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Wer nicht wagt, wird auch nie lieben
Für ihren Neustart in Boston will Laurel ihre Vergangenheit hinter sich lassen und sich ganz auf ihre Karriere konzentrieren. Voller Elan stürzt sie sich in die Arbeit als Anwältin bei »Gold, Bright & Partners«. Als ihr ein neuer Mentor zugewiesen wird, gerät dieser Vorsatz plötzlich ins Wanken. Aaron Bates ist das Wunderkind der Kanzlei, jüngster Juniorpartner und zudem unbestreitbar attraktiv. Zunächst hält Laurel ihn für das Klischee des arroganten Anwalts, aber als sie einen Blick hinter seine Fassade wirft, entdeckt sie so viel mehr - und bisher ungeahnte Gefühle. Doch Aaron ist ihr Boss und eine Beziehung mit ihm strengstens verboten ...
»Mit ihrer Wortmagie schafft Tess wieder das schönste Herz- und Gedankenkribbeln. Kaum etwas hat je so tiefe Gefühle in mir ausgelöst wie die Geschichte von Laurel und Aaron.« CHAPTERSOFDECEMBER
Band 2 der GOLD, BRIGHT & PARTNERS-Reihe
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Seitenzahl: 722
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Leser:innenhinweis
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Epilog
Nachwort
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Tess Tjagvad bei LYX
Impressum
TESS TJAGVAD
In Case We Dare
GOLD, BRIGHT & PARTNERS
Roman
Die Vergangenheit endlich hinter sich lassen und einen Neustart wagen – Laurel Bennett erhofft sich genau das von ihrem Job als Associate bei Gold, Bright & Partners, einer der erfolgreichsten Kanzleien Bostons. Die ehrgeizige Anwältin wollte schon immer denen eine Stimme geben, die nicht gehört werden. Nur nimmt der Seniorpartner, dem sie unterstellt ist, sie überhaupt nicht ernst. Alles ändert sich, als ihr plötzlich ein neuer Mentor zugeteilt wird: Aaron Bates, jüngster Juniorpartner und Wunderkind der Kanzlei. Leider ist Aaron ebenso arrogant wie gut aussehend und raubt Laurel schnell den letzten Nerv. Aber als es ihr bei den gemeinsamen Recherchen zu einem Mordfall gelingt, einen Blick hinter seine Fassade zu werfen, entdeckt sie so viel mehr in ihm. Schon bald fällt es den beiden immer schwerer, der starken Anziehung zwischen ihnen zu widerstehen. Doch Aaron ist Laurels Boss, und Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Associates sind strengstens verboten. Wagen sie es dennoch, alles aufs Spiel zu setzen, für das sie so hart gearbeitet haben?
Für meine Schwestern.
Im Herzen immer ganz.
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung:
Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Tess und euer LYX-Verlag
Rumour Has It – Adele
Man’s World – MARINA
Clouds – BØRNS
Meet Cute – Matilda Mann
Mercy – Duffy
Too Sweet – Hozier
Moves – Suki Waterhouse
1 step forward, 3 steps back – Olivia Rodrigo
Alone with You – The Brummies
Darlin’ – Houndmouth
Norman Fucking Rockwell! – Lana Del Rey
no body, no crime – Taylor Swift (feat. HAIM)
Casual – Chappell Roan
Dive – Holly Humberstone
Partners in Crime – FINNEAS
Tell Me That I’m Wrong – Matilda Mann
Loving You Will Be The Death Of Me – Tom Odell
Baby Behave – FIL BO RIVA
Make Me Blue – Victoria Bigelow
Cue – Delacey
Scarlett (Garden Version) – Holly Humberstone
Moral of the Story – Ashe
Bye-bye Darling – BØRNS
Theory of Emotion – Del Water Gap
Meet Me in the Hallway – Harry Styles
Was willst du später mal werden, wenn du groß bist?
Als Kind war es eine belanglose Frage gewesen, die du mit ebenso belanglosen Worten abgetan hattest: Superheld, Astronaut, Geheimagent.
Doch je älter du wurdest, desto mehr Bedeutungsschwere schien dieser Frage anzuhaften. Du fingst an, länger und länger über die richtige Antwort nachzudenken, bis irgendwann der Moment gekommen war, in dem du dich entscheiden musstest, ob du in der Ahnungslosigkeit verharren oder den Absprung wagen wolltest.
Nachdem mein Traum vom Superheldendasein geplatzt war, um etwas Realistischerem zu weichen, hatte ich mir ein Beispiel an Alan Shore aus Boston Legal nehmen und Strafverteidiger werden wollen – zumindest behauptete meine Mutter das. Sie behauptete auch, mein Mund wäre damals schon zu groß für mein Gesicht gewesen und keinem wäre es je gelungen, meinen Durst nach dem ewigen Warum zu stillen, das ich in nahezu allem gesucht hätte.
So jemand musste quasi Anwalt werden.
Das Problem an der ganzen Sache war nur, dass dir als Kind niemand sagte, was mit einem solchen Job alles einherging. Sicher, da waren die schicken Maßanzüge, der teure Wagen, das geräumige Stadthaus oder das volle Konto – was schön und nett war und definitiv nichts, über das ich mich beschwert hätte. Allerdings gab es auf der anderen Seite auch eine Menge Verantwortung. Stress. Schlafmangel. Dauerhafte Erreichbarkeit. Ungesunde Koffeinabhängigkeit.
Hatte ich schon Stress erwähnt? Ich könnte ewig so weitermachen.
Das sollte nicht bedeuten, dass ich meinen Job nicht mochte, im Gegenteil. Ich liebte meinen Job, und ich war gut darin. Nur musste ich zugeben, dass meine Liebe in den vergangenen Jahren ein ungesundes Ausmaß angenommen hatte. Es hätte lediglich noch gefehlt, zum Schlafen nicht mehr nach Hause zu fahren, sondern mein Nachtlager direkt in meinem Büro aufzuschlagen. Bis eines Abends dieser Anruf gekommen war.
Plötzlich war ich nicht nur gezwungen gewesen, kürzerzutreten, ich hatte gleich einen ganzen Sprung rückwärts gemacht. Und wenn man das erst mal getan hatte, erhielt man einen überraschend guten Blickwinkel auf sein Leben und stellte möglicherweise fest, wie sehr es einem maroden Gebäude glich, dessen Fassade an vielen Stellen längst zu bröckeln drohte, ohne dass man es bemerkt hätte. Oder – in meinem Fall – nicht hatte merken wollen.
Die vergangenen sieben Monate über hatte ich demnach öfter mal zum Spachtel statt zum Diensthandy gegriffen, was keine leichte Aufgabe gewesen war. Die ersten Tage hatte ich wie gegen eine seltsame Sucht ankämpfen müssen, meine Anrufe und Mails zu überprüfen, aber irgendwann war ich besser darin geworden, das Handy ab einer gewissen Uhrzeit ausgeschaltet zu lassen. Und ich hätte nicht gedacht, dass es sich so befreiend anfühlen würde, mal nicht rund um die Uhr für jeden erreichbar sein zu müssen.
Selbstverständlich war ich nicht wortlos untergetaucht. Ich hatte alles mit der Geschäftsführung abgeklärt, sämtliche Überstunden eingelöst und einen Teil meiner Mandate in die vorübergehende Obhut meiner Kollegenschaft gegeben, die mich dafür vermutlich verfluchte. Den restlichen Teil hatte ich weiterhin vertreten, sofern es Fälle gewesen waren, die ich niemand anderem hatte anvertrauen wollen. Und dennoch schien bis heute nicht jeder aus der Kanzlei etwas von meiner Abwesenheit mitbekommen zu haben, wenn ich mir ansah, wie viele Mails täglich in mein Postfach flatterten.
Zu schade, dass ich mich ab heute wieder damit beschäftigen musste. Schon bei dem bloßen Gedanken daran verspürte ich diesen altvertrauten Druck auf meiner Brust, der mit der Zeit zu einem lästigen Accessoire geworden war, das ich wie meine Aktentasche mit mir herumtrug.
Nachdem ich am Tresen eines Cafés nahe der Kanzlei meine Bestellung aufgegeben hatte, sortierte ich einen Teil dieser Nachrichten in kann warten, kannnicht warten und kann mich mal. Zur letzten Kategorie gehörten vor allem Einladungen zu Workshops, die meistens irgendein Verhandlungstraining beinhalteten, das ich schon als Anfänger nie hatte leiden können, oder zu öden Networking-Nights – wie der heute Abend. Als ich nach der zwanzigsten Mail meinen Kaffee noch immer nicht erhalten hatte, hob ich den Kopf und verzog angesichts der nicht kürzer werdenden Schlange vor mir den Mund. Es mochte durchaus ein paar Dinge geben, mit denen ich in meinem Leben gesegnet worden war, aber Geduld hatte noch nie dazugehört.
Mit einem demonstrativen Seufzen warf ich einen Blick auf meine silberne Armbanduhr, die sich stetig der Neun näherte. Es war nicht so, als würde von mir erwartet werden, um Punkt neun Uhr im Büro zu sein, doch in Anbetracht der Tatsache, dass es der erste Arbeitstag nach meiner großzügigen Pause war, wollte ich meine Privilegien nicht zu stark ausreizen. Es gab ohnehin schon genügend Leute, die sich über meine Freiheiten echauffierten, weil sie der Meinung waren, Natalie Gold würde mir nur wegen meines Status als Mandantschaftsliebling so viel durchgehen lassen.
