieles wollen, aber nicht alles gleichzeitig mit voller Energie verfolgen können. Wir haben nur begrenzte zeitliche, körperliche und finanzielle Ressourcen. Und deswegen müssen wir alle – nicht nur Menschen mit einem stark ausgeprägten Ich! – immer wieder entscheiden, wie viel Energie wir in welche Ziele investieren.

Welche Ziele haben Sie? Wie setzen Sie Ihre sozialen Prioritäten? Lassen Sie uns ein kleines Spiel spielen. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Reservoir von 100 Lebenspunkten, mit dem Sie Ihre Lebensziele vorantreiben können. In welche der folgenden Ziele investieren Sie wie viele Ihrer Lebenspunkte? In der Tabelle finden Sie eine Auswahl von wesentlichen Lebenszielen und hinter jedes dieser Ziele können Sie die Menge der Lebenspunkte schreiben, die Sie hierin investieren möchten. Verteilen Sie hierbei genau die Ihnen zur Verfügung stehenden 100 Punkte.

Gar nicht so einfach, oder? Bei der Investition in Lebensziele befinden wir uns in einer Spannung: In ein Ziel zu investieren, bedeutet immer auch weniger Lebenspunkte für andere Ziele zur Verfügung zu haben. Wir können also nicht die Erreichung aller Lebensziele gleichzeitig optimieren. Wir müssen uns entscheiden, in welche Ziele wir mehr und in welche wir weniger investieren. Natürlich können wir die Punkte auch komplett gleich verteilen, also in jedes Ziel 16 bis 17 Punkte investieren. Aber dann haben wir gar kein Ziel, das wir so richtig mit Herzblut und viel Zeit verfolgen können.

Menschen lösen diese herausfordernde Lebensaufgabe sehr unterschiedlich. Schauen wir uns zwei Beispiele an: die investierten Lebenspunkte von Ben, 42 Jahre alt und Grundschullehrer (Ich!-Score: 20), und Lena, in deren Gedankenwelt wir schon waren, 27 Jahre alt und Investmentbankerin (Ich!-Score: 80):

Ben gehen die glückliche Ehe mit seiner Jugendliebe und die gemeinsamen Töchter über alles. Durch seinen Beruf als Lehrer hat er nach der Arbeit meistens genügend Zeit für die Familie. Im Moment legt er mit den Mädels einen kleinen Kräutergarten an. Der sonntäglicheTatort-Abend mit seiner Frau und dem gemeinsamen, langjährigen Freundespärchen ist gesetzt. Mit sexuellen Abenteuern hat er keine Erfahrung. Das Necken mit der Kollegin beim Mittagessen ist nett, aber er würde nie etwas mit ihr anfangen. Im Mittelpunkt zu stehen, findet er unangenehm, und beruflicher Erfolg ist ihm nicht so wichtig. Er muss nicht zum Schulleiter aufsteigen, solange er das Gefühl hat, seine Schüler gut fördern zu können. Im Beruf wie im Privaten versucht er, andere Menschen so gut es geht zu unterstützen. Er engagiert sich ehrenamtlich bei einem gemeinnützigen Nachhilfe-Verein für benachteiligte Kinder.

Lena möchte beruflich etwas erreichen. Sie hat durch ihren exzellenten Universitätsabschluss und die richtigen Kontakte, die sie über ihre Praktika in den USA und England aufgebaut hat, die besten Voraussetzungen für eine steile Karriere. Hierfür nimmt sie die üblichen 60-Stunden-Wochen gern in Kauf. Der Erfolg gibt ihr recht. Nun ist es Zeit für den nächsten Schritt. Während andere von den schnellen Entwicklungen überfordert sind, wird sie schon bald die Fäden mit in der Hand halten. Lena nimmt sich, was sie braucht, und das gilt auch für ihr Liebesleben. Für das Frühstück danach und aufdringliche Sentimentalitäten hat sie meist keinen Sinn. Ihre zwei engen Freunde sieht Lena leider nur selten, aber wenn, dann haben sie immer viel Spaß. Lena sieht sich durchaus als hilfsbereit. Gejammer kann sie jedoch nicht ausstehen. Aus ihrer Sicht sollten sich viele Menschen einfach mal am Riemen reißen.

