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Sprechen ihre Herzen dieselbe Sprache? Der emotionale New-Adult-Roman »Ich kann dich fühlen« von Tess Tjagvad jetzt als eBook bei dotbooks. Als Kat ihr Studium an der Fort Lake University beginnt, hat sie genau drei Ziele: die schmerzhafte Vergangenheit ein für alle Mal hinter sich lassen, gut durch die Prüfungen kommen und möglichst wenig auffallen. Das erweist sich als gar nicht so einfach, denn schon am ersten Abend lernt Kat den unverschämt attraktiven Carter kennen. Der scheint seinem Ruf als Frauenheld alle Ehre zu machen und nutzt jede Gelegenheit, um sie aus ihrer Komfortzone zu locken. So jemand passt ganz und gar nicht in ihre Pläne. Doch schon bald merkt Kat, dass das, was sie in Carters Nähe fühlt, unerwartet tief geht. Und gerade, als es ihr möglich scheint, sich endlich wieder einem anderen Menschen zu öffnen, muss Kat sich fragen, ob sie Carter wirklich vertrauen kann ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der mitreißende Liebesroman »Ich kann dich fühlen« der Bestsellerautorin Tess Tjagvad ist der erste Band ihrer Fort-Lake-Reihe, der Fans von Mona Kasten, Anya Omah und Ayla Dade begeistern wird. Das Hörbuch und die Printausgabe sind bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Tess Tjagvad
Roman
dotbooks.
Ich kann dich fühlen - Fort Lake 1
eBook-Ausgabe
Dieser Roman ist außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont erschienen, www.sagaegmont.com/germany.
Copyright © der Originalausgabe 2022 Tess Tjagvad und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe dotbooks GmbH, München
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Magda Wurst unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
ISBN: 978-3-98690-596-5
Für alle, die ihr jeden Tag aufs Neue stark sein müsst.
»Everyone you meet is fighting a battle you know nothing
about. Be kind.
Always.« – Brad Meltzer
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte zu folgenden Themen: Missbrauch, Traumata, Panikattacken, Familientragödie.
Bitte lest dieses Buch nicht, wenn ihr euch psychisch derzeit nicht in der richtigen Verfassung seht.
Fünf Jahre zuvor
Wenn ich gewusst hätte, dass diese eine Entscheidung mein ganzes Leben verändern würde, hätte ich eine andere getroffen.
Ich wäre nicht auf diese dämliche Party gegangen.
Ich hätte keinen Alkohol getrunken.
Ich hätte mich nie mitten in der Nacht allein auf den Heimweg gemacht und ganz sicher auch nie die Hauptstraße verlassen, um eine Abkürzung zu nehmen.
Jetzt, wo seine schwitzige Hand auf meinem Mund liegt, ich seine Finger auf meiner Haut spüre und der feuchte Schleier auf meinem Gesicht nicht länger allein vom Regen stammt, frage ich mich, ob es leichtsinnig von mir war.
Seine Augen sind eisig blau. Trist und leer.
Ich verabscheue sie genauso sehr wie den Gedanken, dass ich nach heute Nacht vielleicht nie mehr dieselbe sein werde.
Mein Körper wird taub.
Und ich fühle …
nichts.
Man sollte meinen, dass ich mittlerweile ans Umziehen gewöhnt wäre. Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass ich etwas oder jemanden zurücklasse. Trotzdem fühlt sich dieser Umzug bedeutender an. Richtiger.
Das liegt nicht nur daran, dass ich dieses Mal freiwillig umziehe, sondern vor allem daran, dass ein Studium an der Fort Lake University immer ein großer Traum von mir gewesen ist.
Und heute soll er sich endlich erfüllen.
Ich stehe auf dem Parkplatz direkt neben dem imposanten Hauptgebäude der FLU, die für die nächsten vier Jahre mein Zuhause sein wird, und komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
Alles ist so … riesig. Fast schon einschüchternd.
Die Innenflächen meiner Hände sind schwitzig und mein Herz klopft in einem Tempo, das unter anderen Umständen vermutlich besorgniserregend wäre.
Mom ist bereits dabei, meine Sachen auszuladen, die wir zuvor teils sorgsam, teils wahllos in den Kofferraum gequetscht haben. Bevor ich ihr zur Hand gehe, lasse ich einen letzten flüchtigen Blick über den Parkplatz schweifen, auf dem sich lauter Studentinnen und Studenten tummeln. Die meisten von ihnen interessieren sich nicht für die Neuankömmlinge, anderen hingegen ist deutlich anzusehen, wie genervt sie von der Schar neuer Freshmen sind.
»Hast du heute noch vor, mir zu helfen?« Moms Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich murmele eine undeutliche Entschuldigung und krabbele ins Auto, um die letzten zwei Umzugskartons nach vorne zu ziehen.
»Mein Mädchen wird studieren«, höre ich sie hinter meinem Rücken sagen. »Ich kann’s immer noch nicht fassen. Die erste Akademikerin in unserer Familie! Deine Grandma wäre vor Stolz geplatzt.«
Ich richte mich auf und sehe sie an. »Noch habe ich nicht mal angefangen, Mom. Freu dich also nicht zu früh.«
»Zu spät, ich freue mich doppelt – für uns beide.« Grinsend greift sie nach meinem Koffer, während ich die Kartons aufeinanderschichte und auf den Arm nehme.
Zum Glück besitze ich nicht viel Zeug, das ich brauche.
Wir begeben uns auf den Weg zum Wohnheim, das schätzungsweise sieben Gehminuten vom Hauptcampus entfernt liegt. Der gesamte Gebäudekomplex der FLU wurde im palladianischen Stil gebaut. Bodentiefe Fenster mit Efeuranken und weiße Steinsäulen zieren die rötliche Fassade.
Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist, aber in echt sieht es noch beeindruckender aus als auf meinen Flyern.
»Zum Wohnheim geht’s da lang«, sage ich und deute auf den rechten Pfad. Mom, die ebenfalls ins Schwärmen geraten ist, nickt und folgt mir.
Der lang gezogene Häuserblock des Wohnheimes besteht aus zwölf Einheiten, die »Portale« genannt werden. Dort sind alle Erstsemester untergebracht. Was mir an diesen Häusern besonders gut gefällt, ist die Geschlechtertrennung. Auch wenn ich – zu meinem Entsetzen – auf einigen Internetseiten lesen musste, dass der Wohnheimleiter das nicht immer so genau nimmt.
