Ich kann nicht vergessen - Tess Tjagvad - E-Book
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Ich kann nicht vergessen E-Book

Tess Tjagvad

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Beschreibung

Kann ihre Liebe die Schatten der Vergangenheit überwinden? Der New Adult-Roman »Ich kann nicht vergessen« von Tess Tjagvad als eBook bei dotbooks. Kat hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass das Schicksal noch ein Happy End für Carter und sie bereithält. Doch jetzt kommen sie sich mit jedem Tag ein Stück näher. Bis das Band zwischen ihnen so stark ist, dass Kat bei einem Praktikum endlich den nötigen Mut findet, Carter ihr wohl größtes Geheimnis anzuvertrauen. Allerdings ahnt zu diesem Zeitpunkt noch keiner der beiden, wie eng die Verbindung zwischen ihnen wirklich ist und wie weit sie in die Vergangenheit zurückreicht. Als ausgerechnet diese Vergangenheit sie einzuholen droht, sieht Kat sich gezwungen, ihrer Beziehung zu Carter ein Ende zu setzen. Aber wie kann man jemanden vergessen, den man gar nicht vergessen will? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Die bewegende College-Romance »Ich kann nicht vergessen« von Bestsellerautorin Tess Tjagvad ist der zweite Band ihrer Fort-Lake-Reihe, der Fans von Maren Vivien Haase, Sarah Sprinz und Kira Mohn begeistern wird. Das Hörbuch und die Printausgabe sind bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 326

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Tess Tjagvad

Ich kann nicht vergessen - Fort Lake 2

Roman

 

dotbooks.

Ich kann nicht vergessen - Fort Lake 2

 

eBook-Ausgabe

 

Dieser Roman ist außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont erschienen, www.sagaegmont.com/germany.

Copyright © der Originalausgabe 2022 Tess Tjagvad und SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe dotbooks GmbH, München

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Magda Wurst unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

 

ISBN: 978-3-98690-597-2

 

»Words can lie. See beyond them.«Victoria Aveyard

Triggerwarnung:

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte zu folgenden Themen: Missbrauch, Traumata, Panikattacken, Verlust und Gewalt.

Bitte lest dieses Buch nicht, wenn ihr euch derzeit nicht in der richtigen Verfassung seht.

Prolog

Kat

Ich gebe zu, nicht besonders viele Pläne gehabt zu haben, als ich an die Fort Lake University in Virginia gekommen bin.

In erster Linie wollte ich die Klausuren bestehen, und das so gut wie möglich. Ich wollte ein Praktikum machen, Erfahrungen sammeln, mein Hauptfach wählen und mich ganz und gar auf den Abschluss konzentrieren. Ja, sogar ein paar neue Freunde finden, die dieselben Interessen und Ziele verfolgen wie ich – auch wenn nichts davon auf meine quirlige Freundin Vic zutrifft.

Was ziemlich sicher nicht auf meinem Plan stand, war, mich Hals über Kopf in Dean Carter zu verlieben.

Und doch ist es passiert.

Weil ich mich bei ihm gut und sicher gefühlt habe. Weil ich bei ihm ich selbst sein konnte.

Und obwohl ein Teil von mir genau wusste, welches Risiko ich damit eingehe, habe ich seit unserem Date in den Bergen keinen einzigen Gedanken mehr daran verschwendet, dass es genauso schnell wieder vorbei sein könnte, wie es angefangen hat.

Vielleicht hätte ich daran denken sollen, als ich ihn gestern Abend so nah an mich herangelassen habe wie noch nie zuvor, sowohl körperlich als auch auf emotionaler Ebene.

Vielleicht hätte es mir diesen Schmerz erspart.

Stattdessen habe ich es keine Sekunde lang bereut, ihn zu küssen, zu fühlen, neben ihm zu schlafen.

Er war schließlich zurückgekommen und hat mir obendrein etwas aus seiner Vergangenheit anvertraut, das mich beinahe dazu verleitet hätte, ihm die ganze Wahrheit über das zu erzählen, was vor fünf Jahren mit mir passiert ist.

Doch schon als ich heute Morgen die Treppe im Verbindungshaus hinuntergekommen und Zeugin eines jämmerlichen Ablenkungsmanövers seitens Carters Mitbewohnern Toby, Ryan und Jacob geworden bin, hatte ich wieder dieses mulmige Gefühl im Magen. Etwas war nicht in Ordnung, ich habe es in ihren Gesichtern gesehen.

Jetzt, wo ich mitansehen musste, was sie alle versucht haben, vor mir zu verbergen, weiß ich, dass der Punkt erreicht ist. Der Punkt, an dem ich es endgültig bereue, Carter jemals vertraut zu haben.

Kapitel 1

Carter

Früher an diesem Morgen

 

Das Wasser, das mir über den Nacken läuft, fühlt sich längst nicht mehr warm an, weil ich schon seit einer Ewigkeit unter der Dusche stehe und den gestrigen Abend Revue passieren lasse. Die ganze Zeit denke ich darüber nach, ob ich mich anders hätte verhalten sollen, als Kat sich mit diesem einen bestimmten Blick auf meinen Schoß gesetzt hat, komme aber immer zu demselben Entschluss: Ich hätte es wieder getan. Ja, sie war betrunken. Und ja, vielleicht war es falsch, es überhaupt so weit kommen zu lassen.

Aber es war wie ein Rausch.

Das Gefühl von ihren drängenden Lippen auf meinen war zu überwältigend, als dass ich das, was auch immer da zwischen uns passiert ist, hätte stoppen können oder wollen.

Und doch, obwohl sie diejenige war, die dem Ganzen den Anstoß verpasst hat, mich angefleht hat, nicht aufzuhören, wurde ich am Ende zum wiederholten Male zurückgestoßen.

Ich wische mir mit den Händen über das nasse Gesicht und schlage mit geballter Faust gegen die Duschwand. Es frustriert mich, dass sie mich aus irgendeinem Grund nicht an sich heranlässt. Offenbar vertraut sie mir nicht.

Dabei hatte ich gehofft, ich hätte ihr in den vergangenen Tagen durchaus bewiesen, dass sie das kann.

Gottverdammt. Wer hätte gedacht, dass ich mir eines Tages mal Gedanken über so etwas machen würde?

