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Von Flensburg bis zum Nordkap sind es 2800 Kilometer geradeaus und dann links. Mit seinem Rennrad, fünfzig Kilogramm Gepäck inklusive Hund Camillo macht sich Andy auf den Weg und will die Strecke innerhalb von dreißig Tagen bewältigen. Ein skurriles Duo, dem sich zahlreiche Hindernisse in den Weg stellen: Dänisches Hundefutter, Regen, schwedische Omas, Regen, die Klosterschule, Regen, Katzen und neben dem vielen Regen ist da noch eine Person, von der Andy am meisten genervt ist: Er selbst. So schnell er auch fährt, er wird immer wieder von sich eingeholt. "Es ist mittlerweile stockdunkel. Camillo schnarcht. Ich nutze die Regenpause und gehe zum Waschhaus. Es gibt nur einen einzigen Duschraum und der ist besetzt. Ich höre, wie jemand mit einem Abzieher den Boden trocknet. Eine Minute später öffnet eine schmale, etwa fünfzigjährige Frau mit offenen, langen, grauen Haaren die Tür. Sie tritt heraus und wünscht mir auf Englisch einen guten Abend. Ein weiblicher Gandalf, denke ich mir. Der Abzieher am langen Stock in ihrer Hand unterstützt diesen Eindruck noch. Dicke Schwaden Wasserdampf bahnen sich ihren Weg um ihr beiges Kleid nach außen und hinterlassen den Geschmack von Shampoo auf meiner Zunge. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass ihr Kleid ein langer Bademantel ist. Gandalfine stellt den Abzieher auf die Seite, zündet sich eine Zigarette an und verschwindet in der Dunkelheit. Mir fällt auf, dass sie kein Handtuch dabei hatte. Erst dann bemerke ich, dass ich sie vollkommen irritiert und stumm angeglotzt habe, als hätte ich einen Geist gesehen. Obwohl es etwas modrig riecht, ist die Dusche überraschend sauber, was man von meinem Sportdress nicht behaupten kann. Eine Nacht im Wald und das Spritzwasser vom Asphalt haben ihre Spuren an der Kleidung hinterlassen und malen braune Muster auf den gefliesten Boden. Ich fühle mich lebendig. In meiner Hütte lege ich alles zum Trocknen auf die Heizung. Camillo atmet laut aus, ohne mich eines Blickes zu würdigen, als wollte er mich fragen, wann ich endlich Ruhe gebe. Im Gegensatz zur Dusche sieht die Bettwäsche und die Matratze nicht sehr sauber aus. Kurz überlege ich, Gandalfine zu fragen, ob sie nicht hier auch noch schnell durchwischen möchte. Ich schaffe es noch, mich in meinen Schlafsack einzupacken, dann schlafe ich ein, bevor ich die Tischlampe ausschalten kann. Bis zum Nordkap sind es noch 2530 Kilometer."
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Seitenzahl: 192
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Tag 1
Tag 2
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Tag 4
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Tag 7
Tag 8
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Tag 13
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Tag 16
Tag 17
Nachwort
Camillo liegt unter meinem Sitz und schmatzt im Schlaf. Die Frau neben mir muss schmunzeln und betrachtet ihn gedankenverloren, als wäre mein Hund ein Lagerfeuer, das man stundenlang sinnentleert betrachtet. Wir halten in Würzburg. Eigentlich müsste sich jetzt für mich ein sentimentales Gefühl einstellen, wenn ich die Stadt passiere, in der ich bis vor kurzem noch die längste Zeit meines Lebens gewohnt habe. Zum Glück ist der Bahnhof aber so hässlich, dass in diesem Moment wenig Wehmut aufkommt. Durch das offene Fenster hört man eine Lehrerin auf dem Bahnsteig rufen, die ihre Schüler dazu ermahnt, zusammen zu bleiben und ihrem roten Schirm zu folgen.