Wir kommen vor einer halb geöffneten Zimmertür mit der Nummer 11 zum Stehen. Ich gebe ein Seufzen von mir und drehe mich zu meiner Mom um. »Ich denke, ab hier komme ich alleine klar.«
Sie verzieht das Gesicht und versucht, an mir vorbei durch den schmalen Spalt zu linsen, um ihre Neugier zu befriedigen. Vergeblich.
»Na schön«, murmelt sie und breitet ihre Arme aus. Sie weiß, dass ich Umarmungen eher über mich ergehen lasse, als dass ich sie genießen würde. Doch dieses Mal erwidere ich sie, weil ich weiß, dass sie mir fehlen wird.
»Das Haus wird so schrecklich leer sein ohne dich. Mach mich stolz, in Ordnung?«
»Ich versuch’s, Mom.« Ich löse mich von ihr. »Und ja, ich werde mich regelmäßig melden.«
»Das ist gut.« Sie ringt sich ein Lächeln ab und kämpft dabei mit den Tränen. »Und mach mir keine waghalsigen Sachen, hörst du?«
»Ja, Mom.«
»Ich will dich hier nicht wegen einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus abholen müssen.«
Meine Augenbrauen schießen in die Höhe. »Alkoholvergiftung?«
»Was denn?« Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Denkst du, ich habe keine Ahnung von Studentenpartys? Noch bist du nicht einundzwanzig, denk dran.«
Ich verkneife mir ein Augenrollen.
Einerseits bin ich gerührt davon, dass sie sich um mich sorgt, da es Zeiten gab, in denen es sich nicht so angefühlt hat. Andererseits ist ihre Sorge an dieser Stelle vollkommen überflüssig. Partys und Alkohol habe ich längst hinter mir gelassen.
»Du treibst dich zu oft in Internetforen herum«, sage ich.
»Pass einfach auf dich auf.« Sie tätschelt mir den Kopf. »Ich werde dich vermissen.«
»Ich dich auch. Mach’s gut, Mom.«
Schweren Herzens wendet sie mir den Rücken zu und steuert den Ausgang an. Ich schaue ihr nach, bis sie hinter der Flügeltür verschwunden ist. Dann atme ich scharf ein und betrete das Zimmer vor meiner Nase.
Der Raum ist spärlich eingerichtet. Er besitzt ein eckiges Sprossenfenster in der Mitte und links und rechts davon jeweils ein Halbhochbett. Daneben stehen Schreibtische aus dunklem Eichenholz, die aussehen, als hätten sie ihre beste Zeit schon hinter sich. Das würde zumindest den Geruch nach altem Gemäuer erklären, der in der Luft liegt.
Auf der rechten Seite des Zimmers hat sich meine Mitbewohnerin ausgebreitet. Sie steht mit dem Rücken zu mir und verstaut, wild vor sich hin wippend, ihre Kleidung in dem Kleiderschrank. Die großen Kopfhörer auf ihren Ohren deuten darauf hin, dass sie Musik hört und ihr Umfeld ausgeblendet hat. Ich könnte sie anticken und mich vorstellen. Oder aber ich warte einfach ab, was passiert.
Ich stelle die Kartons auf dem Schreibtisch ab, hole meine Koffer von draußen rein und gehe zu dem anderen Bett, um meinen Rucksack darauf abzulegen. Dieser scheint allerdings nicht richtig verschlossen gewesen zu sein, weshalb Sekunden später meine Haarbürste mitsamt meinen Büchern, Tampons und einer Sonnenbrille polternd auf dem Boden landet.
Ich wusste schon immer, wie man einen gelungenen Auftritt hinlegt.
Das Mädchen zuckt zusammen und fährt herum, um mich mit großen Augen anzublinzeln.
»Hey …«, murmele ich.
Ihre Miene klärt sich und plötzlich strahlt sie über das ganze Gesicht. »Jeez, endlich! Ich hatte schon Sorge, ich müsste meine Zeit hier allein totschlagen!«
Meine erste Intuition sagt mir, dass ich sofort zur Verwaltung gehen und ein anderes Zimmer verlangen sollte. Auch ohne dass ich bisher ein Wort mit ihr gewechselt hätte, wird deutlich, dass wir nicht unterschiedlicher sein könnten.
Sie scheint ein Faible für pinken Lippenstift zu haben, der zwar hervorragend zu ihrer Bettwäsche passt, aber auf Kriegsfuß mit ihrer Haarfarbe steht. Die ist nämlich, passend zu ihren Sommersprossen, kupferrot.
Um sie nicht länger ungeniert anzustarren, nicke ich ihr mit einem gezwungenen Lächeln zu und begebe mich in die Hocke, um meine Sachen aufzusammeln, die quer auf dem Boden verstreut liegen.
Als sich ihre Stiefel in mein Sichtfeld schieben, hebe ich den Kopf.
»Ich bin übrigens Vic. Na ja, eigentlich Victoria, aber du merkst selbst, wie langweilig das klingt.« Sie lacht und streckt mir ihre Hand entgegen. »Und du bist?«
Eindeutig überfordert, denke ich.
Dennoch ergreife ich ihre Hand. »Katherine Mason.« Damit es nicht so verkrampft wirkt, schiebe ich noch ein lässiger klingendes »Kat« hinterher.
»Freut mich wirklich«, sagt Vic. »Ich war ziemlich aufgeregt, was das angeht. Klar, wir haben Fragebögen ausgefüllt, aber wer weiß schon, mit was für Leuten die einen hier ins Zimmer stecken, stimmt’s?«
»Richtig …« Sie ist der lebende Beweis dafür, dass diese Bögen bei der Einteilung keine große Rolle gespielt haben können.
»Keine Sorge, wir werden mit Sicherheit gut miteinander auskommen. Ich bin recht unkompliziert.«
»Tatsächlich?« Ich hebe eine Augenbraue.
Wieso kaufe ich ihr das nicht ab?
Wegen ihrer offenherzigen Art, mit der sie mich an Tiffany, meine damalige beste Freundin aus Gaithersburg, erinnert?
Zugegeben, früher hätten wir uns ähnlich sein können, aber inzwischen ziehe ich es vor, mich unter Menschen zu bewegen, die sich eher am Rande der Bildfläche bewegen. Auf diese Weise läuft man keine Gefahr, unfreiwillig zum Gesprächsthema zu werden.
Vic zwinkert mir zu. »Wirst schon sehen. Soll ich dir beim Auspacken helfen? Ich bin fast fertig.«
Ich schaue zu meinen Sachen und wieder zu ihr zurück.