Selbst ich habe es letzte Nacht geschafft, mich ihr zu öffnen – wenn auch eher unfreiwillig. Immerhin hätte ich gut und gerne darauf verzichten können, dass sie Zeugin meiner Albträume wird und mir einen halben Herzinfarkt verpasst, indem sie meine Nachttischlampe anknipst.

Ich meine, welcher halbwegs vernünftige Kerl hat Angst vor einer dämlichen Nachttischlampe? Mal ehrlich.

Andererseits könnte ihr unser nächtliches Gespräch als Rückhalt dienen, um endlich mit mir über das zu sprechen, was sie beschäftigt. Schließlich hat es mich einiges an Überwindung gekostet, ihr von meiner Vergangenheit zu erzählen. Sie könnte mir im Gegenzug wenigstens verraten, was es mit ihrer Narbe auf sich hat. Falls sie nach gestern Abend überhaupt noch interessiert daran ist, mit mir zu reden.

Frisch geduscht und angezogen setze ich mich eine Viertelstunde später behutsam auf die Bettkante. Eigentlich wollte ich Kat nur einen frischen Pullover aufs Bett legen, falls ihr kalt werden sollte, aber ich kann nicht anders, als sie einen Moment lang zu beobachten. Wie flüssige Vollmilchschokolade ergießen sich ihre Haare auf mein Kissen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich in gleichmäßigen Zügen und ihre Lippen sind leicht geöffnet. Ich lächle, hebe meinen Arm und streiche ihr über die gerötete Wange. Ob sie schon mal von mir geträumt hat?

Die Vorstellung würde mir gefallen.

Ich lasse meinen Blick an ihrem Körper hinunterwandern. Die Decke klemmt zwischen ihren Beinen, weshalb mein T-Shirt ein Stück nach oben gerutscht ist und ich die volle Aussicht auf ihren Po genießen kann – ich meine, könnte. Ich mach’s ja nicht. Vielleicht schiele ich einmal kurz in die Richtung, aber streng genommen tue ich’s nicht. Stattdessen stehe ich auf und verlasse das Zimmer, um sie in Ruhe ausschlafen zu lassen.

Sobald ich auf der ersten Stufe der Treppe stehe, vernehme ich die Stimmen der Jungs in der Küche. Sie diskutieren wild durcheinander, allerdings dringen nur wenige Gesprächsfetzen davon zu mir hindurch.

»Du bist so ein Vollpfosten!«

»Er wird durchdrehen, wenn er mitbekommt, dass du sie reingelassen hast!«

»Entspann dich mal, ich wusste nicht, dass Kat noch da ist. Er hat nie jemanden über Nacht da!«

»Hey, was ist hier los?«, frage ich verwundert, als ich bei ihnen angekommen bin. »Über wen sprecht ihr?«

Ryan dreht sich zögerlich zu mir um. »Wir? Na ja …«

»Na ja, was?« Meine Augen wandern zu Toby.

»Guck mich nicht so an, ich hab rein gar nichts damit zu tun.« Er lässt sich aufs Sofa fallen und nimmt das FLU Studentenmagazin zur Hand, das für gewöhnlich direkt im Müll landet. »Ryan ist schuld.«

»Schuld woran? Besitzt irgendwer von euch die Freundlichkeit, mich mal aufzuklären?« Inzwischen knurre ich beinahe.

»Du hast Besuch«, behauptet Jacob.

»Von wem?« Ich runzle die Stirn. Ich erwarte niemanden an einem Montagvormittag. Mal ganz zu schweigen davon, dass ich sowieso niemanden kenne, der mich besuchen würde. Meine Mom ist tot, mein Dad ist ein Arsch und meine guten Freunde lassen sich an einer Hand abzählen.

»Herrgott noch mal, es ist Paige!«, ruft Toby, ohne von dem Magazin aufzuschauen. »Paige ist hier und sie wartet draußen auf dich.«

»Was? Ihr verarscht mich doch, oder?« Ich renne zur Verandatür, um mich zu vergewissern, dass das nur ein blöder Scherz ist, doch die Jungs sagen die Wahrheit.

Draußen auf einem unserer Rattansessel neben dem Pool sitzt Paige und scrollt auf ihrem Handy herum.

Mir rutscht vor Schreck das Herz in die Hose. »Verdammte Scheiße, wer von euch Trotteln hat sie reingelassen?«

Ryan hebt schuldbewusst die Hände. »Es tut mir leid, okay? Ich hab nicht nachgedacht.«

»Was hast du ihr gesagt?«

»Nur, dass du unter der Dusche stehst«, sagt er schnell. »Sie hat mich gefragt, ob sie draußen warten kann, bis du fertig bist.«

»Und du hast Ja gesagt?«, frage ich entsetzt.

»Was hätte ich denn sonst sagen sollen? Du kannst gerne warten, Paige, aber bitte irgendwo, wo dich keiner von uns sehen muss?« Ryan schüttelt den Kopf. »Nein, danke. Ich hänge an meinem Leben, weißt du?«

Ich merke erst, dass ich die Zähne zu stark zusammengebissen habe, als ein stechender Schmerz meinen Kiefer durchzuckt. »Ist das so?«

»O-oh, das ist sein Lauf-bevor-ich-dich-töte-Blick«, höre ich Toby murmeln.

»Ich wusste nichts von Kat!«, beteuert Ryan jetzt noch einmal. »Ehrlich nicht!«

Seufzend wende ich mich wieder zur Tür. Das Schlimme ist, ich glaube ihm sogar. Es stimmt, was er eben zu den anderen gesagt hat: Ich habe noch nie jemanden über Nacht hierbehalten – aus offensichtlichen Gründen.

Außerdem weiß ich aus eigener Erfahrung, wie hartnäckig Paige sein kann.

»Du solltest versuchen, das so schnell wie möglich zu klären, bevor Kat wach wird.« Jacob lehnt sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen und beobachtet Paige durch das Fensterglas. »Vorausgesetzt natürlich, dir liegt was an ihr.« Er wirft mir einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu, dem ich ohne Probleme standhalte.

»Ja.«

Jacob nickt. »Gut. Wir lassen uns was einfallen, falls sie runterkommt. Am besten schleust du Paige einfach hinten durchs Gartentor raus.«

»Okay.« Ich lege meine Hand auf den Türgriff. »Wehe einer von euch lauscht. Kapiert?«

Die drei geben ein verdrossenes Gemurmel von sich, bevor ich durch die Fliegengittertür nach draußen schlüpfe.

