Reach for the Stars - Tess Tjagvad - E-Book + Hörbuch
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Reach for the Stars Hörbuch

Tess Tjagvad

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Beschreibung

Können sie es riskieren, ihre Gefühle zuzulassen? Der bewegende Liebesroman »Reach for the Stars« von Tess Tjagvad jetzt als eBook bei dotbooks. Leistungsturner Nolan hat zum Missfallen seiner Eltern das Jurastudium abgebrochen. Um sich erst einmal über Wasser zu halten, bewirbt er sich auf eine Stelle im berühmten Circus Grenaldi. Zum Saisonstart sucht der Zirkus dringend nach Ersatz für einen verletzten Trapezkünstler. Deshalb wird Nolan kurzerhand als Akrobat eingestellt. Seine Partnerin: Yara Grenaldi, Tochter des Zirkusdirektors und zunächst alles andere als begeistert von der Idee, mit einem Laien zusammenzuarbeiten. Schon bald können die beiden die gegenseitige Anziehung allerdings nicht mehr bestreiten. Nur sind weder Nolan noch Yara darauf aus, sich zu verlieben, denn beide wissen, dass sich ihre Wege nach der Saison wieder trennen müssen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der romantische New-Adult-Roman »Reach for the Stars« von Tess Tjagvad, erster Band einer Dilogie, wird Fans von Mona Kasten und Kira Mohn begeistern – und ist so aufregend wie ein Besuch im Cirque du Soleil oder Circus Roncalli. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:13 Std. 22 min

Sprecher:Viola Müller

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Über dieses Buch:

Leistungsturner Nolan hat zum Missfallen seiner Eltern das Jurastudium abgebrochen. Um sich erst einmal über Wasser zu halten, bewirbt er sich auf eine Stelle im berühmten Circus Grenaldi. Zum Saisonstart sucht der Zirkus dringend nach Ersatz für einen verletzten Trapezkünstler. Deshalb wird Nolan kurzerhand als Akrobat eingestellt. Seine Partnerin: Yara Grenaldi, Tochter des Zirkusdirektors und zunächst alles andere als begeistert von der Idee, mit einem Laien zusammenzuarbeiten. Schon bald können die beiden die gegenseitige Anziehung allerdings nicht mehr bestreiten. Nur sind weder Nolan noch Yara darauf aus, sich zu verlieben, denn beide wissen, dass sich ihre Wege nach der Saison wieder trennen müssen …

»Reach for the Stars« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über die Autorin:

Tess Tjagvad, geb. 1995, ist gelernte Floristin, studiert aber derzeit Germanistik. Unter dem Pseudonym »barelines« avancierte sie auf Wattpad zur #1-Autorin mit u¨ber einer halben Million Reads. Tess läuft ständig mit Musik im Ohr herum. Wenn sie nicht gerade schreibt oder liest, vertreibt sie sich die Zeit beim Kraftsport oder bei Spaziergängen in der Natur.

Die Autorin auf Instagram: instagram.com/tesstjagvad

Bei dotbooks erscheinen außerdem ihre Romane der »Fort Lake«-Reihe: »Ich kann dich fühlen« und »Ich kann nicht vergessen« – die auch als Print- sowie Hörbuchausgabe bei SAGA Egmont erhältlich sind. In ihrer »Circus Grenaldi«-Reihe erscheinen bei dotbooks die Romane »Reach for the Stars« und »Go up in Flames«.

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eBook-Ausgabe Mai 2023

Copyright © der Originalausgabe 2022 by Tess Tjagvad und SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erza¨hl:perspektive, Mu¨nchen (www.erzaehlperspektive.de).

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Magda Wurst unter Verwendung von Shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-649-8

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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blog.dotbooks.de/

Tess Tjagvad

Reach for the Stars

Roman: Circus Grenaldi Band 1

dotbooks.

Für alle, die noch nicht angekommen sind.

– egal, auf welche Weise.

Dieser Ort ist für euch.

Prolog | Yara

29. März, Toronto

Wie es sich anfühlte, knapp fünf Meter über dem Boden am Luftring zu hängen? Als müsste man in einem Meer aus funkelnden Lichtern nur seine Hand ausstrecken, um nach den Sternen zu greifen.

Wann immer die Manege bis obenhin mit der Anspannung der Zuschauerinnen und Zuschauer gefüllt war, vergaß ich alles um mich herum – den Boden unter mir genauso wie die rund zweitausendfünfhundert Augenpaare, die während einer Show auf mich gerichtet waren. Dann gab es nur noch mich und das mit Lichtern bestickte Zeltdach, das so endlos schien wie der wolkenlose Nachthimmel selbst.

Der Circus Grenaldi war eine Parallelwelt. Das verstand man nur, wenn man hinter seinen Zäunen, die das Zirkusdorf von der Außenwelt abschirmten, aufgewachsen war. Nicht nur die Atmosphäre war besonders, es waren auch die Menschen. Denn hier lebten Leute aus diversen Nationen mit verschiedensten Geschichten zusammen, weil sie alle ein Gefühl verband: die Liebe zur Kunst.

Der Circus Grenaldi stellte so etwas wie ein Sammelbecken für kreative Köpfe dar, die gemeinsam eine große, kunterbunte Familie ergaben.

Eigentlich war es unmöglich, sich zwischen all diesen Menschen allein zu fühlen, und doch tat ich es.

Weil sie alle kamen und wieder gingen.

Wie Ebbe und Flut, Tag und Nacht.

Der Einzige, der neben meiner Familie bisher immer geblieben war, war Oscar. Er war nicht nur meine Konstante, er war auch mein bester Freund und diesjähriger Showpartner.

Für gewöhnlich arbeitete ich lieber allein, da ein Partner stets ein doppeltes Risiko bedeutete. Plötzlich war man nicht mehr ausschließlich für sein eigenes Wohl verantwortlich, sondern auch für das des anderen. Dafür brauchte es eine Menge Vertrauen. Etwas, das ich kaum noch jemandem entgegenbrachte.

Oscar war eine der Ausnahmen und eignete sich daher als Partner perfekt. Er vertraute mir, und ich vertraute ihm.

Aber manchmal genügte selbst das nicht.

Vielleicht nannte man es nicht trust fall, weil man darauf vertraute, dass der andere einen auffing. Vielleicht nannte man es trust fall, weil man manchmal eben trotz Vertrauen fiel.

Und wer hoch flog, konnte tief fallen.

Das wurde mir in der Sekunde bewusst, in der ich sah, wie Oscars Hand abrutschte und ich realisierte, dass ich nichts tun konnte, um es zu verhindern …

1 | Nolan

Dieses Jahr hatte ich mir zu meinem Geburtstag kurzerhand selbst ein Geschenk gemacht und das Jurastudium geschmissen.

Diese Hiobsbotschaft meinem Vater, der stets auf Erfolg bedacht war, beim gemeinsamen Kuchenessen mit den Verwandten zu verkünden schien nicht meine beste Idee gewesen zu sein. Aber wenn ich ehrlich war, hatte ich dem Moment schon entgegengefiebert, seit ich die Austrittserklärung unterschrieben hatte.

Warum man für so eine Aktion ausgerechnet seinen eigenen Geburtstag wählt? Weil es für mich kein besseres Geschenk als Freiheit gab.

In meinem ganzen Leben hatte ich bis dahin noch keinen erfüllenderen Moment genossen, denn mit einem Mal hatte ich mich um so vieles leichter gefühlt.

Zwei Wochen waren seitdem vergangen, und ich hatte beschlossen, Anspruch auf die Couch meiner besten Freundin Margo zu erheben, bis ich einen Job fand. Ihre unbequeme, mit weißen Katzenhaaren übersäte Couch wohlgemerkt. Alles, was mich nachts davor bewahrte, daran zu ersticken, waren meine Allergietabletten.

Auch in dieser Sekunde musste ich wieder mit ansehen, wie sich ihr fetter Kater Maxwell mit einem Maunzen auf meiner sorgsam gefalteten Wolldecke ausbreitete. Er klang jedes Mal, als würde er sich beklagen wollen, dabei wusste ich wirklich nicht, was an seinem Leben so dermaßen frustrierend sein sollte. Der Kerl müsste mal in meiner Haut stecken, dann wüsste er, wessen Dasein hier das beklagenswertere war.

Obwohl mein Geburtstag nun schon einige Zeit zurücklag, konnte ich die Stimme meines Dads noch hören, wann immer ich nachts versuchte, einzuschlafen.

Du hast doch den Verstand verloren, Nolan! Wie kannst du es wagen, ohne meine Erlaubnis dein Studium zu beenden? Mach es sofort rückgängig! Was soll das heißen, es geht nicht? Wie stellst du dir das vor? Was ist deine Alternative? Das Turnen? Dass ich nicht lache! Dieser Weibersport hat dir Flausen in den Kopf gesetzt, Junge! Glaub mir, ich habe sicher keine Söhne großgezogen, damit sich einer von ihnen in Strumpfhosen vor Gott und der Welt lächerlich macht!

Man sollte meinen, ich wäre inzwischen abgehärtet, so oft wie ich mir Sprüche wie diese schon hatte anhören müssen, aber in Wahrheit traf Dad mich jedes Mal wieder damit. Es half nicht einmal, dagegen anzureden, weil er in seiner unzeitgemäßen Meinung so festgefahren war, dass er stets abblockte.