Bevor ich aus dem Auto gestiegen und damit das Studium angetreten bin, habe ich mir nicht nur vorgenommen, meine Vergangenheit ein für alle Mal hinter mir zu lassen, sondern auch an meiner Grundeinstellung zu arbeiten. Wenn ich nicht vorhabe, meine Zeit hier künftig allein zu verbringen, sollte ich mich also um etwas mehr Enthusiasmus bemühen, was das Kontakteknüpfen angeht.
Deshalb fasse ich mir ein Herz und nicke. »Warum nicht?«
Meine Vermutung, dass Vic eine aufgeschlossene und verrückte Persönlichkeit ist, hat sich in der letzten Stunde bestätigt. Sie redet ohne Punkt und Komma, und sobald ich mich nur kurz auf etwas anderes konzentriere, habe ich das Gefühl, die Hälfte davon nicht mitbekommen zu haben.
Ich erfahre, dass sie und ihre Familie aus North Carolina kommen, dass sie ein Geschichtsfreak ist und Archäologie studieren will, dass sie auf Indie-Rock und Krimiserien steht und ihr Geld am liebsten für neue Kleidung ausgibt.
Gerade hilft sie mir dabei, meine Klamotten in den Kleiderschrank zu räumen, als sie einen braunen Faltenrock in die Höhe hält.
»Hey, der ist süß. Wo hast du den gekauft?«
Ich erstarre bei dem Anblick. Das Teil hat nichts zwischen meinen Klamotten zu suchen. Eigentlich dachte ich sogar, ich hätte ihn längst aussortiert, weggegeben oder vor Wut zerschnitten, so wie ich es mit anderen Stücken getan habe.
Mom muss ihn zu meinen Sachen gelegt haben. Bestimmt hat sie gehofft, dass ich ihn eines Tages wieder anziehen würde.
Ich schlucke. »Keine Ahnung, der ist schon uralt. Wenn er dir gefällt, kannst du ihn haben.«
Ihre Augen weiten sich. »Meinst du das ernst?«
»Sicher. Ich will ihn nicht mehr.«
Genauso wenig wie die Erinnerungen an mein altes Ich, die daran haften.
Erinnerungen an die Blicke meiner ehemaligen Mitschüler, ihr Flüstern auf den Gängen und unseren Umzug in eine andere Stadt, in der niemand von der Nacht vor fünf Jahren etwas wusste. Dort habe ich versucht, von vorne anzufangen.
Ich habe all meine Röcke und Kleider durch bequeme Jeans und Pullover ersetzt. Meine Schuhe mit Absatz durch einfache Chucks und meine beste Freundin durch Bücher. Ich habe bis heute Abstand von Partys, Alkohol und Männern genommen und das Haus im Dunkeln nicht mehr ohne Begleitung verlassen. Ich habe mich von Grund auf geändert, aus Angst, noch einmal dasselbe erleben zu müssen.
Inzwischen denke ich nicht mehr so oft an diese Nacht zurück. Nur die Narbe auf meinem Unterbauch erinnert mich noch daran, wenn ich in den Spiegel schaue.
Ich habe ein paar Therapiestunden nehmen müssen, in denen ich unter anderem gelernt habe, mit meinen Panikattacken umzugehen. Das hat so gut funktioniert, dass die letzte Attacke schon mehrere Monate zurückliegt und ich die Therapie frühzeitig abbrechen konnte, um meiner Mom die Kosten zu ersparen.
Trotzdem ist es mir nicht gelungen, alle Spuren, die dieser Vorfall auf mir hinterlassen hat, ein für alle Mal zu beseitigen. Mein Vertrauen Fremden gegenüber ließ sich nicht gänzlich wieder herstellen.
Aber das ist auch kein Wunder.
Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass Trevor Gibson drauf und dran war, mir gegen meinen Willen den Pullover auszuziehen, bevor ich ihn zurückgewiesen habe und mir den Spruch »Gott, du bist so langweilig und verklemmt, Kat« anhören durfte.
Seitdem ist meine Sorge vor Situationen wie diesen, in denen man mich unter Druck setzt oder vor den Kopf stößt, stetig gewachsen.
Und ja, solche Worte tun weh.
Ich mag Angst vor Nähe haben, aber insgeheim fürchte ich mich noch mehr vor keiner. Denn schlimmer als Alleinsein ist Einsamsein.
Selbst wenn es da draußen jemanden gibt, der mich so akzeptiert, wie ich bin, woher weiß ich dann, dass mir nicht doch wieder das Herz gebrochen wird?
»Hey Kat, ist alles okay?« Vic mustert mich mit einem Stirnrunzeln, den Rock hält sie nach wie vor in der Hand.
»Hm?« Ich blinzle. »Oh ja, sicher. Ich habe nur nachgedacht. Wie gesagt, er gehört dir.«
Sie grinst. »Cool.«
Wir widmen uns wieder unseren Tätigkeiten, wobei meine daraus besteht, den Schreibtisch herzurichten. Sofern man das so nennen will. Ich packe meine neuen Bücher aus und pinne ein paar Postkarten und Fotos an das Board, das über der Tischplatte hängt.
»Ist das deine Mom?«, fragt Vic, die über meine Schulter hinweg auf das alte Foto linst.
Ich nicke.
»Sieht dir gar nicht ähnlich.«
Sie hat recht. Mom hat im Gegensatz zu mir dunkelblondes Haar. Ich komme mit meinem dunkelbraunen Haar und den grünen Augen mehr nach meinem Dad.
Dem Mann, der von heute auf morgen unsere Familie verlassen hat und nach dem Übergriff nicht einmal im Krankenhaus aufgetaucht ist.
Vielen Dank auch, Gene.
»Ja, ich weiß«, murmele ich. Dann stehe ich auf und sehe mich in unserem Wohnheimzimmer um. Es sieht deutlich gemütlicher aus als noch vor einer Stunde, was vielleicht auch an den ganzen Lichterketten liegt, die Vic an den Wänden angebracht hat. Ich öffne bereits meinen Mund, um mich für ihre Hilfe zu bedanken, als unvermittelt unsere Zimmertür aufgerissen wird.
Ein Haufen bunter Blätter wirbelt durch den Raum – und mit ihm drei männliche Studenten.
Der Sturm aus Handzetteln lichtet sich und ich kann zum ersten Mal einen Blick auf die Störenfriede in unserem Zimmer werfen. Die Jungs tragen dunkelgrüne Hoodies, auf die drei griechische Buchstaben gedruckt sind. Bei ihrem Herumgezappel kann ich jedoch nur das Alpha klar und deutlich identifizieren.
