Ich durchschau dich! - Leo Martin - E-Book

Ich durchschau dich! E-Book

Leo Martin

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  • Herausgeber: Ariston
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Lesen Sie Menschen wie ein offenes Buch

Ex-Agent Leo Martin weiß, wie man Menschen für sich gewinnt. Sein Titel »Ich krieg dich!« stand fast ein Jahr lang auf der Bestsellerliste. Jetzt kommt sein neues Buch: »Ich durchschau dich!« führt anhand eines echten Falles aus der Welt der Geheimdienste eindrucksvoll in die Kunst der Menschenkenntnis ein und zeigt, wie es uns allen ganz leicht gelingt, andere Menschen zu durchschauen. Spannend und packend wie ein Krimi!

Leo Martin hat zehn Jahre lang als Geheimagent für den Inlandsnachrichtendienst gearbeitet und dort als Experte für organisierte Kriminalität V-Männer angeworben. Menschen schnell zu durchschauen konnte überlebenswichtig für ihn sein. Aber auch in unserem Alltag, weit weg von Spionage und Mafia-Milieu, ist Menschenkenntnis von entscheidender Bedeutung. Denn wer andere durchschaut, kommuniziert erfolgreicher und ohne Missverständnisse, versteht Menschen und Situationen besser, kann Hindernisse frühzeitig erkennen und umgehen, hat mehr Einfluss und erreicht seine Ziele schneller. Jetzt verrät Leo Martin sein Erfolgsgeheimnis: Anhand eines spannenden wahren Falles und vieler Tricks aus dem Agentenhandbuch zeigt er, wie jeder seine Methoden anwenden kann. Für alle, die Menschen wie ein offenes Buch lesen wollen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 242

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Inhaltsverzeichnis

MENSCHENKENNTNIS: DIE LEBENSVERSICHERUNG DES GEHEIMANGENTEN
Das Abschöpftreffen: reine Routine?Die erste Spur: der Geruch der Angst
Copyright

Es kann auch Sie treffen: Es klingelt an Ihrer Tür, und da steht ein Herr, den Sie nicht kennen. Ohne Umschweife fragt er Sie: »Kann ich bei Ihnen einziehen für ein, zwei Monate?« Der Herr macht nicht den Eindruck zu scherzen, im Gegenteil. Die Lage ist ernst. Einzig und allein Ihre Wohnung kommt für den Geheimdienst infrage, um ein Zielobjekt zu beobachten. Wie reagieren Sie?

Menschenkenntnis bedeutet, dass man andere treffsicher einschätzen kann. Manchmal hat man dafür nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit. Wird er abdrücken oder nicht …? Nur wer andere im Alltag durchschaut, wird auch in einer Extremsituation das Richtige tun.

Der überwiegende Anteil der Probleme im menschlichen Miteinander beruht auf dem einfachen Grund, dass jeder von sich selbst ausgeht. Jeder glaubt, andere müssten die Dinge genauso sehen wie er selbst. Es braucht keine höhere Mathematik, um sich auszurechnen, dass es so nicht funktionieren kann.

Die Frage ist also: Wie tickt der andere? Und wie ticken Sie? Ticken Sie so, dass Sie glauben, alle anderen ticken wie Sie? Und diejenigen, die das nicht tun, sind … komisch, anders? Mein russischer V-Mann Tichow würde solche Leute Idioten nennen.

Nur mal angenommen, das würden die anderen auch von Ihnen denken. Nur mal angenommen, jeder tickt wirklich anders. Das wäre der blanke Horror … oder eine interessante Variante, die spannende Begegnungen ermöglicht? Die Wahrheit ist: Wenn wir nicht berücksichtigen, dass jeder anders tickt, handeln wir uns zwangsläufig Ärger, Frust, Enttäuschung und Misstrauen ein. Zum Glück gibt es nicht nur Unterschiede, es gibt auch Ähnlichkeiten.

Die Kunst liegt darin, einen anderen Menschen so schnell wie möglich zu durchschauen, um dann einen gemeinsamen Takt zu finden. Nicht für immer. Aber doch so lange, bis ein Vertrauensverhältnis entsteht, das einen Rhythmuswechsel oder eine kleine oder größere Disharmonie verträgt.