Ich fühlte mich gleichermaßen geschmeichelt wie beleidigt. Immerhin war auch mir als Juniorpartner daran gelegen, etwas zum Erfolg der Kanzlei beizusteuern, indem ich einen guten Job machte. Dass ich es mehr draufhatte als manch andere, die schon seit vielen Jahren bei Gold, Bright & Partners arbeiteten, war nicht mein Problem.
Ich wollte gerade in bemüht höflichem Tonfall fragen, ob es noch länger dauerte, als die Barista meinen Namen aufrief und mir mit einem breiten Lächeln meine Bestellung über den Tresen zuschob. Ich griff nach den zwei dampfenden Bechern und der Papiertüte und verließ den Laden, der in den vergangenen Minuten noch voller geworden war.
Der Frühling hatte seine Fühler ausgestreckt, und erste Narzissen und Schneeglöckchen reckten ihre Köpfe dem grauen Himmel entgegen, um einen tiefen Atemzug zu nehmen. Ihr süßlicher Geruch hing träge in der von Regen geschwängerten Luft, deren feinste Tröpfchen mein Gesicht wie ein hauchdünner Schleier benetzten. Ich schlängelte mich zwischen den an der roten Ampel stehenden Autos vorbei auf die andere Straßenseite der Congress Street. Vereinzelte Sonnenstrahlen, die es durch die dichte Wolkendecke schafften, blitzten in den Glasfassaden der imposanten Hochhäuser auf, die wie Unkraut zwischen den älteren Backsteinbauten aus dem Boden schossen. Die Bäume der bepflanzten Verkehrsinseln waren noch nackt, aber der gelbe Winterjasmin hatte sich bereits über ein paar schwarze Eisenzäune des kleinen Parks gegenüber vom Café hergemacht.
Da ich in Beacon Hill wohnte, das gerade mal eine knappe Meile von der Kanzlei entfernt lag, war ich schon vor meiner Auszeit nahezu jeden Morgen zu Fuß gekommen, sofern es das Wetter zugelassen hatte. Das sparte Sprit und eine Menge Nerven. Obendrein brachte es mir ein paar zusätzliche Schritte ein, die ich für gewöhnlich nur zwischen meinem Schreibtisch und Außenterminen sammelte. Heute Morgen hatte ich sogar für einen kurzen Moment mit dem Gedanken gespielt, den Weg zu joggen und vor der Arbeit noch ein, zwei Stunden im angrenzenden Fitnessstudio zu trainieren. Allerdings sollte ich es wohl lieber etwas langsamer angehen lassen.
An meinem heißen Kaffee nippend schlenderte ich die Straße weiter hinunter, bis das Kanzleigebäude vor mir aufragte. Es war ein in die Jahre gekommener vierstöckiger Backsteinbau im föderalistischen Stil, der im zwanzigsten Jahrhundert noch der Verwaltung der Bostoner Feuerwehr angehört hatte, bis er mit viel Liebe zum Detail restauriert worden war. So schmückten jetzt kunstvoll verzierte Friesleisten und Fenstersimse aus sandfarbenem Stein das Gesicht des Gebäudes, in das eckige Sprossenfenster mit weißen Metallrahmen eingelassen waren. Pilaster formten den großen Rundbogeneingang mit der alten Flügeltür, die das Portal bildete, durch das man in die Eingangshalle gelangte.
Keine Frage, Gold, Bright & Partners war eine prestigevolle Kanzlei, genau genommen eine der renommiertesten Bostons. Nicht umsonst hatte für mich schon während meines Studiums in Harvard festgestanden, dass ich eines Tages hier arbeiten wollen würde. Die Strafrechtsabteilung war zwar nicht so groß wie die Zivilrechtsabteilung, bot dafür jedoch weniger Konkurrenz, die einem den Aufstieg erschwerte.
Das war für mich von Vorteil, denn meine nächste Etappe sah vor, mir eigene Anteile an der Kanzlei zu sichern. Und ich stand so kurz davor, dass ich zu allem bereit war, um diese auch zu erreichen.
Ich zog die schwere Tür aus Massivholz auf und betrat die Eingangshalle mit dem Empfangsbereich, auf dessen smaragdgrünem Marmorboden meine Schritte widerhallten.
Hinter dem Empfangstresen saß Yuki Matayoshi, der nicht nur unser Rezeptionist, sondern auch einer meiner engsten Freunde war. Er trug wie üblich einen Anzug aus feinstem Kaschmir, der im Licht der Deckenlampen beinahe denselben schwarzbläulichen Ton besaß wie sein Haar.
Kaum hatte er den Blick gehoben, breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus. »Heilige Scheiße, ich glaub’s ja nicht. Ist er es wirklich?«
Ich blieb vor ihm stehen und salutierte schludrig mit einem der Becher in meiner Hand. »Der Mann, der Mythos, die Legende.«
Yuki umrundete den Tresen und zog mich zur Begrüßung so überschwänglich an seine Brust, dass ich fast den Kaffee fallen ließ. »Verdammt, was ist mit dir passiert?« Er drückte sichtlich überrascht auf meinem Bizeps herum. »Sind das … Muskeln?«
Es gelang mir nicht, mein Schmunzeln zu unterdrücken, weil ich bereits damit gerechnet hatte, dass er das nicht unkommentiert lassen würde. »Kraft- und Ausdauertraining.«
Und eine Menge Zeit, um einige Gewohnheiten zu überdenken.
»Verehrte Herren, wären Sie wohl so freundlich, Ihre Lautstärke zu senken?«, fragte unsere Empfangsdame Irene, die eine Hand über den Telefonhörer gelegt hatte und uns über den Rand ihrer Brille hinweg verärgert ansah. Mir fiel auf, dass ihre weißblonden Strähnen im Vergleich zum letzten Mal an Länge verloren hatten.
»Guten Morgen, Irene. Schön, Sie wiederzusehen.« Ich zwinkerte ihr verstohlen zu. »Waren Sie beim Friseur? Der neue Schnitt steht Ihnen ausgezeichnet.«
Ihr strenger Ausdruck wurde etwas weicher, als sich ein Hauch von Röte auf ihre eingefallenen Wangen legte. »Ach, hören Sie doch auf.« Sie winkte meine Schmeichelei ab und drehte mir schnell den Rücken zu, um sich wieder dem Telefon zu widmen.
Zeitgleich stieß Yuki mich an und sprach mit gedämpfter Stimme weiter. »Erzähl schon, wie geht’s dir?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Gut, denke ich.« Besser.
Sichtbare Besorgnis grub sich in die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen. »Und deinen Eltern?«
Bei der Erwähnung meiner Eltern verspürte ich einen kurzen Stich in der Magengegend. »Sie schlagen sich so durch … Was ist mit dir?«, erkundigte ich mich, um zügig von meiner Familie und mir abzulenken. »Hab ich irgendwas verpasst?«
Yuki war das Auge und Ohr der Kanzlei. Er schien immer ganz genau zu wissen, was hinter verschlossenen Türen vor sich ging, ohne dass ich mir erklären konnte, woher. Womöglich lag es an seinen vielen Kontakten, vielleicht auch an seinem offenen Wesen, das Menschen dazu bewegte, sich ihm anzuvertrauen, weil sie sich in seiner Gegenwart wohlfühlten. So war es mir jedenfalls ergangen, als ich auf einer Kanzleiveranstaltung das erste Mal mit ihm ins Gespräch gekommen war. Gut möglich, dass der dort ausgeschenkte Alkohol ebenfalls einen Teil dazu beigetragen und Einfluss auf die Entwicklung unserer Freundschaft genommen hatte.
Yuki ließ sich mit einem Ächzen zurück auf seinen Stuhl fallen und fuhr sich dabei durchs Haar, um zu überprüfen, ob es noch an Ort und Stelle saß. (Tat es immer.) »Wie viel Zeit hast du?«
»Genau genommen gerade genug, um dir das hier zu geben.« Ich stellte einen der Kaffeebecher vor ihm auf dem Tresen ab, ebenso die Papiertüte, in der sich ein belegter Bagel befand.
Es war zu einer Art Tradition geworden, dass ich ihm morgens sein Frühstück mitbrachte, sofern meine Zeit es zuließ. Seit Yuki hier arbeitete – also in gut fünf Jahren –, hatte ich es kein einziges Mal erlebt, dass der Typ vor der Arbeit etwas zu sich genommen hatte.
Er warf einen Blick in die Tüte und begutachtete den Bagel. »Ich fürchte, du wurdest als Frühstückskurier abgelöst.«
»Was? Von wem?«, fragte ich empört.
Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, bei dem sich zwei Grübchen wie Pfeilspitzen in seine Wangen bohrten. »Eine der neuen Anfängerinnen. Recht groß, kinnlanges schwarzes Haar, grüne Augen. Ich glaube, ihr Name ist Cassidy. Aber hey, ich schätze deine Bemühungen trotzdem. Und dein Geld auch.«
Meine Brauen schossen in die Höhe. »Du flirtest mit den Associates?«
»Du flirtest mit Irene.«
»Für ihre sechzig hat sie sich auch gut gehalten.«
Er gab ein Lachen von sich, das klang wie: »Merkst du selbst, oder?«
»Also gut.« Ich klopfte auf den Tresen und machte ein paar Schritte rückwärts in Richtung des Torbogens, der in die Lobby führte. »Wir reden wann anders, okay? Wie wär’s mit Mittagessen? Um eins?«
Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Hast du dich schon jemals an eine unserer Verabredungen gehalten?«
»Dieses Mal bekomme ich’s hin!«
Yuki winkte mein Versprechen achtlos ab. »Jaja. Sicher.«
Grinsend stieg ich die zwei flachen Treppenstufen hinunter und schlenderte durch die Lobby, die wie eine Empore mit Lichtkuppeldach aufgebaut war, durch das ein gleißend heller Sonnenstrahl ins Innere fiel. Sie galt als das grüne Herz der Kanzlei, da sich neben den Strelitzien und Palmen in den goldenen Töpfen zwischen den Sitzecken auch eine Vielzahl großblättriger Kletterpflanzen darin wiederfand. Ihre grünen Arme wickelten sich meterhoch um die dicken Holzsäulen und Balustraden. Zwei breite Treppen, die mit Teppich ausgelegt waren, führten rechts und links auf die Laufgänge im ersten Obergeschoss, in dem sich die Zivilrechtsabteilung befand. Anders als die Strafrechtsabteilung, die bloß die dritte Etage für sich beanspruchte, erstreckte sie sich über zwei Stockwerke.