Paige ruft mir bereits auf halbem Weg entgegen: »Da bist du ja endlich! Ich warte bestimmt schon zwanzig Minuten darauf, dass du endlich fertig wirst.«

»Und nach fünf bist du nicht mal auf die Idee gekommen, dass ich vielleicht gar nicht reden will?« Ich setze mich ihr gegenüber auf die Kante des Gartentischs. »Was willst du hier, Paige? Ich kann mich nicht daran erinnern, dich eingeladen zu haben.«

Sie schnaubt. »Hast du das jemals?«

Ich widerstehe dem Drang, die Augen zu verdrehen. »Ich mein’s ernst. Ich hab’s eilig, also fass dich bitte kurz.«

»Warum? Weil du die Nacht mit Kat verbracht hast?«, fragt sie mit hochgezogener Augenbraue. »Dann ist sie noch da?«

Ich zeige keinerlei Regung. »Wie kommst du darauf?«

»Oh, bitte. Ihr hängt doch neuerdings ständig miteinander ab. Und gestern habe ich gesehen, wie du sie mit auf dein Zimmer genommen hast.«

»Du warst hier?«, frage ich überrascht.

»Natürlich war ich hier. Du kannst dir deine Show also sparen. Ich bin nicht blöd.«

»Gut.« Ich versenke die Hände in den Hosentaschen und nicke. »Ist das der Grund, warum du hergekommen bist? Weil du wissen wolltest, ob sie die Nacht über bei mir war?«

»Eigentlich nicht.« Paige zögert. Dann lässt sie die Schultern sinken und mit ihnen ihren Schutzschild. »Ich versteh’s einfach nicht, Carter. Jedes Mal, wenn ich dich gefragt habe, ob ich über Nacht bleiben kann, oder ob wir was zusammen unternehmen wollen, hast du Nein gesagt. Und jetzt sehe ich dich ständig mit ihr, und ich …« Sie verschluckt die Hälfte ihrer Worte, sortiert sich noch einmal neu. »Ich fange an, mich zu fragen, was ich hätte tun müssen, damit du der Sache mit uns eine Chance gibst.«

»Paige …« Mit einem Seufzen reibe ich mir über den Nacken. »Du hättest gar nichts tun können, okay?«

Es ist schließlich nicht so, als hätte ich selbst eine Ahnung davon, was neuerdings mit mir los ist.

»Ach nein?« Sie hebt ihren Blick. »Kat hat also etwas, das ich nicht hab, ist es das, was du mir sagen willst? Wenn ja, was soll das deiner Meinung nach sein, hm?«

Ich stoße mich vom Tisch ab, umfasse die Armlehnen ihres Sessels und beuge mich so weit zu ihr hinunter, dass sich unsere Gesichter auf einer Höhe befinden.

»Tu das nicht, Paige.«

Du würdest verlieren.

Wut glimmt in ihren Augen auf. »Dann wirst du mit ihr nicht dasselbe abziehen wie mit mir? Sie nicht von vorne bis hinten verarschen?«

Mir ist bewusst, dass sie verletzt ist. Paige hat schon immer gerne verbal um sich geschlagen, wenn sie sich nicht anders zu helfen wusste. Aber deshalb lasse ich mich sicher nicht als Lügner abstempeln.

»Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass eine feste Beziehung für mich nicht infrage kommt, und du warst damit einverstanden!«, erinnere ich sie. »Wofür willst du mich jetzt bestrafen?«

Paige verschränkt die Arme vor der Brust und sieht weg.

»Hör zu, es tut mir leid, falls der Eindruck entstanden sein sollte, dass aus uns mehr werden könnte, okay? Aber wenn du ehrlich bist, weißt du selbst, dass ich dir nie Anlass gegeben habe, das zu denken.«

Ich beobachte, wie ihre Kiefer mahlen, als hätte sie schwer an meinen Worten zu knabbern, bis sie so unvermittelt aufspringt, dass ich zurücktaumele.

»Weißt du was? Du hast recht. Warum laufe ich einem Typen wie dir überhaupt hinterher? Das ist die reinste Zeitverschwendung!« Paige bohrt mir ihren Finger in die Brust. »Ich gebe dir nur einen guten Rat, Carter. Komm ja nicht bei mir angekrochen, wenn das mit euch beiden nichts wird und du dich in ein paar Wochen wieder langweilst.«

Mir entfährt ein Schnauben. »Ich denk nicht dran. Und jetzt geh.«

Paige setzt an, mir noch einen letzten Spruch reinzudrücken, als sich ihr Blick plötzlich an etwas hinter meinem Rücken aufhängt.

»Was ist los?« Ich will mich umdrehen, nur lässt sie mir gar nicht erst die Chance dazu. Stattdessen legt sie ihre Arme um meinen Nacken und drückt mir einen warmen Kuss auf die Lippen.

Ich benötige einen Moment, um zu verarbeiten, was hier gerade passiert. Dann versteife ich mich und schiebe sie von mir. »Shit, was soll das? Hast du mir eben überhaupt zugehört?«

»Wort für Wort.« Ihr Blick wandert wieder zur Veranda, und dieses Mal folge ich ihm. Sowie ich Kat und Ryan am Geländer stehen sehe, scheint mein Herzschlag einen beunruhigenden Moment lang auszusetzen. In Kat zerbricht etwas. Ich erkenne es auf ihrem Gesicht, noch bevor sie mit Tränen in den Augen herumwirbelt und zurück ins Haus läuft. Verdammte Scheiße.

»Kat, warte!«, rufe ich noch, allerdings ist die Tür da schon mit einem lauten Knall hinter ihr zugefallen. Ich blicke über meine Schulter hinweg zu Paige, die die Szene wortlos mitverfolgt hat. »Du wusstest, dass sie zusieht.«

Es war keine Frage, aber sie antwortet trotzdem.

»Möglich. Aber sind wir mal ehrlich, Carter, das hattest du verdient.«

 

Ich renne los, springe die Stufen zur Veranda hinauf und stürme aus der Haustür, ohne einem meiner schockierten Freunde Beachtung zu schenken.