Auch in diesem Buch begleiten Sie mich wieder auf einer Mission. Der Ablauf ist Ihnen bekannt, wenn Sie Ich krieg dich! gelesen haben. Wenn nicht, können Sie das gerne nachholen. Es ist aber keine Voraussetzung für Ihren Einsatz. Ich bin sicher, dass wir auch so ein starkes Team bilden. Damit Sie Ihre Agentenkompetenz weiter schulen können, verrate ich Ihnen einige grundlegende Entschlüsselungscodes zum Thema Menschenkenntnis. Machen Sie sich darauf gefasst, dass diese Informationen Ihren Blick auf die Menschen in Ihrer Umgebung gravierend verändern werden. Und Ihr Verhalten … und das der anderen. Wo Agenten unterwegs sind, verändert sich die Welt – im Großen wie im Kleinen. In diesem Buch habe ich oft die grammatisch männliche Form gewählt, betrachten Sie diese bitte als Deckmantel. Selbstverständlich ist mir bewusst, über welche herausragenden Fähigkeiten Agentinnen … und Leserinnen verfügen!

Wer andere durchschaut

hat mehr Einfluss versteht Mitmenschen und Situationen schneller und besser erkennt Hindernisse frühzeitig und kann sie deshalb umgehen oder beseitigen kommuniziert erfolgreicher vermeidet Missverständnisse, böse Überraschungen und Enttäuschungen erreicht seine Ziele rascher und angenehmer genießt ein schönes Leben

Für Agenten und Agentinnen ist Menschenkenntnis eine Grundvoraussetzung. Ein Agent beim Geheimdienst muss vorhersehen, wie V-Leute, Zielpersonen, aber auch Chefs und Kollegen sich in brenzligen Situationen voraussichtlich verhalten werden. Von der Menschenkenntnis eines Agenten hängen Menschenleben ab. Sie besteht nicht nur aus Erfahrung und Intuition, sondern basiert auf solidem Wissen über menschliche Denk- und Verhaltensmuster. Beides werden Sie sich in einem Fall im Milieu von Schleusern und Menschenhändlern erwerben. Keine Angst, Sie werden nicht unvorbereitet in die kriminellen Kreise geschickt. Im Agentenhandbuch, dem theoretischen Teil Ihres Trainings, erfahren Sie stets alles Wissenswerte, um die Herausforderungen zu bestehen und sich den Zugang zur nächsten Mission zu erwerben.

Das Thema Menschenkenntnis ist so alt wie die Menschheit selbst. Seit den 1950er-Jahren versuchen auch Wissenschaftler, innerhalb und außerhalb der Geheimdienste, mit mehr oder weniger ausgefeilten Tests die Persönlichkeit des Menschen hochdifferenziert zu erfassen. Der Vorteil dieser wissenschaftlichen Modelle liegt im Gegensatz zu den kulturgeschichtlichen Modellen darin, dass sie für die statistische Auswertung auf große Datenmengen zurückgreifen und in ihrem Vorgehen auf Wertungen verzichten. Sie stellen einfach dar, bilden ab, was ist, und verzichten auf eine Klassifi - zierung in gut/schlecht, positiv/negativ oder richtig/falsch. Auch die Modelle aus dem Agentenhandbuch, die Sie gleich kennenlernen werden, verzichten ganz bewusst auf diese Einordnung.

Manche dieser modernen Modelle haben allerdings auch einen kleinen Nachteil: Sie sind nicht alltagstauglich, denn aufgrund ihres hohen Differenzierungsgrades erfordern sie aufwendige schriftliche Analysen und eine wissenschaftliche Auswertung durch Experten. Das hilft weder dem Agenten im Untergrund noch dem Trainer mit seiner Mannschaft, dem Verkäufer im Außendienst, dem Chef mit seinem Team, der Mutter mit ihren Kindern, noch Ihnen auf Ihren Missionen.

Stellen Sie sich vor, wir müssten Menschen beim Kennenlernen zuerst einmal bitten, einen zehnseitigen Fragebogen auszufüllen, um uns mit ihren Vorlieben, Fähigkeiten und Gewohnheiten vertraut zu machen. Oder Sie müssten einen Menschen, der Ihnen zum ersten Mal begegnet, im Geiste nach fünfzehn oder noch mehr Kriterien einordnen …

Schnell wäre unser Gehirn überfordert – vor lauter Überlegen: Welchem dieser vielen Typen ist mein Gegenüber zuzuordnen und wie soll ich darauf reagieren?

In Ich durchschau dich! lernen Sie die Modelle aus dem Agentenhandbuch kennen, die Ihnen im Alltag helfen, Ihr Gegenüber zu durchschauen, und lernen zielführend, mit ihm zu kommunizieren.