Bens Entscheidungen zu seinen Lebenszielen sind typisch für Menschen mit einem gering ausgeprägten Ich!, während Lenas Lebenspunkt-Investitionen eines Hardcore-Narzissten würdig sind. Ben und Lena unterscheiden sich in zwei großen Bereichen, die in der Psychologie menschlicher Ziele unterschieden werden: soziales Vorankommen (getting ahead) und soziales Zurechtkommen (getting along). Wir alle wollen in einem gewissen Ausmaß vorankommen und zurechtkommen. Allerdings können wir nicht beides gleichzeitig voll ausreizen. Wenn wir maximal in das Vorankommen investieren, also unserer persönlichen Karriere und Berühmtheit alles andere unterordnen, bleibt wenig Zeit für Familie, Freunde und Verein. Wenn wir umgekehrt maximal in das Zurechtkommen investieren, wenn also das Pflegen unserer engen Beziehungen und die Unterstützung von Bekannten und Kollegen immer Vorrang hat, dann werden wir, was das persönliche Vorankommen angeht, zurückstecken müssen. Narzissten sind vor allem am Vorankommen orientiert, während Personen mit einem sehr niedrigen Ich!-Score vor allem am Zurechtkommen orientiert sind.

Das sieht man sehr deutlich, wenn wir Bens und Lenas Lebenspunkt-Investitionen in die beiden Bereiche des Zurechtkommens (feste und innige Beziehung, gute Freunde, Menschen helfen) und des Vorankommens (sexuelle Abenteuer, Bekanntheit und Einfluss, beruflicher Erfolg) sortieren und innerhalb der Bereiche aufsummieren. Ben investiert insgesamt 83 Lebenspunkte ins Zurechtkommen und nur 17 Lebenspunkte ins Vorankommen, während das bei Lena genau umgekehrt ist: 84 Lebenspunkte investiert sie ins Vorankommen und nur 16 Lebenspunkte ins Zurechtkommen. Ihr Ich!-Lebensrezept basiert auf Bekanntheit und Erfolg (angenehm unkompliziert garniert mit sexuellen Abenteuern). Das heißt aber nicht, dass Lena gar nichts mit Liebe und Gemeinsamkeit anfangen kann und keinen Spaß mit Freunden haben will. Ihr Streben nach Status und selbstbestimmtem Handeln ist nur schlicht stärker. Und wenn es drauf ankommt, setzt es sich durch. Lena ist auch nicht unfähig, die Gefühle ihrer Mitmenschen zu verstehen. In Kapitel 9 werden wir sehen, dass das für Narzissten generell gilt. Lena ist wie viele andere Ich!s kein eiskaltes soziales Wesen, das zu Mitgefühl nicht in der Lage ist. Sie möchte einfach nur nicht so viel Energie hierauf verwenden, weil ihr das Vorankommen wichtiger ist. Das erklärt auch, warum die meisten Narzissten mit ihrem Ich! ganz zufrieden sind. Sie erinnern sich? Narzissten haben eine gute Einsicht in ihre narzisstischen Züge und wissen, dass sie damit arrogant rüberkommen. Mit dieser ehrlichen Arroganz haben sie aber kein Problem, denn sie schadet zwar dem Zurechtkommen, aber weniger dem Vorankommen. Lena hat die Verheißung glänzenden Erfolgs immer vor Augen. Sie sieht den weiteren Verlauf ihres Lebens schon vor sich: die Geschichte einer am Ende strahlenden Gewinnerin.