Ich hätte den Fahrstuhl nehmen können, allerdings hatte ich zum einen das Gefühl, mich mit einem kleinen Rundgang erst mal wieder an alles gewöhnen zu müssen, zum anderen war ich neugierig darauf, ob sich während meiner Abwesenheit irgendetwas verändert hatte. Was nicht der Fall war. Lediglich das eine oder andere neue Gesicht begegnete mir auf dem Weg zu den kleineren Nebentreppen, die in die höheren Geschosse führten. Und obwohl ich sie zum ersten Mal in meinem Leben sah, grüßten mich einige von ihnen. Ebenso all die mir bekannten Kolleginnen und Kollegen, von denen mir ein paar im Vorbeigehen auf den Rücken klopften.
»Schön, dass du wieder da bist.«
»Alles klar bei dir? Ich dachte, du hättest das Handtuch geworfen.«
»Wo bist du gewesen? Man hat gemunkelt, du wärst suspendiert worden.«
Es überraschte mich nicht, solche Dinge zu hören. Ich wusste, dass sich Gerüchte in diesen schmalen Gängen wie Lauffeuer verbreiteten und noch größere Flammen schlugen, je mehr Öl von allen Seiten hineingegossen wurde. Und dennoch musste ich zugeben, dass mich die Vorstellung amüsierte, die Leute könnten tatsächlich glauben, eine Suspendierung würde hinter meinem Ausfall stecken. Hättet ihr wohl gern.
Ich durchquerte den Flur auf der dritten Etage und bog durch den Holztürrahmen in das Vorzimmer meines Büros, in dem mein Assistent bereits an seinem Laptop saß. Der Raum gab nicht viel Platz her und besaß kein Tageslicht, sofern meine Flügeltür geschlossen war. Dafür war er jedoch geschmackvoll eingerichtet: Die halb vertäfelten Wände waren smaragdgrün tapeziert, die schweren Möbel aus edlem Mahagoniholz mit aufwendigen Schnitzereien verziert. Den Mittelpunkt des Raumes bildete ein mehrarmiger Kronleuchter aus goldenem Messing zusammen mit einem burgunderroten Orientteppich.
Kaum hatte ich einen Fuß hineingesetzt, sprang mein Assistent auf, die Arme dabei so fest an seinen schlaksigen Körper gepresst, dass er als Hochspannungsmast durchgegangen wäre. Matthew Brooks war dreiundzwanzig und in etwa so unscheinbar wie ein Schatten. Er arbeitete für mich, seit ich vor knapp anderthalb Jahren zum Juniorpartner ernannt worden war. Man konnte nicht sagen, dass er schlecht in seinem Job war, um Gottes willen, er war mir nur zu … bemüht. Zu bemüht, alles richtig zu machen, mir jeden Wunsch von den Lippen abzulesen – schlichtweg einfach zu bemüht darum, mir in den Arsch zu kriechen. Manchmal teilte er mir mit, welche Aufgaben er über den Tag verteilt für mich erledigt hatte, als wäre ich nicht derjenige gewesen, der ihn damit beauftragt hätte.
»Mr Bates, ich habe Ihren Schreibtisch aufgeräumt und alle Akten nach den aktuellsten Fällen sortiert«,»Mr Bates, ich habe Ihnen all Ihre Termine für die kommende Woche im Kalender eingetragen«,»Mr Bates, ich habe die Reservierung für Ihre Unterkunft während der Konferenz in New York vorgenommen«.
Er erwartete für jede Kleinigkeit ein Lob von mir, und jedes Mal musste ich es mir verkneifen, zu sagen: »Großartig, Matthew, Sie machen Ihren Job – genau wie wir alle. Danke, dass Sie Ihren Beitrag leisten, der in meinen Augen das Minimum ist, um nicht vor die Tür gesetzt zu werden.«
Natürlich tat ich es nie, ich war ja kein Unmensch und außerdem dankbar für seine Unterstützung. Aber es gab Tage, da hatte ich weder die Zeit noch die Energie, ihm für jeden Mist den Kopf zu tätscheln. Wahrscheinlich hätte ich ihn schon längst ersetzen lassen sollen, doch brachte ich es aus irgendeinem Grund nicht über mich. Der Kerl war ein Welpe, und das nicht nur wegen seiner braunen Knopfaugen, dem blonden Lockenkopf oder dem schlecht sitzenden Anzug.
»Mr Bates!«, stieß er aus.
»Wie oft noch, Matthew? Nennen Sie mich Aaron.«
Ich unterdrückte ein Seufzen und schnappte mir im Vorbeigehen den Stapel mit den Dokumenten, um deren Überprüfung ich ihn gestern Abend noch gebeten hatte. Dann stieß ich mit meinem Ellbogen die Tür zu meinem Büro auf, in dem wohl seit geraumer Zeit nicht mehr gründlich gelüftet worden war. Der Geruch von Staub und verbrauchter Luft hing darin. Als Matthew ihn ebenfalls bemerkte, rannte er mit einer genuschelten Entschuldigung zu den beiden bodentiefen Sprossenfenstern, um sie zu öffnen.
Derweil legte ich die Sachen auf meinem Schreibtisch ab und schaute mich in meinem Büro um, das genauso aussah, wie ich es hinterlassen hatte. Grün gemusterte Tapete, braune Ledermöbel, abgenutzter Teppich, Holzregale und Lampen mit goldenen Akzenten. Keine persönlichen Gegenstände. Keine Pflanzen. Nicht mal Bilder. Lediglich ein Teleskop, das ein altes Familienerbstück meines Großvaters war.
Für eine Position wie meine war es ein geräumiges Büro mit einem großzügigen Arbeitsplatz, inklusive Blick auf die Bostoner Skyline und einer eigenen kleinen Galerie, die man über die Wendeltreppe neben der Tür erreichte.
Kein Zweifel, ich war ein verdammter Glückspilz.
»Wie ist es Ihnen hier in den letzten Monaten ergangen, Matthew?«, fragte ich, während ich den Bildschirm einschaltete und mich in meinen Lederstuhl sinken ließ. Das Material fühlte sich kühl an meinem Rücken an und bereitete mir selbst durch den dreiteiligen Anzug eine Gänsehaut.
»Hervorragend.«
Ich hob skeptisch eine Braue, Matthew seufzte.
Das war so ein Ding bei uns: Ich hatte ihn gleich von Anfang an dazu aufgefordert, immer ehrlich zu mir zu sein und mich niemals anzulügen. Egal, ob es um meine Arbeit ging oder um seine. Wenn wir in der Scheiße steckten, steckten wir in der Scheiße, und dann wollte ich gern davon wissen, ohne dass er gute Miene zum bösen Spiel machte.
»Na ja, die meiste Zeit über war ich damit beschäftigt, Ihnen die Leute vom Hals zu halten oder die Kollegen in Ihre Fälle einzuarbeiten und dafür zu sorgen, dass alles in Ihrer Abwesenheit weiterläuft«, erzählte er also zögerlich. »Abgesehen davon schien Alistair Bright sehr viel Freude daran gehabt zu haben, mir das Leben zur Hölle zu machen.«
Ich stieß ein Schnauben aus. »Ja, das überrascht mich nicht.«
Alistair Bright war nicht nur namensgebender Partner der Kanzlei, sondern auch der engste Vertraute der geschäftsführenden Partnerin Natalie Gold. Ihm gefiel die Vorstellung von mir als jüngster Juniorpartner mit Aussicht auf Anteile gar nicht. Für ihn war ich nichts anderes als ein aufstrebendes Ärgernis, ein »anmaßender Emporkömmling, der genau weiß, wie er die Menschen um sich herum manipulieren muss, damit er seinen Willen bekommt«. In etwa genauso dramatisch hatte er es in einem Gespräch mit Natalie ausgedrückt. Und zugegebenermaßen hatte ich ein wenig Freude daran gefunden, seinem Bild von mir gerecht zu werden. Schließlich zeigte er mir weder irgendeine Form der Anerkennung für meine Leistungen noch befürwortete er meine Vorschläge in Teammeetings. Für ihn diente alles, was ich tat, allein dazu, Natalie auf meine Seite zu ziehen, mein Image aufzupolieren und meine eigenen Ziele voranzutreiben. Dabei ahnte er nicht, dass es mir mit meinem Einsatz für die Kanzlei mindestens genauso ernst war wie ihm.
»Er hat mir sogar Aufgaben aufgebrummt, die rein gar nichts mit Ihren Fällen zu tun hatten«, berichtete Matthew weiter.
