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Bianka Bleier setzt ihre beleibte Buchreihe fort und präsentiert wieder ein wunderbar erzähltes Tagebuch voller Herz, Ehrlichkeit, Lebenshunger und Charme - und mit einem Glauben, der sich gerade in den Hochs und Tiefs des Lebens als tragfähig zeigt: »Jede Zeit, jede Dekade meines Lebens hat ihr Schönes - auch die, über die mein Tagebuch hier erzählt! Ich habe noch so viel Lebenshunger, aber ohne Gier. Die Lieder von Reinhard Mey schenken meiner Seele sehr oft Worte. Sie kleiden ein Lebensgefühl in Musik, das ich mit meiner schwindenden Restlaufzeit immer intensiver empfinde: dass ich noch nie so gern über diese Erde gegangen bin wie jetzt, noch nie so bewusst den Boden unter meinen Füßen gespürt habe, noch nie die Natur lieber betrachtet habe. Dass ich noch nie so gern gelebt habe.«
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Seitenzahl: 507
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Bianka Bleier (Jg. 1962) ist Autorin zahlreicher Bücher, Kalender und Zeitschriftenbeiträge. Ihre authentischen Tagebuchromane nehmen ihre Leserinnen seit über 25 Jahren mit hinein in ihr Leben mit ihrer Familie. Ihre Leidenschaft für schöne Bilder und gute Zitate sind der Stoff, aus dem ihre zahlreichen Kalender sind. Sie lebt mit ihrem Mann in Forst/Baden, wo sie das Event-Laden-Café »Sellawie« gegründet hat.
www.sellawie.de
Es ist viel Lebenpassiert
»Jede Zeit, jede Dekade meines Lebens hat ihr Schönes – auch die, über die mein Tagebuch hier erzählt! Ich habe noch so viel Lebenshunger, aber ohne Gier. Die Lieder von Reinhard Mey schenken meiner Seele sehr oft Worte. Sie kleiden ein Lebensgefühl In Musik, das ich mit meiner schwindenden Restlaufzeit immer Intensiver empfinde: dass ich noch nie so gern über diese Erde gegangen bin wie jetzt, noch nie so bewusst den Boden unter meinen Füßen gespürt habe, noch nie die Natur lieber betrachtet habe. Dass ich noch nie so gern gelebt habe.«
Ein wunderbar erzähltes Tagebuch voller Herz, Ehrlichkeit, Lebenshunger und Charme – und mit einem Glauben, der sich gerade in den Hochs und Tiefs des Lebens als tragfähig zeigt.
Eure Bianka
BIANKA BLEIER
Ich hab noch nie so gern gelebt
Mein Alltag zwischen der Schönheitund der Endlichkeit des Lebens.
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ISBN 978-3-7751-7664-4 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6290-6 (lieferbare Buchausgabe)
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
© 2025 Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
www.haenssler.de
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
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Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers
Fontis - Brunnen Basel
Bibel in gerechter Sprache © 2006, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Lektorat: Rebecca Schneebeli
Umschlaggestaltung: Nakischa Scheibe Fotografie + Design, www.nakischascheibe.de
Titelbild: Nakischa Scheibe Fotografie + Design, www.nakischascheibe.de
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
»Alles hat seine Zeit« – kaum ein Satz aus der Bibel kommt mir so oft in den Sinn. Wir haben jung drei Kinder bekommen und waren immer noch relativ jung, als sie flügge wurden. Ich habe es geliebt, mit den Kindern unter einem Dach zu leben, Familienleben aufzubauen, Verantwortung zu tragen, ihre Entwicklung mitzuerleben, sie aus der Nähe zu lieben und ihre Liebe zu tanken. Nach dem Verlassen dieses intensiven Lebensraumes begann etwas erstaunlich Neues. In der Ruhe, die einkehrte, stieg ein alter Traum in uns hoch, der nun die Chance hatte, Wirklichkeit zu werden. »Wenn nicht jetzt, wann dann?«, fragte Werner und ich lernte den Pionier an meiner Seite noch einmal von einer neuen Seite kennen – und er mich.
Wohl wissend, dass wir nicht mehr die Jüngsten sind, aber unsere Zeit in Gottes Hand steht, begannen wir gemeinsam mit Freunden ein Projekt, das zu einem neuen Lebensschwerpunkt wurde. Wir bauten in unserem Wohnort eine alte Scheune zu dem Begegnungsort Sellawie um, wo wir Menschen Angebote machen, gemeinsam das Leben zu feiern, zu gestalten und zu bewältigen. Es gibt ein Café mit Innenhof und Garten, eine Buchhandlung, einen Laden mit schönen Dingen, therapeutische und seelsorgerliche Angebote. Unser Wunsch ist es, Ehe und Familie zu stärken, Trauernden beizustehen, Menschen mit Behinderung zu integrieren. Ich liebe die neuen Möglichkeiten meines Lebens.
Bianka Bleier Forst, Januar 2025
Berge abtragen und Projekte entwickeln ist etwas, das mich erfüllt. Unser Laden-Café Sellawie wächst kontinuierlich. Es ist ein vielschichtiges Wirkungsfeld, in dessen Zentrum viele schöne Begegnungen stehen. Mit Werner zusammenzuarbeiten macht mir total Spaß. Er träumt immer lauter davon, in ein oder zwei Jahren zu kündigen und ganz im Sellawie einzusteigen. Das ist eine schöne, mutige Perspektive.
Wir haben erstaunlich wenig Stress miteinander. Werner kümmert sich um die wirtschaftlichen und personellen Belange und um das Café. Ich konzentriere mich auf den Laden, Events, Verwaltung und Werbung. Manchmal höre ich, wie Werner voller Wertschätzung erzählt, dass wir beide uns gut ergänzen. Dass ohne meine akribische Feinarbeit das Sellawie nie möglich gewesen wäre. Das tut gut. Denn gleichzeitig weiß ich sehr genau, was das Sellawie alles Werner zu verdanken hat. Abends, wenn alle Gäste und Mitarbeiter gegangen sind, sitzen wir zu zweit im Wintergarten und lassen den Tag Revue passieren. Wie oft haben wir so auf der Baustelle gesessen und geträumt. Seit einem Vierteljahr ist der Traum Wirklichkeit.
Seit einigen Wochen habe ich pelzige Zehen. Anfangs wartete ich darauf, dass es wieder verschwindet. Der Besuch beim Neurologen bringt eine Diagnose: Kein Bandscheibenvorfall, keine Multiple Sklerose, wie ein Blick in Google befürchten ließ, sondern Polyneuropathie. Zwei Tage halte ich mich an mein selbst auferlegtes Internetverbot, dann gebe ich das Unwort in die Suchmaschine ein. Ich vermute, Oma und Mutti hatten dieselbe Form von Nervenschädigung. Oma sagte manchmal, als sie schon bettlägerig war, Ameisen würden an ihren Beinen herumkrabbeln, und auch Mutti erwähnte immer wieder ihre pelzigen Füße. Ich tippe auf Vererbung. Der Arzt rät eindringlich von jeglichem Alkoholkonsum ab. Die Vorstellung, auf mein abendliches Glas Wein zu verzichten, gefällt mir nicht.
Zum zweiten Mal im Leben sitze ich in Nicoles Brautkleidergeschäft. Hier hatte ich vor sechs Jahren meine erste Hitzewallung. Lena verschwindet mit Jeans, Skaterjacke und dem obligatorischen Wollschal in der Umkleidekabine. Es raschelt. Dann tritt sie mit strahlendem Lächeln als Flower-Power-Schönheit heraus. Ich bin so überrascht! Sie ist eine Erscheinung! Genau wie ich früher wollte sie die ganze Zeit auf gar keinen Fall ein Brautkleid. Dann erklärte sie, sie würde geldbeutelschonenderweise Annas Brautkleid auftragen. Plötzlich verkündete sie, dass sie ein eigenes, ein Lena-Kleid brauche.
Dies hier ist ihr Kleid! Romantisch und extravagant. Sie will die Haare offen tragen (keine blöde Brautfrisur), sie will Holzschmuck tragen (keinen blöden Brautschmuck). Sie freut sich über die Bewegungsfreiheit in dem Kleid. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Anna an diesem Ort in ihrem Traumbrautkleid umherschritt – würdevoll und elegant. Lena hüpft herum wie ein Flower-Power-Mädchen am ersten Frühlingstag: »Guck mal, ich kann mich ganz normal darin bewegen!« Sie lässt ihre Beine hochfliegen. Fehlt nicht viel und sie schlägt einen Purzelbaum auf dem plüschigen Boden. Ich sehe sie schon barfuß oder in weißen Turnschuhen zur Trauung springen …
Und ich? Ich bin berührt von dieser schönen Mutter-Tochter-Stunde. Meine Rolle? Bewundern. Jubeln. Mich erinnern an meine eigenen Gefühle vor meiner Hochzeit. Das Mädchen, das sich als Kind weigerte, ein Kleid zu tragen, ist heute eine wilde Schönheit.
Ein Tag – zwei Pole. Während ich anfange, mich an den Nervenenden aufzulösen, beginnt in Lenas Leben etwas Neues. C’est la vie …
Mein erstes Heimspiel im Sellawie ist geschafft. Während Werner Jan bei dem gefürchteten Erste-Hilfe-Kurs für seinen Führerschein begleitet, überstehe ich tapfer meine erste eigene Veranstaltung – eine Schreibwerkstatt. Schweigend hören die Zuhörerinnen meinem Vortrag zu und wie immer deute ich die Konzentration beim Publikum als Desinteresse. In der Pause höre ich begeisterte Rückmeldungen und werde lockerer. Am Ende sagen viele, dass sie neu motiviert wurden, Tagebuch zu schreiben. Nach wie vor weiß ich nicht, ob das mein Ding ist, selbst Veranstaltungen zu geben.