»Warte, warte, warte!« Ich hole den Abstand zu Kat auf und kriege sie gerade so am Handgelenk zu fassen.

»Lass mich los!«, faucht sie und windet sich unter meinem Griff.

»Kat, bitte hör mir zu.« Ich lasse nicht locker. »Das war nicht das, wonach es ausgesehen hat.«

»Nein?« Als sie sich widerstrebend zu mir herumdreht, bemerke ich, dass sie meinen Pullover trägt. Er ist ihr drei Nummern zu groß und doch gefällt sie mir darin.

Sehr sogar.

»Schon komisch. Nach unserem Streit gestern Abend bist du abgehauen und hast mich allein gelassen, aber schon ein paar Stunden später sehe ich dich mit Paige … Wo bist du gewesen? Etwa bei ihr? Hat sie dich getröstet?«

»Was?« Ich blinzle entsetzt. »Nein!«

Kat nutzt die Gunst meiner Unachtsamkeit und entreißt mir ihren Arm. »Wo dann?«

Unentschlossen, ob ich ihr die Wahrheit sagen soll oder nicht, kaue ich auf meiner Unterlippe herum. Sie wird noch eine Spur ungeduldiger.

»Carter, wo zum Teufel warst du?«, hakt sie nach.

Ich seufze. »Schön, du willst es wirklich wissen?«

»Ja!«

»Ich musste mich erst mal zwanzig Minuten lang in unserem Bad einschließen, weil ich deinetwegen so hart war, dass ich’s nicht ausgehalten hab. Und weißt du was?« Meine Stimme wird lauter. »Ich hab die ganze beschissene Zeit an dich gedacht, während ich’s mir besorgt hab! Bist du jetzt zufrieden?«

Kat keucht auf und lacht. »Alles klar.«

Aufgrund ihrer darauffolgenden Sprachlosigkeit und der geröteten Wangen nehme ich an, dass mein Geständnis sie mächtig in Verlegenheit gebracht hat.

Oh ja, das muss erst mal verdaut werden, hm?

Ich verschränke die Arme vor der Brust.

»Und warum sieht es dann aus, als würde zwischen euch noch was laufen?«, fragt sie, sobald sie ihre Sprache wiedergefunden hat. »Und wieso küsst sie dich überhaupt?«

»Zwischen uns läuft verdammt noch mal nichts! Sie wollte mir eins auswischen. Ich hatte nichts mehr mit ihr, seit –« Ich verstumme, sobald mir auffällt, dass ich das Gespräch in eine Richtung lenke, in die ich eigentlich nicht gehen wollte.

Nur ist Kat bereits hellhörig geworden.

»Seit?« Sie hebt eine Augenbraue. »Seit unserem ersten Kuss auf meinem Zimmer. Richtig?«

Shit. Ich winde mich innerlich. »Nicht ganz …«

»Geht das auch genauer?«

Denk nicht mal daran, sie anzulügen.

»Nachdem du weggelaufen bist, als wir im Trinity waren, da … na ja, da hat sie mir …« Ich schaff’s nicht, den Satz zu beenden, aber das muss ich auch gar nicht. Für Kat habe ich genug gesagt.

»Du meinst, direkt nachdem wir uns geküsst haben?« Tränen steigen ihr in die Augen, als ich nicke. »Okay, mir reicht’s.«

»Nein, warte!« Ich halte sie zurück. »Ich war dumm, ja. Glaub mir, das ist mir bewusst. Aber es ändert nichts daran, dass ich seitdem keine andere mehr gehabt habe.«

»Und das soll ich dir glauben?«, schnieft sie und wischt sich mit dem Ärmel meines Pullis über ihr Gesicht. »Lass mich einfach in Ruhe.«

Es bricht mir das Herz, sie so zu sehen. Verdammt! Erst recht, weil ich der Idiot bin, der dafür verantwortlich ist.

»Kat, bitte«, versuche ich es erneut. »Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, was ich will, aber jetzt weiß ich es.«

»Ah ja?« Sie gibt ein Schnauben von sich. »Das habe ich auch gedacht. Nur lag ich damit scheinbar vollkommen daneben.«

»Wie meinst du das?«

»Ich habe dir viel zu viele Chancen gegeben, Carter.« Sie schüttelt den Kopf. »Das war’s.«

Ich verziehe das Gesicht. »Komm schon, du suchst doch nur nach irgendeinem Grund, um es zu beenden. Dabei kann man gar nichts beenden, das nicht mal richtig angefangen hat.«

»Dann stoppe ich es eben hier.« Sie wendet sich zum Gehen, doch greife ich wieder nach ihrem Arm.

»Warum? Weil du Angst hast? Die habe ich auch, und was für eine, aber das ist mir egal.« Ich lasse meine Hand ihren Unterarm hinabwandern und verschränke unsere Finger miteinander.

»Ich habe keine Angst«, zischt sie und starrt einen Augenblick zu lang auf unsere Hände, bevor sie mich abschüttelt. »Und jetzt lass mich bitte endlich gehen, ich muss in meinen Kurs.«

»Kat, bitte … Lass uns darüber reden.«

»Es ist alles gesagt«, antwortet Kat und geht fort. Kurz darauf wird sie von den Hecken, die das Grundstück umsäumen, verschluckt und ist verschwunden.

Das soll’s jetzt gewesen sein?

Lächerlich.

Mit aller Kraft trete ich gegen unseren Briefkasten, bis er auf dem Rasen zum Erliegen kommt. Dank dieses Gesprächs weiß ich wieder, wieso ich mich niemals verlieben wollte.

Es ist beschissen.

Ich hole erneut aus, doch legt sich eine Hand auf meine Schulter und zieht mich zurück. »Beruhig dich, Carter.«

»Sag du mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe, wenn du diejenige bist, die dafür verantwortlich ist!«, fahre ich Paige an. »Du hast alles ruiniert!«

»Ich dachte –«

»Mir egal, was du dachtest. Geh!« Ich deute auf die Straße. »Ich meine es todernst, Paige, ich will dich hier nie wieder sehen!«

»Ist ja gut! Hör auf, mich so anzubrüllen!«, blafft sie zurück und schubst mich im Vorbeigehen zur Seite. »Wenigstens weißt du jetzt, wie ich mich gefühlt habe. Denk ruhig mal drüber nach, Arschloch.«

Zitternd vor Wut sehe ich dabei zu, wie sie in Richtung Campus davonschlendert. Kaum ist sie außer Sichtweite, lasse ich mich auf die oberste Treppenstufe der Veranda sinken und vergrabe das Gesicht in meinen Händen.