Das Abschöpftreffen: reine Routine?

München, Donnerstag, 2. September, 14:05 Uhr

Um 14:30 Uhr war ich mit meinem V-Mann Tichow verabredet und soeben im Begriff, das Haus, wie wir Agenten unser Hauptquartier intern nennen, zu verlassen. Da klopfte Sabine, meine Kollegin aus der Fallanalyse, an die Tür.

»Leo, ich hab da was!« Sie legte eine Mappe auf meinen Tisch. Schwarz, nicht rot. Ich entspannte mich. Schwarz warf keine Pläne um. Schwarz konnte warten, bis ich zurück war.

»Ich fahr gleich auf Treff.«

»Okay, dann bis nachher.«

»Mit dem größten Vergnügen«, grinste ich, und sie grinste zurück. Wir arbeiteten schon eine Weile zusammen und hatten gewisse Spielchen etabliert.

Agenten treffen ihre V-Leute regelmäßig, immer an wechselnden Orten. Die Treffpunkte werden niemals per Telefon besprochen. Man verabredet sich dort »Wo neulich dem Jungen das Eis auf den Boden gefallen ist«, »Wo du letztes Mal aus dem Auto ausgestiegen bist« oder »An der Halle, wo die Paletten gestapelt sind«.

Dieses Vorgehen ist ein Relikt aus der Zeit, als Nachrichtendienste sich noch gegenseitig bekämpften und keine Leitung sicher war. Seinerzeit war das eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. In der Spionageabwehr ist diese Vorsicht bis heute geboten. Im Milieu der organisierten Kriminalität, in dem mein V-Mann Tichow verkehrte, konnte sie auch mal vernachlässigt werden. Tichow war als Geldkurier für die Russenmafia unterwegs gewesen, als ich ihn für den Dienst anwarb. Wo er sonst noch überall mitmischte, konnte ich nur ahnen. In den letzten Monaten hatte er sich zu einem wahren Ass entwickelt und war, was ich ihn allerdings niemals würde wissen lassen, mein bester Mann geworden. Eine Quelle, die sprudelte. Intern wurde er mitunter als Geheimwaffe bezeichnet. Tichow war nicht nur intelligent, er war auch flexibel, cool, clever und trotz einer gewissen Dreistigkeit überaus charmant. Vor allem war er nicht ganz so abgestumpft wie viele seiner kriminellen Kollegen. Das mochte auch an seinem chronisch kranken Sohn liegen, der bei seiner Mutter in Kasan lebte, einer Stadt in Russland, direkt an der Wolga. Schicksalsschläge können Sicht- und Verhaltensweisen stark beeinflussen.

Tichow verfügte über eine herausragende Beobachtungsgabe. Er lieferte dem Dienst präzise Informationen, die schon mehrmals zu großen Erfolgen geführt hatten. Erfolge, von denen er nur teilweise wusste. So wie ich auch nicht alles von ihm wusste. Das sah ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Lieber wäre es mir gewesen, Tichow hätte über alles mit mir gesprochen. Realistisch war eine solche Erwartung nicht. Ein guter V-Mann betreibt seine eigenen Geschäfte, nebenbei. Nur wer immer irgendwie im Geschäft und im Gespräch bleibt, kommt im Milieu an die wichtigen Informationen.

Es gab lediglich fünf Menschen, die Tichows wahre Identität kannten. Sabine, sie hatte Tichow getippt – so nennt man es, wenn jemand mit V-Mann-Potenzial in der Szene auffällt und zur Ansprache vorgeschlagen wird. Wie so oft hatte sie einen guten Instinkt bewiesen. Ich hatte Tichow angeworben. Außer uns beiden kannten nur noch unser Chef und zwei Mitarbeiter aus dem Bereich für operative Sicherheit seine wahre Identität. Für alle anderen Agenten des Geheimdienstes, selbst die Kollegen, die eng mit uns zusammenarbeiteten, war er lediglich Deckname Tichow. Auch das ist eine Sicherheitsmaßnahme, ein Standard, um V-Männer zu schützen. Quellenschutz ist das oberste Prinzip des Nachrichtendienstes. Die Bibel des Agenten. Auch Tichow musste seine Zusammenarbeit mit uns streng geheim halten. Weder seine Frau, seine Freundin, noch seine besten Freunde durften jemals davon erfahren – zu seinem eigenen Schutz. Sollte er unsere Bekanntschaft dennoch offenlegen, würden wir sogar abstreiten, ihn zu kennen. Vermutlich würde ihm sowieso niemand glauben. Ein guter V-Mann hat keine Schwierigkeiten. Das ist seine Lebensversicherung, und auch sie basiert auf seiner Menschenkenntnis. Sobald sein Nebenjob für den Geheimdienst innerhalb des Milieus auffliegt, kann es unangenehm für ihn werden. Er verliert nicht nur seine wirtschaftliche Existenzgrundlage und sein soziales Umfeld, es kann um alles gehen: sein Leben.