Die Leute erzählen gern, dass fünf Frauen ein Café eröffnet haben. Das klingt romantisch, stimmt aber nicht wirklich. Werner war von der ersten Stunde an mit dabei. Auf jeden Fall sind wir an unserer Kapazitätsgrenze angelangt und suchen nach Lösungen, die uns entlasten. Seit einer Woche lassen wir uns die Lebensmittel und Getränke für das Café liefern, anstatt selbst Großeinkauf zu machen und alles in den Keller zu schleppen. Als erste Mitarbeiterin auf Minijob-Basis haben wir Gabriela eingestellt, die täglich zwei Stunden lang putzt und mit der uns bald freundschaftliche Gefühle verbinden. Sie übt die ganze Zeit beim Putzen die deutsche Sprache. In Polen hat sie als Sekretärin gearbeitet. Danach haben wir eine Servicekraft eingestellt, die an den Flammkuchenabenden arbeitet.
Das Sellawie ist wie ein Karussell, das ständig in Bewegung gehalten werden muss, verbunden mit einem großen Verwaltungs- und Organisationsaufwand, aber es wird besser.
Werner und mir tut der Neuaufbruch gut, die Spannung, all das Neue, das Zusammenspiel, was wir beide an Gaben in die Schale legen können. Es ist, als würden alle unsere Lebensfäden zu einer Spur zusammenlaufen. Werner fährt nach der Arbeit gar nicht erst nach Hause. Im Café trifft er immer Bekannte. Dort ist Leben, Wärme, Inspiration und fröhliches Miteinander. Daheim sind zu viele Zimmer, zu wenig Menschen. Wir beleben unser Zuhause kaum noch. Wenn eins unserer Kinder es bräuchte, weil Nachwuchs kommt, könnte Werner sich vorstellen, es zu räumen. Ein neuer, ungeheuerlicher Gedanke erscheint am Horizont. Wie groß ist meine Bindung an dieses Haus, dessen Sinn darin lag, Kindern ein Zuhause zu geben?
Von allein würde ich solche Gedanken niemals denken. Ich schätze es an Werner, dass er so ein Freidenker ist. Ohne ihn wäre das Sellawie nie entstanden. Ich würde heute noch denken: »Projekte machen die anderen.« Unser Lebenstraum wäre ein schöner Gedanke geblieben.
Unser Kühlschrank ist leer, das Haus verwaist, die Welt dunkel, weder Werner noch ich haben Lust auf daheim. Wie sehr ist unser Haus eigentlich noch unser Zuhause? Soll ich wirklich schon mit 50 darüber nachdenken, mein Leben zu verkleinern? Aber hat sich meine Welt nicht längst schon verkleinert? Werners Eltern haben ihr Haus verkauft, als das letzte Kind ausgezogen war. Er und seine Geschwister haben dadurch den gemeinsamen Treffpunkt verloren. Die Eltern haben gewonnen – für den neuen Lebensabschnitt ein passenderes Umfeld und viele praktische Erleichterungen.
Was ich an unserem Zuhause schätze, ist der geniale Standort – zwischen dem Sellawie und meinem Elternhaus, jeweils nur 300 Meter entfernt.
Lena wird 25. Halb so alt wie ich, klagt sie bereits über das Verstreichen der Zeit – so früh kippt das Gefühl, unendlich leben zu dürfen. Für mich, doppelt so alt, gehört dieses Gefühl lange schon der Vergangenheit an.
Allmählich frustriert mich mein Mangel an Freizeit. Vier Monate nach dem Start des Sellawie geht die Bereitschaft, ununterbrochen zu arbeiten, bei jedem in unserem Kernteam gleichzeitig zurück. Die Gäste sind zum Teil sehr fordernd und wir beschließen, die Grenzen enger zu ziehen: weniger Reservierungen und Events. So können wir die Galerie als Verkaufsraum nutzen, ohne sie ständig umräumen zu müssen. Ich möchte wieder schreiben, baden, spazieren, radeln, lesen, bummeln, telefonieren, träumen, mich mit anderen treffen, Urlaub machen … Selbstständig, das heißt wohl wirklich selbst und ständig.
Meine schönsten Zeiten sind immer noch meine Mamabär-Zeiten. Mit Lena spazieren gehen und Hochzeitsschuhe kaufen. Über alles reden, was unsere Herzen beschäftigt. Ihr aufmerksames Fragen, Zuhören, Reflektieren. Abends ist Anna hier, albert mit Jan und Lena und wir schmieden zusammen Familienurlaubspläne.
Das Leben fühlt sich immer wieder so zerbrechlich an. Gestern hatte ein Freund die jährliche Nachuntersuchung nach der Tumoroperation vor zehn Jahren; heute kam die Nachricht, dass der Tumor zurückgekehrt ist. Nach zehn Jahren Stillstand blüht die Krebserkrankung wieder auf! Auch bei mir ist seit zehn Jahren Ruhe. Wir sind den Weg damals parallel gegangen und fühlen uns darin verbunden, ohne dass es viele Worte braucht. Mein Freund fragt sich: Was haben wir die letzten zehn Jahre gemacht? Wie haben wir sie gelebt? Oft genug haben wir einfach vor uns hin gedümpelt.
Ich frage mich: Ist nicht das ganze extrem vergängliche Leben ein einziges großes Dahindümpeln? Der Rückfall seiner Erkrankung gibt mir einen Vorgeschmack auf meine eigene Schicksalswende, die jederzeit kommen kann.
Ich genieße mein jetziges Leben so sehr – es ist noch schöner als während der Bauphase. Gleichzeitig sehe ich, wie zerbrechlich das Leben ist, wie nah die Einschläge kommen. Dass wir keine Ahnung haben, was auf uns zukommt, ist ein Schatten, der über unserem Dasein schwebt.
Gestern hatte ich eine Lesung auf der Schwäbischen Alb, 200 Kilometer entfernt. Es war ein Horrortrip voller Schlüsselerlebnisse. Als ich nachts um 2 Uhr zu Tode erschöpft ins Bett fiel, wusste ich: Das ist nicht mein Platz! Ich bin keine durchs Land reisende Botschafterin, Entertainerin, Evangelistin. Meine Stärke sind Zwiegespräche, keine Bühnenunterhaltung. Ich habe keinen Orientierungssinn und komme mit Landkarten, Navi und Wegbeschreibungen nicht zurecht. Warum in aller Welt fahre ich durch die Lande auf der Suche nach einem Veranstaltungsort?
Es ist mir so schwergefallen, das Sellawie zu verlassen, um irgendwohin zu fahren, wo ich gar nicht sein wollte. Ich habe mich bei der Veranstaltung nicht eingebunden gefühlt, sondern einsam. Die nächtliche Heimfahrt bei schwerem Schneegestöber, bei der ich mich immer weiter verirrte, war ein Albtraum. Ich fand die Autobahnauffahrt nicht, irrte durch die verschneite Landschaft, fragte nach Mitternacht in verrauchten Kneipen nach dem Weg, fand ihn trotzdem nicht und irrte weiter bleimüde und nachtblind unter ungeheuren Anstrengungen über deutsche Autobahnen auf der Suche nach meiner Heimat. Ich war eine einzige Muskelverspannung. Gebet ohne Unterlass. Die Lesung aus meinem Buch Das Leben feiern hat mir keine Freude gemacht. Ich fand die Frauen aus dem Team irgendwie aufgesetzt, aber ich war es auch, und das war das eigentlich Schlimmste: Ich war nur körperlich anwesend, meine Seele war im Sellawie. Genau das, worüber ich redete, das Leben zu feiern, habe ich nicht gelebt.
Es ist genug. Ich werde keine weiteren Lesungen mehr annehmen. Das ist nicht mein Element. Mein Platz ist im Sellawie und am Schreibtisch. Da blühe ich auf, da will ich sein. Es ist vorbei. Alles hat seine Zeit!
Bezeichnend waren Anfang und Ende meiner Lesung. Als ich die Bühne betrat, stellte ich fest, dass ich mein Manuskript am Saalende bei der Technik liegen gelassen hatte. Bei meinem Versuch, möglichst wenig Wellen zu machen und es geschwind selbst zu holen, stolperte ich über eine Bodenvase, die zerbrach und eine große Pfütze hinterließ. Den Mittelteil der Veranstaltung überlebte ich dank der freundlichen Gesichter vor mir. Ich war gerade dabei, meinen letzten Text anzukündigen, als eine Frau aus der hintersten Reihe rief: »Nun machen Sie mal einen Punkt! Hier sitzen Leute, die noch abbauen müssen!« Da war plötzlich so eine Klarheit in mir, wie ich es liebe: Das hier würde meine allerletzte Lesung sein!
Täglich kommen immer noch viele Menschen zum ersten Mal ins Sellawie. Die kaufmännische Seite ist äußerst spannend. Wir machen mehr Umsatz, als wir uns je vorzustellen gewagt haben. Gleichzeitig erzeugen wir höhere Rechnungen, als unsere kühnste Fantasie sie sich ausmalen konnte.
Von Werners Erschöpfungsaussetzern abgesehen macht die Zusammenarbeit mit ihm riesig Spaß. Er ist oft so glücklich und stolz und bemüht sich ständig, unsere Infrastruktur zu verbessern. Er berät uns kaufmännisch, als Kernteam besprechen wir alle Weichenstellungen.