Höchstwahrscheinlich sind es Mitglieder einer Studentenverbindung, von denen die FLU laut ihren Infobroschüren mehr als eine Handvoll besitzt. Einige von ihnen bestehen schon seit Hunderten von Jahren und haben sich im Laufe der Zeit einen enormen Bekanntheitsgrad verschafft. Welche Verbindung auf dem Campus die beliebteste ist, könnte ich allerdings nicht beantworten. Ich habe kein Interesse an Zusammenschlüssen wie diesen, deswegen habe ich dahingehend gar nicht erst weiter recherchiert.
Ich wende mich gleichgültig von den Typen ab und widme mich Dingen, die ich als spannender erachte. Meinen Laptop zum Beispiel.
»Hey Jungs, holt mal Luft!«, ruft Vic. »Worum geht’s überhaupt?« Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie sie ein Blatt vom Boden aufhebt.
»Na, um unsere Freshmen-Party«, antwortet einer von ihnen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. »Um was denn sonst?«
»Das könnte der beste Abend eures Lebens werden«, verspricht eine andere, deutlich tiefere Stimme. Sie gehört zu einem blonden jungen Mann.
Vic beäugt das Flugblatt skeptisch. »Wo soll das Ganze stattfinden?«
Offenbar hat ihr die kleine Showeinlage gefallen.
»Ich wusste, dass du anbeißen würdest, Süße.« Ein vielsagendes Lächeln schleicht sich auf Blondies Gesicht. »Die Party steigt im Verbindungshaus der einzig wahren Bruderschaft: Den Alpha Tau Omegas.«
Wie bescheiden.
»Hm.« Vic tippt sich nachdenklich ans Kinn. »Ihr wohnt in der Cancellorstreet, richtig?«
»So ist es. Der kleine Fußmarsch wird sich lohnen, vertraut mir.« Er macht eine kurze Pause, in der ich seinen Blick auf meinem Rücken spüren kann. »Also dann, gegen neun geht’s los. Wir zählen auf euch.«
Ich mache den Fehler, kurz über meine Schulter spähen, weshalb er Letzteres mit einem Zwinkern direkt an mich adressiert.
»Wir sehen uns, Ladys.« Winkend verlassen sie das Zimmer, um direkt gegenüber dieselbe Show noch mal abzuziehen. Ich gehe zur Tür und verpasse ihr einen Stoß mit der Hüfte. Dann verschränke ich die Arme vor der Brust und lehne mich an meinen Schreibtisch.
»Was guckst du mich jetzt so an?«, fragt Vic.
»Wie denn?«
»Ich weiß nicht.« Sie legt den Kopf schief. »Als hätte ich mich gerade mit ihnen verabredet, um eine Bank zu überfallen.«
Mein Mundwinkel zuckt. »Also hast du wirklich vor, dort hinzugehen?«
»Wieso nicht? Sie wirkten nett. Außerdem wird’s Zeit, dass ich wieder unter Menschen komme.«
Ich nicke nur, ohne etwas darauf zu erwidern. Ich würde meinen Studienplatz darauf verwetten, dass mein letzter Partyabend deutlich länger zurückliegt als ihrer.
»Was ist mir dir?« Vic sieht mich an. »Begleitest du mich?«
»Was, ich?« Mir entwischt ein Lachen. »Nein, sicher nicht. Ich gehe nicht gern auf Partys. Tut mir leid.«
»Kein Witz?« Ihre Augen weiten sich ungläubig.
»Kein Witz.«
»Puh, okay.« Sie lässt zischend die Luft aus ihren Lungen entweichen. »Und wieso nicht, wenn ich fragen darf?«
Ich zucke mit den Schultern. »Hat seine Gründe.«
»Schade«, seufzt sie. »Ich hatte gehofft, wir könnten zusammen hingehen. Was willst du stattdessen machen? Den ganzen Abend auf dem Zimmer hocken?«
Ich streife mir die Chucks von den Füßen, erklimme die kleine Leiter und hieve mich aufs Bett. »Keine Ahnung. Ich denke, ich werde mir einen Film anschauen und mich vielleicht schon mal über die ein oder andere Vorlesung schlaumachen.«
»Laaaangweilig.« Vic gähnt demonstrativ.
Mir ist bewusst, dass sie versucht, mich auf diese Weise umzustimmen. Nur verfehlt sie damit meilenweit ihr Ziel, denn für mich klingt das alles andere als langweilig. Ich ignoriere ihren Kommentar und werde dafür die nächsten anderthalb Stunden mit Schweigen bestraft.
Während ich in einem Buch lese, macht Vic sich am frühen Abend für die Verbindungsparty fertig. Sie scheint nicht die Einzige zu sein, die ihren ersten Tag als Freshman gebührend feiern will. Durch das offene Fenster dringt alle halbe Stunde Stimmengewirr und Gebrüll von anderen Erstsemestern ins Zimmer. Dafür wird es auf den Gängen immer ruhiger.
Ich lasse meinen Blick nach draußen schweifen und entdecke eine Gruppe von Leuten, die in der Dämmerung über den Innenhof in Richtung Hauptcampus läuft, hinter dem sich der Wohnblock mit den Verbindungshäusern befindet.
Wenn so viele heute Abend unterwegs sind, wäre später vielleicht der perfekte Zeitpunkt, um das Gemeinschaftsbad zu erkunden. Davor graut es mir schon seit meiner Ankunft.
Meine Augen wandern vom Fenster über meine Buchseiten hinweg wieder zu Vic, die sich derweil in ein hübsches Kleid zwängt. Es hätte ein Teil aus meiner alten Garderobe sein können, genau wie das Paar Schuhe, in das sie anschließend schlüpft. Die alte Kat hätte gefragt, wo sie die schwarzen Stilettos gekauft hat. Die neue Kat schweigt.
»Wenn du schon so starrst, kannst du mir dann wenigstens sagen, ob du findest, dass ich gut oder schlecht aussehe?« Vics Blick ist auf den Spiegel gerichtet, aber ihr Mund formt ein Lächeln.
»Du siehst gut aus«, antworte ich ehrlich. »Aber findest du nicht, dass diese Schuhe für einen Spaziergang über den Campus eher ungeeignet sind?«
Sie lacht auf. »Herzchen, ich lebe in solchen Schuhen! Das sollte kein Problem sein.«
»Natürlich tust du das«, murmele ich in mich hinein und blättere zum nächsten Kapitel.