ICH!-GESCHICHTEN

Das am Vorankommen orientierte Ich! äußert sich auch in narzisstischen Tagträumen von großartigen Erfolgen, einzigartigen Erfindungen und tosendem Applaus. Und wir hören es in den Lebensgeschichten vom selbst gemachten Aufstieg, die Narzissten sich selbst und anderen erzählen. Gerade erfolgreiche Narzissten erzählen diese Lebensgeschichten sehr gern. Man muss sich nur anschauen, mit welcher Leidenschaft prominente Ich!s wie Bodybuilder, Schauspieler und Politiker Arnold Schwarzenegger, Apple-Gründer Steve Jobs, Technikmogul Elon Musk oder Mixed-Martial-Arts-Kämpfer Conor McGregor von ihrem Leben berichten. Hierbei springen einem drei Gemeinsamkeiten ins Auge. Erstens: Die Protagonisten erzählen eine Geschichte des steilen Aufstiegs, in der sie von ganz unten kamen und ganz oben landeten. Arnold Schwarzenegger, wie er sich als Jugendlicher in Österreich eingeengt fühlte und nicht richtig wusste, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Steve Jobs, wie er sich als Adoptivkind und Studienabbrecher unter anderem mit dem Sammeln von Pfandflaschen über Wasser halten musste. Conor McGregor, wie er aus bescheidenen Verhältnissen kommend zuerst als Klempner arbeitete und seinen Job hasste. Und Elon Musk, wie er in der Schule immer wieder verprügelt wurde, sich als junger Gründer nach dem Abbruch des Studiums keine eigene Wohnung leisten konnte und deswegen in einem kleinen Büro übernachten musste. Von hier aus ging es dann raketengleich nach oben.

Die zweite Gemeinsamkeit der Ich!-Geschichten ist das früh erkannte, hell leuchtende Ziel. Narzissten berichten davon, dass sie schon immer groß gedacht haben und etwas Besonderes erreichen wollten. »Ich habe immer von machtvollen Menschen geträumt«, sagt Arnold Schwarzenegger. »Von Menschen, an die man sich auch nach Jahrhunderten noch erinnert.«26 Seine erste Begegnung mit dem Bodybuilding im Alter von 14 Jahren beschreibt er dann als Erweckungserlebnis. Die US-amerikanischen Zeitschriften mit Fotos der Bodybuilding-Stars faszinierten ihn. Er hat diese muskulösen Körper gesehen, vom Reichtum und dem schönen Leben in Amerika gelesen und sich gesagt, das will ich auch! Den gleichen Willen hatte Conor McGregor bereits als junger Kämpfer: »Mein Traum ist es, Weltmeister zu sein … Mein Traum ist es, die Nummer eins zu sein.«27 Auch Elon Musk wollte schon früh hoch hinaus, nämlich bis zu den Sternen: »Ich denke, dass es für das langfristige Überleben der Menschheit wichtig ist, eine Multi-Planeten-Spezies zu sein, zu den Sternen zu gehören.«28 Und Steve Jobs ging es um die Umsetzung großer Ideen, statt einfach nur so vor sich hin zu leben: »Wenn du aufwächst, wird dir erzählt, dass die Welt so ist, wie sie ist … Das Leben kann viel größer sein, sobald du eine einfache Wahrheit erkennst, nämlich, dass alles um dich herum, was du Leben nennst, von Menschen gemacht wurde, die nicht schlauer sind als du. Und du kannst es verändern … Du kannst deine eigenen Sachen erschaffen, die andere Leute nutzen können. Wenn du das gelernt hast, wirst du nie wieder derselbe sein.«29

Und die Ich!-Geschichten haben noch eine dritte Gemeinsamkeit. Narzissten erzählen, wie sie ihre Lebensziele ganz allein durchgesetzt haben – trotz aller Rückschläge, Widerstände und Zweifler. »Lass den Lärm der anderen Meinungen nicht deine eigene innere Stimme überdecken«, sagte Steve Jobs.30Conor McGregor meinte, dass er sich durch Zweifler nicht aufhalten, sondern eher anspornen ließ: »Der Klang des Zweifels motiviert mich.«31 In einem Interview beschreibt Elon Musk, wie viele Menschen versucht haben, ihn von der Idee einer Raumfahrtfirma abzuhalten. Ein Freund habe ihm sogar Videos mit explodierenden Raketen zusammengeschnitten. Und tatsächlich stand er vor dem Scheitern: »Bei SpaceX sind die ersten drei Starts fehlgeschlagen. Und wir waren kaum in der Lage, genug Material und Geld zu sammeln, um einen vierten Versuch zu unternehmen. Wenn dieser vierte Start fehlgeschlagen wäre, wären wir erledigt.«32 Der vierte Versuch aber gelang. Und auf die Frage des Interviewers, ob er nach dem dritten Misserfolg in Folge nicht ans Aufgeben gedacht hätte: »Niemals. Ich gebe niemals auf.«33 Genauso erklärt Arnold Schwarzenegger seinen Erfolg mit der Kunst, die Leute zu ignorieren, die sagen, dass es nicht klappen kann. In einer Festansprache für Absolventen der Emory Universität sagte er: »Ich war sehr erfolgreich in verschiedenen Karrieren, weil ich die Nein-Sager ignoriert und an mich selbst geglaubt habe.«34