Keine Ahnung, ob ich mich je schon einmal so sehr verflucht habe wie in dieser Sekunde.

Diesmal hab ich’s richtig verbockt. Und ich habe keinen Schimmer, wie ich das wieder geradebiegen soll.

Kapitel 2

Kat

Zwei Wochen sind mir noch nie so lang vorgekommen. Das könnte daran liegen, dass ich die meiste Zeit allein auf meinem Zimmer verbracht habe – abgeschottet von sämtlichen Aktivitäten und dem Treiben auf dem Campus. Zum einen, um Carter und seinen laschen Entschuldigungen aus dem Weg zu gehen und zum anderen, um für die Biologie-Klausur zu pauken. Letzteres ging leider völlig daneben, da der Großteil des gelernten Stoffs wegen mangelnder Konzentration kaum hängen geblieben ist.

Somit habe ich meine allererste Klausur an der FLU erfolgreich in den Sand gesetzt.

Hätte sich das Bild von Carter und Paige nicht in mein Gedächtnis eingebrannt, wäre das Ergebnis mit Sicherheit besser ausgefallen.

Inzwischen geht es mir den Umständen entsprechend gut, obgleich die Enttäuschung über das, was passiert ist, nach wie vor spürbar ist. Carter hat zwar aufgehört, mich mit Nachrichten und Anrufen zu überhäufen, doch ist er in meinen Gedanken deshalb nicht weniger präsent. Egal, wie sehr ich mich auch bemühe, nicht an ihn zu denken. Insgeheim gebe ich seinem gut riechenden Pullover die Schuld daran. Ich sollte ihn vielleicht nicht länger unter meinem Kopfkissen aufbewahren. Und ich sollte dringend damit aufhören, ständig meine Nase in den Stoff zu drücken. Na ja, und in erster Linie sollte ich ihn ihm wohl zurückgeben. Allerdings bringe ich es nicht über mich, ihm unter die Augen zu treten.

Mir ist bewusst, dass Carter und ich zu keinem Zeitpunkt zusammen gewesen sind, weder im Trinity noch auf der Party. Trotzdem hat es sich bis zu diesem einen Morgen angefühlt, als wäre da wirklich etwas zwischen uns gewesen. Zu seicht, um tiefer zu wurzeln, und zu fragil, um es in Worte zu verpacken. Aber es war da.

Er hat mir die Sache mit seinem Dad anvertraut. Das bedeutet doch etwas, oder nicht? Vielleicht versuche ich aber auch nur, mir das einzureden. Weil es angenehmer ist als die Wahrheit und alles, was diese mit sich bringt.

Schließlich wusste ich, worauf ich mich einlasse. Ich wusste es und habe es in Kauf genommen, ergo bin ich selbst schuld. Soll Carter doch machen, was er möchte, solange ich nicht länger Teil davon bin.

Ich will keine seiner flüchtigen Bekanntschaften sein, und ich will mir auch nicht andauernd mein Herz brechen lassen, nur weil ich etwas für ihn empfinde, das er offenbar nicht erwidert. Carter hat mich oft genug verletzt, ob nun mit Worten oder mit Taten.

Dennoch versuche ich seit Tagen zu verstehen, wie es sein kann, dass sich der Schmerz, ihn gar nicht mehr zu sehen, noch tausendmal schlimmer anfühlt als das.

»Und du bist dir sicher, dass das okay für dich ist?« Ich halte den kleinen Schlüssel für Vics Fahrradschloss in die Höhe und betrachte ihn skeptisch. Er ist winzig und somit potenzielles Material, das verloren gehen könnte.

»Natürlich bin ich das.« Vic dreht sich auf ihrem Schreibtischstuhl zu mir herum und streckt ihre Beine von sich. »Wäre meine Mutter nicht gewesen, würde das Ding immer noch zwischen all dem Sperrmüll in unserem Keller stehen.«

»Na gut. Ich bin vorsichtig.« Ich schultere mir meine Ledertasche und begebe mich zur Tür, um sie aufzuschließen. Seit Carter das ein oder andere Mal in unserem Wohnheim aufgetaucht ist, um mich zur Rede zu stellen, sperre ich sie lieber ab. Bescheuert, ich weiß.

Als hätte ich Angst davor, dass er mich von meinem Vorhaben, ihn mir endgültig aus dem Kopf zu schlagen, abbringen könnte, sobald er mich auch nur durch seine petrolfarbenen Augen ansieht.

»Kat?«

Ich halte inne. »Ja?«

»Du kommst klar?« Vic mustert mich mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht.

»Sicher.« Das behaupte ich zumindest. Ich bemühe mich um ein Lächeln und winke zum Abschied. »Bis später.«

»Viel Spaß!«, ruft sie mir nach.

Ob ich den haben werde?

Ich eile durchs Treppenhaus nach draußen zu den überdachten Fahrradständern. Vics babyblaues Damenfahrrad leuchtet mir bereits von Weitem entgegen, weshalb ich gar nicht erst danach suchen muss. Mit einem Ächzen begebe ich mich in die Hocke, um das widerspenstige Schloss zu öffnen. Es ist ein wahrer Kraftakt, der mich in Anbetracht meiner Zeitnot mächtig ins Schwitzen bringt. Ich verstaue den Schlüssel in der Innentasche meiner Jacke und schwinge mich auf den viel zu hohen Sattel. Jeez, bequem ist was anderes.

In der Hoffnung, mir den Weg ausreichend eingeprägt zu haben, radle ich los.

Wäre ich nicht so spät dran gewesen, hätte ich lieber eine Viertelstunde auf den nächsten Bus gewartet. So erreiche ich jedoch schon zwölf Minuten später verschwitzt und außer Atem die East High Street. Als das graue Kastengebäude vor mir auftaucht, steige ich ab und schiebe die letzten Meter, damit ich es genauer in Augenschein nehmen kann. Es ist ein schlichtes einstöckiges Haus, umringt von nackten Bäumen, die an ihren letzten Blättern festhalten. Auf der vertrockneten Rasenfläche links daneben steht ein Schild mit der grünen Aufschrift The Women’s Initiative.