Immer mal wieder erwische ich mich dabei, wie ich sie verstohlen beobachte. Sie hat ein tolles Gesicht und schöne große Augen, denen sie im Handumdrehen einen gekonnten Lidstrich verpasst. Die herzförmigen Lippen malt sie mit ihrem pinken Lippenstift noch mal nach. Als sie zum Glätteisen greift, gebe ich ein kaum hörbares Seufzen von mir. Schon als Kind habe ich mir Locken gewünscht, wurde aber mit aalglatten Haaren bestraft, die sich nicht einmal kräuseln, wenn es regnet.
Eine halbe Stunde später ist sie bereit zum Aufbruch.
»Sollte ich um halb vier immer noch nicht zurück sein, schick einen Suchtrupp los. Vielleicht wurde ich von hungrigen Seniors vernascht.« Sie wackelt mit den Augenbrauen und greift nach ihrer Jacke.
Ich schnaube. »Ich bin zwar der Meinung, dass die Männer sich eher vor dir in Acht nehmen sollten, aber ich werd’s mir merken.«
Sie streckt mir die Zunge raus und ich erwidere die Geste.
»Viel Spaß.«
»Ebenso.« Vic wirft mir einen Kussmund zu und tänzelt aus der Tür.
Ich gebe es nur ungern zu, aber womöglich ist sie doch nicht so übel, wie ich zunächst angenommen habe.
Tatsächlich informiere ich mich in den nächsten Stunden noch über meine Wahlkurse und die dazugehörigen Vorlesungen. Dabei stelle ich fest, dass der Biologie-Grundkurs als Erstes auf dem Plan steht.
Nachdem ich mir die Raumnummern aufgeschrieben habe, lasse ich meine Mom per Nachricht wissen, dass bei mir alles in Ordnung ist, und mache mich mitsamt meinem Duschzeug auf den Weg ins Gemeinschaftsbad.
Es sieht genauso unappetitlich aus, wie es auf den Bildern im Internet abgebildet worden ist, wenn nicht sogar schlimmer. Es gibt vier Toiletten, drei Duschkabinen und ein lang gezogenes Waschbecken. Die Duschkabinen lassen sich mit einem abgewetzten Vorhang verschließen und das Waschbecken ist schon jetzt übersät mit Haaren in den verschiedensten Längen und Farben. Rot, braun, schwarz und … grün.
Ich schneide eine Grimasse und schlüpfe in die alten Badelatschen meiner Mom. Die Tatsache, dass ich mir diesen Raum mit acht anderen Studentinnen teilen muss, bereitet mir unangenehme Bauchschmerzen. Wenigstens habe ich meinen knielangen Bademantel eingepackt, der schützt den Großteil meines Körpers vor fremden Blicken.
Ich quetsche mich in eine Kabine und ziehe den Vorhang zu. Vorsichtshalber trete ich – so weit, wie es mir auf dieser winzigen Fläche eben möglich ist – ein Stück zur Seite, bevor ich den verkalkten Wasserhahn öffne. Er gibt ein ächzendes Geräusch von sich, als wäre er Jahrhunderte nicht benutzt worden. Sobald das Wasser warm genug ist, genieße ich die Wärme auf meinen verspannten Muskeln.
Dieser Moment der Entspannung ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn schon wenige Minuten später verwandelt sich das Wasser wieder in stechenden Eisregen.
Notiz an mich: Dir bleiben in etwa zwei Minuten und elf Sekunden, um dich gründlich zu waschen.
Zurück auf dem Zimmer flechte ich mir das nasse Haar zu einem Zopf und schlüpfe in meinen Pyjama. Dann lege ich mich ins Bett und knipse das Licht aus.
Es vergeht eine gefühlte Ewigkeit, bis ich es schaffe, all die neuen Geräusche meiner Umgebung auszublenden und ins Reich der Träume abzugleiten. Allerdings gönnt man mir auch diese Form von Entspannung offenbar nicht, denn mitten in der Nacht werde ich von fremden Stimmen geweckt.
Und die stammen definitiv nicht aus meinen Träumen.
Wegen des grellen Lichts einer Taschenlampe, die mir schonungslos ins Gesicht gedrückt wird, sehe ich lauter Sternchen vor meinem inneren Auge. Ich blinzele mehrmals verschlafen dagegen an, doch bevor ich die Möglichkeit gehabt hätte, mir überhaupt einen Überblick über die Situation zu verschaffen, spüre ich, wie mich zwei kräftige Hände an den Hüften packen.
Prompt weicht jegliche Müdigkeit aus meinem Körper.
»Was –? Hey, stopp! Aufhören! LASS MICH LOS!«
Kreischend versuche ich, seinen Griff von mir zu lösen.
Vergeblich.
Trotz meines lautstarken Protests werde ich mühelos aus meinem Bett gehoben und über eine Schulter geworfen, auf der ich die Treppe heruntergetragen werde.
Blanke Panik durchfährt meine Glieder und das Herz schlägt mir bis zum Hals.
Letztes Mal habe ich den Fehler gemacht, mich von dieser Angst lähmen zu lassen, sodass ich keinen Ton mehr rausgekriegt habe. Dieses Mal hingegen schreie ich, bis mir der Hals wehtut.
Nicht schon wieder. Bitte nicht schon wieder.
Mit aller Kraft hämmere ich auf den unverkennbar männlichen Körper unter mir ein, erreiche damit aber nicht die gewünschte Reaktion seinerseits: Er läuft einfach weiter.
Wenige Minuten später umhüllt kühle Nachtluft meine nackten Schultern, und mit einem Mal komme ich mir wieder wie das junge, machtlose Mädchen von damals vor.
»Stopp, bitte!«, flehe ich. »Bitte lass mich runter!«
Ich bin schon den Tränen nahe, als ich plötzlich ein vergnügtes Glucksen vernehme, das mir bekannt vorkommt.
»Beruhig dich, Kat.«
Oh mein Gott.
Ich klammere mich an Vics Stimme wie an einen Strohhalm, der mich davor bewahrt, in dem Strudel aus Panik zu versinken.
Sie ist hier! Es wird alles gut.
»Vic!« Ich wedele wild mit meinen Armen herum. »Sag ihm, dass er mich verdammt noch mal runterlassen soll!«
Als hätte ich soeben die magischen Zauberworte ausgesprochen, werde ich mit einer geschmeidigen Bewegung auf dem Boden abgesetzt. Ich benötige einen Augenblick, bis ich wieder fest auf beiden Füßen stehe und meine Umgebung aufhört, sich zu drehen.
»Du kannst es mir alternativ auch selbst sagen, ich besitze nämlich ebenfalls zwei von diesen Prachtexemplaren«, witzelt der Fremde mir gegenüber und kneift dabei demonstrativ in eines meiner Ohren.
»Finger weg«, zische ich und schlage seinen Arm zur Seite.