»Haben Sie ihm gesagt, dass er Sie mal kreuzweise kann?«
Röte kroch ihm den Hals hinauf. »Natürlich nicht.«
»Dann merken Sie es sich fürs nächste Mal.«
Er kniff die schmalen Lippen zusammen und nickte knapp, obwohl uns beiden bewusst war, dass das nicht passieren würde. »Kann ich sonst noch irgendetwas tun?«
Ohne meinen Blick vom Bildschirm zu lösen, auf dem ich meinen überfüllten Terminkalender geöffnet hatte, schüttelte ich den Kopf und nahm einen Schluck von meinem Kaffee. »Erst mal nicht, danke. Sie können die Tür offen lassen.«
Matthew hatte kaum einen Fuß über die Schwelle gesetzt, da hörte ich, wie sein Telefon klingelte. Wenige Sekunden später rief er: »Mr Bates? Ich meine … Aaron? Natalie Gold würde Sie gern sprechen.«
»Stellen Sie sie durch.«
»Leitung sieben.«
Ich griff nach dem Hörer auf meinem Tisch und musste schmunzeln, noch bevor sie sich gemeldet hatte. »Natalie. Wie schön, von dir zu hören.«
»Ein Teil von mir hat ja geglaubt, Matthew würde gleich wieder versuchen, mich abzuwimmeln. Hast du gut zurückgefunden?« Auch in ihren Worten schwang ein Lächeln mit.
»Gewöhne mich gerade wieder ein«, entgegnete ich und strich mit meinen Händen über das glatte Holz meines Schreibtischs.
»Dann tu das besser zügig. Ich habe gleich einen Termin bis um zehn, danach muss ich dringend mit dir sprechen.« Das Rascheln von Papier knisterte in der Leitung.
»Wieso klingt das so unheilvoll?«
»Weil Gespräche mit mir nur selten etwas Gutes zu bedeuten haben«, antwortete sie, was es in meinen Ohren nicht weniger besorgniserregend klingen ließ. »Also. Zehn Uhr, mein Büro.«
Sie gab mir keine Zeit, etwas darauf zu erwidern, woraus ich schloss, dass mir keine andere Wahl blieb.
Mit einem tiefen Atemzug lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und rief mir die Worte meiner Mutter in Erinnerung: »Der Weg zum Ziel bleibt derselbe, Aaron. Egal in welchem Tempo du ihn zurücklegst.«
Eigentlich hatte ich es an meinem ersten Tag langsam angehen lassen wollen. Zu schade, dass ich es noch nie ertragen hatte, von anderen überholt zu werden.
Ich war nur fünf Minuten zu spät, als ich auf den Schreibtisch von Natalies Assistentin Ms Hodge zusteuerte. Sie telefonierte gerade, winkte mich mit einem herzlichen Lächeln jedoch so überschwänglich vorbei, dass ihr blonder Zopf schwungvoll hin und her wippte.
Auch in Natalies Büro, das bis auf vereinzelte Pflanzen noch schlichter eingerichtet war als meines, hatte sich rein gar nichts verändert, was ich auf seltsame Art tröstlich fand. Aufgrund seiner Eckposition und der langen Fensterfront wurde der Raum von Licht durchflutet, schien die von draußen hereinkriechende Märzkühle dank der nüchternen Wände regelrecht in sich aufzusaugen. Die einzigen persönlichen Gegenstände waren ein Bild auf ihrem Schreibtisch, das Natalie zusammen mit ihrer Frau und ihrer Tochter zeigte, und eine kleine Schneekugel.
Sowie ich die Tür hinter mir angelehnt hatte, drehte sie sich auf ihrem Bürostuhl in meine Richtung und unterzog mich einer schnellen Musterung, nur um festzustellen, dass ich noch immer derselbe Kerl mit demselben langweiligen Standardhaarschnitt war. Na ja, fast. Mein Haar war während meiner Auszeit ein wenig länger geworden, genau wie die Stoppeln an Kinn und Wangen, die ich heute Morgen deshalb das erste Mal seit Wochen wieder rasiert hatte. Und dann war da natürlich noch die Narbe. Das Ding war alles andere als ansehnlich, aber zumindest problemlos zu verstecken.
Natalies Mundwinkel hoben sich. »Aaron, wie schön, dass du zurück bist. Du siehst gut aus.« Trotz der Vorkommnisse. Das Letzte sprach sie nicht aus, aber ich hörte es dennoch. »Wie geht es dir und deiner Familie? Ich hoffe, besser?«
Es war besser, um Längen besser. Und doch hatte ich bei dieser Frage jedes Mal das Gefühl, mein gesamter Bauch würde sich zu einer schmerzhaften Sorgenkugel zusammenballen. Derzeit mochte alles in Ordnung sein, aber wer konnte schon sagen, was die Zukunft bringen würde?
Ich erstickte den Gedanken im Keim, bevor er sich wie Unkraut in meinem Kopf ausbreiten konnte. »Viel besser«, erwiderte ich stattdessen. Und dann, um ihr keinen Raum für Nachfragen zu bieten, auf die ich selbst keine Antworten hatte: »Also, was ist los? Du hast dich vorhin ziemlich kryptisch ausgedrückt.«
Obwohl Natalie kurz in Erwägung zu ziehen schien, meinen Themenwechsel abzublocken, entschied sie sich zu meiner Erleichterung dagegen. »Hast du dir die Nachrichten heute schon angesehen?«, war alles, was sie fragte. Und das war gut, denn damit konnte ich umgehen.
»Wieso? Berichten sie über mein Comeback?«
Sie verdrehte die Augen. »Die Sache ist ernst, Aaron.«
Ich lachte leise und hob beschwichtigend die Hände. »Du hast recht, tut mir leid. Worum geht’s?«
Sie tippte etwas auf ihrer Tastatur ein und drehte den Bildschirm anschließend so, dass ich das Video darauf erkennen konnte. Es war ein Ausschnitt aus einer Nachrichtensendung, genauer gesagt ein Interview mit Bostons derzeitigem Bürgermeister Mortimer Dupont. Ich verstand nicht, was er sagte, weil der Ton dafür zu leise war, aber ich konnte vereinzelte Hinweise darauf aus dem Newsticker am unteren Rand des Bildschirms fischen: Stadtregierung in Aufruhr.Schwägerin des Bürgermeisters tot in Urlaubsresidenz aufgefunden. Polizei ermittelt gegen Ehefrau Scarlett Dupont.
Ich stieß mich vom Schreibtisch ab und runzelte die Stirn. »Was haben wir damit zu tun?«
Soweit mir bekannt war, wurde die Familie Dupont seit Jahren von Natalies größtem Konkurrenten Joseph Cabot vertreten, dessen Kanzlei in den Rankings der namhaftesten Bostons zumeist gleichauf mit Gold, Bright & Partners rangierte.
Natalie drehte den Bildschirm mit einem Seufzen zurück. »Ich war mit Scarlett Duponts Mutter auf dem College, und wir stehen noch in gelegentlichem Kontakt miteinander. Ruth hat mich nach der Festnahme ihrer Tochter sofort angerufen und um Hilfe gebeten.«
»Wobei? Du sollst sie doch nicht etwa vertreten, oder?«
Ihr Blick verhakte sich mit meinem. »Scarlett bestreitet die Vorwürfe vehement und behauptet, ihre Schwester nicht umgebracht zu haben. Ihr Mann hat ihr zu seinem Anwalt geraten, aber Ruth konnte die Cabots noch nie leiden. Sie glaubt natürlich fest an Scarletts Unschuld und hat sie deshalb davon überzeugt, anstelle von Josephs Leuten uns damit zu beauftragen.«
»Dann hat man Scarlett Dupont schon vernommen?«
Natalie strich sich eine schwarze Strähne hinters Ohr und nickte. »Ich war gestern Abend auf dem Revier und habe ihr geraten, die Füße erst mal stillzuhalten. Sie und ihr Mann können es sich nicht leisten, der Presse noch mehr einzuheizen, erst recht nicht im Hinblick auf Mortimers anstehende Kandidatur für die Senatswahl.« Natalie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und betrachtete mich erneut. »Die Kautionsanhörung ist für morgen Nachmittag angesetzt. Ich möchte, dass du dich der Sache annimmst.«
Ich griff nach der Schneekugel auf dem Tisch und schüttelte sie, beobachtete, wie die weißen Körnchen darin herumwirbelten. »Du willst, dass ich ihr helfe? Wieso kümmerst du dich nicht selbst darum?«
»Ich will nicht nur, dass du ihr hilfst, ich beauftrage dich damit«, entgegnete sie mit einem Unterton, der mich daran erinnern sollte, dass sie noch immer meine Vorgesetzte war. »Wie du weißt, praktiziere ich kaum noch im Strafrecht. Das habe ich Ruth und Scarlett auch gesagt, weshalb sie mich um meine besten Leute gebeten haben.«
»Ah, und da komme ich ins Spiel«, murmelte ich schmunzelnd.
Sie schien zu merken, dass ich noch nicht vollständig überzeugt war. Aber Natalie wäre nicht Natalie, wenn sie nicht genau wüsste, womit sie mich ködern konnte. »Ich denke, der Fall bietet eine gute Gelegenheit, um deinen Namen als anteilhabenden Partner ins Rennen zu bringen, Aaron.«
Na also, das machte die Sache doch schon deutlich interessanter.