Das Café ist immer eine Woche im Voraus ausgebucht. Wir machen keine Werbung. Das Sellawie ist von der Straße aus nicht als Laden-Café zu erkennen. Die Mutigen, die uns besuchen, erleben einen Überraschungseffekt. Gott nimmt unsere Fische und Brote und vermehrt sie. Wir sind sehr, sehr herausgefordert. Das Café erzeugt ein Viertel des Umsatzes, aber zwei Drittel der Arbeit. Es ist das Eintrittstor, der Magnet, der Sehnsuchtsort der Menschen. Sie wollen in dieses kleine Wohnzimmercafé, sie wollen sich treffen, um gemütlich zu reden und sich kleine Auszeiten zu gönnen.
Das Bücherzimmer wird immer besser angenommen, darin liegt noch ein großes Potenzial. Unser Konzept greift, der Mut zum Risiko hat sich gelohnt. Die Menschen sehnen sich nach einem behaglichen Ort, wo sie willkommen sind, Begegnungen mit Verweildauer erleben, inspirierende Bücher und schöne Dinge finden. Sie nehmen Osteopathie genauso in Anspruch wie psychotherapeutische Angebote. Alle Aspekte unserer Vision werden angenommen. Es hat sich gelohnt, so viele Stunden darüber zu brüten, so intensiv auf Gott zu hören.
Der Kreis unserer Gäste wächst ständig. Wir haben gehofft, dass wir die Herzen der Frauen erreichen. Begeisterte Frauen sind die besten Multiplikatoren. Davon lebt das Sellawie. Beim Büchersortieren höre ich, wie eine Kundin in ihr Handy ruft: »Du musst herkommen und dir das anschauen! Das ist der Hammer! Und das in Forst!« Es macht so eine Freude, Menschen positiv zu überraschen.
Gleichzeitig befinden wir uns immer noch im Aufbau. Wir bemühen uns, Abläufe zu vereinfachen, die wachsende Zahl von Mitarbeitern zu schulen, die Qualität von Speisen und Getränken zu standardisieren. Täglich lernen wir aus Fehlern, ziehen Schlüsse aus Misserfolgen und bauen unser Angebot aus. Als erste Anschaffung gönnen wir uns eine Gastronomiespülmaschine. Die Büroarbeit ist umfangreich. Ich entwickle ständig neue Strukturen, die mir helfen sollen, den Überblick zu bewahren. Am wenigsten Spaß macht mir die Buchhaltung. Im Buchladen war mein Hang zu Leichtsinnsfehlern lästig, hier ist er verhängnisvoll. Dort habe ich mich respektvoll hinter Andrea versteckt, nun habe ich ungleich mehr Verantwortung und bin überrascht, was ich leisten kann und mir zutraue. Denn auch wenn viel schiefgeht, gelingt auch viel.
Irgendwann ist der erste Tag, den wir draußen verbringen. Und das ist heute! Ich gehe mit in den Wald, Holz machen. Ich zeichne an, Werner sägt, Jan trägt. Es ist anstrengender, als ich es in Erinnerung hatte. Ich verhake mich im Gehölz, purzle durch das Gebüsch, ächze beim vielen Bücken, rieche die frische Erde, staune über die unterschiedlich aufbrechenden Baumsorten. Die Hainbuchen sind schon lindgrün, die Rotbuchen noch winterlich kahl. Der Waldboden ist übersät mit weißen Blümchen. Heute habe ich gelernt, dass sie gar nicht Kuckucksblumen heißen, wie meine Mutter sie immer nannte, sondern Buschwindröschen.
Wenn es uns gut geht – und das ist weitaus öfter der Fall, als es mein Tagebuch weiß –, dann kuscheln wir viel miteinander, dann sagt Werner oft zu mir: »Ich liebe dich! Du bist eine tolle Frau! Du bist eine wunderbare Mutter! So eine engagierte Mutter hätte ich gern gehabt, so eine Unterstützerin!«
Neulich sagte Werner: »Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben. Wir hatten auch so manchen Ärger. Du ärgerst dich öfter über mich, ich weniger oft über dich. Aber ich glaube, das Geheimnis ist, dass man sich immer in den anderen hineinversetzt. Und dass man Spaß hat miteinander.«
Werners Chef: »Herr Bleier, Sie sind mit Abstand die Person, die am meisten belastet ist in der Werkstätte. Wie geht es Ihnen denn?« Werner: »Ja, ich spüre den Druck, aber abends, wenn ich heimkomme, kann ich abschalten, da wartet noch ein ganz anderes Leben auf mich, das mich sehr erfüllt.« Wow!
Und trotzdem passieren immer noch dieselben doofen Szenen in unserer Ehe. Wie immer schockieren mich Werners unvorhersehbare Ausbrüche, und wie immer schockiert ihn meine Reaktion darauf. Gerade noch war der Abend harmonisch, unser Miteinander liebevoll und rücksichtsvoll. Ich bin es leid, mir durch seine Launenhaftigkeit mein Gleichgewicht rauben zu lassen. Ich würde mich so gern dagegen abgrenzen, nicht immer alles gleich persönlich nehmen, wenn er ein Problem mit Überlastung oder eingeengtem Freiheitsgefühl hat. Ich kenne keinen Menschen mit so einer Bandbreite zwischen Sanftheit und Wut.
Sternstunde bei Vati. Ich gehe zu ihm mit dem Vorsatz, mehr über seine Wurzeln zu erfahren, habe aber wenig Hoffnung, dass er sich darauf einlässt. Ich bin es gewohnt, dass er Rede und Antwort verweigert, wenn es um seine Vergangenheit geht. Aber heute ist er wie ein offenes Buch. Ein kleines Stichwort genügt, dass er seine Erinnerungen preisgibt. Er erzählt von der kleinen schäbigen Kate in Ostpreußen, von den Enten und Gänsen, die tagsüber an der Angerapp geweidet haben und abends zurückgewatschelt kamen. Von seinem Vater Otto, der als Erster im Dorf ein Motorrad hatte. Von seinem Opa, der ihm Holzschuhe gedrechselt hat, von seiner Flucht nach Dänemark, dem Neustart in Bad Oldesloe, wo er mit seiner Familie in einer 26-Quadratmeter-Wohnung wohnte, durch Vorhänge unterteilt.
Jan ist dankbar, erleichtert, hoffnungsvoll: Anna übt mit ihm für seinen Führerschein, dann für seine Gärtnerprüfung. Bald endet sein Internatsleben im Berufsbildungswerk für Schwerhörige in Winnenden nach vier Jahren und wir freuen uns alle darauf. Er ist uns entwischt, wir wissen nur noch wenig über sein Leben unter der Woche. Er hat viel an Selbstständigkeit gewonnen in dieser Zeit. Bald haben wir ihn wieder mehr im Blick.
Gerade läuft alles wie am Schnürchen: Es ist mir gelungen, für Jan zwei Praktikumsstellen zu besorgen. Der Bürgermeister will prüfen, ob Jan eventuell auf dem Bauhof oder in der Stadtgärtnerei arbeiten kann. Ich sage zu ihm: »Wir sind sehr stolz auf Jan. Es ist erfreulich, wie er sich trotz widriger Startbedingungen und schlechter Prognosen entwickelt hat. Er ist willig, freundlich, zuverlässig, kräftig, belastbar, pünktlich.«
Im Laufe des Gesprächs erzählt der Bürgermeister mir seine eigene leidgeprüfte Lebensgeschichte als Kind und Jugendlicher und sagt: »Das hab ich noch keinen zwanzig Leuten erzählt!«
Jan ist immer noch fußballbegeistert. Klassischer Samstagabendmonolog: »Nein, warum ist der Lahm nicht dabei? Jetzt hab ich extra das Lahm-T-Shirt angezogen und jetzt sehe ich, dass er nicht aufgestellt ist. Was soll ich jetzt anziehen? Also umziehen!«
Jan ist ein Geschenk Gottes in einer besonderen Verpackung. Wenn wir die Wahl gehabt hätten, hätten wir womöglich Nein gesagt. Vielleicht fragt uns Gott deshalb nicht, weil er auch mit den schweren Seiten des Lebens gute Gedanken für uns hat. Weil wir dabei seine Nähe, Liebe und Fürsorge auf besondere Weise erfahren können und weil wir auf diesem Weg Dinge lernen, die wir anders nicht lernen würden.
Jetzt bekommt Jan Geheimratsecken. Mein Baby, das mit dichten schwarzen Haaren zur Welt kam, lässt Federn. Wie kann es sein, dass mein Kind so alt ist, wo ich doch noch so jung bin?
Wochenlang habe ich der Lifestylemesse in Frankfurt entgegengelebt. Ich habe mich konkret bestimmt zehn Tage lang vorgefreut. Jetzt geht es los. Sehr frühes Aufbrechen, vier Stunden Fahrt, Parkhaus, Messezubringerbus, Lampenfieber. Die Spannung auf all das Neue, Inspirierende steigt. Aussteigen, Portal durchqueren, Stunde X. Auf einmal ist es so weit. Plötzlich denke ich: So kann es sein, andeutungsweise, wenn ich in den Himmel komme. Entgegenleben, Wirrnisse in Kauf nehmen, durchs Tor treten. Was ich ein Leben lang erhofft, erwartet, geglaubt, entgegengefiebert habe, wird Wirklichkeit sein. Unvorstellbar!