Ein überraschter Ausdruck huscht über sein Gesicht. »Oh, wow. Verzeihung, Ma’am.«
Er hebt entschuldigend die Hände in die Luft, doch seine gespielte Reumütigkeit währt nicht lang, da er schon im nächsten Moment den Kopf in den Nacken legt und gellend auflacht. Ich verenge die Augen zu schmalen Schlitzen und mustere den unverschämten Idioten im Licht der Laternen genauer.
Er überragt mich um ein paar Zentimeter und besitzt mit seinen breiten Schultern eine große und kräftige Statur. Schwarze Tattoos zieren die Unterarme unter seinem Pullover, zudem schimmert in seiner rechten Augenbraue ein silbernes Spikepiercing. Seine dunklen Haare bilden zarte Wellen, und obwohl sie ein einziges Durcheinander darstellen, wirkt das Gesamtbild in sich stimmig.
Als würde er sich der Unordnung erst unter meinem prüfenden Blick bewusst werden, fährt er sich mit seinen Fingern hindurch und setzt anschließend ein schiefes Grinsen auf.
»Nette Hose«, bemerkt er, während auch er mich von Kopf bis Fuß in Augenschein nimmt.
Ich eise mich von seinem Gesicht los, um auf meine Pyjamahose hinunterzustarren. Ich gebe zu, es ist nicht gerade das ansprechendste Stück aus meinem Kleiderschrank, aber sie leistet mir seit Jahren gute Dienste, und ich kann mich einfach nicht von ihr trennen.
Zähneknirschend wende ich mich an meine Mitbewohnerin, die inmitten der kleinen Schar von Leuten steht, die sich um mich herum gebildet hat. Ich komme mir vor wie ein Zirkuspferd in einer Manege, von dem alle Anwesenden erwarten, dass es ihnen atemberaubende Kunststücke vorführt.
»Was soll das, Vic?« Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich sauer auf sie bin. Wie es aussieht, habe ich sie zu früh zur potenziellen Sympathieträgerin erklärt.
»Hey, es war meine Idee, gib nicht ihr die Schuld«, funkt der Kerl von eben dazwischen und drängt sich somit zurück in mein Sichtfeld.
Ich lege den Kopf schief und betrachte ihn argwöhnisch. »Wieso wundert mich das nicht?«
Das Getuschel hinter meinem Rücken nimmt zu. Ich bemühe mich, es auszublenden, obgleich ich gern wüsste, was die anderen über mich sagen. Keiner von ihnen kennt mich, schon gar nicht so gut, dass sie überhaupt das Recht hätten, über mich zu urteilen.
Vic macht ein paar wankende Schritte auf mich zu. Sie ist angetrunken, schafft es aber immerhin, vernünftige Sätze zu formulieren.
»Sorry, Kat.« Sie hickst. »Als die mich gefragt haben, wo meine Mitbewohnerin ist, habe ich eventuell erwähnt, dass du lieber auf unserem Zimmer hockst. Daraufhin hatte er«, sie deutet mit dem Kinn auf den tätowierten Fremden, »den Einfall, dir einen Besuch abzustatten und dich zu holen.«
Er zuckt im Übrigen nur unbekümmert mit den Schultern. »Keiner bleibt zu Hause, wenn bei uns eine Party steigt. Das gehört sich einfach nicht.«
Und so eine Aktion schon?
Ich ignoriere seine Bemerkung. »Vielen Dank jedenfalls, dass du ihn und die anderen so tatkräftig davon abgehalten hast, Vic«, brumme ich und verschränke die Arme vor der Brust, um mich vor der frischen Brise und den bohrenden Blicken der anderen zu schützen. Dass ich keinen BH trage, wird mir umso bewusster, je länger sie mich angaffen.
Vics Schultern sacken ab. »Tut mir echt leid.«
Ihrer beschämten Miene nach zu urteilen, ist das die Wahrheit, nur befähigt sie das längst nicht dazu, das Geschehene wieder rückgängig zu machen. Ich wurde unwiderruflich blamiert, noch bevor mein neuer Lebensabschnitt als Studentin offiziell begonnen hat. Ist das zu fassen?
»Gehen wir jetzt endlich zurück zur Party, Carter?«, fragt jemand aus der Menge hörbar genervt.
Der zwielichtige Typ, offenbar besagter »Carter«, nickt gelassen, seine Aufmerksamkeit ruht dabei weiterhin auf mir. »Geht schon mal vor, ich komme gleich nach.«
Das kleine Grüppchen um mich herum löst sich auf und peilt zu meiner Erleichterung kommentarlos den Rückweg an. Übrig bleiben meine Mitbewohnerin … und er.
»In Ordnung«, murmele ich, »da wir nunmehr alle herzlich über dieses Späßchen gelacht haben, kann ich ja zurück ins Bett gehen.«
Ich setze an, ihnen den Rücken zuzukehren, doch Carter lässt mich mit den Worten »Nicht so schnell, Bambi« in meinem Vorhaben innehalten.
»Wie bitte?« Ich blinzle ihn an.
»Wieso kommst du nicht einfach mit? Es ist noch früh.« Seine Augen studieren mein zerknautschtes Gesicht. »Schlafen kannst du, wenn du tot bist.«
Ist das sein Ernst?
»Er hat recht«, pflichtet Vic ihm bei, bevor ich mir eine patzige Antwort für ihn hätte zurechtlegen können.
»Komm schon, Vic.« Mit einer vorwurfsvollen Geste zeige ich auf Carters Wenigkeit. »Du kennst diesen Typ seit etwa einer Stunde und ergreifst schon jetzt Partei für ihn?«
»Na ja …« Sie kratzt sich am Unterarm. »Scheint so.«
Wie aus heiterem Himmel streckt besagter Typ mir seine Hand entgegen. »Sorry, ich hab wohl für einen Moment meine guten Manieren vergessen. Ich bin Dean Carter, aber eigentlich nennen die Leute hier mich nur Carter. Wenn du mir jetzt im Gegenzug noch deinen Namen verrätst, hätten wir zumindest schon mal das mit den Personalien geklärt.«
Gute Manieren? Dass ich nicht lache. Voller Skepsis betrachte ich ihn und sein dämliches Grinsen im Gesicht, von dem ich mich frage, ob er sich damit für unwiderstehlich hält. Seinen Händedruck erwidere ich trotzdem – aus reiner Höflichkeit versteht sich. Dabei entgeht mir nicht, wie warm und weich seine Haut ist.
»Ihr Name ist Kat«, kommt Vic mir unter einem Stöhnen zuvor, weil ich mich bisweilen nicht dazu durchringen konnte, ihm zu antworten.