Die erste Spur: der Geruch der Angst

Um 14:30 Uhr stieg Tichow in meinen dunklen BMW mit den getönten Scheiben.

»Hallo Leo«, sagte er mit seinem russischen Akzent.

»Servus«, erwiderte ich.

Wie immer machte er Anstalten, sich eine Zigarette anzuzünden, und wie immer sagte ich: »Die Viertelstunde wirst du noch aushalten.«

Grinsend steckte er die Kippe zurück in die Packung. Er hatte gute Laune. Schön. Manchmal war Tichow schwermütig, dann waren die Treffen mühsam. Wenn er gute Laune hatte, sprudelte er nur so heraus und erzählte mir manches, was ich hören wollte, und vieles, was ich nicht hören wollte. Aus Erfahrung wusste ich, dass sich bei ihm die Perlen zwischen den Zeilen verstecken konnten. Er servierte sie nicht unbedingt auf dem Silbertablett, denn oft wusste er nicht, worin ich eine Perle entdeckte. So blieb ich wachsam, während ich den Wagen über den Mittleren Ring Richtung Westen lenkte. Mit Tichow fuhr ich immer an Orte, an denen wir nicht mit seinen Kollegen rechnen mussten, meist in den Speckgürtel um München. Bei schlechtem Wetter blieben wir im Wagen sitzen, manchmal tranken wir Kaffee bei McDonald’s oder liefen eine Runde zu Fuß. In der Regel dauern solche Abschöpftreffen zwischen sechzig und neunzig Minuten. Ziel der Treffen ist es, die aktuellen News aus dem Untergrund zu erhalten. Wer macht wann, mit wem, welche Geschäfte? Gibt es etwas Neues im Umfeld, Gerüchte, Trends, Tendenzen? All diese Informationen würde Sabine nach unserem Treffen überprüfen. Vieles, das war üblich, würde sich als heiße Luft herausstellen. Doch in einem Dutzend Infos gab es auch immer mal einen Treffer. Heute sah es nicht danach aus. Tichow quatschte mir während zwanzig Kilometern Autobahn ein halbes Ohr ab. Erzählte mir von einem neuen Restaurant, das er entdeckt hatte, beschrieb mir bis aufs Kleinste gemahlene dunkelgrüne Pfefferkorn, sein Hauptgericht, und das Muster auf den schwarzen Strümpfen der Bedienung. Wie immer, wenn er sich in solchen Details verlor, spürte ich, wie die Unruhe in mir zu brodeln begann. Warum kam er nicht endlich auf den Punkt! Allmählich müsste er doch mal begriffen haben, worum es mir ging und was mich interessierte. Nein, Tichow erzählte, wie er nach Hause gefahren war, welche Schleichwege er diesmal ausprobiert hatte, um sein Navi zu ärgern, und welche Autos um diese Uhrzeit noch unterwegs waren. »Sehr viele Audis bei Ingolstadt!« O Wunder. Obwohl die Verlockung abzuschalten groß war, blieb ich aufmerksam. Ich unterbrach ihn nicht und zügelte meine Ungeduld, indem ich ihm innerlich Anerkennung für seine außerordentliche Beobachtungsgabe zollte. Als ich den Wagen auf einem Feldweg zwischen mannshohem Mais parkte, der daran erinnerte, dass der Sommer sich seinem Ende zuneigte, war Tichow bei seiner neuen Flamme angelangt.

»Aber du hast doch schon drei Frauen«, erinnerte ich ihn.

»Ist ja nichts Festes.«

»Dass dir das nicht zu stressig ist«, wunderte ich mich.

»Weißt du Leo, Leben ist bunt.«

»Irgendwann wird dir eine von denen die Hölle so richtig heißmachen. Vermutlich die, mit der du verheiratet bist«, scherzte ich.