Ein ältere Dame mit Wanderschuhen und Jack-Wolfskin-Jacke schiebt langsam die Abteiltür auf. Hinter ihr steht offensichtlich ihr Ehemann, daran erkennbar, dass er die Jacke in gleicher Farbe trägt. Langsam schweift der Blick der alten Dame durch das Abteil, in dem sich mir gegenüber nur noch ein einziger freier Sitzplatz befindet. Rechts davon sitzt ein Mann im Sakko am Fenster, der den Eindruck erweckt, als würde er die Dame gar nicht bemerken, sich aber dadurch verrät, dass seine Hände das Zeitungspapier zunehmend fester umkrallen, je länger sie ihre Augen über die Sitze kreisen lässt. Unauffällig auffällig versucht der Sakkoträger sein Blatt ein wenig höher zu halten, um sich ganz hinter der Süddeutschen Zeitung zu verstecken. Draußen heult ein Kind, es hat seine Klasse verloren. Direkt neben der Schiebetür zum Abteil sitzt ein etwa 15-jähriger Teenager, der gedankenverloren mit seinen Kabeln im Ohr an die Decke starrt und noch gar nicht gemerkt hat, dass er gerade seinen Sitzplatz verloren hat. Mit ausgestrecktem Finger deutet die vordere Jack-Wolfskin-Jacke auf ihn. Gute Wahl, den hätte ich auch genommen. Sie muss ihren Finger direkt vor seiner Nase kreisen lassen, bis der Teenie sie endlich bemerkt und aus seiner gekrümmten Sitzhaltung erschrocken hervor schnellt.
„Ob hier noch frei ist?“, wiederholt sie ihre Frage und meint damit den Sitz, auf dem sich ihr Opfer gerade noch räkelt.
Überrascht von dieser forschen Art, kommt erst nur ein Stammeln aus seinem Mund, dann formen sich langsam Sätze, dass es doch weiter vorne im Zug noch freie Plätze geben soll, was aber mehr wie eine Frage klingt. Die alte Frau macht ihren Rücken immer runder und gebrechlicher, ihr Mann atmet im Hintergrund heiser pfeifend. Fast fragt man sich, wie dieses todgeweihte Paar es überhaupt die drei Stufen in den Zug geschafft hat. Aber es ist der Teenager, der zuerst einknickt und sich langsam aus dem Sitz schält. Er packt seine Sachen und schleicht gedemütigt davon, verfolgt von einem zitternden „Dankeschön!“ der alten Dame, die langsam Mühe hat, die Abteiltür noch länger offen zu halten.
Nun fährt auch die Zeitungswand wieder herunter, der Sakkomann springt auf und hilft den Greisen durch die Tür. Sie lassen sich in die eroberten Sitzplätze fallen und aus ihren alten Körpern entweicht ein Schnaufen, als wären gerade zwei Buckelwale aufgetaucht. Für fünf Sekunden sitzen sie völlig regungslos da, als hätte jemand bei ihnen auf die Pause-Taste gedrückt. Dann geht alles plötzlich sehr schnell. Sie packt ihre Thermoskanne aus dem Deuter-Rucksack und füllt ihrem Mann den Jagertee in den Becher, während er die Wanderkarte „Voralberg“ heraus kramt und studiert. Alkoholduft strömt durch das Abteil und neues Leben in die welken Hüllen, die eben noch so wirkten, als würde sich für die Beiden nur noch ein Kurzstrecken-Ticket lohnen. Für morgen schlägt er seiner Frau eine Zwanzig-Kilometer-Tour zum Aufwärmen vor, um am Tag darauf dann das Geißhorn in Angriff zu nehmen. Langsam wird mir bewusst, dass die Herrschaften den Enkeltrick reversibel durchgeführt haben und das sicher nicht zum ersten Mal. So routiniert wie sie den armen Kerl aus dem Abteil komplimentiert haben, war das eine eingespielte Vorführung, hundertmal erfolgreich dargestellt und für die sie sich gerade selbst feiern, indem sie mit einem Zwinkern anstoßen und die Becher exen. Sie bemerken meinen Blick und versuchen nun auch mich in ihren Siegeszug mit einzubinden und fragen, ob Camillo denn auch einen Schluck Jagertee möchte, hihihi. Mir platzt der Kragen von so viel Ungerechtigkeit und ich sage, dass sie den Jungen ja gerade sauber verarscht haben. Für einen Moment wird es still im Abteil. Sakkomann lässt interessiert sein Blatt wieder sinken. Die Oma schaut mich mit gespielter Empörung an, aber ihr schauspielerisches Talent hält sich diesmal in Grenzen.