Das Turnen war ihm schon übel aufgestoßen, als ich noch ein kleiner Junge gewesen war, und es hatte sich bis heute nicht geändert, obgleich ich insgeheim immer gehofft hatte, dass er es eines Tages akzeptieren würde.

Vielleicht hatte ich die vergangenen Jahre deshalb so verzweifelt darum gekämpft, ihm zu beweisen, wie gut ich darin war. Nur war gut letztlich nicht gut genug für meine Familie. Es war nur das silberne Trostpflaster, das man bekam, wenn es für Gold nicht gereicht hatte.

Der Auszug aus meiner Wohnung, die er mir zum Studienbeginn gekauft hatte, war somit die einzig logische Konsequenz, um nicht länger von jemandem abhängig sein zu müssen, der weder meine Interessen noch meine Entscheidungen unterstützte.

Dass ich nun in der WG meiner besten Freundin gestrandet war, wussten meine Eltern nicht. Wahrscheinlich würden sie es auch nie erfahren.

Untertauchen war mein Ding. Es gab Zeiten, da hatte ich mich nur bei ihnen gemeldet, wenn es unumgänglich gewesen war. Jetzt wünschte ich, ich hätte schon viel früher den Mut gefunden, diese Aktion durchzuziehen. Das hätte mir immerhin drei Jahre Studium erspart.

»Oh mein Gott, Nole! Du wirst nicht glauben, was ich gerade gesehen habe.« Margo knallte die Haustür hinter sich zu, schlüpfte aus ihren Schuhen und schwang sich über die Lehne zu mir aufs Sofa. »Hier, sieh mal.« Sie drückte mir ihr Handy in die Hand, auf dem Instagram geöffnet war.

Ich benötigte einen Augenblick, bis ich verstand, dass die Werbeanzeige auf ihrem Bildschirm von der Anwaltskanzlei meines Dads stammte – A. R. James & Son.

Wow. Mein Abgang lag kaum zwei Wochen zurück, und er verspürte bereits den Drang, den Kanzleinamen anzupassen? Das war … beachtlich.

Dad hatte das Unternehmen nach dem Ruhestand meines Grandpas übernommen und mit dem offiziellen Eintritt meines großen Bruders Aiden das »Son« kurzerhand um ein simples »s« ergänzt. Schließlich hatte für ihn immer festgestanden, dass ich nach meinem Studium sowieso ins Geschäft mit einsteigen würde.

Beängstigend, wie viel Macht ein einziger Buchstabe besaß. War er da, erschwerte er dir das Atmen. Fehlte er plötzlich, bekamst du einen Moment lang gar keine Luft mehr.

»Schätze, das hat sein Ego nicht verkraftet«, murmelte Margo.

»Was du nicht sagst.« Ich gab ihr das Handy zurück und griff stattdessen wieder nach meinem Collegeblock. »Wieso wird dir überhaupt Werbung dafür angezeigt?«

Ihre Wangen färbten sich so zartrosa wie die Spitzen ihres blonden Haares. »Eventuell habe ich vor ein paar Tagen mal Bilder von Aiden gegoogelt und bin dabei auf der Website der Kanzlei gelandet …«

Mir entwich ein schweres Seufzen. Das war nur einer der Nachteile, wenn die eigene Familie in der Öffentlichkeit stand: Es waren überall Bilder von ihr zu finden. Dad gehörte zu Torontos Topanwälten, Mom war Vorsitzende im Stadtrat, und mein großer Bruder Aiden … war einfach Aiden. Er besaß die Gabe, alles, was er anfasste, in Gold zu verwandeln, alles, was er sich vornahm, zu erreichen – ganz egal, was.

Ich hatte mein Leben lang in seinem Schatten gestanden, mit ansehen müssen, wie er reihenweise Erfolge einheimste oder die schönsten Mädchen mit nach Hause brachte. An manchen Tagen hatte ich das Gefühl, ihm würde die verfluchte Welt zu Füßen liegen, während ich mich auf Zehenspitzen zu ihr hinaufreckte und einfach nicht an sie herankam. Allmählich hatte ich es satt.

»Tut mir leid.« Margo legte ihr Handy beiseite und zog ihre Beine an die Brust. »Ich hätt’s dir nicht zeigen sollen.«

Ich zuckte mit den Schultern, den Blick dabei so eisern auf die Notizen in meiner Hand geheftet, dass sich die Sätze darauf zu einem unleserlichen Buchstabenknäuel verwoben.

»Früher oder später hätte ich es sowieso gesehen.«

»Vermutlich.« Sie schwieg einen Augenblick, ehe sie auf den Block deutete. »Was machst du da eigentlich?«

»Hab gleich ein Bewerbungsgespräch.«

Und die letzten zehn Minuten, bevor ich losmusste, wollte ich nutzen, um zumindest ein paar lausige Fakten aus dem Internet abzuschreiben, an denen ich mich bei Nachfragen notfalls entlanghangeln konnte.

»Bewerbungsgespräch? Davon hast du gar nichts erzählt.« Ihre blauen Augen weiteten sich überrascht. »Wo?«

»Im Zirkus.«

Margo blinzelte. »Im Zirkus. Du machst Witze, richtig?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie suchen für ihre diesjährige Tour noch jemanden, der sofort anfangen kann.«

Sechs Wochen Toronto, vier Wochen Ottawa, acht Wochen Montreal und sechs Wochen Quebec. Kurzum: eine willkommene Abwechslung, um die vergangenen Wochen hinter mir zu lassen.

»Anfangen als was? Tierpfleger?« Sie stieß ein missbilligendes Schnauben aus, das typisch für Margo war.

»Die Grenaldis haben keine Tiere mehr. Die arbeiten seit Jahren mit Hologrammen in ihrer Show. Kannst dir deinen Vortrag also sparen.«

»MitHologrammen?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Wie soll ich mir das vorstellen?«

»Du googelst doch so gern. Sieh’s dir an«, entgegnete ich, steckte den Notizzettel in meine Hosentasche und stand auf.

Ich selbst hatte es getan und war von den Bildern ebenso fasziniert gewesen wie von den diversen Videos und internationalen Zeitungsartikeln. Pferde aus Sternenstaub, die durch die Manege trabten, Elefanten in Lebensgröße und Tiger, die durch brennende Reifen sprangen …

Der Circus Grenaldi gehörte zu den erfolgreichsten und größten Zirkusunternehmen weltweit. Selbst die New York Times hatte im vergangenen Jahr einen Artikel über die »fortschrittliche Entwicklung« und »akrobatische Meisterleistung« verfasst.

Kein Wunder, dass sich Artistinnen und Artisten aus aller Welt darum rissen, in den Grenaldi-Shows auftreten zu dürfen. Umso weniger verstand ich, wieso sie auf meine Bewerbung überhaupt geantwortet hatten.

Margo folgte mir in die Küche. »Okay, und als was hast du dich dann beworben?«

»Als Artist.«

»Das wird ja immer besser.« Sie prustete vergnügt. »Vom Jurastudenten zum Zirkusclown. Meine Damen und Herren: Nolan James! Du solltest eine Biografie schreiben, die würde bestimmt ein Bestseller werden.«

Ich verdrehte die Augen. »Sehr witzig. Nicht als Clown, sondern als Akrobat. Es wäre nur für eine Saison, bis ich mich fürs kommende Wintersemester im Januar einschreiben kann.«

Bis dahin würde ich hoffentlich auch wieder wissen, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Oder wer ich sein wollte. Und ein Job als Akrobat, bei dem ich mit meiner Leidenschaft Geld verdienen konnte, war mir um einiges lieber als eine langweilige Aushilfsstelle in einem Fast-Food-Restaurant.

»Warte mal, warte mal.« Margo hob die Hand. »Ich dachte, du hättest deinem Dad sämtliches Geld zurückgezahlt?«

»Hab ich auch.« Den Großteil zumindest.

»Wie willst du dir dann das College leisten?«

»Ich versuch’s mit einem Sportstipendium«, murmelte ich, während ich im Schrank nach einem Glas suchte und es anschließend mit Wasser füllte. »Vielleicht kann ich über den Turnerverband eins bekommen.«

»Und wenn nicht?« Margo schürzte die Lippen. »Du hättest das Geld behalten sollen, für genau solche Fälle.«

Vielleicht hatte sie recht. Dann hätte ich mich jetzt zumindest nicht händeringend um Geld bemühen müssen. Aber ich wollte meinen Eltern nicht den Eindruck vermitteln, ich würde sie brauchen. Ich wollte das hier allein schaffen.

»Ich will kein Geld von jemandem, der mich nicht so akzeptieren kann, wie ich bin, MJ.« Ich begegnete ihrem Blick, in dem Mitgefühl aufflackerte. »Guck nicht so. Mit der Stelle im Zirkus gehe ich dir und den anderen beiden nicht mehr auf die Nerven und hab trotzdem ein Dach über dem Kopf, bis ich weiß, wie’s weitergehen soll. Ich komme klar.«

Das tue ich immer.

Margos Mundwinkel zuckte. »Ein Dach oder ein … Zelt?«

Ich stöhnte auf. »Warum erzähle ich dir überhaupt davon?« Kopfschüttelnd stellte ich das Glas auf den Tresen und ging in den Flur.