Wie neulich, als wir mit einem Teil der Familie an den Lago Maggiore fuhren, um uns in einem Ferienhaus, das Anna und Lena ausgesucht hatten, zu treffen. Wir hatten uns zum Teil lange nicht mehr gesehen. Wir waren im Regen unterwegs und kamen erst bei Anbruch der Dunkelheit an. Lena hatte eingekauft, Tobias gekocht. Wir haben uns riesig gefreut, einander zu treffen. Das Essen war ein Festmahl. Als ich am Morgen die alten Holzrollläden hochzog, traf mich schier der Freudenschlag: Sonne, schneebedeckte Berggipfel, Panoramablick über den See, Traumhäuser ringsumher! Bei wesentlich schönerem Wetter als vorhergesagt saßen wir beseelt auf dem großen überdachten Balkon und genossen die phänomenale Aussicht.
Da bekam ich eine Ahnung von Himmelsankunft – nach langer Reise durch Mühsal und Dunkelheit dieses Ankommen in Licht, Wärme, Schönheit. Dort werden Glauben, Hoffen, Ahnen, Ausharren, Warten, Zweifeln aufgelöst werden. Dort werde ich erleben, dass mein kleiner Senfkornglaube mich über die Brücke bringt in eine neue Welt, in der der Himmel Wirklichkeit ist, so wirklich wie dieser Moment jetzt.
Der Besuch in der Röhre bringt unangenehme Wahrheiten über meine Wirbelsäule zutage. Meine pelzigen Zehen kommen wohl eher von Bandscheibenvorwölbungen, Zysten, Hämatomen und Nervenverdickungen als vom Wein. Mein Hausarzt sagt: »Sie haben erhebliche Haltungsschäden, aber Ihre Leberwerte sind besser als meine!« Auch nicht gerade schmeichelhaft. Ich will nicht zerbrechen. Ich will fröhlich und schöpferisch tätig sein.
Ich bin mit Jan im Arbeitsamt. Er muss sich arbeitssuchend melden. Unzählige Wartezimmerstunden haben wir beide schon miteinander verbracht – beim Augenarzt, Ohrenarzt, Akustiker, Logopäden, Orthopäden, Humangenetiker, Hausarzt, in der Kieferklinik. Viele langweilige, bange, hoffnungsvolle und sinnlos verbrachte Stunden. Und heute meldet sich mein Baby arbeitssuchend.
Nach einem halben Jahr Sellawie ziehen wir Bilanz. Wir sind komplett überwältigt von dem, was wir erleben. Oft sehen wir uns mit großen, ungläubigen Augen an. Das, was hier passiert, ist unerklärlich. Das ist nicht allein unser Verdienst. Das ist Segen, Geschenk, Gnade. Die Frucht unserer verschiedenen Lebenswege. Ich bin sehr fasziniert – und überrollt. Es ist ein anstrengender, enorm herausfordernder Segen, in vielerlei Hinsicht: Kraft, Weisheit, Disziplin, Planung, Wirtschaften, Menschenführung, Teamgeist, Vertrauen. Schritt für Schritt wachsen wir Frauen in unsere Unternehmerinnenschuhe hinein. Wir profitieren von unserer langjährigen Zeit als Familienunternehmerinnen.
Unser Anliegen, Gottes Liebe an Menschen weiterzugeben, ist eine große Herausforderung angesichts der vielen Gäste, die teilweise mit hoher Anspruchshaltung kommen. Die Gefahr, Menschen zu enttäuschen, ist allgegenwärtig. Aber ich liebe es, Berge zu versetzen. Ich entwickle auch nach einem halben Jahr keine Routine an der italienischen Kaffeemaschine und im Service. Dafür werde ich im Laden immer kompetenter. Ich habe nicht das Zeug zum Chef de la Cuisine. Ich konzentriere mich auf Verkauf, Verwaltung, das Thema Buch, Werbung, Organisation. Dienstplan erstellen, Bestellungen aufgeben, Waren eingeben und präsentieren machen wir gemeinsam.
Es ist wie eine neue Zeitrechnung: Nichts geht mehr außer den ganz zentralen Lebensthemen. Das Sellawie füllt fast meine gesamte Lebenszeit aus, alle übrige Gedanken drehen sich um das bevorstehende Hochzeitsfest von Lena und Johannes. Ansonsten bleibt viel rechts und links des Weges liegen.
Gar nicht mehr hinterher komme ich mit Haushalt, Kochen, dem Pflegen privater Kontakte, dem Schreiben und der Schreibtischarbeit zu Hause. Aber es ist sehr erfüllend, mit Werner zusammen noch einmal Neuland zu betreten. Es macht unglaublich Spaß, sogar noch mehr als das Schreiben allein in meinem Nordzimmer und die Arbeit in der Buchhandlung. Alle Kraft fließt ins Sellawie.
Immer noch bin ich so dankbar, dass es nach der Schwerarbeit des Loslassens in den letzten Jahren so viel neues Land zu entdecken gibt. Damit habe ich nicht gerechnet. So eine Fülle, so ein Aufbruch, solche Gestaltungsräume.
Ich habe keine Zeit mehr zum Lesen. Stattdessen habe ich das Hörbuch für mich entdeckt und höre beim Mammutwaschtag in Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry von Rachel Joyce: »Er lächelte in jedes Gesicht, aber es war anstrengend, so viele Fremde in sich unterzubringen.«1 Das ist manchmal mein Sellawie-Gefühl: Ich sehe mich um und wundere mich, wo all diese Menschen herkommen, die fröhlich und erwartungsvoll zu uns kommen.
Meine Liebe,
diese Woche habe ich eine Szene gesehen, die mich sehr berührt hat. Es war wieder der alte Mann zu Gast, der immer kommt, seine Tasse Kaffee bei uns trinkt und mit vielen kleinen Münzen bezahlt. Der alte Mann, den man kaum versteht, weil er nur noch wenige Zähne hat. Du hast ihn zum Tisch begleitet, wie eine Tischdame den König an den Tisch führt. Wie hat er das genossen. Der beste Platz, um den sich die Frauen immer reißen, gehörte ihm ganz alleine! Mit Würde, Liebe und Kraft hast Du ihn ausgestattet.
Die Letzten werden die Ersten sein. Hier werden alte Verheißungen sichtbar! Der kleine, arme, reiche Herr König … Danke, Tischdame!
Deine Conny
Danke, Conny, Du bist so eine Ermutigerin!
Ich liebe die Arbeit und das Leben im Sellawie so sehr. Unfassbar, wie Gott uns hier beschenkt. Unser Ursprungsgebet war, dass Gottes Liebe durch uns zu den Menschen fließen darf. Wenn das geschieht, ist es ein Stück Himmel auf Erden.
Es ist so gut, mit Dir im Sellawie zu leben und zu arbeiten, dieselbe Luft zu atmen, wie Du gern sagst, wenn wir vor Arbeit keine Zeit finden, miteinander zu reden, aber ich sehe oft Gottes Liebe durch Dich fließen, du bunter Schmetterling.
Deine Bianka
Das Arbeiten im Sellawie ist wie eine Segenswelle in unserem Leben. Manchmal bin ich müde, manchmal überanstrengt. Meist aber zieht es mich magnetisch an diesen neuen Lebensort. Dort erlebe ich Erfüllung in meinen Aufgaben und in den Begegnungen. Es macht mir Freude, Verantwortung zu tragen, viel mehr als erwartet. Die Zusammenarbeit mit unseren Kindern und Freunden ist enorm bereichernd. Und mit Werner zusammen alles zu schultern tut so gut!
Im Bücherzimmer kristallisiert sich der Bedarf an guter Literatur immer mehr heraus, das Experimentieren und Präsentieren macht mir große Freude. Es ist so erfüllend, das in Eigenregie machen zu dürfen. Ich habe so viel Freiraum. »Mach dich bloß nicht selbstständig«, hat meine Mutter oft zu mir gesagt. Ich habe mich lange daran gehalten, um nun erstaunt festzustellen, dass es mir total entspricht. Das Sellawie ist Heimat für mich geworden, es ist wie eine kleine Lebensgemeinschaft. Ich bin bereit, das neue Land einzunehmen, es zu füllen mit meinem Leben, es zu genießen.
Wir veranstalten unser erstes Konzert auf der Galerie mit Frieder Gutscher. Es kommen viel mehr Gäste als erwartet. Ihr Vertrauen rührt mich. Sie geben uns die Chance, unser Konzept zu leben. Es wird immer klarer, dass wir diesen aufwendigen Bereich nicht streichen, sondern ausbauen möchten. Dass wir Menschen auf der Sinnsuche Angebote machen möchten. Die Rückmeldungen sind berührend: »Es gibt viele Orte, wohin man gehen kann, wenn es einem gut geht. Aber hier ist ein Ort, wohin man auch gehen kann, wenn es einem schlecht geht.« »Wie gut, dass ihr das hier macht. Das ist so tröstlich!« Der Name Sellawie stößt auf großen Zuspruch.
Die Gäste frühstücken gemütlich im Café und sehen Werner und seinen Freunden zu, die im Garten Zaunpfähle setzen. Sie fragen, was denn da noch so geplant sei, voller Spannung und Vorfreude. Wir sind auch sehr gespannt, wie der Garten aussehen wird, wenn er fertig ist. Es ist ein schöpferischer Akt, ein brach liegendes Stück Land zu gestalten.