»Kat«, wiederholt er bedächtig. »Freut mich.«
»Mich nicht.«
Sein Grinsen wird breiter. »Ach nein? Wieso lässt du dann nicht los?«
Mein Blick fällt auf meine Hand, die seine nach wie vor fest umschlossen hält. Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt, als ich sie ihm wie auf Kommando entreiße.
»Also ich für meinen Teil schlage vor, dass du in unser Zimmer raufgehst und dich umziehst.«
Ich sehe Vic an. »Und dann?«
»Dann kommst du mit auf die Party, lernst ein paar Leute kennen und hast ein wenig Spaß mit uns.«
»Klingt nach ’nem Vorschlag«, bekräftigt Carter.
»Ja, einem schlechten«, schnaube ich.
»Komm schon, Kat«, bittet Vic. »Wir warten auch so lange auf dich.«
Ich blicke verblüfft zwischen den beiden umher. »Ihr erwartet wirklich, dass ich mitkomme?«
Einstimmiges Nicken.
Ich ziehe meine Unterlippe zwischen die Zähne und kaue auf ihr herum, während ich darüber nachdenke, was ich als Nächstes tun oder sagen soll. Soll ich mitgehen oder bleiben?
Seit jener Nacht besitze ich den Ruf der langweiligen Außenseiterin. Will ich wirklich, dass es ewig so weitergeht?
Das hier sollte die beste Zeit meines Lebens werden. Wieso gebe ich dem Ganzen nicht eine Chance? Ich muss meine guten Vorsätze ja nicht gleich alle über Bord schmeißen.
»Na los.« Carter schnalzt mit der Zunge. »Ich verschwende hier wertvolle Zeit.«
Mit einem tiefen Seufzen gebe ich nach. »Schön, von mir aus. Aber ich werde nichts trinken.«
Carter unterdrückt sich ein Lachen. Oder versucht es zumindest. »Na, Gott sei Dank. Ich dachte schon, du könntest mich überraschen.«
*
Nicht zu fassen, dass ich mich darauf eingelassen habe. Um mich herum herrscht das pure Durcheinander. Ich habe immer gedacht, die Leute würden übertreiben, wenn sie von Studentenpartys erzählen. Spätestens jetzt weiß ich, dass nichts davon gelogen war. Die einen schütten literweise Alkohol in sich hinein, die anderen kotzen ihn wieder aus.
Manche von ihnen tanzen zur Musik, andere taumeln orientierungslos umher. Es wird gelacht und gefeiert, und wenn ich mich vorhin nicht getäuscht habe, wird hinter dem Haus, dessen weiße Fassade die drei griechischen Buchstaben Alpha, Tau und Omega trägt, sogar mit Gras gedealt.
Ich lasse mir von Vic einen neuen, mit Cola gefüllten Plastikbecher reichen. Nur um sicherzugehen, rieche ich noch einmal daran, bevor ich einen Schluck nehme.
»Willst du raus?«
Ich nicke eifrig, weil mir die von Rauch und Schweiß getränkte Luft im Wohnzimmer langsam, aber sicher das Atmen erschwert. Draußen angekommen, lehnt Vic sich ans Geländer der Veranda und lässt ihren Blick über den vollgemüllten Vorgarten schweifen. Wie lange sie wohl brauchen, um das ganze Chaos aufzuräumen?
»Ich habe mich bisher mit keinem von ihnen richtig unterhalten können«, sagt sie und schielt zu der Gruppe Studenten rüber, die sich vorhin den »Spaß« mit mir erlaubt haben.
»Du meinst, du hast mit keinem von ihnen bisher rumgeknutscht«, korrigiere ich.
»Leider auch wieder wahr.« Sie seufzt theatralisch. »Hier laufen echt süße Kerle rum, nur interessiert sich einfach keiner für mich. Nicht, dass mich das wundern würde. War schon immer so.«
»Spricht da etwa der Alkohol aus dir?« Ich stupse sie an.
»Haha.« Sie verdreht die Augen, schmunzelt aber gleichzeitig. »Was soll’s. Den ATOs eilt ihr Ruf sowieso voraus.«
»Was für ein Ruf?«
»Na, dreimal darfst du raten.« Sie macht eine Kopfbewegung nach links. »Da, sieh dir mal Carter an.«
Ich folge ihrem Blick. Drei hübsche Frauen haben sich um ihn herum versammelt, und es ist nicht zu leugnen, dass er mit ihnen flirtet.
»Carter gehört auch zur Verbindung?«
»Soweit ich weiß, schon«, antwortet sie. »Warum? Überrascht dich das?«
»Keine Ahnung«, murmele ich. »Setzen die sich nicht häufig für was Soziales ein?«
Vic hebt eine Augenbraue. »Manche, ja. Und?«
Ich schließe ihn mit einer Handbewegung ein. »Er sieht nicht gerade aus wie jemand, der –«
»– außer Brüste noch andere Dinge im Kopf hat?«, schlägt Vic unverblümt vor.
Ich nicke, da ich bezweifle, dass jemand wie Carter seine Freizeit nutzt, um Wohltätigkeitsveranstaltungen zu planen oder Spenden für einen guten Zweck zu sammeln.
»Gut möglich. Aber ich meine … sieh ihn dir an«, haucht sie mit verträumter Miene. »Ich hab eine Schwäche für die bösen Jungs. Na ja, optisch zumindest.«
Ich stöhne. »Vergiss es. Typen wie der da brechen dir früher oder später wirklich nur das Herz.«
»Wahrscheinlich hast du recht. Ich sollte mir einen vernünftigen Kerl suchen.«
»Das solltest du.«
»Meinetwegen. Aber noch nicht heute Nacht«, trällert sie plötzlich zwei Oktaven zu hoch. »Sorry, Kat, wir sehen uns später!«
Sie zwinkert mir zu und läuft hinter einem dunkelhaarigen Studenten her, der sich aus der Gruppe um Carter gelöst hat und nun auf dem Weg ins Haus ist.
Was zum –
»Hey, das kann nicht dein Ernst sein!«, rufe ich entgeistert.
Du kannst mich doch nicht allein hier stehen lassen! Deinetwegen bin ich überhaupt erst mitgekommen!
Mein Herz setzt kurz aus und versucht panisch, die versäumten Schläge wieder aufzuholen. Spätestens jetzt, wo ich einsam und verlassen zwischen den knutschenden Pärchen stehe, wirke ich doch auf jeden wie gefundenes Fressen.