»Nole, warte«, bat sie und hielt mich am Arm zurück. »Es tut mir leid. Du weißt, dass ich nur Spaß mache, oder?«

Natürlich wusste ich das. Margo und ich kannten uns nun schon seit etwa drei Jahren. Genau genommen, seit ich mir auf einer Silvesterparty meines Instituts die Seele aus dem Leib gekotzt hatte.

Zu meiner Verteidigung: Ich hatte gerade mit ansehen müssen, wie das Mädchen, in das ich verliebt gewesen war, meinem Bruder die Zunge in den Hals gesteckt hatte.

Margo und ihre zwei Mitbewohner Freddy und Malik hatten mich daraufhin betrunken aufgegabelt und, weil mir meine Adresse entfallen war, mit zu sich in die WG genommen. Dort hatten sie mich auf ihrer Couch ausnüchtern lassen und mir am nächsten Morgen das weltbeste Katerfrühstück zubereitet. Das war der Beginn unserer Freundschaft gewesen. Und meiner innigen Beziehung zu ihrer Couch.

Ich schloss die Augen, schluckte. »Sie werden mich sowieso nicht nehmen. Ich hab keinerlei Erfahrung.«

»Was für ein Quatsch.« Margo wischte meine Zweifel mit einer schnellen Geste beiseite. »Du bist immer noch Vizemeister. Ist dir das denn gar nichts wert?«

Vizemeister. Ich knirschte mit den Zähnen.

Nachdem ich letzten Sommer bei den kanadischen Turnmeisterschaften nicht den ersten, sondern den zweiten Platz belegt hatte, war ich so sauer auf mich selbst gewesen, dass ich meine Sportkarriere vorübergehend an den Nagel gehängt hatte. Wenn ich jetzt zum Training ging, dann nur, um den Kopf freizubekommen.

Sehr zum Verdruss meines Vereinstrainers. Curtis versuchte nach wie vor, mich regelmäßig von neuen Wettkampfanmeldungen zu überzeugen, in der Hoffnung, meinen alten Kampfgeist zu wecken. Mit einem Stipendium stünden die Chancen dahingehend gar nicht schlecht.

Zumal ich zugeben musste, dass ich nach dem Streit mit meinem Dad doppelt so interessiert daran war, ihm einen potenziellen Erfolg unter die Nase zu reiben.

Ich öffnete bereits den Mund, um etwas auf Margos Frage zu erwidern, als hinter ihr die Tür aufging und den Blick auf einen verschlafenen und extrem schlecht gelaunten Freddy freigab. »Müsst ihr euch um diese Uhrzeit direkt vor meiner Tür unterhalten?«

Margo drehte sich mit irritierter Miene zu ihm um. »Um diese Uhrzeit? Es ist Viertel nach eins, Fred. Ich war schon in der Bibliothek und auf dem Markt.«

Freddy schnitt eine Grimasse. »Und hast du auch bis um halb vier gearbeitet? Lass mich kurz überlegen … Nein.«

Freddy war als Koch in einer großen Eventfirma tätig. Nahezu jedes Wochenende steckte er bis spät abends auf irgendwelchen Veranstaltungen fest und stand am nächsten Tag nicht vor Mittag auf.

Margos anderer Mitbewohner, Malik, verbrachte seine Zeit neuerdings beinahe ausschließlich mit seiner Freundin, weshalb man ihn nur noch selten antraf. Wahrscheinlich funktionierte ihr Zusammenleben deshalb so gut, weil sie sich nie in Quere kamen.

Freddy rieb sich über die geröteten Augen und sah mir dabei zu, wie ich in meine abgetragenen Timberlands stieg. »Und was hast du jetzt vor?«

»Ich fahre zu meinem Bewerbungsgespräch«, antwortete ich.

»Bewerbungsgespräch? Wo?«

»Im Zirkus.«

Freddy legte den Kopf in den Nacken und lachte gellend auf. »Ja, na klar. Du mich auch, Penner.« Mit einem Winken steuerte er auf das Badezimmer zu. »Viel Spaß, bei was auch immer.«

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, warf Margo mir einen entschuldigenden Blick zu. »Du weißt, wie er ist. Beachte ihn gar nicht.«

»Hatte ich nicht vor.« Ich schlüpfte in meinen Mantel und öffnete die Haustür. »Wir sehen uns später.«

*

Das Winterlager des Circus Grenaldi lag ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Es war ein schönes mit Efeu bewachsenes Herrenhaus, hinter dessen rissiger Fassade eine Fabrikhalle aufragte. Darin schien sich eine Werkstatt zu befinden, aus der selbst auf die hundert Meter Entfernung laute Geräusche an die kühle Luft drangen.

Sowie man mir das große Eisentor geöffnet und mich ins Haus hatte eintreten lassen, folgte ich den Ausschilderungen zum Büro. Ich durchquerte ein paar Gänge mit dunklem Holzfußboden, blauen Wänden und imposanten Kronleuchtern. Schließlich gelangte ich in einen kleinen Vorraum mit einem Tresen, hinter dem eine geschäftig aussehende Dame saß und Dokumente sortierte.

Als sie mich bemerkte, hob sie die Augenbrauen. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich hoffe doch, Ma’am«, antwortete ich. »Mein Name ist Nolan James. Ich habe um zwei ein Vorstellungsgespräch.«

Die Dame musterte mich über den Rand ihrer Brille hinweg. »Mr Grenaldi führt gerade ein Telefonat. Wenn Sie sich so lange setzen würden …«

Sie deutete auf einen Stuhl am anderen Ende des Raumes, auf dem ich gehorsam Platz nahm. Dabei ließ ich meinen Blick zu dem goldenen Zirkuslogo an der Wand wandern, dessen Symbol Sonne und Mond gleichermaßen abbildete und von einem geschwungenen Grenaldi-Schriftzug durchbrochen wurde. Darüber und darunter hingen diverse Bilderrahmen mit Showplakaten der vergangenen Jahre. Ich sah mir gerade eines vom vorletzten Jahr genauer an, da spürte ich in der Hosentasche mein Handy vibrieren. Es war eine Nachricht von Margo in unserem Gruppenchat.

Margo: Viel Glück, Nole! 🤡 Du schaffst das!

Freddy: Warte mal, dann war das vorhin kein Scherz? Hey Mann, viel Glück und so!

Malik: Glück wobei??? Was hab ich verpasst?

Margo: Tja, das hat man davon, wenn man 24/7 nur noch mit seiner Freundin abhängt.

Malik: Das ist nicht fair. ☹ Wer klärt mich auf?

Ich antwortete, dass ich mich später melden würde, und wurde schon in der nächsten Sekunde aufgerufen.

»Mr James? Er wartet jetzt auf Sie«, sagte die Dame vom Tresen. »Einfach den Gang runter, die dritte Tür auf der linken Seite.«

Mit stolperndem Herzen folgte ich ihrer Anweisung und klopfte wenig später an eine Tür, an der in goldenen Lettern Direktion stand.

Sobald ich ein »Herein« hörte, trat ich ein und sah, wie sich ein hochgewachsener Mann von seinem Stuhl hochstemmte. Sein schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, der Bart voll, aber gepflegt. Im Kontrast dazu standen zwei topasblaue Augen, aus denen er mich aufmerksam musterte.

Obwohl er noch kein Wort verloren hatte, spürte ich die Autorität, die von ihm ausging, als würde sie in sanften Wellen um ihn herum pulsieren.

»Mr James, richtig? Freut mich, André Grenaldi.« Er reichte mir seine Hand. »Nehmen Sie Platz. Ich hoffe, ich habe Sie nicht lange warten lassen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, haben Sie nicht.«

»Gut.« Mr Grenaldi ließ sich mit einem Ächzen zurück auf den Stuhl sinken und scrollte durch ein Dokument auf seinem Laptop, das wahrscheinlich mein Bewerbungsformular war. »Wir sparen uns an dieser Stelle mal den Small Talk und kommen gleich zum Punkt. Sie haben sich um die Akrobatenstelle beworben, ist das korrekt?«

»Ja, Sir.«

»Aber Ihre angegebenen Referenzen beziehen sich lediglich aufs Leistungsturnen.« Er schaute mich an und hob eine Augenbraue. »Das bedeutet, Sie haben keine Erfahrung mit Showakrobatik?«

Ich bemerkte, dass sein Englisch nicht akzentfrei war, und erinnerte mich im selben Moment daran, gelesen zu haben, dass die Familie Grenaldi ursprünglich aus der französischen Provinz stammte.

»Nein. Aber ich lerne schnell«, antwortete ich und verfluchte meine Stimme innerlich dafür, dass sie so unsicher klang.

Sein Blick glitt erneut über meinen Körper. »Sie waren letztes Jahr an den Meisterschaften in Montreal beteiligt.« Er formulierte es nicht als Frage, und doch stimmte ich zu.

»Zweiter Platz.«

Ich nickte wieder.

»Warum ist es nicht der erste geworden?«

Weil ich immer nur der Zweite bin. »Meine Landung in der letzten Runde war unsauber«, erwiderte ich verbissen.

Ich wusste noch zu gut, wie ich nach meinem doppelten Salto auf der Matte gelandet und ins Straucheln geraten war.

Mr Grenaldi gab ein tiefes »Hmmm« von sich. »Sehr ärgerlich.«

Wem sagen Sie das?