„Ich weiß gar nicht was Sie meinen, ich habe ganz höflich gefragt! Immerhin ist es weit bis Bregenz“, sagt sie und dabei rutscht ihre Stimme sukzessive eine Oktave höher.
„Stimmt“, sage ich, „da heißt es Energie sparen. Von Kiel bis Bregenz ist es nämlich ein ganzes Stück zu wandern.“
Sie schaut erst mich fragend an, dann ihren Mann, der nur mit den Schultern zuckt. Ich zeige auf die Anzeige im Flur und erkläre ihr: „Dieser Zug fährt nicht nach Bregenz sondern nach Kiel. Viel Spaß an der Ostsee.“
Zweihundert Kilometer müssen sie noch warten, bis sie umsteigen können, dann schleichen sie in Kassel wirklich langsam aus dem Abteil.
Endlich in Hamburg angekommen, empfangen mich Maja und Stephan am Bahnhof und helfen mir beim Ausladen. Dreitausend Kilometer habe ich noch vor mir, die ich durch die Wildnis radeln möchte, aber die größte Angst habe ich davor, an einer Zugtür zu scheitern. Nur drei Minuten stehen mir zur Verfügung, um alles aus dem Zug heraus zu werfen. Der Hänger ist zu breit und bleibt in der Tür stecken. Während Stephan von außen an der Deichsel zieht, werfe ich mich mehrmals von innen dagegen und irgendwann ploppt das Gefährt heraus und ich schaffe es gerade noch, nicht auf den Bahnsteig zu fallen. „Geschafft, jetzt nur noch zum Nordkap!“, sage ich und wir lachen.
Am Parkplatz verladen wir alles in den Bulli, bevor es weiter Richtung Flensburg geht. Erst jetzt haben wir so richtig Zeit uns zu begrüßen.
In den letzten Jahren gibt es eine gesellschaftliche Strömung die groß in Mode gekommen ist: Die „Sharing-Community.“ Immer mehr erwachsene Menschen, die weit über das Studentenalter hinaus sind, teilen ihre Wohnung mit Mitbewohnern, ihr Werkzeug, sogar ihr Essen. Wer zu Hause ein Schlafsofa besitzt, stellt es für Couchsurfer zur Verfügung, die durch die Welt reisen und kein anonymes Hotelzimmer suchen. Wer noch drei Sitzplätze im Auto frei hat, der lädt Mitfahrer ein und man teilt sich die Spritkosten. Alle diese Dinge habe ich bereits gemacht und ausschließlich schöne Begegnungen gehabt.
Maja saß auf meiner Rückbank von Dortmund bis Würzburg und wir haben bald festgestellt, dass sie wie ich im Stadtpark laufen geht. Ab diesem Moment ist Camillo jedesmal vor Freude ausgerastet, sobald er Maja gesehen hat, denn dann war klar: Heute geht nichts unter zehn Kilometern. Wenn ich für Kreuzfahrten engagiert wurde, war Maja künftig Hundesitterin Nummer Eins und nach jeder Reise holte ich danach einen völlig durchtrainierten Hund ab, der mich nur mit einem gleichgültigen Schwanzwedeln begrüßte. Einerseits war ich schon etwas eifersüchtig, dass es ihm völlig egal war, wenn ich wegfahre, auf der anderen Seite hat es mir die lange Abwesenheit deutlich erleichtert, weil ich wusste, meinem Hund geht es prächtig. Bald lernte ich auch Stephan kennen und die beiden passen wie Arsch auf Eimer zusammen. Wenn man beide gemeinsam erlebt, überträgt sich ihre ganze Harmonie auf die unmittelbare Umgebung.