Ich hieve Vics Fahrrad die Treppen hinauf und stelle es neben dem Eingang ab, ehe ich mir die vom Wind zerzausten Haare richte und mehrmals tief Luft hole. Okay, kein Grund zur Panik. Du packst das.

Ich setze eine heitere Miene auf und nehme die Schultern zurück. »Hallo, mein Name ist Katherine Mason, ich bin wegen des Praktikums hier.«

Nicht gerade originell, aber es sollte ausreichen.

Während ich zur Tür gehe, wiederhole ich meine Begrüßung gedanklich noch mindestens zehn Mal, bis ich mir sicher bin, gleich nicht hilflos vor mich hin zu stammeln.

Als ich den schmalen Flur des Gebäudes betrete, empfängt mich eine angenehme Wärme, die sich wie ein Wollmantel um meinen Körper schmiegt. Der Geruch von Lavendeltee dringt von irgendwoher an meine Nase, kleine Sprossenfenster werfen ihr herbstgraues Licht in unzähligen Vierecken an die beigefarbenen Wände. An dem Empfangstresen sitzt eine zierliche Frau mit dichtem, schwarzem Haar, das ihr gerade so bis zum Kinn reicht. Ihre dunklen Augen mustern mich und die hohen Wangenknochen, um die ich sie sofort beneide, werden von einem freundlichen Lächeln untermalt.

»Hallo, Liebes. Kann ich dir helfen?«, fragt sie.

»Ja, hi! Ich bin Praktikum! Also, nein, ich meine, deshalb bin ich hier«, korrigiere ich mich schnell, fange dann aber doch lieber noch einmal ganz von vorne an.

So viel dazu.

»Tut mir leid, ich bin wohl ein wenig nervös … Mein Name ist Katherine Mason, ich bin wegen des Praktikums hier.«

Wenn mein Versprecher sie amüsiert hat, lässt sie es sich zumindest nicht anmerken. Stattdessen steht sie auf und reicht mir ihre Hand. »Katherine, wie schön! Freut mich, dich kennenzulernen. Hast du gut hergefunden?«

»Ja, Ma’am.« Ich nicke. »Mit dem Fahrrad sind es nur ein paar Minuten von der Uni.«

»Du meine Güte, Ma’am?« Die Frau lacht. »Bitte, nenn mich doch Betty. Sonst komme ich mir alt vor.« Sie umrundet den Tresen und deutet auf die Garderobe an der Wand. »Du kannst deine Sachen dort ablegen. Ich führe dich ein bisschen herum.«

»In Ordnung.« Wie befohlen hänge ich meine Regenjacke auf und stelle meine Tasche auf der Ablage ab. Mein Handy stecke ich mir vorsichtshalber in die Hosentasche.

»Dann komm mal mit.« Mit einer Kopfbewegung bedeutet Betty mir, ihr in den hinteren Teil des Gebäudes zu folgen. Sie zeigt mir ein paar der Therapiezimmer, in denen Einzel- und Gruppensitzungen abgehalten werden, und klärt mich gleichzeitig über meine Aufgaben und die verschiedenen Bereiche auf, die ich in meinen zwei Wochen durchlaufen werde. Zudem lehrt sie mich den Umgang mit der kompliziert aussehenden Kaffeemaschine im Aufenthaltsraum, die während meiner Zeit hier vermutlich meine beste Freundin werden wird.

»Selbstverständlich steht es dir frei, sie in deiner Pause zu benutzen. Dein Mittagessen wirst du dir allerdings mitbringen oder organisieren müssen. So gern wir auch eine Kantine für die Mitarbeiterinnen hätten, reichen unsere Kapazitäten dafür derzeit leider nicht aus«, sagt Betty.

»Wie viele Menschen arbeiten denn hier?«, frage ich und blicke mich um. Auch die Wände des Aufenthaltsraums sind in Cremetönen gehalten. Zusammen mit den gemusterten Sitzbezügen und den bunten Bildern verleihen sie allen Zimmern etwas Behagliches. Überhaupt sieht es hier ganz anders aus, als ich erwartet habe. Nicht so nüchtern und steril, wie man es aus Krankenhäusern gewohnt ist.

»Hier im Hauptbüro?« Betty überlegt einen Moment. »Wenn ich mich nicht irre, sind es zurzeit zehn Therapeutinnen, sechs Sozialarbeiterinnen und sechs Damen in der Verwaltung. Es kommen aber noch eine Menge freiwillige Helferinnen dazu, die beispielsweise Öffentlichkeitsarbeit betreiben oder Bildungsprogramme in der Gemeinde anbieten.«

Ich runzle die Stirn. »Öffentlichkeitsarbeit? Was kann ich mir darunter vorstellen?«

»Nun ja, der beste Weg, um bedürftige Frauen zu erreichen, besteht darin, dort präsent zu sein, wo sie leben, arbeiten und sich am wohlsten fühlen. Unser Outreach-Team ist demnach auf einer Vielzahl von Events in und um Virginia vertreten, um auf unsere Organisation aufmerksam zu machen«, erklärt sie und schüttelt unterdessen die Kissen auf dem Sofa aus. »Viele wissen nicht, dass es uns gibt. Das wollen wir ändern.«

»Und die Frauen, die herkommen, müssen wirklich nichts zahlen?« Vermutlich ist mir meine Skepsis anzuhören, denn Betty schmunzelt.

»Unsere Klientinnen zahlen das, was sie aufbringen können. Die einen mehr, die anderen weniger. Wir möchten, dass alle Frauen freien Zugang zu unserer Versorgung haben, egal ob versichert oder nicht. Das ist unser Grundsatz. Niemand, der den Mut aufbringt, nach Hilfe zu fragen, sollte abgewiesen werden.«

»Und das funktioniert?«

Sie seufzt. »Natürlich kann es hin und wieder mal zu Wartezeiten und Engpässen kommen, aber wir tun unser Bestes, um das zu vermeiden.« Sie legt mir ihre Hände auf die Schultern und schiebt mich sanft aus dem Aufenthaltsraum. »Lass uns weitergehen, ich habe dir noch nicht alles gezeigt.«

Betty führt mich den Flur hinunter und öffnet die Tür zu einem leer stehenden Raum, der größer und heller ist als die Vorherigen.