Er lehnte sich zurück und faltete die Hände in seinem Schoß. »Hören Sie, Mr James, für gewöhnlich nehme ich keine Leute ohne Erfahrung. Aber mir läuft die Zeit davon. Die Premiere ist in anderthalb Wochen, und ich brauche dringend einen Ersatz. Also habe ich mir im Voraus einige Ihrer Trainings– und Wettkampfvideos angesehen. Ich habe sogar mit Ihrem ehemaligen Trainer telefoniert, der höchst angetan von Ihnen schien. Deshalb bin ich gewillt, Ihnen eine Chance zu geben.«

Ich blinzelte perplex. War das sein Ernst? Ich hatte kaum fünf Worte mit ihm gewechselt.

»Ich … wow, das kommt …« Überraschend? Mit einem Räuspern lehnte ich mich vor. »Auf die Gefahr hin, dass ich jetzt völlig unprofessionell klinge, Mr Grenaldi, aber … warum ich?«

Es gab doch mit Sicherheit noch eine Handvoll anderer Bewerberinnen und Bewerber, die sich auf diese Stelle gemeldet hatten und dabei weitaus mehr Erfahrung vorweisen konnten.

Sein Mundwinkel zuckte. »Glauben Sie mir, so kurz vor Beginn der Saison ist es gar nicht so einfach, noch gute Leute zu finden. Viele sind längst unter Vertrag, und die übrigen Bewerber kamen aus diversen Gründen nicht infrage. Ich suche jemanden in Ihrem Alter, Mr James. Jemanden, dem man die Geschichte, die Sie spielen sollen, auch abkauft.«

»Okay … Ja, klar. Ich kann …«

Mr Grenaldi unterbrach mich mit einer Geste. »Ich warne Sie im Voraus, das Ganze wird kein Zuckerschlecken. Sie werden in den nächsten Tagen hart trainieren müssen, und das sage ich nicht nur, weil es hierbei um den Auftritt meiner Tochter geht und Sie ihren Showpartner ersetzen sollen. Ihnen darf unter keinen Umständen anzusehen sein, dass Sie die Nummer erst seit ein paar Tagen, meinetwegen auch erst seit ein paar Stunden, draufhaben. Es muss wirken, als wären Ihnen die Bewegungen in Fleisch und Blut übergegangen. Meinen Sie, das bekommen Sie hin?«

Ich dachte einen Augenblick darüber nach und geriet ins Zweifeln. Würde ich das schaffen? Der kürzeste Zeitraum, in dem ich eine Bodenkür hatte einstudieren müssen, war knapp eine Woche gewesen – für siebzig bis neunzig Sekunden. In elf Tagen eine minutenlange Akrobatiknummer zu lernen war beinahe unvorstellbar. Aber ich wollte diesen Job. Ich brauchte diesen Job. Ich konnte Margo und den anderen nicht ewig auf der Tasche liegen, zumal die Wohnung einfach zu klein für vier Personen war. Das hier war meine Chance, aus Toronto rauszukommen und von all dem Mist der vergangenen Wochen Abstand zu gewinnen. Ich musste es versuchen.

»Ja«, sagte ich also, nachdem ich einmal tief Luft geholt hatte. »Ich denke, das bekomme ich hin.«

Mr Grenaldi lächelte. »Exzellent. Mittagessen und Unterkunft werden Ihnen in diesem Fall gestellt. Verdiensttechnisch liegen wir damit bei tausendsechshundert im Monat. Mehr kann ich Ihnen bei Ihrem derzeitigen Erfahrungsstand beim besten Willen nicht bieten, und das ist schon großzügig.«

»Kein Problem.«

In Wahrheit war es mehr, als ich erwartet hatte. Überhaupt hatte ich etwas ganz anderes erwartet, als ich hergekommen war. Ich dachte, das hier würde ein richtiges Vorstellungsgespräch werden. Eine Begutachtung meiner Stärken und Schwächen, bla, bla, bla. Ich hatte mir sogar mein bestes Hemd angezogen. Der Kerl musste echt verzweifelt sein.

»Sie sagten, Sie könnten sofort loslegen?«, fragte er.

Ich nickte.

»Wir haben unser Lager im Grange Park schon aufgeschlagen. Kommen Sie morgen früh gegen zehn mit Ihren Sachen direkt zum Zirkus zu Wagen Nummer 12. Dann gebe ich Ihnen den Schlüssel für Ihren Wohnwagen.« Er druckte etwas aus und reichte mir im Anschluss einen Stapel Papiere. »Sehen Sie sich die zu Hause in Ruhe an, und bringen Sie sie unterschrieben mit.«

»Sicher.« Ich warf einen kurzen Blick auf den Vertrag. »Ich werde da sein.«

»Fantastisch.« Er stand auf, und ich tat es ihm gleich, um ihm zum Abschied erneut die Hand zu schütteln.

»Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Sir.«

»Nun, ich muss zugeben, dass Ihr Alter vielleicht nicht der einzige Grund ist, warum ich Ihnen eine Chance geben möchte, Mr James. Wenn ich ehrlich bin, erinnern Sie mich auch ein bisschen an mich selbst.«

Ich legte die Stirn in Falten. »Ach ja?«

»Sie haben bis vor Kurzem noch Jura studiert, nicht? Als ich so alt war wie Sie, habe ich mich auch eine Zeit lang an Jura versucht, weil ich mit dem Zirkusgeschäft meines Vaters nichts am Hut haben wollte«, erzählte er.

»Warum nicht?«

Mr Grenaldi zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, es wäre nicht genug. Ich war mir sicher, der Zirkus hätte auf lange Sicht keine hohe Überlebenschance und dass ich mir deshalb etwas suchen müsse, das mir mehr Perspektiven bietet. Zwei Jahre später brach ich das Studium ab, weil ich feststellte, dass trockene Paragrafen nichts sind, womit ich mich mein Leben lang rumschlagen will. Also fing ich an, mich mit dem Zirkus auseinanderzusetzen, mir Dinge einfallen zu lassen, die ihn größer und bekannter machen … Und hier stehen wir nun.« Seine harten Gesichtszüge schmolzen unter einem Lächeln. »Der Zirkus übt eine Faszination auf uns aus, die wir nicht verstehen können, bis wir sie selbst erleben, Mr James. Vielleicht machen Sie dieselbe Erfahrung wie ich.«

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ihm ganz offen zu sagen, dass mein Weg anders aussah und der Zirkus nichts anderes bleiben würde als eine Brücke, die mir bestenfalls noch mein Motivationsschreiben für ein Stipendium aufhübschte.

Stattdessen nickte ich nur und antwortete: »Ja. Vielleicht. So oder so, ich werde Sie nicht enttäuschen, Sir.«

Mit den Papieren unter dem Arm wandte ich mich zur Tür.

»Das hoffe ich«, entgegnete er. »Oh, und Mr James?«

Ich hielt inne. »Ja?«

Sein Lächeln war verschwunden. »Ich rate Ihnen, Ihre Hände außerhalb der Manege bei sich zu behalten.«

2 | Yara

Oscar lag seit seinem Sturz vom Ring vor wenigen Tagen im Krankenhaus. Er war bei unserer letzten Probe in drei Metern Höhe abgerutscht und dabei so unglücklich auf die Seite gefallen, dass er sich zwei Rippen gebrochen und Teile seines Oberschenkelhalsknochens zertrümmert hatte.

Zwar war die Operation trotz anfänglicher Komplikationen gut verlaufen, doch konnte er jetzt natürlich trotzdem nicht mehr als mein Partner auftreten.

Was mich dazu gebracht hatte, unsere Nummer für die Show so weit abzuändern, dass ich theoretisch auch ohne ihn auftreten könnte. Könnte deshalb, weil ich die Rechnung ohne Papa gemacht hatte.

Er stand seit einer Weile mit unserem Betriebsleiter Marty unten in der Manege und unterhielt sich, seinen wachsamen Blick dabei stets auf mich und mein Training gerichtet.

Das wusste ich auch, ohne hinzusehen.

Es war also nur eine Frage der Zeit, bis Marty das Zelt verließ und er den Luftring so weit nach unten fuhr, dass ich meine Füße auf dem Boden absetzen konnte.

»Was soll das werden?«, fragte er mit einer ernsten Miene, die jeden anderen zweifellos verunsichert hätte. Mich nicht.

»Was meinst du? Ich trainiere«, gab ich unbeeindruckt zurück.

»Das sehe ich.« Er kam näher. »Nur ist es nicht die Nummer, die ausgemacht war. Oder irre ich mich?«

»Nein. Es ist meine eigene.«

Papa gab ein schweres Seufzen von sich, das klang, als kostete selbst das ihn Nerven. »Yara, ich habe dir gestern schon gesagt, dass das so nicht funktioniert. Ich kann dich bei einem Partner-Motto nicht allein auftreten lassen. Wie sähe das denn aus, hm?«

Ich verdrehte die Augen.

Dualité. Das war das Motto der diesjährigen Zirkustour. Die Philosophie, die hinter dem Begriff Dualismus steckte, besagte, dass alles, was uns umgab, aus zwei unzertrennlichen Gegensätzen bestand, die unvereinbar schienen, zusammen aber dennoch ein Ganzes bildeten, weil sie einander ergänzten oder bedingten.

Wie Himmel und Erde. Sommer und Winter. Kopf und Herz. Oder, in Oscars und meinem Fall, Sonne und Mond.