In meiner Vorbereitungszeit für meine Tour habe ich oft mit Stephan gesprochen, der mir von seiner Trainingsrolle zu Hause erzählte, auf die er sein Rad spannte, um dann virtuelle Rennen am Computer zu fahren. Das perfekte Training bei schlechtem Wetter und für mich die ideale Kombination, um zwei meiner Süchte zu kombinieren: Computerspielen und gleichzeitig Sport machen. Sobald nur eine Wolke am Himmel war, wurde von mir das Wetter als „Zu-Schlecht-Zum-Draußen-Radeln“ definiert und ich fuhr den PC hoch, klinkte mein Hinterrad in die Rolle ein, die sich mit meiner Software verband und schon fuhr ich dem originalgetreuen Abbild von Alpe d`Huez hoch. Ich fühlte mich wieder wie der 16-jährige Andy vor der Playstation, nur dass ich jetzt nicht mehr meinen Ferrari in Gran Tourismo tunte, sondern auf Zwift meinen Avatar mit einem neuen Carbonrahmen belohnte. Künftig traf ich mich am Sonntagnachmittag nicht mehr mit Freunden auf einen Kaffee, sondern mein wöchentliches Hundert-Kilometer-Rennen stand an. Jede kurze Bluetooth-Unterbrechung, bei der mein Avatar plötzlich nicht mehr weiter fuhr und ich den Anschluss zur Ausreißer-Gruppe verlor, wurde auch von den Nachbarn durch mein panisches Schreien zur Kenntnis genommen. Bald konnte ich Stephan Empfehlungen aussprechen, welche Trainingsprogramme nichts bringen und dass Zwift mit Abstand alles schlägt. Nach dem Wintertraining fühlte ich mich so fit, wie schon lange nicht mehr, aber eine Sache wunderte mich sehr: Ich hatte immer noch achtzig Kilo auf den Rippen und damit fast fünf Kilo mehr, die ich sonst bei meinem üblichen sportlichen Pensum hatte. Ist das das Alter, von dem alle immer sprechen und warnen? Ist es nun soweit, dass ich einfach nicht mehr den körperlichen Zustand erreiche, den ich sonst vor meinen Halbmarathon-Läufen hatte? Ich bin ins Grübeln gekommen und mein kommender 40. Geburtstag fühlte sich langsam als Bedrohung an.
„Ab jetzt tickt die Uhr rückwärts, Sauerwein“, dachte ich mir, „du kannst den Verfall nicht stoppen.“
Zum Glück kenne ich Maja, die als Psychologin und Triathletin immer die richtigen Worte findet und die mich in meiner Frühjahrs-Krise am Telefon beruhigen konnte.
„Wenn du den ganzen Winter auf deiner Rolle sitzt, hast du natürlich deutlich mehr Muskeln aufgebaut und bist dadurch schwerer“, beruhigte sie mich.
Sie erzählte mir, dass sie nach ihrer Schwangerschaft weniger wog als zuvor, da sie die vorangegangenen Monate einfach nicht mehr so viel trainieren konnte und sich dadurch ihre Muskeln zurück gebildet haben. Das alles beruhigte mich sehr. Es sind also nur Muskeln.
Du bist also nur muskulöser geworden, du geiler Typ, stellte ich nach dem Telefonat zufrieden fest. Noch am gleichen Abend stand ich vor dem Spiegel und versuchte meine neuen Muskeln zu definieren, fand aber nichts. Seitdem traue ich dem Spiegel nicht mehr.
Stephan erklärt mir, dass er lieber die ganze Strecke selbst fährt, da Majas Muttergefühle es nicht aushalten, sobald die Kleine etwas länger schreit und sie ans Lenkrad gefesselt ist.
„Da ist sie kurz davor, mitten auf der Autobahn auf den Standstreifen zu fahren und zu stoppen!“, zwinkert er mir mit einem Augen zu, während er das andere Auge auf die Fahrbahn richtet.