Tag für Tag schreibe ich ein neues Datum, es gibt nichts Unaufhaltsameres als die Zeit. Mit jedem Tag, der verstreicht, entfaltet sich unser Leben. Als Kind war ich gespannt, wie es sein würde, groß zu werden. Wie oft habe ich gedacht »Wenn ich groß bin …« Ich stand unter Hochspannung, bis ich wusste, wer der Mann an meiner Seite sein würde. Gefolgt von der aufwühlenden Suche nach dem Sinn meines Lebens, nach Gott, nach einer geistlichen Heimat. Wie würde ich Schwangerschaft und Geburt verkraften? Mich als Mutter bewähren? Wo würden wir uns niederlassen? Wie würden unsere Kinder aussehen und sich entwickeln? Welche Schulwege würden sie einschlagen, welchen Beruf erlernen, wer würden die Männer im Leben unserer Töchter sein, wie würde Jan sich entwickeln? All diese Fragen sind inzwischen beantwortet.
Heute lauten sie: Wie wird ein Frühling, ein Sommer im Sellawie verlaufen, wie die gedruckte Speisekarte aussehen? Wird Jan seine Gesellenprüfung bestehen, meine Schwiegermutter sich von ihrem Schlaganfall erholen? Meine letzte Frage wird erst mit meinem eigenen Ableben beantwortet – wie wird mein letzter Tag sein, die Ankunft im Himmel, das Wiedersehen mit geliebten Menschen, die Gemeinschaft mit Gott, wenn ich nicht mehr glauben und hoffen muss, sondern sehen darf? WIRD ES EINEN HIMMEL GEBEN?
Nach dem Abitur wollten wir nach Amerika auswandern – oder wenigstens nach Frankreich. Dann habe ich meine Ausbildung in Stuttgart gemacht – im Nachhinein mein weitester Ausläufer in die große weite Welt. Danach bin ich nach Bruchsal gezogen, habe zwei Kinder zu bekommen, zog um nach Forst, 300 Meter von meinem Elternhaus entfernt, habe ein drittes Kind bekommen und nun zwanzig Jahre später 300 weitere Meter entfernt das Sellawie gegründet. Weit habe ich es nicht gebracht. Während meine Freunde reisen, was das Zeug hält, und meine Kinder fremde Kontinente kennenlernen, habe ich Europa nie verlassen. Doch ich erlebe Weite in den vielen Begegnungen mit den Menschen, die zu uns kommen.
Die Beraterin vom Integrationsfachdienst teilt uns mit, dass Jan keine Anstellung bei der Gärtnerei bekommen kann, in der er drei Wochen zur Probe gearbeitet hat. Darüber wird er sehr traurig sein. Er ist unruhig wegen der bevorstehenden Abschlussprüfung und der mangelnden Perspektive. Gott? Jan hatte sich so auf sein Praktikum gefreut, hatte darin so große Hoffnungen gelegt. Er war so pflichtbeflissen. Am dritten Praktikumstag legte er sich um 22 Uhr schlafen, um 23 Uhr stand er in voller Gärtnermontur im Wohnzimmer, hellwach und startklar …
Vom Leiter des Bauhofs hat er absolute Bauhoftauglichkeit bescheinigt bekommen, aber er übernimmt ihn nicht. Von dem Gärtner hat er absolute Gärtnereitauglichkeit bescheinigt bekommen. Er könne Jan als Mitarbeiter nur empfehlen – er war fleißig, höflich, pünktlich und hat Arbeiten selbstständig erledigt. Aber eine Stelle kann er ihm nicht anbieten. Die Ungewissheit seiner Zukunft belastet Jan. Er ist verunsichert. Wie sehr wünsche ich ihm einen Platz im Leben.
Wir frühstücken zum ersten Mal draußen unter dem Glasdach der Veranda. Jan blickt hoch und zeigt verwirrt auf unsere alte Katze, die dort oben liegt. Wir sehen uns erschrocken an. Cindy ist gestorben! Ich hasse das Sterben. Weinend gehe ich ihr geliebtes Schaffell holen, um sie darauf zu betten. Werner klettert mit einer Leiter auf das Dach mit einer Kiste in der Hand. Ich tröste Jan. Als Werner oben ist, ruft er Cindy intuitiv leise bei ihrem Namen. Woraufhin die Totgeglaubte genervt miaut, aufsteht, sich rekelt, an dem verwirrten Katzenvater vorbeischreitet und den Baum hinunterklettert. Ich rufe »Blödes Vieh!« und bringe ihr dankbar ihr Lieblingsfutter, das sie ungerührt entgegennimmt. Wir lachen erleichtert und finden, dass das ein herrliches Bild für den endlich aufbrechenden Frühling ist.
Ich genieße es, bei offenem Fenster zu schlafen. Als ich mich gerade voller Vorfreude in mein Bett legen will, lockt mich ein fernes, wundervoll vertrautes Geräusch noch einmal an den kleinen See am Waldrand. Langsam umrunde ich ihn, lausche fasziniert den Nachtigallen, die sich in den Bäumen ringsum verteilt haben. In der Dunkelheit der Nacht ist der Gesang fast überirdisch schön. Wie eine La-Ola-Welle für den Schöpfer. Der bengalische Dichter Tagore hat geschrieben: »Der Glaube ist ein Vogel, der singt, auch wenn die Nacht noch dunkel ist.«
Der endlich eingekehrte Frühling wird durchzogen von vielen kleinen Tiefdruckausläufern. Das Beständigste am Wetter des letzten Halbjahres waren seine Tiefdruckausläufer. Trotzdem ist die Vegetation nicht mehr aufzuhalten. »Wachswetter«, brummt der Mann an meiner Seite zufrieden, dann sagt er nichts mehr.
Heute ist Vatertag, Vater liegt neben mir im Garten und schläft den Schlaf des Gerechten. Um mich herum schnarcht, brummt und summt es. Ich bin erschöpft von vielen hinter mir liegenden Tagwerken. Einen Artikel sollte ich schreiben, aber ich weiß nicht, worüber. Keine Muße küsst mich, trotz des überschrittenen Abgabetermins. Also sitze ich da und gucke. Der Amber treibt kräftig aus. Der »kleine Zwergamber«, zu dessen Kauf mir vor zwanzig Jahren eine Gärtnerin geraten hat, um die drei Meter hohe Lücke zwischen zwei Fliederbüschen zu schließen, ist inzwischen fünfzehn Meter hoch. Manch Kleingeglaubtes birgt Großes in sich! Als Jan anderthalb Jahre alt war, prophezeite ein Therapeut, dass das Kind wohl nie laufen lernen würde. Heute kann er schneller laufen, als mancher Therapeut voreilige Voraussagen treffen kann. Bei der Untersuchung zur Einschulung weissagte der zuständige Berater, dass Jan weder lesen noch schreiben lernen könne. Heute steht er vor der Abschlussprüfung zum Gärtnergehilfen und lernt botanische Namen auf Latein auswendig, die ich mir nicht merken kann. Ohne uns um Rat zu fragen, hat Jan sich zum Führerschein angemeldet. Fast wäre ich geneigt, zu prognostizieren, dass das seine Möglichkeiten überschreitet, aber das Leben hat mich eines Besseren belehrt.
Werner hat seinem Sohn von Anfang an viel zugetraut, ohne ihm etwas abzuverlangen. Aussagen von Therapeuten haben ihn wenig interessiert. Das war ein guter Nährboden für Jan mit seinen besonderen Bedürfnissen und Grenzen. Jan hat seine Sache gut gemacht. Ein Vorteil vom Älterwerden ist, dass man auf größere Zeiträume zurückblicken kann und Gelassenheit lernt.
Im Himmel ist jeden Tag Vatertag. Unser himmlischer Papa blickt immer voller Freude und Zuversicht, Liebe und Güte auf uns. Er kennt unsere Grenzen, aber er sieht auch unsere Möglichkeiten, die er in uns hineingelegt hat.
Frieder Gutscher hat bei seiner Veranstaltung ein schönes Lied gesungen:
Breite deine Schwingen aus,fliege in die Weite hinaus,in den offenen hellen Raum,tief verwurzelt wie ein Baum,entdecke deine eigne Weise,geh auf deiner Lebensreiseweiter immerzu,werde du.2
Jemand hat mal gesagt: »Wenn wir sterben, verlassen wir nicht unser Zuhause, sondern gehen heim. Dort, in der Ewigkeit, schreibt Gott den zweiten Teil unserer Geschichte.« Heute hatte ich ein Gespräch mit einer trauernden Frau. Sie hat ihren Sohn verloren. Ihr Mann kann nicht glauben, »dass es da etwas gibt«. Sie suchte Rat bei einem Pater. Er sagte ihr, das Leben bestehe aus zwei Halbzeiten, die erste auf der Erde, die zweite im Himmel. Nun wollte sie von mir wissen, ob das stimmt. Sie fragte nach einem Buch, von dem sie gehört hatte, in dem ein Junge davon erzählt, dass er den Himmel gesehen habe. Dieses Buch hielt ich gerade in den Händen zum Einsortieren! Tage mit Goldrand!
Werner kommt von seiner Mutter und ist sehr aufgewühlt. Es geht ihr nicht gut. Er meint, wenn in den nächsten zwei Tagen nicht etwas Grundlegendes passiere, würde sie sich aufgeben. Sie redet immer öfter vom Sterben. Sie glaubt nicht mehr daran, dass sie wieder heimkommt. Ich würde ihr so gern Gottes Hand reichen, fühle mich aber so hilflos.
Es ist so gut, Gott schon mitten im Leben zu kennen. Im Sterben aber ist es der Unterschied schlechthin. Ich frage mich, was meiner Schwiegermutter während all der Stunden durch den Kopf geht, in denen sie daliegt und wartet. Werner sagt, sie wirkt wie ein alter Elefant, der sich auf den Weg zum Elefantenfriedhof macht.