Nicht, dass ich bis vor drei Tagen ein Problem damit gehabt hätte, im Gegenteil. Aber jetzt hatte ich eins, denn es ging hier um meinen Platz in der Show. Und den würde ich nicht so leichtfertig hergeben.

»Dann lässt du mich also lieber gar nicht auftreten, als eine Ausnahme zu machen?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Du wirst auftreten, Chérie. Aber nicht allein. Ich habe dir gerade eben Ersatz besorgt.«

»Was?« Vor Schreck rutschte ich von der Stange und sprang auf. »Was für einen Ersatz? Ich will keinen Ersatz!«

Wenn ich schon mit jemandem zusammenarbeiten musste, dann sollte es Oscar sein. Ich vertraute niemandem mehr als ihm.

»Sofern du bei der Show dabei sein willst, wirst du dich wohl oder übel mit dem Gedanken anfreunden müssen.« Papa sprach betont ruhig.

War das sein Ernst? Meine Augen verengten sich. »Von was für einem Typen reden wir hier?«

»Er ist Turner. Etwa dein Alter.«

»Ein Turner?« Ich lachte auf. »Du willst, dass ich mit einem Laien zusammenarbeite? Das ist ein Scherz, oder?«

»Er ist die beste Option, die wir haben«, entgegnete er. »Die anderen Bewerber hätten weder zum Zirkus noch zu dir gepasst.«

Mir entfuhr ein Schnauben. »Und das kannst du natürlich besser beurteilen als ich. Wie kommst du dazu, so jemanden einzustellen?«

Abgesehen davon, dass er es hinter meinem Rücken getan hatte, sah es ihm kein bisschen ähnlich, solche Risiken einzugehen. Der gute Ruf des Circus Grenaldi war ihm heilig. Schließlich hatte er hart für ihn und unseren Bekanntheitsgrad gearbeitet.

»Wie?« Papa deutete nachdrücklich auf seine Armbanduhr. »Chérie, mir geht die Zeit aus! Es sind nicht mehr viele Tage bis zur Premiere. Du stellst dir das zu einfach vor, so kurzfristig noch jemand Geeigneten zu finden. Außerdem musst du doch einsehen, dass eine Nummer ohne Partner bei einem dualistischen Thema mit zwei Gegensätzen keinen Sinn ergibt.«

Vielleicht musste ich das. Gefallen fand ich an seiner Idee dennoch nicht. Es war schon sehr lange her, dass ich mit einem externen Partner zusammengearbeitet hatte. Aus gutem Grund.

Ich blies die Backen auf. »Nicht zu fassen, dass du mich lieber einem unerfahrenen Fremden anvertraust, als mich mein Ding machen zu lassen.«

»Erstens werde ich ein Auge auf ihn und seine Arbeit haben. Zweitens würde ich ihn nie herbeordern, wenn ich ein schlechtes Gefühl dabei hätte. Und drittens zwinge ich dich nicht dazu.« Er zupfte an meinem Zopf und lächelte, was seine Gesichtszüge so viel warmherziger und weicher aussehen ließ. »Du könntest genauso gut eine Auszeit nehmen und deinen Bruder dafür beim Nachmittagsprogramm unterstützen.«

Ich verzog den Mund. Eine Manege voller aufgeregter Kinder, die etwas sehen und lernen wollten? Nein, das war nun wirklich nicht mein Ding.

Was das anging, unterschied ich mich von meinem großen Bruder Elio, der neben den Abendshows noch Spaß daran fand, den Kleinen an den Wochenenden gelegentlich etwas beizubringen.

»Gib ihm eine Chance, in Ordnung?«, bat Papa. »Wenn es nicht funktioniert und er sich doch als Reinfall erweist, werde ich mir überlegen, ob und wie wir auf die Schnelle noch umdisponieren können, okay?«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wann kommt er an?«

»Morgen früh. Vielleicht könntest du ihn herumführen, bevor ihr mit dem Training beginnt. Ich habe noch ein bisschen Papierkram zu erledigen.«

»Schön, von mir aus.« Ich seufzte.

Mir war bewusst, dass es ohnehin keinen Sinn hatte, weiter dagegen anzureden. Sobald Papa sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es unmöglich, ihn davon abzubringen. Vielleicht hatte er mir das ein Stück weit vererbt.

»Danke.« Er drückte meine Hand. »Ich bin mir sicher, dass er es mit deiner Hilfe zügig lernen wird. Du bist viel zu perfektionistisch, um ihm Fehler durchgehen zu lassen.«

Sein Schmunzeln ließ mich kalt. »Haha.«

»Lass es für heute gut sein mit dem Training«, schlug er vor. »Fahr ins Krankenhaus, und sieh nach Oscar. Er freut sich bestimmt über ein wenig Gesellschaft.«

Ich nickte gedankenverloren. »Hast du mit ihm gesprochen?«

»Vorhin kurz am Telefon, ja.«

»Und?«

Papa zuckte mit den Schultern. »Er hat nach dir gefragt. Wie immer.«

Nachdem ich die Trainingsmatte im Lagerraum verstaut hatte, sammelte ich meine Sachen zusammen und lief in einem unangenehmen Gemisch aus Schnee, Regen und Hagel zur Wohnwagensiedlung.

Mein Wagen war der einzige Ort, an dem ich allein sein und abschalten konnte, und ich war froh, dass ich ihn mir mit niemandem teilen musste. Papa wollte Elio und mir so viel Privatsphäre gönnen wie nur irgend möglich, wenn er schon wenige Meter neben uns wohnte.

Dafür war ich ihm dankbar, wenngleich ich mich fragte, ob er sich in seinem eigenen Wagen manchmal einsam fühlte.

Er und Maman hatten sich scheiden lassen, als ich zwölf Jahre alt gewesen war, weil sie sich auf Dauer nicht mit dem Zirkusleben arrangieren konnte. Sie hatte immer gehofft, er würde die Leitung eines Tages an seine jüngere Schwester Inès abtreten, aber für Papa war trotz Familie klar gewesen, dass er den Zirkus und seine Leidenschaft nicht aufgeben würde – schon allein der Tradition wegen.

Sie hatten Elio und mir freigestellt zu wählen, ob wir mit unserer Mutter gehen oder im Zirkus bleiben wollten. Unsere Entscheidung war schnell gefallen, weshalb wir Maman inzwischen nur noch selten zu Gesicht bekamen.

Wann immer wir in Quebec waren, statteten wir ihr ein paar Besuche ab, die letztlich darin endeten, dass sie uns einen Vortrag darüber hielt, wie gefährlich unsere Arbeit war und wie sehr sie sich wünschte, wir würden uns endlich ein Leben außerhalb des Zirkus aufbauen.

Ich schlüpfte aus meiner verschwitzten Trainingskleidung und stieg in die Dusche. Nach zweiundzwanzig Jahren Zirkusleben war ich es gewohnt, dass das Wasser nicht allzu lange heiß blieb. Das verhinderte normalerweise, dass man eine Ewigkeit unter der Dusche stand und vor sich hin grübelte. Seit meinem Gespräch mit Papa war ich innerlich allerdings so aufgewühlt, dass ich kaum bemerkte, wie die Tropfen von Minute zu Minute kühler wurden.

Was, wenn ich diesen Turner nicht leiden konnte? Wenn er ungeschickt und faul war oder, noch schlimmer, aufdringlich wurde?

Dadurch dass sich jede Saison auch Leute, die nicht zu unserer Stammbelegschaft gehörten, um die Artistenstellen bewarben, hatte ich dahingehend schon die ein oder andere unangenehme Erfahrung machen müssen.

Manche Männer schienen zu denken, sie wüssten, was ich will. Dabei wusste ich das die meiste Zeit über doch selbst nicht genau. Meine bisherigen Versuche, eine Beziehung einzugehen, hatten sich beide im Nichts verloren. Und auch meine Bemühungen, etwas Lockeres anzufangen, waren kläglich gescheitert. Weil ich jedes Mal wieder den Fehler gemacht hatte, mich vollkommen auf jemanden zu fixieren. Und ich war es leid, immer dasselbe alte Spiel mit den Männern und dem Abschied zu spielen.

Nachdem ich geduscht hatte, zog ich mir schnell ein paar frische Klamotten über, band mir die feuchten Locken zurück und verließ mit einer Tasche in der einen und einer Mütze in der anderen Hand meinen Wohnwagen.

Es würde vermutlich immer seltsam bleiben, das Tor zu öffnen und das Zirkusgelände zu verlassen, selbst wenn es nur für kurze Zeit war. Es war nicht so, als würde ich mich in Toronto bestens auskennen, aber dadurch, dass sich hier eines unserer Winterlager befand, kannte ich mehr Ecken als an anderen Orten.

Viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lebten während der Winterpause dort oder in unserem Zweitlager in Quebec, andere besaßen Wohnungen oder Ferienhäuser in der Umgebung.

Papa, Elio und ich verbrachten jeden Winter in unserer Heimat Quebec, bis es im nächsten Jahr wieder auf Tour ging.

Dort konnten wir in der kalten Jahreszeit in unserem familieneigenen Varieté auftreten, das von Arthur, einem guten Freund meines Vaters, geleitet wurde.