„Andere sagen ja, ihr Schreien würde sehr leise klingen, aber für mich ist es unfassbar laut“, ergänzt Maja auf der Rückbank.
Ich lächle. So müssen Mütter sein. Irgendein Urinstinkt lässt sie die ersten Jahre beim geringsten Geräusch ihrer Kinder aufhorchen. Ich erzähle von einer ehemaligen Kollegin, die im Lehrerzimmer einmal erzählt hat, dass sie nun nach sieben Jahren zum ersten Mal nachts nicht mitbekommen hat, dass ihr Sohn auf Toilette gegangen ist.
„Eigentlich bringt es gar nichts, sich nachts abzuwechseln, wenn die Kleine schreit, ich bin sowieso immer gleich hellwach“, sagt Maja.
Wir reden viel, lachen und ich fühle mich wohl. Ich erzähle noch einmal, wie ich damals nach Majas Geburtstagsfeier fast meinen Flug verschlafen hätte und es gerade noch rechtzeitig völlig zerstört und verkatert in die Maschine Richtung Karibik geschafft habe. Vor wenigen Jahren war ich noch fast die Hälfte des Jahres auf See. Wie sich doch alles verändert.
Stephan will noch einmal den genauen Streckenverlauf wissen und ich rekapituliere noch einmal meine Route. Von Flensburg geht es nach Dänemark über die südlichsten Ostseeinseln an Kopenhagen vorbei, anschließend mit der Fähre nach Helsingborg auf das schwedische Festland. Der größte Abschnitt führt mich dann durch Schweden, bis ich ganz im Norden noch ein kleines Stück an Finnland anschließe, bevor die Strecke nach Westen abbiegt und ich in Norwegen ans Nordkap gelange, 2700 Kilometer in dreißig Tagen. Wir stimmen überein, dass das mit dem Rennrad eigentlich gut zu schaffen ist, wäre da nicht dieser Hänger mit Camillo darin.
„Fünfzig Kilogramm Zuggewicht, das ist dann Kopfsache“, meint Stephan.
Maja seufzt.
„Ein wenig beneiden wir dich ja schon, dass du das machen kannst, wir sind da jetzt wegen der Kleinen erstmal ein paar Jahre eingeschränkt.“
Eine Weile reden wir nicht und ich schaue aus dem Fenster, dann müssen wir kurz halten, weil Camillo jammert und pinkeln muss.
Wohin ich denn fahre, fragt mich der dänische Grenzbeamte.
„Im besten Fall bis zum Nordkap“, antworte ich.
„Holy shit!“, sagt er, „das ist aber weit!“
„Wenn ich keine Lust mehr habe, dann kann ich ja umdrehen“, sage ich.
„Na dann bis morgen“, antwortet er, grinst und gibt mir meinen Ausweis zurück.
Ich lache und steige wieder aufs Rad. Die ersten hundert Meter auf dänischem Boden fahre ich extra ein wenig sportlicher, damit ich dem Grenzbeamten zeigen kann, dass ich sicher mehr als einen Tag auf dem Sattel aushalte.
Irgendwie ist das mein Ding. Ich kann stundenlang auf dem Fahrrad sitzen und den ganzen Tag fahren. Es hat etwas Meditatives für mich. Wenn ich mit gleichmäßiger Atmung, einem leicht erhöhten Puls und dem Geräusch von rollendem Gummi auf Asphalt durch die Landschaft radele, dann fühle ich mich glücklich und frei. Strandurlaub hingegen ist nichts für mich. Ich kann ungefähr eine Stunde auf der Liege in der Sonne braten, dann muss ich etwas unternehmen. Ich lag an den schönsten Stränden der Welt und fing an, die anderen Crewmitglieder zu nerven, weil ich mich langweilte. Man macht sich schnell unbeliebt, wenn man von den verkaterten Gesichtern verlangt, etwas zu unternehmen, die aber noch die Party vom Vorabend ausatmen müssen. Seitdem habe ich immer eine Schwimmbrille und Joggingschuhe beim Strandausflug dabei, sollte es vor Ort keinen Surfbrett-Verleih geben.