Vom Niemand zum Star, gegen alle Widerstände: Diese Zutaten ergeben das perfekte Rezept für eine umwerfende Ich!-Story. Kommt Ihnen diese Geschichte nicht auch vertraut vor? In der Tat begegnet sie uns ja nicht nur durch narzisstische Promis, sondern in all den Büchern, Songs und Filmen, die in jeder Generation Geschichten zum Träumen entstehen lassen. Auch die Hip-Hop-Szene benutzt immer wieder Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten: Rapper, die sich aus härtesten sozialen Umständen befreien und gegen widrigste Umstände kämpfen müssen, um dann den gerechten Ruhm und Reichtum zu feiern. Im Song Enrico des deutschen Rappers Sido etwa heißt es: »Nein, Enrico hatte es nicht einfach, doch er hat nen Plan, der ihn irgendwann mal reich macht. (…) Raus aus’m Block, ich krieg das hin ich hab’n Plan. Lass mich nur machen bald schon bin ich wie ein Star.«35 Die Geschichte vom traumhaften Aufstieg wird seit jeher auch in Märchen und Sagen erzählt. Denken Sie nur an die Erzählungen der Gebrüder Grimm, in denen es oft gebeutelte Bauernmädchen oder einfache Bauernjungen bei missgünstigen Adoptiveltern sind, die über Nacht zu Helden werden und das Böse in Form von Hexen und Kobolden besiegen. Und in modernen Märchen ist es ganz genauso. Es sind geschundene Waisenkinder wie Harry Potter oder Luke Skywalker aus Star Wars, die durch den Glauben an sich selbst die Zivilisation retten. Narzissten machen sich diese uns allen vertrauten Aufstiegsmärchen zu eigen. Sie schlüpfen mit ihrem narzisstischen Charakter in die Rolle des Hauptdarstellers und erzählen eine neue narzisstische Variante des Aufstiegsmärchens – ihre persönliche Heldengeschichte des Ich!, mit der sie sich selbst und andere begeistern können.

Wie wir noch sehen werden, ist die Wahrheit natürlich nicht ganz so glänzend, und im Leben von Narzissten wie Schwarzenegger, Musk, Jobs und McGregor ging und geht es nicht immer nur bergauf. Narzissten strahlen nicht nur. Immer wieder packen sie auch ihre Ellbogen aus und scheitern krachend in ihren Beziehungen. Narzissten können einen persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Scherbenhaufen hinterlassen. Sie gleichen dann eher den dunklen Widersachern, die ein unsichtbares Band mit unseren Filmhelden verbindet. Der Vater von Luke, Anakin Skywalker, der als auserwählter Retter der Galaxis »das Gleichgewicht bringen« sollte und stattdessen als Darth Vader zum bösen Zerstörer der Galaxis wird. Lord Voldemort, Harrys Gegenspieler und doch Seelenverwandter, der einst ein vielversprechender Zauberlehrling war, aber schließlich als dunkler Magier Angst und Schrecken verbreitet. Die wahre Geschichte des Ich! ist durch bemerkenswerte Aufs und Abs gekennzeichnet. Narzissten aber erzählen Heldenversionen dieser Ich!-Geschichten: Alles glänzt und es geht immer nur bergauf.