»Ich gebe dir alle nötigen Informationen und stelle dir jede Hilfe zur Verfügung, die du brauchst. Du kannst auch einen von den Junior-Associates haben. Alistair ist in nächster Zeit ohnehin zu eingespannt, um seiner Rolle als Mentor gerecht werden zu können.«
Ich setzte die Kugel zurück und prustete vergnügt. »Du meinst, er hat dir gesagt, dass er keine Lust mehr darauf hat, den Anfängern das Händchen zu halten.«
»Selbst wenn – du bist ohnehin die bessere Wahl für diesen Job. Wärst du letzten Oktober hier gewesen, hätte ich dich sofort darauf angesetzt.«
»Sekunde«, sagte ich und stutzte. »Du willst, dass ich Babysitter spiele? Vor Kurzem hast du noch gesagt, ich bräuchte selbst einen.«
»Der Meinung bin ich auch immer noch.«
Sie klang so ungerührt, dass ich grinsen musste. »Und trotzdem verdiene ich mehr als der Großteil deiner Leute. Sag, warum besitze ich noch mal keine Anteile?«
»Zum einen wegen deiner unfassbar großen Klappe. Zum anderen ist dir sicher bewusst, dass die anderen Partnerinnen und Partner auch noch ein Wörtchen mitzureden haben. Auch Alistair. Und der war über deine Abwesenheit alles andere als erfreut.«
Ich vergrub die Hände in den Taschen meiner Anzughose, um mich davon abzuhalten, noch mehr Dinge anzufassen, die mir nicht gehörten. »Ach, der ist doch nur beleidigt, weil er zur Abwechslung mal etwas zu tun hatte, das er nicht seiner Assistentin oder einem Anfänger aufbrummen konnte. Willst du mir jetzt ernsthaft ein schlechtes Gewissen machen?«
Immerhin war sie doch diejenige gewesen, die meine Auszeit damals abgenickt und mir ihr Wort gegeben hatte, Stillschweigen über den Grund zu wahren.
»Ich verstehe deine Beweggründe, Aaron«, versicherte sie mir. »Aber darum geht es gerade nicht. Du willst nur ablenken.«
»Funktioniert es?«
Sie verdrehte die Augen, ehe sie die Spitze ihres Kugelschreibers auf mich richtete, als wollte sie ihn mir gedanklich in die Brust bohren. »Nein. Such dir eine Assistenz für den Fall und lass dir helfen. Du wirst jede zusätzliche Unterstützung brauchen, die du bekommen kannst.«
Ich seufzte betont schwer. »Nur nicht zu viel Vertrauen.«
»Du weißt, dass ich dir vertraue. Andernfalls würde ich dir den Fall nicht zuweisen. Also enttäusch mich nicht.«
»Würde ich nie.« Natalie zu enttäuschen, würde im Umkehrschluss bedeuten, mich selbst, wenn nicht gar meine Eltern zu enttäuschen. Und wenn es eine Sache gab, die ich tunlichst vermeiden wollte, dann diese. Außerdem war ich kein Verlierertyp. Nie gewesen.
Ich wandte mich zum Gehen und stieß auf meinem Weg hinaus beinahe mit einer jungen Frau zusammen, die so nah vor der Tür stand, dass sie zweifelsohne jedes Wort unserer Unterhaltung mit angehört haben musste. Ihr Gesicht war mir unbekannt. Sie wirkte etwas jünger als ich, gehörte vermutlich zu den neuen Associates. Als sie mit ihren großen Rehkitzaugen vor Schreck nach hinten taumelte, breitete sich eine tiefe Röte auf ihren sommerbesprossten Wangen aus, die perfekt mit ihrer farbenfrohen Kleidung harmonierte.
Keine Ahnung, ob ich in dieser Kanzlei je zuvor irgendjemanden farbige Strumpfhosen hatte tragen sehen. Ihr Mut, gegen den Strom zu schwimmen, gefiel mir auf Anhieb. Von dieser Sorte Mensch brauchte es mehr.
Ich zwinkerte ihr im Vorbeigehen flüchtig zu und lief in Richtung meines Büros, nur um bei der nächsten Abbiegung tatsächlich direkt in jemanden hineinzulaufen: Alistair Bright.
Kaum hatte er realisiert, dass ich der Übeltäter war, der ihm soeben im wahrsten Sinne auf den Fuß getreten war, setzte er ein höhnisches Lächeln auf. »Sieh einer an, unser verschollener Held ist zurückgekehrt.«
Pathetisch wie eh und je. Auch optisch war er sich treu geblieben, was ich an seinem grauen Anzug und den Silbersträhnen in seinem dunklen Haar festmachen konnte. Lediglich die kleinen Fältchen um seinen Mund schienen tiefer, als hätte er in letzter Zeit noch grimmiger dreingeschaut als ohnehin schon immer. Lag wahrscheinlich an den Associates.
Ich lächelte zurück. »Sie haben mir auch gefehlt, Alistair.«
Wie zu erwarten, ging er nicht auf meine Spöttelei ein, sondern beäugte mich misstrauisch. Irgendetwas an seinem Blick bereitete mir jedes Mal eine Scheißgänsehaut.
»Kommen Sie von Natalie? Was wollte sie von Ihnen?«
»Sie hat mich mit einem neuen Fall beauftragt«, sagte ich unumwunden und richtete meine Krawatte, die bei unserer Kollision verrutscht war.
»Geht es um die Dupont-Sache?« Ein tiefes Lachen, das eingerostet klang, schüttelte seinen Körper. »War klar.«
»Wie meinen?«, fragte ich verwundert.
Er fuhr mit der Hand über eine imaginäre Bügelfalte auf seinem weißen Hemd. »Na ja, die Sache sorgt derzeit für Wirbel in den Medien. Es war damit zu rechnen, dass Natalie Ihr Gesicht als Aushängeschild der Kanzlei wählen würde.«
Ich fasste mir gespielt geschmeichelt an die Brust. »Danke für das Kompliment. Aber Sie sollten sich nicht so klein machen. Sie haben ausdrucksstarke Augen.«
Alistair schnaubte. »Glauben Sie mir, irgendwann wird der Tag kommen, an dem Sie mit Ihrer Überheblichkeit auf die Schnauze fallen. Und ich werde da sein, wenn Natalie merkt, dass es ein Fehler war, Ihnen eine Bühne zu bieten.«
Schnalzend warf ich einen Blick auf meine Uhr. »Gleich wieder so dramatisch. Es ist noch nicht mal zwölf.«
Er machte eine vage Handbewegung, als wollte er ein lästiges Insekt vertreiben, und wandte sich zum Gehen. »Einen schönen Tag, Aaron.«
»Ihnen auch. Oh, und Alistair?« Er warf mir einen Schulterblick zu. »Sparen Sie sich Ihre Lakaien-Jobs zukünftig doch bitte für Ihre eigene Assistentin auf.«
Ohne seine Reaktion abzuwarten, kehrte ich in mein Büro zurück, in dem ein Berg an Arbeit auf mich wartete.
Eigentlich war ich nach meinem ersten Tag nicht interessiert daran gewesen, irgendetwas anderes zu tun, als direkt in mein Bett zu fallen. Allerdings hatte Natalie mich nach meinem Mittagessen mit Yuki – zu dem ich nur eine halbe Stunde zu spät gekommen war – an die Networking-Nighterinnert, die heute nach Feierabend stattfinden sollte.
Veranstaltungen wie diese dienten in erster Linie dazu, neue Geschäftskontakte zu knüpfen und Beziehungen aufzubauen oder sich mit anderen auf seinem Fachgebiet auszutauschen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich jedes dieser Events bereitwillig mitgenommen, um mich sichtbar zu machen. Daher war es etwas ironisch, dass ich kaum einen meiner derzeitigen Mandantinnen und Mandanten auf ebenjenen Veranstaltungen kennengelernt hatte. Ein Großteil war durch Hörensagen auf mich aufmerksam geworden oder hatte mein Gesicht und meinen Namen in Berichterstattungen oder auf Pressekonferenzen gesehen, nachdem ich das Glück gehabt hatte, dass zwei meiner Fälle öffentlich bekannt geworden waren.
Dazu gehörte ein Pro-bono-Fall, bei dem es mir gelungen war, ein älteres Verfahren wieder aufzurollen und einen Freispruch für meinen zu Unrecht inhaftierten Mandanten zu erzielen. Und der Mord an einem prominenten Geschäftsmann, der erdrosselt in seiner Wohnung aufgefunden worden war. Mein Mandant, der Hauptverdächtige in diesem Fall, hatte zwar eisern auf seine Unschuld beharrt, doch schienen alle Zeichen darauf hinzudeuten, dass mir der Täter am Besprechungstisch direkt gegenübersaß. Nichtsdestotrotz hatte ich alles in meiner Macht Stehende getan, um das Rechtssystem nach den Regeln der Kunst auszunutzen und genügend Zweifel zu säen, um seine Verurteilung zu verhindern.
Das war die Schattenseite meines Jobs, denn als Strafverteidiger stand es in meiner Pflicht, Leuten den Arsch zu retten, ob sie es nun verdient hatten oder nicht. Schließlich besagte der sechste Zusatzartikel nicht umsonst, dass jedem Menschen das Recht auf eine angemessene Verteidigung zustand, und mein Bauchgefühl konnte mich ebenso gut täuschen wie Indizien und Beweise. Zu Beginn meines Studiums hatte mir der Gedanke noch Probleme bereitet. Inzwischen hatte ich eingesehen, dass stumpfes Schwarz-Weiß-Denken mir bei meiner Arbeit im Weg stand. Das sollte nicht bedeuten, dass ich es nicht trotzdem vorzog, auf der Seite der Gerechtigkeit zu stehen. Nur dass die Realität manchmal eben anders aussah.
Ich verdiente mein Geld nicht allein durch gute Taten, sondern vor allem durch die Fehler anderer. Das war moralisch nicht immer einwandfrei, erwies sich aber als äußerst lukrativ. Und je größer die Kreise waren, die meine Fälle zogen, desto mehr potenzielle Mandate spülten sie an Land. So hatte ich mit neunundzwanzig im Vergleich zu anderen Anwälten mit meiner Berufserfahrung einen deutlich größeren Kundenstamm vorzuweisen gehabt, der Natalie Gold dazu bewegt hatte, mich zum jüngsten Juniorpartner von Gold,Bright&Partners zu ernennen.