»Die ist weit weg«, grinste er. »Außerdem: Habe ich immer Glück im Leben, Leo. Auch gestern.«

»Wollen wir da runterlaufen?«, fragte ich ihn. Später, als ich das Gespräch Revue passieren ließ, dachte ich, dass ich hier schon hätte nachfragen sollen. Ich unterließ es wohl, weil ich befürchtete, mein eigentlicher Auftrag, aktuelle Informationen abzuschöpfen, könnte in einem weiteren Schwall zahlreicher Details zu privaten Nebensächlichkeiten untergehen. Obwohl ich in den letzten Jahren an meiner Ungeduld gearbeitet hatte, hörte ich mir ungern akribische Schilderungen belangloser Ereignisse an. Wenn es um einen Fall ging, ja, dann konnte ich nicht genug Details kriegen. Das Intervall der Ampelschaltung an der Georgenstraße im Vergleich zu dem an der Belgradstraße gehörte nicht dazu. Auch nicht, wenn eine hammermäßige Rothaarige im Z3 nebenan saß.

Tichow stieg aus. »Du willst immer spazieren gehen, nur, damit ich in deinem Auto nicht rauche! Scheiß drauf, ist doch ein Dienstwagen!« Er griff sich einen der jungen Maiskolben, drückte ihn prüfend, brach ihn aber nicht ab, und zündete sich eine Kippe an. Dann gingen wir los. Endlich erzählte Tichow die Geschichten, die für mich interessanter waren. In seiner Berliner Clique war ein Typ aus St. Petersburg aufgetaucht, der ständig mit einem Oleg telefonierte, von dem er irgendwelche Anweisungen erhielt. Tichow konnte noch nicht sagen, worum es ging, doch die Sache konnte Potenzial haben. »Kann ich dir nicht erklären, Leo. Ist nur so ein Gefühl. Da bleib ich dran.«

»Sonst noch was?«, fragte ich. So richtig konkret war das nicht, aber egal. Beim nächsten oder übernächsten Mal oder nächsten Monat würde er mehr dazu wissen. Agentenalltag. Tichow war immer für eine Überraschung gut. Davon abgesehen war sein »Gefühl« ein verdammt treffsicherer Instinkt. Seine feine Spürnase hatte schon einige Fälle im Vorfeld gewittert.

Als alle aktuellen Fälle abgehakt waren und wir zum Wagen zurückgingen, lenkte ich das Gespräch zu privaten Themen. Die Abschöpfung war für mich beendet.

»Was machst heut noch?«, fragte ich ihn.

»Ich geh jetzt auf ’n Bier zu Wasilij.«

»In den Zockerladen am Hauptbahnhof? Da hängst du aber oft rum in letzter Zeit.«

»Das ist kein Zockerclub«, widersprach er empört. »Das ist ein erstklassiges Casino. Und wenn Sophia da ist …« Er schnalzte mit der Zunge.

»So heißt also deine neue Flamme«, kombinierte ich.

»Sehr heiß!«, bestätigte er.

»Verzock nicht deine ganze Kohle wegen der!«

»Ich verzock da gar nix, ich geh da mit mehr Kohle raus, als ich rein bin.«

»Wie meinst du das?«

»Kennst du Bülent?«

»Den Chef von dem Busunternehmen neben dem … erstklassigen Casino?«

Tichow nickte. »Der ist Stammgast. Hat er mich gefragt, ob ich jemand nach Detmold fahre. Bus hat sich nicht gelohnt. Waren nur zwei. Hat mir 150 Euro angeboten. Habe gesagt, bist du blöd. Rechne mal. Brauche ich allein 300 Euro für Sprit. Habe ich 1000 gesagt, hat Bülent 800 gesagt.« Strahlend hielt er mir ein Bündel 50-Euro-Scheine unter die Nase.

»Bülent gibt dir 800 Euro dafür, dass du zwei Leute in die Pampa fährst?«, staunte ich.

»900. Ich bin ein sehr guter Fahrer!«

»Sicher.«

»Die zwei waren komisch.«

»Wo kamen die denn her?«

»Iran, Irak, irgendwo. Habe nichts verstanden.«

»Wie habt ihr euch unterhalten?«

»Gar nicht. Bülent hat mir einen Zettel gegeben mit Adresse in Detmold. Kennst du Detmold, Leo? Da gibt es …«

Nun unterbrach ich ihn doch, ehe er mir die Schwanensee-Ballerina auf dem Plakat des Landestheaters, wegen der er unbedingt noch mal dorthin musste und sich vorübergehend vermutlich brennend für Tanz und Kultur interessieren würde, bis in die letzte Spitze beschrieb. Bei Tichow gab es mehr Tage, an denen er sich in den letzten Klitzekleinigkeiten verlor als solche, an denen er sich auf das Wesentliche konzentrierte. Womöglich hing das mit seiner Form zusammen. Oder mit dem Thema. Wenn er müde war oder genervt, sprach er auch deutlich schlechter Deutsch, und weniger. Genau, wie dann, wenn er nicht verstehen wollte.