Verzweifelt schaue ich mich um und treffe dabei ungewollt auf den Blick von Carter, der mich aus der Ferne beobachtet. Als ich kapiere, dass er sich von seinen Freunden lossagt und auf mich zuschlendert, wäre ich am liebsten ganz schnell ganz weit weggerannt.
Nur bewegen sich meine treulosen Füße keinen Zentimeter vom Fleck.
»Du wirkst ganz schön verloren, Bambi«, merkt er an, noch ehe er die letzte Stufe der Treppe erklommen hat.
Ich würde gerne wissen, was es mit dem Spitznamen Bambi auf sich hat, bin allerdings zu stolz, um genau das zu erfragen. Wahrscheinlich will er mich nur aufziehen.
Ich schlucke mein Unbehagen so gut es geht runter und antworte: »Längst nicht so verloren, dass ich deine Hilfe bräuchte.«
Carter schmunzelt vergnügt. »Dafür, dass du neu bist und wir uns nicht kennen, hast du eine ziemlich große Klappe, Katherine.«
»Ich habe dir nie gesagt, dass ich Katherine heiße.«
»Stimmt, war geraten.« Er nippt an seinem Bier. »Lag ich richtig?«
Ich antworte ihm nicht. Stattdessen knabbere ich am Rand meines Plastikbechers und schweige, in der leisen Hoffnung, dass er mich in Ruhe lässt und geht. Doch dem ist nicht so, sein Grinsen wird nur breiter.
»Das heißt dann wohl Ja«, sagt er. »Warum trinkst du nichts? Ich würde nur zu gern wissen, wie du im betrunkenen Zustand drauf bist.«
»Oh, das glaube ich dir sofort«, gebe ich in verächtlichem Tonfall zurück. »Schade, dass du’s nie rausfinden wirst.«
Die neue Kat ist nämlich nicht mehr so unbekümmert, laut und zugänglich, wie er sich wahrscheinlich erhofft.
Carter lacht auf und entblößt dabei perfekt geformte Zähne. »Wieso habe ich das Gefühl, dass du ein ganz falsches Bild von mir hast?«
»Definiere falsch«, erwidere ich. »Ich bin mir sicher, dass es das richtige ist. Und nun entschuldige mich.« Ich drücke ihm meinen leeren Becher zum Entsorgen in die Hand und zwinkere ihm zu. »Danke, sehr aufmerksam.«
Meine vorgegaukelte Selbstsicherheit schwindet just in der Sekunde, in der ich ihm den Rücken zudrehe und die Stufen der Veranda herunterhüpfe.
Und jetzt, Kat?
Ich bin weder scharf darauf, das Haus, das aus allen Nähten platzt, nach Vic abzusuchen, noch darauf, hier draußen auf sie zu warten. Kann ich den Mut aufbringen, allein zum Wohnheim zurückzugehen?
Schon beim bloßen Gedanken daran, beginnen meine Knie zu schlottern. Ich lasse meinen Blick durch den Garten wandern, doch von Vic ist weit und breit nichts zu sehen.
Fluchend taste ich nach dem Pfefferspray in der Bauchtasche meines Kapuzenpullovers. Egal, wo ich hingehe, das Ding begleitet mich auf Schritt und Tritt. Es vermittelt mir ein Stück weit Sicherheit, etwas zu haben, womit ich mich im Notfall verteidigen könnte. Keine Ahnung, ob es mir wirklich zur Flucht verhelfen würde, aber hin und wieder frage ich mich, ob vielleicht alles anders geworden wäre, wenn ich damals so ein Spray mit mir herumgetragen hätte.
Ich straffe meine Schultern, atme einmal tief durch und fasse den Entschluss, es zu wagen.
Ich schaffe das. Kein Problem.
Mit geballten Händen mache ich einen Schritt nach vorn. Und dann noch einen, bis ich Carter meinen Namen rufen höre.
»Kat, warte!«
Mit großen Schritten holt er mich ein.
»Was ist?«
»Ich gebe ja zu, dass ich gelegentlich ein Arsch sein mag, aber deshalb würde ich dich nachts noch lange nicht allein über den Campus laufen lassen.«
»Sieh an.« Ich neige den Kopf zur Seite. »Und was lässt dich annehmen, dass ich deine Begleitung will?«
»Gut, dass du fragst.« Er leckt sich über die Unterlippe und setzt ein spitzbübisches Grinsen auf. »Um die Zeit wimmelt es hier nur so von stockbesoffenen Typen. Sagen wir, mit einem treuherzigen Gesellen wie mir an deiner Seite hast du diesbezüglich nichts zu befürchten.«
Ich pruste. »Funktioniert die Nummer für gewöhnlich?«
Er sieht mich an, abwartend und neugierig zugleich. »Sag du’s mir.«
Ich erwidere seinen Blick kurz, bevor ich meine Augen über seinen Körper schweifen lasse, als wollte ich abwägen, ob ich im Ernstfall eine Chance gegen ihn hätte, was sich ohne Pfefferspray nur mit einem glasklaren Nein beantworten lässt.
Da er jedoch schon ein paar Minuten unaufgefordert neben mir herläuft und wir bereits die Kreuzung vom Campus erreicht haben, belasse ich es mit größtmöglichem Abstand dabei, halte das Spray in meinem Pulli aber weiterhin fest umklammert.
»Du bist nicht gerade ein Mädchen der gesprächigen Sorte, oder?«, fragt er.
Mein Mundwinkel wandert ohne mein Zutun nach oben. »Das fragst du mich, obwohl du derjenige bist, der sich mir aufdrängt?«
»Du solltest dich glücklich schätzen.« Carter zuckt mit den Schultern. »Normalerweise dränge ich mich niemandem auf.«
»Gut zu wissen.«
Wir laufen eine Weile schweigsam nebeneinander her, ohne dass die Stille zwischen uns unangenehm wäre. Ich würde es niemals zugeben, aber ein kleiner Teil von mir ist dankbar für seine Gesellschaft – oder vielmehr seine Ortskenntnis, ohne die ich mich im Dunkeln auf die Schnelle kaum zurechtgefunden hätte.
Wir passieren gerade die zweite Gruppe kichernder Studentinnen, als ich ein genervtes Seufzen von mir gebe.
»Stört dich das gar nicht?«
Carter läuft unbeirrt weiter. »Wovon sprichst du?«
»Wow.« Ich schnaube. »Du bemerkst es nicht mal? Die Mädels hier gucken dich an, als wärst du … als wärst du eine verbotene Süßigkeit oder sowas. Wahrscheinlich bist eher du derjenige von uns beiden, der nachts nicht allein herumstreunen sollte.«