Und hier war ich nun, anderthalb Jahre später, und überlegte, die Veranstaltung eiskalt zu schwänzen. Andererseits sollte ich mich nach meiner langen Abwesenheit vielleicht mal wieder blicken lassen. Und wenn ich es nur tat, um mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen dafür zu bedanken, dass sie für mich eingesprungen waren. Deshalb betrat ich das Lokal, in dem das Event an diesem Abend stattfand, am Ende schließlich doch fast pünktlich um acht Uhr.
Die Aufmachung des Ladens erinnerte mich an ein riesiges Gewächshaus. Die Wände und Decken waren vollständig aus Glas, in dem sich das Gold der flackernden Kerzen und Lichter spiegelte. Dank des Kuppeldachs sammelte sich die Wärme hier drin wie unter einem Topfdeckel, weshalb ich nervös am Kragen meines Hemds herumzerrte und mich umsah.
Mir fiel sofort die Gruppe um Alistair und Natalie ins Auge, in der ich ein paar vertraute Gesichter ausmachen konnte. Wenige Meter von ihnen entfernt in einer weiteren Ansammlung von Menschen stand Isabell. Ich konnte nur ihren Rücken sehen, aber ich hätte sie an ihrem langen feuerroten Haar immer und überall erkannt. Vor etwa zweieinhalb Jahren wäre ich jetzt zu ihr herübergegangen und hätte ihr ins Ohr geflüstert, wie sehr sie mir gefehlt hatte. Die Sache war nur die, dass ihre Abwesenheit mich in den letzten Monaten ebenso wenig gekümmert hatte, wie ihre Anwesenheit es heute tat, seit sie damals mit einem Kollegen ins Bett gehüpft war.
Als spürte sie meine Aufmerksamkeit auf sich, warf sie einen Blick über ihre Schulter und begegnete meinem. Sie wirkte überrascht von meinem Auftauchen, das war kaum zu übersehen. Jedoch hatte ich mich schon in dem Moment wieder abgewandt, in dem sie sich zu mir umdrehen wollte. Ich hatte kein Interesse daran, mich mit Isabell zu unterhalten. Die Sache zwischen uns mochte geklärt sein und wir konnten normal miteinander umgehen, doch manchmal beschlich mich trotzdem das Gefühl, dass wir uns unterschwellig noch immer irgendeine Art von Wettkampf lieferten.
Mit großen Schritten näherte ich mich der Bar, an der das meiste Treiben herrschte. Von überall drangen die Geräusche von Stimmengewirr und klirrendem Glas an meine Ohren. Ich hatte gerade eine Lücke erspäht, in die ich schlüpfen wollte, als ein hochgewachsener Typ, der schon leicht angetrunken war, laut lachend mit seinem Rücken gegen mich prallte. Folglich taumelte ich nach vorn und stieß dabei versehentlich gegen eine junge Frau an der Bar.
Auf der Suche nach Halt streiften meine Hände ihren Körper und legten sich instinktiv auf ihre Hüften. Dann passierten plötzlich zu viele Dinge auf einmal: Sie wirbelte mit einem empörten »Hey, geht’s noch?« zu mir herum und schubste mich an der Brust von sich. »Nimm deine Hände von mir, du Perversling!«
Ich wollte mich schon für meine Unachtsamkeit bei ihr entschuldigen, da kippte sie mir in einer einzigen schnellen Bewegung ihren Drink über den Anzug, wobei ein paar umherfliegende Tropfen in meinem Gesicht landeten.
Perfekt. Genau so hatte ich mir den Abend vorgestellt.
Als sich erste Köpfe herumdrehten und die Szene zwischen uns argwöhnisch betrachteten, verspürte ich augenblicklich den Drang, klarstellen zu müssen, dass ich kein Perversling war.
»Alles nur ein Missverständnis. Okay?« Ich hob entwaffnend die Hände. In derselben Sekunde drückte mir der angetrunkene Typ die Schulter.
»Sorry. Hab nicht aufgepasst.«
Ja, das habe ich gemerkt. Wer betrank sich auf einem solchen Event?
»Alles gut, kann passieren.« Ich wischte mir seufzend mit dem Handrücken die Tropfen von den Wangen und begutachtete meinen Anzug, den nun ein rötlicher Fleck von nicht unerheblichem Ausmaß zierte. Als ich wieder aufblickte, konnte ich auf dem Gesicht der jungen Frau ablesen, wie sie langsam realisierte, dass es sich hierbei wirklich nur um ein Versehen handelte.
Ihr Ausdruck wechselte von Wut zu blankem Schock. »Oh Gott, tut mir leid!« Sie griff nach einem Stapel Servietten auf dem Tresen hinter sich und drückte ihn mir auf die Brust, obwohl der Stoff meines Hemds die rötliche Flüssigkeit längst wie ein Schwamm in sich aufgesogen hatte. »Ich dachte, Sie hätten mich … na ja … Sie wissen schon.«
Ich winkte ihre Entschuldigung ab und rieb mir mit der anderen Hand verlegen über den Nacken. »Habe ich vermutlich auch. Ich meine, versehentlich natürlich. Entschuldigen Sie, ich habe nicht aufgepasst.«
»Und ich einen Hang zu überflüssigem Drama, wie es aussieht. Aber das ist ja nichts Neues«, murmelte sie und rubbelte zerknirscht mit den Servietten über den Stoff meiner Weste, wodurch sie es nur schlimmer machte.
Ihren letzten Worten haftete offenbar ein seltsamer Beigeschmack an, denn sie schnitt eine Grimasse. Die ganze Situation war ihr sichtlich unangenehm, also tat ich das Erstbeste, was mir einfiel, um sie aufzulockern.
»Was soll’s, ich konnte den Anzug sowieso nie leiden. Aber meine Mutter behauptet, er würde meine Augen betonen.«
Die Frau stoppte in ihrer Bewegung und hob den Kopf, hielt meinen Blick fest, als wollte sie diese These überprüfen. Sie war mir so nah, ich hätte die kleinen braunen Sonnensprenkel auf ihrer Nase zählen können, die aussahen, als trüge sie ein Stück Sternenhimmel im Gesicht – wenn ihre Augen nicht meine gesamte Aufmerksamkeit für sich beansprucht hätten. Sie waren tiefblau wie zwei Perlen aus Kobaltglas, und obwohl ich Blau immer für eine kühle Farbe gehalten hatte, überzeugten sie mich in dieser Sekunde vom Gegenteil.
»Dann sind Sie ein Muttersöhnchen?«, fragte sie.
Ich musste grinsen. »Aus vollster Überzeugung.«
Warum auch nicht? Meine Eltern waren die besten und gütigsten Menschen, die ich kannte. Als dauergenervter Teenager hatte ich das vielleicht anders gesehen, heute wusste ich, dass ich ohne ihre Unterstützung nie dort gelandet wäre, wo ich heute war. Sie hatten mich stets an erste Stelle gestellt, immer vor ihre eigenen Wünsche. Und ich würde nie aufhören, ihnen dafür dankbar zu sein.
Ihr Schnauben wurde von einer Welle aus Gelächter verschluckt, die zu uns herüberschwappte. »Falls Sie es noch nicht wussten: Mütter müssen bei ihren eigenen Kindern lügen.«
Ich neigte den Kopf zur Seite und musterte sie neugierig. »Also, Ms …«
»Bennett«, antwortete sie. Noch nie gehört.
Kurz rechnete ich damit, sie würde sich im Gegenzug nach meinem Namen erkundigen, aber das tat sie nicht. Vielleicht kannte sie ihn bereits, vielleicht hielt sie mich auch für so unbedeutend, dass sie es schlichtweg nicht für nötig hielt.
»Gut, Ms Bennett. Nur fürs Protokoll, damit ich auch alles richtig verstehe: Sie schütten mir Ihren Drink über, ruinieren meinen Anzug und beschimpfen mich vor all diesen Leuten als Perversling, was ich angesichts unseres Missverständnisses durchaus verstehen kann. Aber als wäre das nicht genug, verspotten Sie mich auch noch? Was habe ich verbrochen?«
Es kam mir vor, als besäße sie ein anderes Skript als ich. Eines mit deutlich mehr Informationen, die in meiner Überlieferung verloren gegangen waren.
Sie reckte einen Finger in die Höhe, bevor sie die zerknüllten Servietten hinter sich auf den Tresen warf und wieder nach ihrem Glas griff, das dank ihrer Aktion fast leer war. »Für die Sache mit dem Drink habe ich mich entschuldigt.«
»Was gefällt Ihnen an meinem Anzug nicht?«
Ihre weinroten Lippen kräuselten sich zu einem Schmunzeln, als sie sich um den Strohhalm ihres Drinks schlossen. »Wer sagt, dass es der Anzug ist?«
Ich hob erstaunt die Brauen. »Okay, jetzt kränken Sie mich wirklich.«
Das behauptete ich zumindest. In Wahrheit war ich beeindruckt von ihrer messerscharfen Zunge. Endlich mal jemand, der aussprach, was er dachte. Viel zu oft begegnete ich in meinem Job Menschen, die sich gut darauf verstanden, Aufrichtigkeit und Interesse zu heucheln. Dabei wusste ich genau, dass viele von ihnen mit dem Gedanken spielten, mir ein Messer in den Rücken zu rammen, sobald ich mich umdrehte.