Tag für Tag wird sie zwischen Krankenhaus und Reha hin- und hertransportiert. Beide Einrichtungen leiden erschreckend unter Pflegenotstand. Viel zu lange ist sie mit viel zu anstrengenden Bettnachbarn und viel zu belastenden Symptomen allein. Der Ton der Schwestern ist barsch, auf die Notrufklingel hin dauert es lange, bis jemand kommt. Ärzte muss man ebenso mit der Lupe suchen wie deutschsprachige Krankenschwestern. Qualifizierte Auskünfte über ihren Zustand, geschweige denn Prognosen erhalten wir keine. Für Werner wirft das ganz neu die Frage auf, wie er alt werden möchte.
Ich weiß, was Waltraud jetzt für die letzte Etappe bräuchte: Eingebundensein in ein soziales Netzwerk, das ihr rund um die Uhr Geborgenheit gibt; Anteil haben am normalen Leben, ohne selbst noch etwas leisten zu müssen.
Da hat es meine Oma gut gehabt, im Kreis ihrer Familie, bei Mutti daheim. Bis zum Schluss lebte sie in ihrem vertrauten Umfeld, ohne intensivmedizinische Betreuung, aber mit guter Pflege. Bis zuletzt durfte sie teilhaben am Familienleben. Sie war nie allein. Für Mutti war das selbstverständlich, auch wenn es eine Last war.
Ich habe damals ein wenig auf meine Mutter herabgeschaut, weil ich fand, dass sie Oma emotional nicht sehr nah war, sondern sie »lediglich« pflegte. Es tut mir heute noch weh, wie unrecht ich ihr damit getan habe. Das müsste ich erst einmal nachmachen, was sie geleistet hat. Welch jugendliche Arroganz, mich damals so über sie zu erheben. Mutti hat bis an ihr Lebensende geweint, wenn sie von Omas Tod sprach.
Heute empfinde ich Hochachtung für ihren aufreibenden Liebesdienst. Für mich wäre es unvorstellbar, mein gewohntes Leben so einzuschränken und Vati oder Waltraud bei mir aufzunehmen und zu versorgen. Mir fällt es ja schon nicht leicht, Vati regelmäßig zum Essen einzuladen.
Heute Nacht habe ich geträumt, dass Werner und ich in eine Landhauswohnung gezogen sind. Sie war licht und ebenerdig, mit weißen Holzdielen. Ich könnte die Wohnung aufzeichnen, so konkret war der Traum. Ich bin gern dorthin gezogen, habe das Haus hinter mir gelassen, den Kindern überlassen. Jetzt sitze ich im Garten und überlege, ob wir unseren Schuppen zu einem »Altenteil« umbauen und Anna oder Lena anbieten könnten, unser Haus zu beziehen. Was sind das für neue »Träume« in meinem älter werdenden Leben? Früher hat Werner ein Bild gemalt von einem Haus mit Jägerzaun und Obstbäumen, einem Mann, der Drachen steigen lässt, und einer Frau in einer Hängematte, die eine Wiege anschubst …
Neulich fragte mich eine ältere Kundin: »War der Klapperstorch bei Ihnen?« Ich drehte mich sprachlos weg. Stattdessen heiratet in sechs Wochen mein Kind, was gerade allumfassend ist.
Jan ruft an, um nebenbei zu erwähnen, dass er seine Prüfung bestanden hat, was phänomenal ist! Mutti fehlt, um das gebührend mitzufeiern: Jan ist jetzt Fachwerker für Gartenbau, Fachrichtung Obst und Gemüse! Ohne jegliche Hilfe unsererseits, ganz allein ist er das geworden. Die Prophezeiung seines Ergotherapeuten kommt mir in den Sinn: »Vielleicht ist Jan der erste Kabuki mit Mittlerer Reife …«
Die vier Jahre in Winnenden haben Jan herausgefordert und geprägt, aber nicht geschadet. Wir sind unsagbar stolz auf ihn. In zwei Wochen wird er zurückkehren und wir werden wieder eine dreiköpfige Familie sein. Ich muss mich neu sortieren und überlegen, wie viel Verantwortung ich wieder übernehmen muss, will, darf. Wir arbeiten fieberhaft daran, dass er Arbeit findet, bisher ohne Erfolg. Das gab es für Jan und uns schon lange nicht mehr, dass seine nächste Lebensetappe perspektivlos erscheint, damit müssen wir umgehen lernen.
Werner wehrt sich vehement gegen das Klischee, ein Cowboy zu sein, aber mir wird immer klarer, dass ich einen geheiratet habe. Gestern zum Beispiel: Mich sticht eine Wespe in den Fußrücken, die sich in meinen Schuh verirrt hat. Ich, mit meiner Wespenstichallergie, eile zu Werner, er soll den Stich schnell aussaugen, dann wird es nicht so schlimm. So wie ich es neulich bei ihm gemacht habe. Weit gefehlt. »Nein«, lautet die einfühlsame Antwort. Ich bitte noch einmal, noch einmal »Nein«. Begründung: Das letzte Mal hatte er eine Stunde lang ein taubes Gefühl im Mund. Na, dann muss er eben schneller ausspucken! Immerhin lässt er sich dazu hinreißen, mir eine halbierte Zwiebel zu bringen. »Wenn dich eine Schlange gebissen hätte, hätte ich es natürlich gemacht. Aber doch nicht bei einer Wespe …«
Da merkt man doch, welche Mütter hinter uns beiden stecken: Während meine mich bei einem Stich stundenlang getröstet hat, fegte seine den Schmerz mit einer Handbewegung weg.
Lena heiratet. Ich gehe auf Zeitreise. Ich erstelle eine Powerpoint-Präsentation über das Leben unserer groß gewordenen Tochter und wandere die Jahre zurück zu ihrer Geburt, verweile fasziniert bei einzelnen Bildern, betrachte sie mit der Lupe, scanne sie ein. So viel Schlichtheit, aber auch so viel Geborgenheit und Liebe, so viel Alltagsglück. Sehr schöne Erinnerungen! Es tut gut und weh zugleich. Große Dankbarkeit, dass wir es geschafft haben, den Kindern eine bunte, geborgene Kindheit zu ermöglichen. Leise Wehmut, weil eine schöne Lebensphase vergangen ist. Die Summe meines Lebens ist beglückend positiv.
Am Abend scanne ich wieder Bilder aus Lenas Leben ein. Die Bilder, auf denen unsere drei noch Kinder waren, sind Zeugnisse aus einem anderen Leben. Es fällt mir schwer, sie als real zu empfinden. Sie helfen mir zu erkennen, wie viel Gutes wir gemeinsam erlebt haben. Unser Leben bestand nicht nur aus Krankheit, Leid und Tapferkeit, sondern vor allem aus viel Zärtlichkeit, Freundschaft zu anderen Familien, Kreativität, Natur, Tierliebe, Gelächter, Jahreszeitenverlauf, Förderung, Entwicklung und Stärkung. Es gab viel Gelungenes und viel Liebe, die in der Summe dazu führten, dass aus drei unglaublich süßen Kindern – ich wusste gar nicht mehr, wie süß sie waren – drei prächtige Erwachsene geworden sind. Die Kinder sind mir plötzlich wieder als Kinder gegenwärtig. Ich vermisse die neunjährige Anna, die vierjährige Lena, Jan als verschmusten niedlichen kleinen Jungen. Ich glaube, ich bin reif für die Kinder meiner Kinder.
Alleine sitze ich im Garten, wo dieses Jahr dem Sellawie geschuldet keine einzige Blume blüht. Es ist so unglaublich still – als würde das Haus den Atem anhalten. Lena entleert ihr Zimmer Woche für Woche, längst sieht es unbehaust aus. Wenn ich nicht aufpasse, erwischt mich die Hochzeitstrauer ein zweites Mal. Dieses Mal hatte ich nicht damit gerechnet. Ich will in ihrem Dachzimmer die Rollläden schließen. Lenas Plüschaffe liegt auf dem ungemachten Bett, die Schranktüren stehen offen. Alles, was ihr verzichtbar erschien, liegt herum. Sie ist ihrem Zimmer entwachsen. Endlich fließen meine angestauten Tränen. Still und heimlich ist sie ausgezogen, ohne Abschiedszeremonie, Stück für Stück. Anfangs wohnte sie noch geteilt, hier und dort – und wenn sie hier war, hatte ich sie ganz. Jetzt ist sie aus meinem Leben verschwunden. Keine Filmabende, keine Gespräche mehr zwischen Tür und Angel, keine Massagen, keine Musik, kein Leben-Teilen.
Ich habe zwei wunderschöne, eigenständige, selbstbewusste, begabte, sinnliche Töchter, die sich als Schwestern viel bedeuten und mich überdurchschnittlich unterstützen und doch – ich habe wenig von ihnen im Vergleich zu den zwanzig Jahren, als wir gemeinsam unter einem Dach lebten. Vermutlich ist es weder für Töchter noch für ihre Bärenmütter einfach, sich voneinander zu lösen, gerade wenn das Verhältnis vertrauensvoll ist.
Dass Jan ab nächster Woche wieder bei uns wohnt, erfüllt mich mit ambivalenten Gefühlen. Durch meine Fotoreise habe ich meinen Kämpfer ganz neu lieb gewonnen. Aber ich bange um meine neue Freiheit. Nun bin ich wieder verantwortlich für sein körperliches und seelisches Wohl. Vermutlich wird er seine WG-Genossen sehr vermissen. Ich bin gespannt, wie viel seiner erworbenen Selbstständigkeit er herüberretten kann.