»An bestimmten Tagen im Monat bieten wir neben einer Vielzahl von anderen Angeboten Tanz- und Yogakurse an. Du solltest unbedingt mal einen mitmachen, es bringt wirklich Spaß.«

»Oh, ich habe gerade vor Kurzem erst wieder feststellen müssen, dass mir Tanzen absolut nicht liegt«, antworte ich und lache.

Meine Wangen glühen, wenn ich daran denke, wie Carter und ich in der Abenddämmerung miteinander getanzt haben und wie er mich im Anschluss damit aufgezogen hat, dass ich ihm andauernd auf die Füße getreten bin. Nein, danke.

»Vielleicht änderst du deine Meinung ja noch.« Betty zwinkert mir aufmunternd zu. »Aber heute habe ich ohnehin erst mal was anderes mit dir vor.«

Wir wechseln in das Zimmer nebenan, offenbar eine Art künstlerische Werkstatt. Zumindest entdecke ich Berge an verschiedenfarbigem Tonpapier, Scheren, Gläser und Pinsel. An der rechten Wand lehnen Staffeleien und gegenüber steht ein Regal mit Farben.

»Lassen Sie mich raten.« Ich stelle mich in die Mitte des Raumes und atme den Duft von Holz und Lehm ein. »Kunsttherapie?«

»Korrekt.« Betty lächelt, strotzend vor Stolz. »Der Kunstkurs ist besonders beliebt bei uns. Das Malen hilft vielen Menschen dabei, zur Ruhe zu kommen. Sie können ihr Innerstes nach außen kehren und ihr Leiden in etwas anderes als Worte verpacken.«

Sie beginnt damit, die ersten Staffeleien aufzustellen, weshalb ich mir ein Beispiel daran nehme. Währenddessen erzählt sie weiter: »Die Klientinnen lernen, ihren Stress abzubauen und ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, indem sie sich ausprobieren. Schließlich ist das Malen ein Prozess, der veränderbar ist. Sie können tun und lassen, was sie wollen. Und in genau dieser Entwicklung liegt der Reiz.«

Ich nehme ihr das nächste Gestell ab und klappe es auf, wobei ich mir beinahe eine der Stützen an den Kopf geknallt hätte. »Werden die Bilder danach besprochen?«

»Ja.« Betty nickt. »In den meisten Fällen ist die Überraschung in den Gesprächen groß, weil die Klientinnen viel mehr beschäftigt, als sie denken. Wenn ich die Bilder mit ihnen durchspreche, kommen oftmals Dinge ans Licht, von denen sie dachten, sie hätten sie längst verarbeitet. Ihre Bilder werden so gesehen zum Spiegel ihrer Seele.«

»Hm.« Gedankenverloren streiche ich über das glatte Holz der Staffelei. »Ich habe schon lange nicht mehr gemalt.« Vielleicht sollte ich das mal ändern.

Ein Grinsen schleicht sich auf ihre Lippen. »Dann habe ich mir für deinen ersten Tag ja genau das Richtige überlegt.«

»Und das wäre?« Fragend lege ich den Kopf schief.

»Nun, in den nächsten Minuten dürften die ersten Kursteilnehmerinnen eintreffen. Ich hätte dich gern dabei, Katherine.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust und mustert mich aufmerksam. »Du könntest es auch mal probieren, damit du ein Gefühl für das bekommst, was unsere Klientinnen hier machen. Und am Ende der Stunde besprechen wir die Bilder dann gemeinsam. Was sagst du dazu?«

Was soll man dazu schon großartig sagen? Meinen ersten Arbeitstag verbringe ich damit, ein Bild zu malen.

Ich lächle. »Bin dabei.«

»Freut mich.« Bettys Augen strahlen. »Such dir doch schon mal einen Platz und sammle dir zusammen, was du brauchst. Sobald die anderen da sind, fangen wir an.«

 

Eine halbe Stunde später sitze ich, umringt von Frauen verschiedenster Herkunft, vor einer leeren weißen Leinwand. Während alle zu ihren Pinseln greifen und binnen weniger Minuten ein halbes Kunstwerk zustande bringen, kaue ich unschlüssig auf meiner Unterlippe herum und denke nach. Neben mir liegt zwar eine vorbereitete Mischpalette, doch weiß ich nicht, wo und wie ich anfangen soll. Irgendwie habe ich mir diesen Part leichter vorgestellt.

Als Betty hinter mir auftaucht und mit der Zunge schnalzt, zucke ich ertappt zusammen. »Du denkst zu viel nach, Katherine.«

Ja, das höre ich nicht zum ersten Mal.

»Nimm deinen Pinsel in die Hand und mal einfach drauf los. Es ist nicht wichtig, was du malst, sondern dass du malst. Du musst jetzt noch nicht wissen, wo du hinwillst. Deine Hand wird dir den Weg weisen, glaub mir.« Sie drückt ermutigend meine Schulter und wandert zu der jungen Frau neben mir weiter, die ihre Leinwand derweil mit grünen Farbklecksen verziert.

Einfach drauf los. Na gut. Ich taste nach meinem Pinsel, tauche ihn in die frische Farbe und male ein paar Linien, die schon bald darauf in ein buntes Chaos ausarten, das keinerlei Struktur mehr enthält. Beinahe energisch verteile ich mit meiner Pinselspitze ein paar rote Punkte, ehe ich dazu übergehe, Zeige- und Ringfinger in schwarze Farbe zu tunken und meinem knalligen Kunstwerk einen Dämpfer zu verpassen. Die fröhlichen Farben vermischen sich unter meinen Fingern mit dem impulsiven Rot und dem tristen Schwarz, das auf einmal viel mehr Platz auf meinem Bild einnimmt, als ich beabsichtigt habe. Irgendwie neige ich immer dazu, alles zu versauen. Ich seufze.

Vierzig Minuten sind vergangen, als ich mich zurücklehne und mein Endresultat betrachte, das eher das Werk eines Kleinkindes darstellen könnte. Was will man als Therapeutin in all diesem Gekritzel erkennen? Ich weiß selbst nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Kopfschüttelnd wende ich mich zum Waschbecken, um meine Hände von den getrockneten Farbresten zu befreien.