Die dänische Bundesstraße nach Fynshav ist nicht unbedingt die schönste Strecke und hoch frequentiert, aber ich will das gute Wetter nutzen und die ersten Tage möglichst schnell vorankommen. Es ist laut. Die LKWs rauschen vorbei, halten aber freundlich Abstand und Camillo liegt entspannt in seinem Hänger und döst. Solange ich nicht abrupt bremse oder die Kurven zu eng nehme, kann ich mich darauf verlassen, dass mein Hund seine Kutsche nicht verlässt.
Am Anfang musste ich ein wenig beim Packen knobeln und Tetris spielen, denn mit dem Zelt gibt es nun ein neues Gepäckstück, das Camillos Platz etwas einschränkt. Mit viel logistischem Geschick und Camillos stoischer Gelassenheit ist es uns aber gelungen, aus einem normalen Fahrradanhänger ein reisetaugliches Gefährt zu machen, das für unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist: Das Camillobil. Im eigentlichen Fußraum habe ich meine Verpflegung, die Gaskartuschen und Hundefutter gestapelt. Darüber liegt meine Isomatte, einfach gefaltet, darin eingewickelt meine Kleidung, so dass Camillo eine weiche Liegefläche hat, die ich leicht abwaschen kann und was sich in ein paar Tagen noch als sehr nützlich erweisen wird.
An der Querstange über Camillo sind der Schlafsack und ein Paar Schuhe angebunden und baumeln wie die Töpfe eines fahrenden Händlers herunter, während das Faltzelt in flachrunder Form die hintere Rückwand bildet. Die meiste Zeit ziehe ich 50 Kilogramm hinter mir her, es sei denn wir haben ein freies Feld vor uns. Dann darf Camillo aus dem Hänger springen, mein Zuggewicht halbiert sich, aber ich muss jetzt doppelt so schnell fahren, da mein Hund die Gelegenheit nutzt und sofort zum Sprint ansetzt. Jahrelang machen wir das nun so und haben mit dem Camillobil schon etliche tausend Kilometer bestritten.
Unser skurilles Gespann fällt auf. Auf dem Autodeck der Fähre von Fynshav nach Bøjden sind wir umringt von asiatischen Touristen, die Selfies mit Camillo im Hänger machen. Ein Fährarbeiter kommt dazu und muss die Menschenmenge auffordern, in ihren Bus zurück zu gehen, da wir gleich anlegen. Zuerst dürfen alle Radfahrer von Bord und es gleicht einem Massenstart, als sich alle in Bewegung setzen. Selbstverständlich muss ich mich an die Spitze des Pulks setzen, der Rückenwind unterstützt mich dabei und wir kommen mit durchschnittlich 25 km/h gut voran. Bald sind wir wieder alleine und passieren Weizenfelder, wo nur vereinzelt ein paar dänische Fachwerkhäuser den Wegrand markieren.
Während ich die Tour geplant habe, ist mir ein Detail entgangen: Dänemark ist echt schön! Für mich war es bis zu diesem Zeitpunkt nur Durchgangsstation, um nach Schweden zu kommen. Jetzt wo ich die schönen Häuser sehe und die vielen Radfahrer grüße, wird mir erst bewusst, was für ein Fahrradparadies dieses Land ist. Das ist das Schöne an solchen Urlauben: Man kann nur positiv überrascht werden, die negativen Dinge lässt man schnell hinter sich und fährt weiter. Wenn man im Katalog sein Hotelzimmer wählt, dann wird man entweder in seiner Erwartung nur bestätigt oder ist enttäuscht, weil es nicht so aussieht, wie auf den Fotos. Ich konnte mir vorher keine Fotos anschauen und Ausflüge buchen, die mir genau sagen, zu welcher Uhrzeit ich wo zu sein habe. Auf dem Schiff war alles streng getaktet: 10 Uhr Anlegen, 12-14 Uhr Panoramafahrt im Bus mit Fotostopp, 17 Uhr Abfahrt und wer zu spät kommt, hat Pech gehabt und bleibt zurück.