Man sollte meinen, dass ich mich nach sechs Monaten Wohnwagen wieder auf eine richtige Wohnung freute, doch fühlte es sich nie wie Heimkommen an. Vielleicht weil ich insgeheim immer wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis ich sie wieder verlassen musste.

Ich liebte den Zirkus, und ich liebte es, ständig unterwegs zu sein. Aber manchmal stellte ich mir vor, wie es wäre, die Haustür hinter mir zu schließen, die Schuhe abzustreifen und einfach nur irgendwo anzukommen. Nicht für ein paar Wochen oder Monate, sondern für immer.

Ich hatte im Laufe meines Lebens so viele Orte durch das Zugfenster oder den Autorückspiegel betrachtet. Ich hatte so viele Menschen kennengelernt, die mir Versprechungen gemacht hatten, nur um am Ende doch wieder zu gehen. Schon als kleines Mädchen hatte ich deswegen lernen müssen, dass es besser war, sein Herz nicht an Vergängliches zu hängen, sofern man vermeiden wollte, dass es bricht. Zurück blieb nämlich immer nur die Erinnerung. Und das angeknackste Herz, das verzweifelt auf der Suche nach etwas war, an das es sich klammern konnte, um zu heilen.

Ich hüpfte aus der Straßenbahn, überquerte den Fußgängerüberweg und lief auf das Krankenhaus zu. Da ich direkt nach Oscars Unfall schon einmal hier gewesen war, kannte ich den Weg zu seiner Station und steckte schon wenig später meinen Kopf durch den Türspalt in sein Zimmer.

»Klopf, klopf.«

Oscars Blick glitt von einem Punkt hinter dem verschmutzten Fensterglas zu mir, und ich erkannte die Abgeschlagenheit in seinem Gesicht sofort. Tiefe Ringe untermalten seine grauen Augen, das blonde Haar fiel ihm kraftlos in die Stirn, und ein ungewohnter Bartschatten zierte seine Wangen.

Trotzdem rang er sich für mich ein Lächeln ab. »Yara, hey. Was machst du hier?«, fragte er, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen und mich zu ihm aufs Bett gesetzt hatte. »Ich dachte, du würdest jetzt jede freie Minute nutzen, um an einer neuen Nummer zu arbeiten?«

Er kannte mich zu gut.

»Das dachte ich auch, bloß hat Papa andere Pläne.« Ich schlüpfte aus meiner Jacke, zog mir die Mütze vom Kopf und warf beides auf den freien Besucherstuhl.

Oscar runzelte die Stirn. »Und wie sehen die aus?«

»Er hat mir für die Show einen Ersatzpartner besorgt«, erzählte ich. »Aber das ist nicht mal das Beste daran. Mein neuer Partner ist Amateur. Kannst du dir das vorstellen? Der Typ hat keine Ahnung von Showakrobatik!«

»Moment.« Oscar hob die Hand. »Dein Pa hat dir einen neuen Partner besorgt? Einen externen?«

»Ja. Wegen des Mottos will er mich nicht allein auftreten lassen«, brummte ich zerknirscht.

»Verstehe.« Seine Miene verfinsterte sich und ließ erahnen, wie sehr ihm der Gedanke missfallen musste, so schnell ersetzt worden zu sein. »Und dann engagiert er nicht mal einen Profi? Sieht ihm gar nicht ähnlich.«

»Wem sagst du das?« Ich stöhnte. »Er meint, der Typ sei die beste Option, die wir haben.« Was ich nur zu gern überprüft hätte. Schließlich hätte ich diejenige sein sollen, die darüber ein Urteil fällt.

»Was ist das für ein Kerl?«

»Keine Ahnung, er kommt erst morgen an«, antwortete ich und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass er ungefähr so alt ist wie wir. Und Turner.«

»Ein Turner. Ernsthaft?« Oscar gab ein Schnauben von sich. »Wenigstens ein guter?«

»Das hoffe ich.« Andernfalls war ich mir sicher, dass die Premiere in einer Katastrophe enden würde.

»Irgendwas muss André ja in ihm sehen, wenn er ihm eine Chance gibt«, murmelte Oscar missmutig. »Besonders wenn er daran glaubt, dass ihr ihn in elf Tagen so weit habt, dass er mit dir auftreten kann.«

»Ich frage mich auch, wie er sich das vorstellt … Aber genug von mir.« Ich winkte ab und musterte sein geschientes Bein. »Wie geht es dir? Hast du noch starke Schmerzen?«

Oscar verzog das Gesicht. »Sagen wir, es ging mir schon mal besser.«

»Wann wirst du entlassen?«

»In zwei Wochen beginnt meine Reha, und danach werde ich noch eine Weile bei meiner Tante bleiben. Du weißt schon, wegen der Krücken und so … Ich kann’s jetzt schon kaum erwarten, hier rauszukommen. Wenn ich eins nicht mehr sehen kann, ist’s dieser verdammte Schokopudding, den sie dir zu jeder Mahlzeit servieren.«

Mit seinem Kinn deutete er auf den Nachttisch, auf dem sich drei Becher davon stapelten.

»Mh-hm, ja, jetzt, wo du’s sagst. Das ganze Zeug scheint sich schon hier«, ich kniff ihm scherzhaft in den Arm, »abgelagert zu haben.« Ich grinste. In Wahrheit war sein Arm alles andere als weich und wabbelig.

Oscar lachte heiser, wurde aber schon in der nächsten Sekunde wieder ernst. »Ich wäre gerne mit dir aufgetreten, Yara. Tut mir leid, dass du meinen Fehler jetzt ausbaden musst. Ich hab nicht aufgepasst.«

Mein Herz wurde schwer. »Ich bitte dich, Oz. Das muss dir doch nicht leidtun. Du bist derjenige von uns beiden, der im Krankenbett liegt. Schon vergessen?«

»Na ja.« Er betrachtete sein verletztes Bein mit einer Mischung aus Wut und Frustration. »Besser ich als du, was?«

»Komm schon, sag das nicht.« Ich drückte aufmunternd seine Hand. »Aber hey, sollte mein Partner ein Desaster sein, leiste ich dir vielleicht früher wieder Gesellschaft, als dir lieb ist.«

Oscar schnaubte wieder. »Ich will für den Typen hoffen, dass das nicht passiert. Auch wenn ich gegen deine Gesellschaft absolut nichts einzuwenden hätte.«

Unsere Blicke trafen sich, und ich schmunzelte.

Seit ich denken konnte, gehörte Oscar zum Circus Grenaldi. Wir waren zusammen aufgewachsen, zusammen zur zirkuseigenen Schule gegangen und gelegentlich zusammen aufgetreten. Oscar war wie ein zweiter Bruder für mich gewesen, an den ich mich jederzeit hatte wenden können, wenn mein eigener mir zu sehr auf die Nerven gegangen war.

Seine Mom war eine gute Freundin von meiner und arbeitete als Köchin bei uns. Seinen Dad hatte er nie kennengelernt, weshalb Papa sich immer ein wenig in der Pflicht gesehen hatte, für ihn zu sorgen. Das tat er selbst heute noch, auch wenn er das nie so offen zugeben würde.

»Übrigens hab ich noch was für dich.« Ich beugte mich zu meiner Tasche, zog den einäugigen Teddybären heraus und setzte ihn auf seinem Nachttisch ab.

Oscar hatte ihn als Kind auf den Namen Alfie getauft, und weil ich so frustriert darüber gewesen war, dass er ihn nie mit mir teilen wollte, hatte ich ihm kurzerhand das linke Knopfauge rausgerissen. Er war stinksauer gewesen.

Also hatte ich als Entschuldigung eine Augenklappe aus dem Garderobewagen stibitzt, sie Alfie über die Stelle mit dem fehlenden Auge gezogen und ihn Oscar zurück vor die Wohnwagentür gelegt. Irgendwie war es in den letzten Jahren zur Tradition geworden, den Bären zu nutzen, wo uns die Worte fehlten, um uns beim anderen zu entschuldigen.

Oscar nahm ihn in die Hand und zupfte mit einem müden Lächeln an seiner Augenklappe herum. »Für was willst du dich denn entschuldigen?«

»Nichts Bestimmtes. Es ist eher eine Tut-mir-leid-dass-du-hier-feststeckst-Geste. Zählt das auch?«, fragte ich.

Oscar lachte. »Klar. Ich werd ihn gleich auf mein Kopfkissen legen, damit ich nachts besser schlafen kann.«

Ich grinste. »Das ist aber nicht das Einzige, woran ich gedacht habe.« Ich reichte ihm eine Tüte seiner Lieblingschips, mit Meersalz, die ich noch in einem meiner Schränke gefunden hatte.

»Da ich jetzt ein bisschen Zeit übrig habe, könnten wir uns noch ein paar Filme ansehen, bis die Schwestern mich rauswerfen. Was meinst du?«

Oscar griff nach seinem Laptop und rutschte unter sichtlichen Schmerzen gerade so weit an die Kante seines Bettes, dass ich mich neben ihn legen konnte.