Heute ist unser 29. Hochzeitstag, was außer mir keinem aufgefallen ist. Wir hatten eher mal wieder einen unserer schmerzhaften Bitterstreittage, die anzeigen, wie empfindlich wir gerade sind. Die Vorwürfe ähneln sich seit 29 Jahren. Werner fühlt sich unter Druck gesetzt, ich fühle mich missverstanden. Es ist gerade viel, mit der Ungewissheit um Jans Zukunft, der Hinfälligkeit von Werners Mutter, der Verantwortung für meinen Vater, den Aufgaben mit Lenas Hochzeit und den damit verbundenen Emotionen. Aber war es jemals weniger als viel?
Meine Schwiegermutter leidet unter Sterbensängsten. Wir radeln mit Jan zu ihr. Es ist einer dieser unbezahlbar schönen Sommertage, die viel zu selten sind. Heiß, aber windig, fast wähnt man das Meer am Horizont. Ständig tauchen Urlaubserinnerungen in uns auf, die uns besänftigen. Die Felder riechen so gut, wie ich mir in der Ewigkeit keinen besseren Duft vorstellen kann. Unterwegs sehe ich eine 60-jährige Frau und denke: Eigentlich ein gutes Alter. Man hat die Kinder großgezogen, die Eltern zum Tor der Ewigkeit begleitet – nichts mehr zu verlieren, könnte man glauben. Jedenfalls kann man mit sechzig bei sehr vielen Dingen des Lebens mitreden. Man hat Zipperlein, aber wenn es gut läuft, auch noch Schaffenskraft.
Ich trage nur noch wasserfeste Wimperntusche auf. Immer öfter laufen meine Tränen, wenn die Rede von Lenas Hochzeit ist. Damit habe ich nicht gerechnet. Aber natürlich ist auch das zweite Kind dieselben großen Emotionen der Loslass-Mutter wert. Und kommt mir das nicht bekannt vor von Übergängen wie Kindergarten, Einschulung?
Obwohl Lena schon längst so gut wie ausgezogen ist, steht mir doch noch einmal eine Zäsur bevor. Meine Zeitreise hat mir Lenas Kindheit wieder sehr nah gebracht. Es war so witzig mit ihr, auch anstrengend, sehr sinnlich, liebenswert und extrem unterhaltsam. Sie hat gekämpft – gegen mich und um meine Liebe. Nun ist es vorbei. In einem alten Fiat Cinquecento fährt sie mit ihrem Mann vors Standesamt. Sie trägt ein bezauberndes auberginefarbenes Kleid. Anna hat ihr eine wunderschöne Frisur geflochten. Nun habe ich zwei verheiratete Töchter, es ist nicht zu fassen.
Meine letzte Kopfkissennachricht:
Liebe Lena,
bist Du aufgeregt? Ich habe jedenfalls Reisefieber! Ich freu mich sehr mit Dir, bin Dir ganz nah. Mir ist meine eigene Trauung so gegenwärtig und die von Anna. Vielleicht feiern wir zum letzten Mal in unserer Familie die Hochzeit eines Kindes. Was für ein Ereignis!
Danke, dass wir heute dabei sein dürfen! Das ist etwas Besonderes für mich, ich habe das nicht mit meinen Eltern geteilt. Liebes Herzkirschlein, lieber kleiner Rübendieb, liebe Lotta Bullerbü, ich bin gerade sehr glücklich.
Mamabär
Ich schreibe einen Brief an Johannes, begrüße ihn in der Familie, einen an Lena und stecke sie in eine Schachtel, in die ich vierzehn Umschläge lege, für jeden Tag bis zum großen Hochzeitstag einen Text über Liebe. Das ist Mutters Aufgabe fort und fort: ermutigen, stärken, stützen, loslassen … Wir feiern gemeinsam die standesamtliche Trauung beim Italiener, mit derselben Schwiegerfamilie wie bei Annas Hochzeit, weil unsere zwei Töchter zwei Brüder geheiratet haben.
Werner fährt Jan ein letztes Mal nach Winnenden. 40 000 Kilometer ist er mit Jan in den vier Jahren gefahren – was für ein Liebesdienst. Lena holt ihre letzten Utensilien aus ihrem Dachzimmer. Sie liest mir einen Tagebuchauszug vor über einen besonderen Tag ihres Lebens. Ich lese ihr aus meinem Tagebuch dasselbe Erlebnis aus meiner Perspektive vor. Gemeinsam schließen wir das Kapitel Kindheit ab. Nun darf Jan ihr Reich einnehmen und wir haben ein weiteres freies Zimmer. Unser kleines Haus wird immer geräumiger.
Der Sommer ist grandios. Wetter wie in südlichen Gefilden: wolkenloser Himmel, 30 Grad, trockener Wind. Kein Fest fällt ins Wasser, jede geplante Radtour findet statt. Werner und ich packen Badesachen ein und starten leicht bekleidet um 21 Uhr: Früh genug, um nicht im Dunkeln heimzukommen, spät genug, um den See für uns zu haben. Wir umrunden das Dorf in weitem Bogen, radeln über nach Heu duftende Felder. Die Vielfalt der Wiesenblumen ist auf ihrem Höhepunkt angelangt. Über die teilweise schon abgemähten Felder stelzen Störche. Sie haben dieselbe Gangart wie unsere Hühner und dieselbe Gepflogenheit, im Galopp zum Lauschangriff überzugehen: Auf Verdacht hin rennen sie plötzlich zehn Meter und picken drauflos. Es sieht so witzig aus! Die Sonne geht glutrot unter, während der Vollmond auf der anderen Seite silbern aufgeht. Spektakuläre Sonnenuntergänge fallen mir ein: Korsika, Holland – wie schön, dass sich manches einbrennt im Herzen. Das sind die Tage, von denen ich im Winter träume. Jetzt finden sie statt.
Schluchzend mache ich Gymnastik unter Lenas leerem Zimmer, das schmerzhaft die Leere in meinem Leben ohne ihre Gegenwart spiegelt. Ich weiß nur, dass es leer ist. Ich wage mich noch nicht nach oben, ich will es nicht sehen. Das leere Zimmer ist ein Monster für mich. Ich blicke auf das Poster mit Astrid Lindgrens altem Gesicht mit dem Untertitel »Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt«. Ich habe drei Kinder geschenkt bekommen und die Welt hat mir gefallen. Dankbar bin ich um meine Erinnerungsschätze in Fotoalben und Tagebüchern, aber es sind Reisen in die Vergangenheit, es ist nicht mehr mein Leben.
Das zweite leere Zimmer. Die zweite Tochter, die sich verabschiedet. Welch ein Verlust! Und mittendrin so viel Reichtum, in der Freiheit, die sie erlebt; der Liebe, die sie teilt; dem Familiensinn, den sie schenkt. Worin liegt die Chance? Wofür brauche ich neu Gottes Segen? Wir sind immer noch eine Familie. Jan braucht uns noch eine Weile für seinen Neustart. Dafür hat Lena Raum geschaffen. Warum sollte ich nicht weiterhin die Möglichkeiten nutzen, mir die Welt so zu machen, wie sie mir gefällt?
Im Sellawie höre ich viele Lebensgeschichten. Lebenshungrige, sinnsuchende, traurige, dankbare Menschen schütten ihre Herzen bei mir aus. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, wo ich in mir all diese Geschichten unterbringen soll. Nachts geht mir die Frau mit Brustkrebs durch den Kopf, die Mutter, die ihr Baby verloren hat, die Frau, deren Mann von einem Zehnmeterkran stürzte und überlebte.
Gefühlte achtzig Prozent der Gäste kenne ich nicht, gefühlte siebzig Prozent kommen immer noch zum ersten Mal. Ich liebe das Sellawie-Leben immer noch, aber ich sehne mich nach Entlastung, nach Mußezeiten. Es gibt auch unschöne Stimmen: »Das ist ja eine Goldgrube!« ist getarnter Neid. Der Ärger eines Nachbarn ist ein erheblicher Stressfaktor. Gestern erhielt ich einen Anruf:
Bringen Sie mal Ihren Gästen bei, dass sie aufhören, dauernd zu lachen. Das ewige Gelächter und Gemurmel geht uns so was von auf die Nerven! Sogar sonntags plätschert der blöde Brunnen. Und Sie wollen christlich sein?
Wie ist denn Ihr Name? Wo wohnen Sie denn?
Das spielt keine Rolle!
Kommen Sie doch mal auf einen Kaffee vorbei, damit wir reden können.
Was soll das bringen? Nehmen Sie es einfach zur Kenntnis!
Lena hat geheiratet. Meine Seele kommt zur Ruhe. Es ist still. Werner und Jan schlafen noch. Bilder ziehen wie ein Film an mir vorbei. Werner, der unter Stress zum Stressfaktor und Antreiber wird, ich gelähmt und konfus. Im Wohnzimmer sitzen fünf junge Frauen. Anna dreht der Braut Locken, Katrina schminkt sie. Lena ist wunderschön, ganz sie selbst: zart, empfindsam, feminin. Ich helfe ihr ins Brautkleid. Und marschiere tapfer allein in die Kirche, warte zum zweiten Mal auf die Übergabe einer Tochter an einen Sohn unserer Freunde.
Dann der magische Moment, als die Kirchentür aufgeht, Annas Mann Klavier zu spielen beginnt, alle aufstehen wie ein Mann. Werner schreitet mit seiner strahlenden Lena nach vorne und übergibt dem selig lächelnden, tränenüberströmten Bräutigam seine Tochter. Ich bin berührt von Johannes’ Liebe, seine Freudentränen machen ihn zum Sohn für mich. An Werners Hand geht Lena zum Traualtar, an der Hand ihres Mannes verlässt sie die Kirche wieder.