Vor einem Supermarkt sprechen mich zwei ältere Damen auf Camillo an und wir kommen ins Gespräch. Sie erzählen mir von einer App, die mir günstige Übernachtungsmöglichkeiten für Radwanderer in Dänemark anzeigt. Ein Reisebus passiert uns, hupt und hinter den Fenstern winken uns begeistert Asiaten zu. Die Omas sind kurz irritiert, dann erzählen sie weiter und ermahnen mich, dass es bald regnen wird und ich nicht mehr so weit fahren darf. Tatsächlich ist es mittlerweile spät nachmittags. Die Damen empfehlen mir einen Rastplatz im Wald, wo man kostenlos Zelten darf und ich verspreche ihnen, rechtzeitig dort zu sein, bevor es zu regnen beginnt. Es wird meine erste Nacht im Wald sein. Wir haben heute 91 Kilometer geschafft.
Bis zum Nordkap sind es noch 2573 Kilometer.
Was braucht ein Mensch zum Glücklichsein? Zu Hause habe ich über die Jahre so viel Zeug angesammelt. Im Keller stauben Playstation I bis III vor sich hin, in meiner Garage stehen eine Vespa und zwei Motorräder, meine ganze Wohnung ist voller Souvenirs aus aller Welt. Im Kleiderschrank befinden sich noch sämtliche Requisiten der vergangenen zehn Jahre, die ich irgendwann einmal für zehn Minuten auf der Bühne getragen habe und seitdem nur noch als Staubfänger dienen. Sogar eine Schwimmweste liegt da noch, die ich zuletzt mit 14 Jahren am Gardasee anhatte – und jetzt liege ich in meinem Decathlon-Zelt für 80 Euro und bin rundum zufrieden mit meinem Radler-Dress, einer Jeans, Hemd und Regenkleidung. Am Vorabend habe ich es geschafft, ein Feuer zu machen und dank Youtube-Tutorial (okay, Handy muss sein) ist es mir irgendwann auch gelungen, mit meinem Schweizer Messer eine Dose zu öffnen. Wenn man als Mann so etwas alleine in der Wildnis schafft, dann fühlt man sich bereit für die Weltherrschaft.
Der angekündigte Regen kam erst heute Vormittag, aber dafür umso heftiger. Zwei Stunden muss ich warten, bis ich eine kurze Regenpause nutzen kann, um alles zusammen zu packen und endlich weiter zu fahren. Für diesen Platz im Wald habe ich etwa 20 Kilometer Umweg in Kauf genommen und ich muss eine lange Schotterstraße fahren, um wieder auf die Landstraße zu kommen. Beste Gelegenheit, um Camillo laufen zu lassen. Ich klicke noch einmal kurz aus den Pedalen, halte und drehe mich um. Camillo sitzt bereits angespannt mit spitzen Ohren da und wartet auf sein Kommando.