»Wie alt waren die Männer?«

»Der eine jünger als ich. Dreiundzwanzig, fünfundzwanzig, der andere um die dreißig.«

»Also so alt wie du«, erinnerte ich ihn.

»Aber komische Leute, Leo. Bin ich natürlich schnell gefahren, weil ich wollte zurück. Haben die immer große Augen gemacht«, Tichow riss seine blauen Augen auf, sodass ich befürchtete, sie würden ihm gleich rausfallen. »Hatte schon Angst, die kotzen mir ins Auto. Musste ich langsamer fahren. Unter zweihundert.«

»Da bist du ja kaum vom Fleck gekommen«, nickte ich mitfühlend.

Er grinste. Und dann wurde es doch noch interessant. Warum hatte er das nicht gleich erzählt: »Einmal, Leo, sind wir hinter den Bullen hergefahren. Haben die zwei geschwitzt wie Schweine. Alles nass, Gesichter rot. Besonders der Alte. Hat mir gezeigt, dass er mal muss. Aber ich glaube, die wollten nur weg von den Bullen. Bin ich auf Parkplatz gefahren. Hat mich schon wieder Zeit gekostet. In Detmold an der Ampel stand noch ein Bullenwagen neben uns. Da haben sie erst recht geschwitzt. Und gestunken, Leo. Ich habe Angst gerochen.« Er blähte die Nasenflügel. Dann regte er sich auf: »Das habe ich nicht gewusst!«

Wie echt seine Entrüstung war, konnte ich nicht beurteilen. Aber etwas anderes: Sicher erzählte er mir die Geschichte erst jetzt, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Er konnte nie sicher sein, was ich schon wusste, und was nicht. Aber er wusste, wenn er mit einer Straftat aufflog, und sei es nur als Fahrer zweier Flüchtiger, illegal Eingereister oder Drogenkuriere oder sonst was, dann würde er mit den Konsequenzen leben müssen. Ich würde ihm keinesfalls helfen. Sonst wäre er als V-Mann enttarnt. Außerdem könnte er durch solche eigenmächtigen und riskanten Aktionen unsere Operationen gefährden, wenigstens unnötig erschweren.

»Hast du Bülent darauf angesprochen?«, erkundigte ich mich.

Empört holte Tichow Luft. »Ich zu Bülent. Hey du Arschloch! Was waren das für welche? Wenn ich Stress mit den Bullen krieg wegen dir! Das vergisst du nicht. Hat Bülent gesagt: ›Hast du gutes Geld verdient.‹ Habe ich gesagt: …«, er ließ einen kernigen Fluch in russischer Sprache folgen. Auf die Übersetzung verzichte ich hier.

»Musst du lernen meine Sprache, Leo!«, verlangte Tichow, schlagartig wieder gut gelaunt. Der Fluch schien Wunder gewirkt zu haben. Ich würde mich hüten, meinem V-Mann anzuvertrauen, dass ich mehr verstand, als ihm lieb war. Bei den Flüchen gab es allerdings noch Lücken. Tichow klopfte mir auf die Schulter. »Egal. Habe gutes Geld verdient. Sprit extra. Hat Bülent mir dann noch gegeben.«

»Super Deal«, beglückwünschte ich ihn.

»Да«, bestätigte er mit dem russischen Ja, »Da« gesprochen.

Disclaimer: Alles, was Sie hier lesen werden, beruht auf wahren Begebenheiten. Zum Schutz der Informanten und Agenten sowie aus rechtlichen Gründen wurden Namen und Eigenschaften der handelnden Personen abgeändert, Orte und Sachverhalte variiert. Trotzdem werden Sie der Realität kaum näherkommen als in diesem Buch.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2012 Ariston Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle Rechte vorbehalten

Mitarbeit: Shirley Michaela Seul Redaktion: Birgit Bramlage Umschlaggestaltung: Weiss | Werkstatt | München, unter Verwendung eines Fotos von © Kay Blaschke Satz: EDV-Fotosatz Huber / Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

eISBN 978-3-641-10115-2

www.randomhouse.de

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