»Wie gut, dass ich an mein Ladekabel gedacht habe.«

3 | Nolan

Ich war als Kind gelegentlich im Zirkus gewesen, allerdings hatte keiner davon je so groß und mächtig auf mich gewirkt wie der Circus Grenaldi. Der Aufbau nahm die gesamte Rasenfläche des Parks in Anspruch. Überall standen nachtblaue Anhänger und Wohnwagen, allesamt mit goldenen Schnörkeln und demselben goldenen Logo verziert, das ich bereits gestern im Winterlager begutachtet hatte. In der Mitte stand das blau-weiß gestreifte Hauptzelt, über dem eine riesige Leuchtreklame hing, an der sich das Licht der Sonne brach. Um das Hauptzelt herum entdeckte ich vier weitere, deutlich kleinere Zelte, deren spitze Dächer in den graublauen Himmel emporragten.

Zwar waren die Verkaufswagen noch geschlossen, doch fragte ich mich schon jetzt, wie das Ganze wohl aussehen mochte, wenn sich die Dunkelheit über den Platz legte und alle Stände geöffnet waren. Ich näherte mich dem schwarzen Eisentor und warf einen kurzen Blick in den Schaukasten, in dem ein Tourplakat hing. Dualité stand in geschwungener Schrift darauf. Ich brauchte keine großen Französischkenntnisse, um zu verstehen, dass die diesjährige Tour offenbar unter einem dualistischen Motto stand, was auch erklärte, warum Mr Grenaldi auf der Suche nach einem neuen Partner für seine Tochter gewesen war.

Hoffentlich war sie in Ordnung.

Ich öffnete das unverschlossene Eisentor. Kaum hatte ich das getan, schien es, als hätte ich eine andere Welt betreten, obwohl mich lediglich ein Zaun von der anderen trennte. Es war kurz vor zehn Uhr morgens, und keine Menschenseele war zu sehen. Es hätte nur noch gefehlt, dass ein Steppenläufer vorbeirollte, um das Bild der Einsamkeit perfekt zu machen. Hatte ich Mr Grenaldi gestern falsch verstanden? Ich hätte schwören können, er hatte …

»Kann ich dir helfen?«

Ich zuckte zusammen und fuhr herum.

Aus dem Nichts war hinter mir ein Mann aufgetaucht, den ich auf den ersten Blick auf Ende vierzig schätzte.

»Ja, hi, ich bin Nolan. Mr Grenaldi hat mich kurzfristig als Akrobat engagiert. Ich sollte heute vorbeikommen, mir bei Wagen 12 einen Schlüssel abholen und die hier abgeben.« Ich nahm die eingerollten Papiere aus meiner Jackentasche und hielt sie in die Höhe. Mein Gegenüber lächelte.

»Er hat mich schon vorgewarnt. Nummer 12 ist mein Büro.« Der Mann reichte mir seine Hand, die ich kräftig schüttelte. »Ich bin Martin, gemeinhin auch bekannt als Marty. Willkommen im Team.«

»Danke, freut mich.«

Marty bedeutete mir mit einer Geste, ihm zu folgen. »Komm mit, dann zeige ich dir deinen Wagen.«

Während er mich unter Pavillons und zwischen Verkaufswagen hindurchdirigierte, ließ ich die neue Umgebung auf mich wirken. Die Dächer der Wagen und Zelte waren mit einer zarten Schneeschicht überzogen, die in glitzernden Perlen von den Ecken tropfte. Zuletzt hatte es vor drei Tagen geschneit, sie mussten also schon länger hier stehen.

»Ist außer dir niemand hier?«, fragte ich, weil ich mich erneut darüber wunderte, wie ruhig es hier war.

Marty schaute mich über seine Schulter hinweg an und lachte. »Du musst wissen, dass das Zirkusleben meist nicht vor elf beginnt. Normalerweise arbeiten die Leute bis spät abends und schlafen dementsprechend auch lange. Man gewöhnt sich schneller dran, als man denkt.«

Ich runzelte die Stirn. »Das heißt, die Leute sind noch nicht aufgestanden?«

»Na ja, nicht ganz. Die meisten reisen erst wenige Tage vor der Premiere an«, antwortete er. »Mr Grenaldi und seine Kinder sind seit dem Wochenende hier. Ich schon etwas länger, weil ich den Aufbau begleite und darauf achte, dass alles korrekt abläuft.«

Wir passierten das Hauptzelt und gelangten auf eine Freifläche, auf der vereinzelte Wohnwagen und Anhänger standen. Vor einem davon hielt Marty an. Betriebsleitung stand an der Tür, die er aufschloss.

»Komm rein.«

Ich betrat hinter ihm den Wagen und war überrascht. Hier drin gab es mehr Platz, als ich erwartet hatte. Es passte sogar ein Konferenztisch hinein. Marty öffnete einen Schrank und reichte mir kurz darauf einen Schlüsselbund. »Der silberne Schlüssel ist für deinen Wohnwagen, der goldene für die Dusche und der mit dem runden Kopf für den Wäschewagen. Wenn du waschen willst, musst du dich vorab in eine der Listen eintragen, die dort hängen.«

Ich wog den Bund in meiner Hand und nickte. »Okay.«

»Die Papiere kannst du mir geben, ich hefte sie ab.«

Er nahm mir den Vertrag ab und legte ihn zu den anderen Dokumenten auf seinem Schreibtisch, ehe wir sein Büro wieder verließen, um zu meinem Wohnwagen zu gehen.

»Da ist das gute Stück«, sagte er und deutete kurz darauf auf einen kleinen dunkelblauen Anhänger. »Richte dich in Ruhe ein. Danach kannst du zu Nummer 18 gehen.« Sein Finger schwenkte auf einen anderen Wagen um. »Ist der große dahinten. Mr Grenaldi wird dir dann alles erklären, was du wissen musst.«

Ich bedankte mich und wartete mit dem Aufschließen, bis er außer Sichtweite war. Ehrlich gesagt war ich im ersten Moment enttäuscht, dass mein Wagen nicht denselben Überraschungseffekt bereithielt wie Martys. Er war von innen genauso mickrig, wie er von außen den Anschein machte. Aber immerhin hast du ein Dach über dem Kopf, mahnte ich mich.

Ich verschaffte mir einen kurzen Überblick über das Inventar. Die Schränke der Küchenzeile bestanden aus Holz. Es gab einen Kühlschrank und eine Sitzecke mit einem schmalen Tisch und zwei Bänken. In einem Schrank fand ich Bettwäsche, in einem anderen Geschirr und Stauraum für meine Sachen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Wagens befand sich das Bett mit einem Flachbildfernseher an der Wand, der sich tatsächlich einschalten ließ. Hinter den letzten zwei Türen verbargen sich zum einen Stromkasten und Heizung – die ich direkt einschaltete, weil es fürchterlich kalt war – und zum anderen das Badezimmer, das in etwa den Durchmesser meiner alten Duschwanne besaß. Faszinierend, dass es trotzdem für Toilette und Waschbecken mit Spiegelschrank reichte.

Ich fackelte nicht lange und riss die Fenster trotz der Kälte auf, um den undefinierbaren Geruch zu vertreiben, der in der Luft lag. Er erinnerte mich daran, dass dieser Anhänger aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dieselbe Reinigung wie ein Hotelzimmer bekommen hatte.

Aber immerhin hast du ein Dach über dem Kopf.

Wenn ich mich nur oft genug daran erinnerte, wurde mir vielleicht irgendwann bewusst, wie glücklich ich mich schätzen konnte.

Nachdem ich meine zwei Koffer zur Hälfte ausgeräumt und das Bett bezogen hatte, stellte ich mich im Bad vor den Spiegel und betrachtete mich. Der Kerl mir gegenüber war immer noch derselbe, der er vor zwei Wochen gewesen war, und zugleich doch jemand vollkommen anderes. Er versuchte nicht mehr, es allen recht zu machen, indem er vorgab, jemand zu sein, der er nicht war. Viel eher versuchte er, er selbst zu sein, obwohl er vor langer Zeit vergessen hatte, wie das ging.

Mit einem Seufzen fuhr ich mir durch das braune Haar. Wenn ich meinen Haarschnitt beschreiben müsste, würde ich wahrscheinlich sagen, dass ich genau drei Stile besaß: gestylt, gewellt und planlos. Und wenn ich ehrlich war, kratzte ich seit ein paar Tagen gefährlich nahe an der Schwelle zu Letzterem.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr und beschloss, Mr Grenaldi aufzusuchen. Ich sperrte die Tür hinter mir ab und näherte mich dem Wagen, den Marty mir vorhin genannt hatte. Auf halbem Weg bemerkte ich jedoch etwas, das sich in dem plattgetretenen Gras bewegte. Zuerst sah es aus wie ein Huhn, aber je näher ich kam, desto mehr war ich davon überzeugt, dass es sich um einen weißen Kakadu handelte. Das Ding starrte mich an, und ich starrte zurück.

»Wo zum Teufel kommst du her?«, fragte ich, bevor ich mich umschaute und vorsichtig zu ihm in die Hocke begab.

Prompt stellte der Vogel seinen Kamm auf und ging in Angriffsstellung. Was er dann tat, hatte ich beim besten Willen nicht kommen sehen: Er bellte mich an.

»Verfluchte Scheiße!« Ich taumelte erschrocken zurück und wäre dabei um ein Haar auf meinem Hintern gelandet.

Der Vogel entspannte sich wieder und lief fröhlich vor mir auf und ab, während ich begann, panisch darüber nachzudenken, was ich tun sollte. Was, wenn er jemandem ausgebüxt war? Oder wenn er wegflog, sobald ich versuchte, ihn einzufangen? Am Ende hätte ich an meinem ersten Arbeitstag erfolgreich dafür gesorgt, dass hier irgendjemand sein Haustier verloren hatte.