„Hopp!“
Noch bevor ich mein Kommando beende, hat er bereits zwanzig Meter Vorsprung. Ich verhake mich in den Klickpedalen und komme nicht gleich rein. Hundert Meter Vorsprung. Der Kerl ist mittlerweile fast neun Jahre alt, aber zieht mich immer noch gnadenlos ab. Nach etwa einen Kilometer sind wir wieder auf gleicher Höhe und steuern in gleichmäßigen Tempo auf die nächste Kreuzung zu. An der Landstraße angekommen, springt mein Bub wieder zufrieden und ausgepowert in sein Camillobil. Jetzt könnte ich eigentlich wieder etwas entspannter fahren, wären da nicht die kleinen Hügel, die mich immer wieder fordern. Leichte Steigungen von fünf Prozent überrolle ich normalerweise mit dem Rennrad, aber mein schweres Gepäck zwingt mich jedes Mal hinten auf das größte Blatt zu schalten. Als eine kleine Abfahrt kommt, bemerke ich den Plattfuß. Nicht einmal zehn Kilometer haben wir bisher geschafft und schon muss ich die erste Zwangspause einlegen. Camillo darf wieder aus seinem Camillobil springen und im Feld Mäuse jagen, während ich den Hinterreifen ausbaue. Neben mir stehen drei Pferde auf der Weide, die mich dabei interessiert beobachten. Camillo hält Sicherheitsabstand. Er war zwei Jahre alt, als er einmal an einem Elektrozaun geschnuppert hat, seitdem kennt er das Klacken des Gerätes, das für den Schmerz verantwortlich ist. Da ich ohnehin anhalten musste, nutze ich gleich die Zeit für ein Brot mit Erdnussbutter. Wenn ich die Panne mit einer Essenspause kombiniere, habe ich zumindest schon wieder etwas von meinem heutigen Rückstand eingeholt. Die Sonne schaut kurz heraus, weitere Radler passieren und grüßen uns. Ich sattle wieder auf, fahre fünf Kilometer, dann kommt der nächste Regenschauer. Okay, am Timing arbeiten wir noch... Also noch einmal anhalten, Regenjacke an und weiter geht’s. Es ist nur ein leichter Nieselregen, der bald wieder abklingt. Durch die Jacke hat sich aber im Inneren nun ein Biotop gebildet, ich schwimme förmlich im Schweiß. Also wieder anhalten, Jacke aus, weiterfahren. Jetzt ist es kalt. Ich ziehe meine Armlinge an und tatsächlich wärmen sie etwas. Ein paar Sonnenstrahlen wären jetzt nicht schlecht, um wieder zu trocknen, aber die dicken Wolken verweigern wie eine Herde schlecht gelaunter Türsteher jegliches Durchkommen. Ein Blick auf meine Wetter-App zeigt mir an, dass es nun in einer Stunde wieder kräftig regnen soll. Dann wäre ich außen wie innen komplett durchnässt. Ich passiere ein Hinweisschild Hotdogs & Camping. Interessante Kombination. Ich bin neugierig und entschließe mich, heute etwas früher mein Lager aufzuschlagen. Die Rezeption für den Campingplatz ist tatsächlich in der Imbissbude. Hinter dem Tresen steht ein blonder Hüne, wild behaart, der Bizeps drückt sich im Baumfäller-Hemd durch. Dür einen Moment überlege ich, ob ich nicht versehentlich mitten in ein Filmset für einen ganz schlechten und flachen Werbedreh für Hotdogs geplatzt bin, so fehl am Platz wirkt dieses männliche Topmodel in dieser verranzten Bude. Zwei Hunde ziehen ihre Nasen über den Boden und saugen sämtliche Pommes- und Ketchup-Reste ein. Der Hüne fragt, ob mein Hund auch einmal durchlaufen will. Ich muss lachen und frage ihn, ob denn einer seiner Campinghütten noch frei ist.
„Klar“, sagt er.
Eine Gruppe Motorradfahrer kommt rein, man begrüßt sich auf Dänisch, dann wendet sich der skandinavische Brad-Pitt-Verschnitt wieder mir zu. Achtzig Euro will er für die kleinste Hütte.
Ich stutze.
„Das ist mir zu teuer für eine Nacht“, sage ich und frage, wie viel ein Zeitplatz kostet.
„Es regnet bald“, antwortet er, ohne auf meine Frage einzugehen und schaut mich durchdringend an.
„Ich weiß“, sage ich und erwidere seinen Blick, dann verrutscht meine Kontaktlinse und die Augen fangen an zu tränen.
„Fünfzig Euro für die Hütte“, antwortet er in mitleidigem Ton und weil er denkt, dass ich heule.
Ich stutze wieder und antworte, dass er ja ganz schön schnell mit seinem Preis runtergeht.
„Welcome to Denmark!“, antwortet er und knallt die Schlüssel auf den Tresen, ohne abzuwarten, ob ich überhaupt einschlage.