»Tut mir leid.« Sie legte sich die freie Hand vor den Mund und hüllte ihre Worte in ein kleines Lachen, um sie als Scherz zu tarnen. »Ich dachte, Sie wären selbst kein großer Fan des Anzugs?«
»Deshalb hatte ich trotzdem Hoffnung, an der Sache mit den Augen könnte was dran sein«, antwortete ich und widerstand dem Drang, nach ihrem Glas zu greifen, weil ich den letzten Schluck darin bitter nötig hatte. Warum war es so verdammt heiß hier drin?
Sie lehnte sich mit den Ellbogen nach hinten auf die Kante des Tresens und seufzte tief. »Hoffnung ist sinnlos, wenn sie einen am Ende des Tages sowieso nur enttäuscht.«
Mein Blick tastete sich unauffällig an ihrem schwarzen Kleid entlang, das sich eng an ihren Körper schmiegte, und blieb kurz an ihrem Schlüsselbein und der Kurve ihres Halses hängen. Keine Frage, sie war unbestreitbar attraktiv. Sie hatte etwas Elegantes an sich, das mich an diese klassischen Schwarz-Weiß-Filme denken ließ. Möglicherweise war es das schulterfreie Kleid, vielleicht auch die roten Lippen oder der Lidstrich – es hätten nur noch schwarze Abendhandschuhe aus Seide gefehlt.
Wo nahm eine Frau wie sie all diese Bitterkeit her?
»Reden wir von Hoffnung oder von Erwartungen?«, fragte ich.
Sie lächelte süffisant. »Ist doch dasselbe.«
»Nicht ganz«, entgegnete ich kopfschüttelnd. »Hoffnung wurzelt in Träumen und ermutigt uns, unsere Ziele zu verfolgen, selbst wenn wir nicht wissen, was die Zukunft bringt. Erwartungen hingegen sind ein Produkt subjektiver Erfahrungen, meistens schlechter. War es also wirklich Ihre Hoffnung, die Sie so sehr enttäuscht hat, dass Sie diese Ansicht vertreten, oder vielleicht doch eher Ihre Erwartung?«
Es war faszinierend, zu beobachten, wie ihr das Lächeln zunächst aus den Augen wich, dann von den Lippen. Irgendetwas war mit meiner Frage zersprungen, und damit meinte ich nicht nur diesen seltsamen Moment zwischen uns.
»Sie halten sich auch für etwas ganz Besonderes, oder?«
Gegen meinen Willen musste ich lachen. »Weil ich im Gegensatz zu Ihnen versuche, positiv durchs Leben zu gehen?«
Sie starrte eine Sekunde zu lang auf meinen Mund, als wollte sie mir das Grinsen am liebsten vom Gesicht ziehen. »Wohl eher, weil Sie glauben, dass Ihre Meinung mich tatsächlich interessiert.«
Verdammt, sie konnte mich wirklich nicht leiden. Aber warum nicht? Ich war nicht der Typ für volltrunkene One-Night-Stands, an die ich mich am nächsten Tag nicht erinnerte, das konnte es also nicht sein. Ganz zu schweigen davon, dass ich keiner Frau jemals einen Grund geliefert hätte, mich derart zu verabscheuen. (Hoffte ich zumindest.) Hatte ich vor Gericht irgendwann mal gegen jemanden gewonnen, der ihr nahestand? Oder arbeitete sie bei Cabot & Cox, deren Leute uns aus Prinzip nicht leiden konnten?
Während ich noch immer nach dem Fehler in unserem Skript suchte, wollte sie den Augenblick offenbar nutzen, um sich der Situation zu entziehen. »Ich sollte gehen. Hat mich gefreut.«
»Welcher Part jetzt genau? Der, in dem Sie mir Ihren Drink übergekippt haben? Oder der, in dem Sie mich beleidigt haben?«,wollte ich fragen, da hatte sie sich bereits mit ihrem Glas an mir vorbeigeschoben.
»Warten Sie!«, rief ich. Ich kenne doch noch nicht mal Ihren Vornamen. Nicht dass es von Belang gewesen wäre, immerhin war das hier eine Arbeitsveranstaltung. Und doch hätte ich am liebsten nach ihrem Handgelenk gegriffen, um sie zurückzuhalten, weil dieser ätzende Abend soeben um einiges interessanter geworden war. Nur war sie zu schnell in dem Meer aus Menschen untergetaucht, als dass ich die Chance dazu gehabt hätte.
Und so blieb ich allein und gestrandet zurück.
Dank des Informationshagels, der Jahr für Jahr auf die Studierenden der juristischen Fakultäten niederprasselte, hatte ich schnell lernen müssen, zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden. Und mindestens genauso schnell hatte ich lernen müssen, dass Gefühle jedweder Art, insbesondere meine eigenen, der letzten Kategorie angehörten.
Zu Beginn meines ersten Semesters gingen wir in meinem Mietrechtskurs eine Reihe von Beispielfällen durch. Darunter auch den einer alleinerziehenden Mutter mit drei Kindern, der aufgrund von unbezahlten Mieten und wiederholten Streitereien mit ihrem Vermieter die Zwangsräumung drohte. Sie hatte mit allen in ihrer Macht stehenden Mitteln darum gekämpft, ihre Familie vor der Obdachlosigkeit zu bewahren. Und trotzdem besagte der Rechtsgrundsatz, den ich stur und gewissenhaft in meinem Heft festhielt, dass der Vermieter laut Rechtslage mit der Zwangsräumung ordnungsgemäß handelte.
Ähnlich war es bei zwei anderen Fällen, die wir bearbeiteten; jedes Mal zogen die sozial Schwächeren den Kürzeren.
Mit der Zeit hatten mich all diese Beispiele immer wütender werden lassen. Ich hatte angefangen, verärgerte Anmerkungen an den Rand meiner Notizen zu kritzeln und sie mit fetten Ausrufezeichen und Unterstreichungen zu versehen, um meinem unterdrückten Groll in irgendeiner Form Luft zu machen.
Mir war bewusst gewesen, dass sich dadurch nichts verändern würde – am wenigsten unser System. Meine Wut war in meinem Job nichts anderes als eine belanglose Randnotiz, die mir weder bei meinen rechtlichen Analysen half, noch dabei, einen kühlen Kopf zu bewahren, wie es von einer Anwältin eben erwartet wurde. Im Gegenteil.
Ich musste jetzt daran zurückdenken, weil sich seit einer geschlagenen Stunde das Gespräch, bei dem ich Kanzleipartner Aaron Bates meinen Cocktail übergeschüttet hatte, wie eine kaputte Kassette in meinem Kopf abspielte. Es war mir nicht gelungen, meine Verärgerung an den Rand zu schieben, und so hatte ich mit dem erstbesten Impuls reagiert, der mir bei seinen Händen an meinem Körper in den Sinn gekommen war. Nun verfolgte mich die Stimme meiner Mutter auf Schritt und Tritt, und ich wünschte, es würde mir gelingen, sie abzuschütteln.
»Meinst du nicht, dass du ein bisschen überreagierst?«
»Du hast es bestimmt nur falsch aufgefasst, Laurel.«
»Vielleicht sind nicht immer andere das Problem, sondern du.«
Du, du, du,dachte ich, während ich mir energisch die Hände wusch. Nie hatte es ich geheißen. Nie wir. Erst recht nie er.
Bei der Erinnerung an ihn schrubbte ich mir noch energischer mit der Seife über die Haut, bis sie ganz rot wurde.
»Hör nicht auf sie. Aus Laurels Mund klingt immer alles schlimmer, als es ist. Sie macht aus jeder Mücke einen Elefanten und erwartet dann von allen, dass man sie mit Samthandschuhen anfasst.«
Und trotzdem habt ihr mich gebrochen, dachte ich. Wieder und wieder und wieder und –
»Laurel.« Ich zuckte zusammen, als mir jemand eine warme Hand auf die Schulter legte und mich aus den Tiefen meiner Gedanken riss. Sowie ich den Blick von meinen roten Fingern hob und meine Sicht klarer wurde, erkannte ich Gracies besorgte Miene im Spiegel. »Ist alles okay?«
Ich weiß es nicht. Hatte ich überreagiert? Nein. Ich hatte auch damals nicht überreagiert. Ich meine, wenn man selbst entscheiden konnte, wo man seine Grenze zog, dann konnte man auch selbst entscheiden, wann jemand anderes diese überschritt, oder? Dieser Typ hatte meine Grenze überschritten. Ich war nicht das Problem.
Ich. War. Nicht. Schuld.
Mit Mühe rang ich mir ein Lächeln ab und drehte den goldenen Wasserhahn zu. »Wird das jetzt unser Ding? Krisengespräche auf öffentlichen Toiletten?«
Auch sie schmunzelte, als würde sie gerade an unsere Unterhaltung im off trial zurückdenken.
Gracie war eine der Associates, die vergangenen Oktober zur selben Zeit wie ich eine Stelle bei Gold, Bright & Partners ergattert hatte. Zwar arbeitete sie in der Zivilrechtsabteilung und somit in einem anderen Bereich, doch verbrachte unsere Gruppe inzwischen trotzdem regelmäßig Zeit miteinander, ob nun bei gemeinsamen Mittagessen oder bei Kanzleiveranstaltungen wie dieser. Und das, obwohl wir streng genommen alle im Wettbewerb zueinander standen, da unsere Leistungen in Form eines Rankings erfasst wurden, das im Oktober dieses Jahres ausgewertet werden würde.
Dem Gewinnenden winkte, neben einem Bonus in Höhe von stolzen zehntausend Dollar, obendrein die Aussicht, an der Seite der geschäftsführenden Partnerin Natalie Gold an einem Fall von öffentlichem Interesse mitzuwirken, was an sich schon eine Riesenehre war.