Es ist der heißeste Tag des Jahres. Auf der angrenzenden Wiese neben der Kirchengemeinde sind Hängematten, Gartenschaukeln, Korbstühle und Picknickdecken ausgebreitet. Überall lagern schön gekleidete Freunde und Verwandte in Gruppen, dazwischen Zinkwannen mit Rosen und Schwimmkerzen, in denen die Gäste ihre Füße abkühlen können, und Planschbecken für die Kleinen. Mein Vater genießt die Feier auch ohne Mutti, ich höre ihn lachen wie schon lange nicht mehr.
Wieder verreisen wir nach der Hochzeit einer Tochter nach Zeeland. Wie immer nimmt mich der Zauber dieser Insel gefangen. Ich kann mich nicht sattsehen an der gigantischen Weite, dem pastellfarbenen Farbspiel von Sand, Rietgras, Meer, tiefblauem Himmel und Wolken, deren Schatten über den Strand rasen. Ich habe in meinem Leben nichts vergleichbar Schönes gesehen.
Wir radeln den Dünenweg entlang zu der kleinen Strandkneipe. Das Wetter ist wie Frühling im Sommer, das Licht faszinierend. Sorglosigkeit, Zeitlosigkeit. Ich kann mir nicht vorstellen, was im Himmel schöner sein könnte. Möwen trudeln virtuos zwischen Himmel und Meer. Ich freue mich auf frische Muscheln mit Knoblauchsoße. In unserer Partnerschaft ist alles aufgeräumt und heiter. Wir lachen viel miteinander, wie zu Beginn unserer Liebe. Werner ist warm und zugewandt, ich fühle mich von ihm unterstützt und geliebt und möchte den Moment am liebsten in Marmor meißeln. Wieder einmal haben wir gemeinsam einen Meilenstein geschafft.
Als wir jung waren, gab es für mich keine schönere Liebeserklärung als »Ich will mit dir alt werden«. Nun geschieht es. Unser Versprechen hat uns über Wüstenstrecken und durch gefährliche Dunkeltäler gebracht. Hier im Urlaub, dem ersten seit zwei anstrengenden Jahren, spüre ich ganz neu Werners Liebe, kann ich mich ihm schenken, so dass er ankommt bei mir. Ich erlebe ihn erfüllt von der neuen Lebensaufgabe, dankbar, sie mit mir zu teilen, für viele gemeinsame Jahre, unsere Kinder, für mich.
Ich habe ein wunderbares Gedicht unter der Überschrift Mit staunenden Augen von Nazim Hikmet gefunden:
Mit staunenden Augen
Der heranwachsende Duft im Geranientopf,das Rauschen der Meere,der Herbst ist da mit seinen schweren Wolkenund seiner reifen Erde …
Liebste,wir sind nicht mehr die Jüngsten.Mir ist,als hätten wir schon die Abenteuereines tausendjährigen Lebens erlebt.
Trotzdem sind wir nochKinder mit staunenden Augen,die unter der Sonne Hand in Handbarfuß laufen …3
Gleichzeitig hat Gott mir nach einem kleinen demütigen Gebet die Augen für meinen Anteil daran geöffnet, dass wir immer wieder in ungemütliche Situationen kommen – meinen Geiz, meine Überverantwortlichkeit und Voreiligkeit, meine Ungeduld, mein Misstrauen in Werners Zuverlässigkeit und Kompetenz. Ich staune, wie schnell Gott auf Reue reagiert, und schäme mich. Seither komme ich mir ständig auf die Schliche, wo ich Werner reize, verärgere, provoziere, antreibe, kontrolliere, misstraue.
Meine Schwiegermutter ist gestürzt. Sie hat sich das Ohrläppchen abgerissen, einen Trümmerbruch am Arm und eine große Platzwunde am Kopf. Sie ist völlig lädiert, kann kaum durchatmen vor Schmerzen und Schwellungen und sich nicht mehr selbst pflegen. Nun ist sie in der Kurzzeitpflege, aus Platzmangel wurde sie in der Demenzabteilung untergebracht, wo sie nachts eingeschlossen wird, damit die anderen Patienten sie nicht belästigen. Sie weint verzweifelt, wenn wir bei ihr sind. So haben wir sie noch nie erlebt. Es ist sehr belastend. Wir haben immer zu wenig Zeit für sie neben dem Sellawie, es ist eine Zerreißprobe.
Jan hat eine Zusage für ein dreimonatiges Praktikum in der Friedhofsgärtnerei erhalten. Diese Perspektive entlastet uns sehr. Es ist schon eine Umstellung für uns, dass Jan wieder bei uns wohnt. Es wäre so gut, wenn er irgendwann wieder eigenständig mit jungen Menschen leben könnte, wie er es bereits gewohnt ist.
Montag ist Schneckentag. Ich frühstücke im Garten, verteidige ein letztes Glas Erdbeermarmelade gegen eine aufdringliche Wespe und lasse es ruhig angehen. Viel habe ich vor, erfahrungsgemäß wenig werde ich schaffen, ab morgen ist wieder Lichtgeschwindigkeit angesagt. Bald gibt es das Sellawie ein Jahr! Noch immer sind wir in der Aufbauphase. Werner leidet allmählich unter der Doppelbelastung. Er merkt, dass Herz und Kopf immer weniger in der Firma und immer mehr im Sellawie sind.
Werner kommt in den Garten. Er hat Jan zu seinem Praktikum in die Friedhofsgärtnerei gefahren und sagt: »Ist das ein knuffiger Kerl. Ich hab ihn so lieb!« Werner hat selbst eine knuffige Seele unter dem manchmal rauen Kern. Sein erklärtes Ziel ist der Wechsel ins Sellawie. Seit Jahren träumt er davon, ein Sabbatjahr zu machen. Nun machte ihm sein Chef mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung ein überraschendes Angebot: Ab Januar könnte er ein Jahr lang voll arbeiten für halben Lohn. Ab dem folgenden Januar hätte er dann ein Jahr lang frei für halben Lohn. Der Preis: anschließende Kündigung, keine Rückkehr in seine leitende Stellung! Werner ist verblüfft und hocherfreut. Den fehlenden Lohn müsste das Sellawie abfedern. Bisher zeichnet sich das noch nicht so ganz ab, aber ich will mit der Dimension Gott rechnen. Für Werner ist das ein riesiger Paradigmenwechsel. Er greift zu.
Feier-Abend! Wir haben es geschafft! Wir haben durchgehalten! Das Sellawie ist ein Jahr alt. Unsere Freundin hat ihre Arbeitsstelle gekündigt und ist nun ganz im Sellawie. Ich freue mich auf eine neue Ära. Vorbei sind die 12-Stunden-Mammuttage.
Seit Werner gekündigt hat, ist er fassungslos erleichtert und voller Vorfreude. Er freut sich darauf, mehr und enger mit mir zusammenzuleben und zu arbeiten. Was für ein Kompliment! Er sagt: »Ich kenne auf der ganzen Welt keine Einzige, die sonst noch zu mir passen würde. Du bist perfekt für mich!«
Anna liebt es, ins Café reinzuschneien und dann weiterzuziehen. Für unsere Kinder ist das Sellawie zu ihrem zweiten Zuhause geworden. Es ist der ideale Ort, um sich unkompliziert als Familie zu begegnen. Nie hätte ich geahnt, dass noch einmal so etwas Schönes in mein Leben treten würde. Eine Freundin hat angefangen, bei uns mitzuarbeiten. Ich mag es, wenn sich Beziehung mit gemeinsamem Gestalten verknüpft.
Eine schwangere Frau erzählt mir, wie sie zum ersten Mal Kindsbewegungen in sich gespürt hat – wie das Schlagen eines Schmetterlingsflügels, leicht und kaum spürbar. Plötzlich wusste sie: Da ist Leben in ihr! Mir schießen Tränen in die Augen, so gegenwärtig ist mir plötzlich der erste Schmetterlingsflügelschlag von Anna. Die nächste Erinnerung, die mich überfällt, ist die an Oma, die von Mutti bis zum Tod gepflegt wird. Meine jugendliche Arroganz, die es mir leicht machte, meine Mutter zu verurteilen, mich von ihr zu distanzieren. Mit der Folge, dass ich heute nichts darüber weiß, was sie während Omas letztem Jahr mitmachte. Nun bin ich in der Generation der pflegenden Töchter angelangt, nur dass Mutti es mir leicht machte und einfach klaglos über Nacht starb. Ein weiterer Gedanke, der mir die Tränen in die Augen treibt. Vieles blieb unausgesprochen zwischen uns. Zu manchem sind wir nie durchgedrungen.
Wie hast du den ersten Schmetterlingsflügelschlag von mir erlebt? Wie Omas letzten Atemzug? Damals war meine innere Verbindung zu dir abgerissen – nie haben wir darüber gesprochen. Der Riss, der Jahre anhielt, bis er heilte, tut mir heute noch weh. Mit mehr Zeit hätten wir es vielleicht noch weiter miteinander bringen können, wären näher zueinander gewachsen. Es tut mir so leid. Eine ganze Kindheit lang bin ich gerne deine Tochter gewesen. Dann wurdest du mir fremd. Etwas ist schiefgelaufen zwischen uns, sodass ich mich nicht mehr verstanden fühlte und dich nicht mehr verstand. Es hat zu lange gedauert. Die Zeit hat uns nicht gereicht. Die Versöhnung geht bei Vati weiter. Ich liebe ihn heute mehr denn je. Was für eine Mutter bin ich?
Das Wunder von Sellawie – begreifen kann man es nicht. Es kommen so viele Menschen zu uns, ich kann nur fassungslos staunen und es mit Gott in Verbindung bringen.