Ich machte ein paar zögerliche Schritte auf ihn zu, die Hände besänftigend in die Luft gehoben. »Ich tu dir nichts, Kumpel.«

Er schrak zurück, fing erneut an zu bellen und verschwand zu meinem Entsetzen unter einem Wohnwagen.

Fluchend begab ich mich auf die Knie und spähte unter den Wagen. »Jetzt komm schon her.« Ich streckte meinen Arm nach ihm aus und bereute es sofort, als sich sein spitzer Schnabel in mein Fleisch bohrte.

»Verdammt!« In Sekundenschnelle zog ich die Finger zurück und betrachte den blutigen Kratzer auf meinem Handrücken. »Du mieses kleines …«

»Was genau machst du da?« Bei dem Klang einer weiblichen Stimme erschrak ich glatt ein zweites Mal.

Meine Augen benötigten einen Moment, bis sie das schwarzhaarige Mädchen fanden, das mit einem Kaffeebecher und einer karierten Decke auf der Treppe ihres Wohnwagens mir gegenübersaß und mich beobachtete. Wie lange tat sie das schon?

Wärme kroch mir den Hals hinauf. »Ich, ähm …« Schnell rappelte ich mich auf und klopfte mir die erdigen Schneereste von der Hose und dem Mantel. »Ich habe den Vogel gesehen und dachte, dass … na ja, dass er irgendwo ausgerissen wäre, weshalb ich versuchen wollte …«

Ihre rechte Augenbraue hob sich. »Ihn einzufangen?«

»Äh, ja.« Ich rieb mir beschämt den Hinterkopf. Jetzt, wo sie es aussprach, musste ich zugeben, wie absurd es klang.

»Du befindest dich auf einem Zirkusgelände. Schon mal daran gedacht, dass er darauf trainiert ist, nicht wegzufliegen?«

Mein Mund klappte auf und wieder zu. »Ich dachte, der Circus Grenaldi käme ohne Tiere aus?«

»Charlie und Gigi bilden die Ausnahmen.« Sie sprach beides französisch aus, was irgendetwas Komisches mit mir machte. Es klang viel weicher als der beißende Sarkasmus, der ihr so fließend über die Lippen kam.

»Gigi?«, fragte ich grinsend und trat näher. »Ein miauendes Huhn?«

»Sehr witzig.« Sie gab einen Pfiff durch ihre Zähne ab. Einige Sekunden tat sich nichts, bis plötzlich eine schwarz-weiß gescheckte Dogge von der Größe eines Ponys im Türrahmen hinter ihr auftauchte.

»Verdammt«, entfuhr es mir, als ich mit ansah, wie die Dogge die Treppe hinuntersprang und sich vor meiner Nase gemächlich streckte. »Das ist doch kein Hund!«

Sie zuckte ungerührt mit den Schultern. »Bist du wegen der Artistenstelle hier?«

»Ja … Ich bin Nolan. Ich wollte gerade zu Mr Grenaldi gehen und ihm Bescheid geben, dass ich da bin.«

»Nur zu. Ich bin sicher, mein Vater erwartet dich bereits.«

Ich blinzelte perplex. »Dein Vater?«

Das hier war seine Tochter? Das Mädchen, dessen Partner ich sein sollte? Oh Mann, natürlich.

Je länger ich sie anstarrte, desto stärker fiel mir die Ähnlichkeit zwischen ihr und Mr Grenaldi auf. Ihr schwarzes Haar war zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden, aus dem sich vereinzelte Locken gelöst hatten, die ihr herzförmiges Gesicht einrahmten. Helle Sommersprossen tanzten auf ihrer blassen Nase, und wenn sie sprach, konnte man eine winzige Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen erkennen. Am faszinierendsten fand ich jedoch ihre Augen. Sie waren topasblau, aber nicht identisch. Ihr linkes Auge war nämlich zur Hälfte braun. Es sah aus, als hätte man ein Kunstwerk malen wollen und dabei versehentlich ein Glas mit brauner Farbe umgestoßen. Nur dass es das Bild nicht ruiniert, sondern besser gemacht hatte.

Sie war schön. So schön, wie jemand in einem grauen Satin-Pyjama eben aussehen konnte. Nicht, dass ich viele Vergleiche hätte.

»Jetzt ergibt es Sinn …«, murmelte ich, als mir Mr Grenaldis Drohung vom Vortag wieder einfiel.

Ich rate Ihnen, Ihre Hände außerhalb der Manege bei sich zu behalten.

Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass er sich deswegen keine Sorgen machen musste. Ich war sicher nicht hier, um mich an seine Tochter ranzuschmeißen.

»Was ergibt Sinn?«, fragte sie irritiert.

»Oh. Nicht so wichtig.« Ich winkte ab und schob die Hände in meine Jackentaschen. »Sieht aus, als wären wir ab heute Partner, du und ich.«

»Jepp. Kann’s kaum erwarten.«

Ich hob die Augenbrauen. Wieso klang alles, was aus ihrem Mund kam, so unfreundlich? Oder bildete ich mir das ein?

»Cool …« Ich räusperte mich und deutete auf den Wagen ihres Dads. »Tja, dann geh ich wohl mal kurz rüber.«

»Mach das.«

Ich warf noch einen schnellen Blick auf den Kakadu, der inzwischen wieder unter dem Wohnwagen aufgetaucht war und zu Recht aussah, als wollte er mich auslachen. Kurz darauf klopfte ich schräg gegenüber an die Tür des Zirkusdirektors, die zügig aufsprang.

»Mr James. Schön, dass Sie da sind.« Er begrüßte mich mit einem freundlichen, aber entschlossenen Lächeln. »Man hat Ihnen Ihren Wagen bereits gezeigt, wie ich hörte?«

»Ja, Sir.«

»Prima. Ich würde Ihnen ja anbieten, Sie ein wenig auf dem Gelände herumzuführen, aber ich fürchte, es gibt da noch ein paar Dinge, um die ich mich kümmern muss. Ich bin mir sicher, meiner Tochter würde es nichts ausmachen, Ihnen alles zu zeigen. Nicht wahr, Yara, Chérie?«

Ich folgte seinem Blick und drehte mich um.

Das Mädchen von eben, Yara, wirkte alles andere als angetan von seiner Idee – vielleicht war das auch ihr normaler Gesichtsausdruck –, dennoch nickte sie.

»Gut, dann ist das ja geklärt«, sagte er wieder an mich gewandt. »Wenn Sie noch irgendwelche Fragen haben, geben Sie Marty Bescheid. Er wird sich um alles kümmern. Ich werde später aber auch noch mal beim Training vorbeischauen, um mir ein Bild zu machen.«

»Okay …«

»Also dann.« Sowie Mr Grenaldi mir zum Abschied zugenickt und die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaute ich Yara an und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Sieht aus, als hättest du mich jetzt an der Backe.«

Yara schien es egal zu sein, dass sie mich in ihrem derzeitigen Aufzug herumführte, der aus Pyjama und Wolldecke bestand, und irgendwie gefiel mir das. Es ließ den Eindruck entstehen, als scherte sie sich nicht sonderlich darum, was andere über sie dachten – was ich über sie dachte. Dabei dachte ich gerade eigentlich nicht viel, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, die vielen Eindrücke zu verarbeiten, die wie Platzregen auf mich einprasselten.

Sie zeigte mir zunächst, wo ich Dusch- und Wäschewagen fand, die in unmittelbarer Nähe zu meinem Anhänger lagen. Von dort aus umrundeten wir das gewaltige Zeltkonstrukt, auf dessen Rückseite diverse Garderobewagen standen, in denen sich die Künstlerinnen und Künstler für die Shows fertig machten. Anschließend passierten wir ein altmodisches Karussell mit weißen Pferden und kamen vor einem der vier kleineren Zelte zum Stehen. La tente aux mille miroirs stand auf einem Schild, das neben dem Eingang im Rasen steckte.

»Was ist das?«, fragte ich, weil ich kein Wort verstand.

»Das Zelt der tausend Spiegel«, erklärte Yara. »Eine Art Spiegelkabinett. Ist ziemlich wirr da drin, geh also besser nicht rein, wenn du’s mal eilig hast.«

»Oh. Na gut …« Während ich meinen Kopf noch durch die Öffnung der Zeltplane steckte, hinter der es stockfinster war, lief Yara bereits weiter. Obwohl sie mindestens einen Kopf kleiner war als ich, hatte ich Mühe, mit ihr Schritt zu halten.

Sie deutete im Vorbeigehen auf den Direktionswagen, in dem Meetings abgehalten wurden, und auf die zwei Wagen, die das Besuchercafé bildeten. Es hatte geschlossen, aber die Lichterketten, die von einem Dach zum anderen gespannt wurden, ließen mich, genau wie die leeren Blumenkübel neben den Eingängen, annehmen, dass man an warmen Tagen auch draußen sitzen konnte.

Wir gelangten zu einem zweiten Zelt, vor dem erneut ein Schild mit goldener Aufschrift steckte. La tente des vérités.

»Das Zelt der Wahrheiten«, erklärte Yara, als sie meine ahnungslose Miene bemerkte. »Hier drin legt unsere Wahrsagerin Esmeralda den Gästen Karten.«