»Ich sehe, du bist fertig?« Betty taucht in meinem Augenwinkel auf und wirft einen flüchtigen Blick auf meine Arbeit.

»Schätze schon?«

»Super, die anderen sind auch so weit. Dann können wir ja mit den ersten Besprechungen loslegen«, sagt sie. »Ich schlage vor, wir fangen bei Ruby an und gehen dann gehen der Reihe nach.« Ich erkläre mich einverstanden und hefte mich wie ein Schatten an ihre Fersen.

Nachdem sie mich als Praktikantin vorgestellt und sich versichert hat, dass es für alle Beteiligten in Ordnung ist, dass ich den Gesprächen beiwohne, beginnen wir mit dem ersten Bild. Zunächst interpretieren sowohl Betty als auch die anderen Kursteilnehmerinnen, was sie in diesem Werk sehen, und auch ich werde gefragt. Anschließend berichtet die Klientin selbst von ihrer Herangehensweise beim Malen, ihren Gefühlen dabei, ehe sie näher auf einzelne Aspekte wie Formen und Farben eingeht. Es ist spannend zu hören, wie oft sich ihr Motiv in den vergangenen vierzig Minuten verändert hat, bis sie damit zufrieden war. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass sich so viel von dem, was sie in ihrer Vergangenheit erlebt hat, auf ihrem Werk wiederfinden würde. Hass, Unterdrückung, Selbstzweifel – all ihre Erinnerungen verpackt in bloße Pinselstriche.

Am Ende des Kurses lässt sich nicht beschreiben, wie ich mich fühle. Auf der einen Seite haben die vielen Leidensgeschichten dafür gesorgt, dass ich eine seltsame Last auf meinen Schultern verspüre. Auf der anderen Seite habe ich mich von dem eisernen Lebensmut der Frauen anstecken lassen. Sie alle sind hier, weil sie etwas bedrückt. Hauptsächlich jedoch, weil sie damit abschließen wollen. Und das ist das, was zählt.

»Sieht aus, als wäre dein Dienst damit für heute getan, Katherine.« Betty stemmt die Hände in die Hüften und wirkt sichtlich zufrieden. »Als Einstieg sollte das genügen.«

»Vielen Dank, dass ich dabei sein durfte«, sage ich. »Es hat wirklich Spaß gemacht.« Und das ist nicht einmal gelogen. Wenn die kommenden zwei Wochen ähnlich spannend verlaufen wie der heutige Tag, werde ich mit Psychologie im Schwerpunkt vielleicht die richtige Entscheidung treffen.

»Das ist schön zu hören! Bist du mit deinem Bild zufrieden?« Sie stellt sich vor meine Leinwand und beäugt sie neugierig.

»Ich habe nur ein bisschen vor mich hingemalt.« Ich puste mir eine Strähne aus der Stirn und winke ab. »Nichts Besonderes.«

»Hmm. Auf deinem Bild passiert sehr viel.« Sie verfällt eine Weile ins Schweigen, ohne ihren Blick von der Leinwand zu lösen, die ich mittlerweile am liebsten nehmen und aus dem Fenster werfen würde. »Du bist aufgewühlt.«

»Ach ja?« Mit großen Augen blinzle ich sie an, als hätte sie mir soeben die Maske, unter der ich mich die vergangenen Stunden über versteckt habe, mit einer einzigen flinken Bewegung vom Gesicht gerissen.

Betty nickt. »Aber nicht nur das. Was auch immer dich beschäftigt, es hindert dich daran, auszubrechen. Siehst du das?« Sie zeigt auf die schwarze Farbe, die bei näherer Betrachtung aussieht wie die fiesen Klauen eines Raubvogels. »Das da hält alles Schöne, all das, nach dem du dich offensichtlich sehnst, fest im Griff …« Ihr Finger wandert zu den roten Punkten weiter. »Und dort vermischt es sich dann mit deiner Wut.«

Ich räuspere mich und gebe die wohl qualifizierteste Antwort von mir zum Besten: »Wow. Das ist … das ist … interessant. Danke für die … äh, Einschätzung?«

Betty wendet sich nun wieder mir zu und sieht mir tief in die Augen. »Du solltest dir erlauben, glücklich zu sein, Katherine.«

»Ich, ähm, werd’s beherzigen«, murmele ich.

»Dann sehen wir uns morgen?« Ihre ernste Miene lichtet sich, als sie lächelt.

»Ja. Bis morgen.« Ich hebe meine Hand zum Abschied und verlasse im Anschluss mitsamt meiner Regenjacke und meinem Rucksack das Gebäude.

 

Pünktlich zum Arbeitsende schüttet es draußen wie aus Kübeln, weshalb ich mir mit einem Seufzen das Haar zurückbinde und die Kapuze meiner Regenjacke aufsetze.

Kaum bin ich ein paar Meter geradelt, habe ich die Kunststunde hinter mir gelassen und bin wieder in meinen Alltagstrott aus Vorlesungen, Klausuren und Carter verfallen.

Wäre ich nicht so enttäuscht von ihm, könnte man fast meinen, dass ich ihn vermisse. Ihn und sein freches Grinsen, das Funkeln in seinen Augen, sogar sein viel zu großes Mundwerk, das mich permanent rot werden lässt.

Ob es ihm genauso geht? Blödsinn. Ich verwerfe den Gedanken zügig wieder. Der hat seinen Trost mit Sicherheit bei irgendwem gefunden. Oder in irgendwem.

Schnaufend lege ich noch einen Zahn zu, sodass ich meine zwölf Minuten von heute Vormittag um sage und schreibe zweiunddreißig Sekunden unterbiete.

Ich stelle Vics Fahrrad ordnungsgemäß zurück und laufe über den Campus, um rechtzeitig in meinen Geschichtskurs zu kommen, auf den ich in etwa so viel Lust verspüre wie auf einen Zahnarzttermin – nicht zuletzt, weil es schon kurz nach vier ist. Der Regenguss hat deutlich nachgelassen, trotzdem suchen die meisten Studierenden Schutz unter den überdachten Kolonnaden. Müsste ich mich nicht beeilen, zum Südflügel zu kommen, würde ich vermutlich dasselbe tun. Stattdessen eile ich quer über die Rasenfläche und versuche dabei, nicht in den Pfützen auszurutschen.