Derzeit lag ich im Ranking hinter Ira – einem anderen Associate aus unserer Gruppe und zudem Gracies Freund – und ihr selbst auf dem dritten Platz. Ich rechnete nicht damit, einen von ihnen noch einzuholen, auch wenn Gracie wegen ihrer Suspendierung um einige Punkte zurückgefallen war. Die beiden waren klug und ehrgeizig, als Team nahezu unschlagbar. Dabei könnte ich das Geld gut gebrauchen. Nicht nur für eine Wohnung, die meiner Schwester und mir zur Abwechslung mal ausreichend Platz bot, sondern auch weil sich mein Studienkredit nicht von allein abbezahlte. Selbst mit dem großzügigen Einstiegsgehalt bei Gold, Bright & Partners würde es ewig dauern, ihn abzustottern, wenn neben der Miete regelmäßig weitere Kosten anfielen. Erst vor wenigen Wochen hatten wir kurzzeitig ohne Strom dagestanden, weil mir eine Rechnung durchgerutscht war.
Aber immerhin hast du ein festes Dach über dem Kopf. Eins, von dem kein Putz rieselt und auch kein Wasser tropft.
»Jetzt lenk nicht von meiner Frage ab«, sagte Gracie und lehnte sich mit der Hüfte neben mich ans Waschbecken. Das gelbweiße Licht der Spiegel verschluckte ihre unzähligen Sommersprossen und ließ ihre elfenfeine Haut zusammen mit dem roséfarbenen Kleid und dem rotblonden Haar noch ein wenig blasser wirken.
Mir entwich ein Seufzen. »Es geht mir gut. Ich bin einfach nur erledigt und will nach Hause. Das ist alles.«
Und ehrlicherweise war ich auch nicht darauf aus, diesem Aaron nach diesem glorreichen Missverständnis ein zweites Mal über den Weg zu laufen.
Ihre tiefbraunen Augen fuhren prüfend über mein Gesicht, und irgendetwas an der Geste verriet mir, dass sie spüren konnte, dass da mehr war. Sie sah mich an, als bestünde ich aus Glas, und am liebsten hätte ich laut aufgelacht, weil es sich manchmal genauso anfühlte. Ich war das gläserne Mädchen, das mit Samthandschuhen angefasst werden wollte, damit es nicht zersplitterte – nicht noch einmal. Nie wieder. Denn mit jedem neuen Versuch, mich wieder zusammenzusetzen, würden die Bruchstücke ein anderes Muster formen, bis dieses mir so fremd wäre, dass ich mich selbst nicht mehr darin erkannte.
Gracie zögerte einen Moment, überlegte vermutlich, weiter nachzuhaken. Sie war gut darin, andere Menschen zu sehen und unter deren Oberfläche zu blicken. Doch ich wusste, dass sie zu rücksichtsvoll war, um mich während ihrer Seelentauchgänge auf Wrackfunde hinzuweisen und damit in Verlegenheit zu bringen. So viel hatte ich in den vergangenen Monaten bereits über sie gelernt.
»Wohnst du weit von hier?«, fragte sie stattdessen.
Meine Güte, dieses Gespräch weckte tatsächlich zu viele Erinnerungen an unseren Abend im off trial.
»Ich komme klar, Gray. Wirklich. Ich rufe mir ein Uber.«
Ich nutzte ihren Spitznamen, den ich bei ihrer Mitbewohnerin Cassidy aufgeschnappt hatte. Sie gehörte ebenfalls zu den neuen Associates und hatte mal behauptet, Gracie besäße die Angewohnheit, die Welt in Grautönen zu betrachten, da sie sich andauernd wegen allem Möglichen Sorgen machte. Und ich kam nicht umhin, zuzugeben, wie gut er zu ihr passte. Diese Situation war der beste Beweis dafür.
»Na schön.« Sie strich sich eine rotblonde Haarsträhne hinters Ohr und folgte mir zur Tür. »Gibst du mir wenigstens Bescheid, wenn du zu Hause angekommen bist?«
Ein weiteres Déjà-vu, das mich zum Lächeln brachte. »Sicher.«
Während Gracie mit einem Winken zurück zu den anderen ging, holte ich mir an der Garderobe meinen Mantel ab und verließ die Bar. Die Luft war in den vergangenen Stunden so stark abgekühlt, dass sie sich in meinen Wangen festbiss, weshalb ich die Nase in dem weichen Stoff meines karierten Schals vergrub. Zwar hatte ich Gracie gegenüber behauptet, mir ein Uber zu rufen, damit sie sich nicht unnötig Sorgen machte, doch lag meine Wohnung in Wahrheit nur knappe zwanzig Minuten Fußweg entfernt.
Ich hatte gerade einen Schritt auf die Straße gesetzt, um sie zu überqueren, als mich eine vertraute Stimme innehalten ließ. »Schon genug von der Party?«
Es war Jude, dessen Schemen neben mir an einer Laterne lehnte, wo er offenbar eine kurze Raucherpause eingelegt hatte. Wenn er den Mund nicht aufgemacht hätte, wäre er mir wahrscheinlich nicht mal aufgefallen. Die Schatten liebten Jude, rekelten sich geradezu aufreizend an ihm und schienen ihm überallhin zu folgen. Schon allein wegen seiner immerzu dunklen Kleidung und dem rabenschwarzen Haar, das im Schein der Laterne leicht silbrig glänzte. Er mochte auf einige einschüchternd wirken, aber ich kannte ihn schon länger, darum hatte sein Auftreten seine Wirkung auf mich verloren.
Wir hatten beide an der Yale Law School studiert und waren uns dort zwangsläufig häufiger begegnet, weil er mit Nora, einer ehemaligen Freundin von mir, zusammen gewesen war. Auch er gehörte zu den Junior-Associates von Gold, Bright & Partners. Da er sich jedoch aus nahezu all unseren Gruppenaktivitäten heraushielt, neigte man schnell dazu, ihn zu vergessen.
»Ja, ich gehe nach Hause«, gab ich etwas verspätet zurück und schloss die Knöpfe meines Mantels. Immerhin würden wir morgen früh wieder pünktlich in der Kanzlei erwartet. Wenn ich länger bliebe, würde ich wahrscheinlich nur noch mehr Cocktails trinken, um diesen Abend zu überstehen. Denn dort, wo ich anderen gern Grenzen setzte, fiel es mir manchmal schwer, meine eigenen einzuhalten.
Jude stieß sich von dem Laternenmast ab und drückte mit seinen langen, schlanken Fingern die Zigarette am Rand des Mülleimers zu meiner Linken aus. »Allein?«
Es war schwer zu beurteilen, ob seiner Frage ein Hauch von Zweifel anhaftete. Besorgnis konnte es nicht sein, das hier war schließlich Jude, und der Einzige, der ihm wichtig war, war er selbst, was er oft genug unter Beweis stellte.
Oder hatte er erwartet, dass ich hier irgendjemanden aufreißen würde? Berufsaffären waren nun wirklich nicht mein Ding.
»Wüsste nicht, was dagegenspricht. Ich kann auf mich selbst aufpassen«, ließ ich ihn wissen – egal, wie er es gemeint hatte.
Er bewegte seinen Unterkiefer hin und her, als hätte er schwer an meinen Worten zu knabbern. Dann nickte er gedehnt. »Okay.«
Da unser Gespräch beendet schien, verschränkte ich die Arme vor der Brust und überquerte nach einem kurzen Rechts-Links-Blick die Straße, die im Vergleich zu vorhin deutlich leerer war. Ich passierte den Stadtpark, dessen nackte Bäume düster und schaurig in den bewölkten Nachthimmel ragten, bis ich die Boylston Street erreichte. Ab und zu kamen mir Menschen mit Hunden entgegen, während in den dunklen Ecken der Gebäude und Parkplätze ein paar Schlafsäcke raschelten. Es roch nach modrigem Abwasser und Marihuana, je näher ich der Stadtmitte kam – einer Mischung, die man lernte, auszublenden, wenn man hier wohnte. Es war nicht die Art von Gegend, in der man sich zu später Stunde besonders wohlfühlte, aber solang es nur gezischte Pfiffe oder Bemerkungen waren, die mir auf meinem Weg nach Hause folgten, kam ich damit zurecht.
Die meisten Menschen, die nachts durch die Straßen streunten oder sogar auf ihnen lebten, interessierten sich ohnehin kaum für einen. Sie steckten in ihrer eigenen Welt mit ihren eigenen Problemen fest, die weitaus schwerer wogen als eine zu kleine Wohnung oder ein Studienkredit. Ich wusste das, weil ich während meines Studiums gelegentlich in einer Hilfsorganisation für bedürftige Menschen ausgeholfen hatte. In den meisten Fällen war es die Ungnädigkeit unseres Systems, die sie früher oder später in die Armut trieb.
Ich warf einen flüchtigen Blick über meine Schulter, weil ich knirschende Schritte hinter mir vernahm, die von den Hauswänden widerhallten. Sie gehörten zu der Person, die seit geraumer Zeit hinter mir lief – genau genommen, seit ich die Bar verlassen und mich draußen von Jude verabschiedet hatte. Meine Schultern verspannten sich, und ich hasste es. Ich hasste dieses beklemmende Gefühl, das sich in meine Brust krallte, hasste es, mich alle paar Minuten umdrehen oder die Straßenseite wechseln zu müssen. Dabei mochte ich die Nacht eigentlich, weil sie einen so manche Dinge trotz, vielleicht auch gerade wegen der Dunkelheit klarer sehen ließ.