Ich ohne Wir: Elimination - Heike Bicher-Seidel - E-Book

Ich ohne Wir: Elimination E-Book

Heike Bicher-Seidel

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Beschreibung

Joona hasst es, eingesperrt zu sein. In einem Anfall von Klaustrophobie und Wut verprügelt er einen Mithäftling und landet im Bunker des Gefängnisses – allein und im Dunkeln. Die Programmiererin Lola muss einen Betriebsausflug mit ihrem arroganten Chef in ein Bergwerk über sich ergehen lassen. Und der Koch Dino versucht nur, im Kühlraum der Hitze in seinem Restaurant zu entgehen. Sie wissen noch nicht, dass sie zu den wenigen Überlebenden zählen werden …

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

11/2021

 

Ich ohne Wir - Elimination

 

© by Heike Bicher-Seidel

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2021 by Creativ Work Design, Homburg

Lizenzfreie Stockfoto-Nummer: 465238286

Bildnachweis: Krivosheev Vitaly

Lizenzfreie Stockfoto-Nummer: 1662258973

Bildnachweis: kornwa

Lektorat: Anna Lena Diel, Paul Lung

Korrektorat: Barbara Dier

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: Coverface

 

Coverbild ›Man flucht viel mehr, wenn man tot ist‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Predyl‹

© 2017 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Remoment‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-125-6

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

Printed in Germany

 

 

Heike Bicher-Seidel

 

Ich ohne Wir

 

Elimination

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Science-Fiction

 

 

1.      Saarlouis - Justizvollzugsanstalt

2.      Saarbrücken - L’Osteria da Dino

3.      Bochum - Deutsches Bergbau-Museum

4.      Saarlouis - Leere Welt

5.      Saarbrücken - Feuer

6.      Bochum - Alte Feinde

7.      Saarbrücken - Der Metzger

8.      Saarbrücken - Überlebende

9.      Bochum - Der Bunker

10.      Saarbrücken - Begegnungen

11.      Saarbrücken - Lagerfeuergespräche

12.      Essen - Die U-Bahn

13.      Saarbrücken - Familiengeschichten

14.      Saarbrücken - Neue Realität

15.      Essen - Freund oder Feind

16.      Saarbrücken - Waffen

17.      Essen - Der Überfall

18.      Saarbrücken – Der Test

19.      Transportfähre - Die Andvara

20.      Saarbrücken - Die Brücke

21.      Andvara-Basislager - Neue Gefangene

22.      Saarbrücken - Der fremde Nick

23.      Andvara-Basislager - Das Verhör

24.      Saarbrücken - Der Finne

25.      Andvara-Basislager - Die Karte

26.      Saarbrücken - Heimkehr

27.      Saarbrücken – Neuigkeiten

28.      Andvara-Basislager - Monster

29.      Saarbrücken - Willkommensfeier

30.      Östlich des Andvara-Basislagers - Monster-Realität

31.      Saarbrücken - Gefährliche Sammeltour

32.      Östlich des Andvara-Basislagers - Die Mördertruppe

33.      Saarbrücken – Die Nachricht

34.      Saarbrücken - Die Vereinbarung

35.      Östlich des Andvara-Basislagers - Nächtliche Begegnung

36.      Saarbrücken – Das Bad

37.      Östlich des Andvara-Basislagers- Die Kirche

38.      Saarbrücken – Zukunftspläne

39.      Östlich des Andvara-Basislagers – Die Suche

40.      Saarbrücken – Bauarbeiten

41.      Östlich des Andvara-Basislagers - Jonathan

42.      Saarbrücken - Das Andvara-Lager

43.      Östlich des Andvara-Basislagers - Elektroautos

44.      Saarbrücken - Der Beobachtungsposten

45.      Hotel östlich des Andvara-Basislagers - Kinderkrankheiten

46.      Auf dem Weg nach Saarbrücken - Andvarakrankheiten

47.      Saarbrücken – Xori

48.      Auf dem Weg nach Saarbrücken - Der Wald

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für die Hoffnungsvollen.

Für die Blume in einem Meer aus Asche.

Für die Liebe, die Krieg und Hass überstrahlt.

 

Für das WIR.

 

Saarlouis - Justizvollzugsanstalt

 

46 Stunden bis zur ersten Welle

 

JOONA

 

Joona trat aus seiner Zelle in der Justizvollzugsanstalt Saarlouis und reihte sich in die Schlange zur Frühstücksausgabe ein. Er atmete tief durch und genoss, der Enge des Raumes zu entkommen. Die Schließer ließen ihn viel zu viele Stunden in dem verdammten Hasenstall, der ihn jeden Tag mehr anwiderte. Er rieb sein Handgelenk bei dem Gedanken an die Fesseln, die ihm Tellmann, der beschissene Chefschließer, vor zwei Tagen verpasst hatte. War nicht Joonas bester Tag gewesen, aber ihn nur wegen eines Streits gleich in den Schlichtungsraum abzuschieben, war überzogen. War er ein bissiger Köter, den man wegsperren musste?

»Beweg dich, Demiter«, maulte sein Zellennachbar Aslan. Joona warf ihm einen dunklen Blick zu und rückte in der Schlange vor.

Aslan schloss auf. »Was macht der Arm? Sah schmerzhaft aus, als Tellmann auf deinem Rücken kniete und dir mit der niedlichen Schließerin Handfesseln verpasst hat. Stehst du auf Fesselspiele?« Der Mann lachte.

Joona ballte die Hände zu Fäusten, antwortete aber nicht.

Aslan trat noch näher heran. »Mein Fall ist sie ja nicht, ich stehe auf Frauen mit mehr Vorbau.«

Jensen spähte über Aslans Schulter und schob die Brille auf seiner Nase nach oben. »Ich habe gehört, die Kanter hat eine Schwäche für Häftlinge. Sie soll mit einem ehemaligen Insassen dieses Etablissements verheiratet sein.«

Joona sah zu der Schließerin, die neben dem Wagen mit den Frühstückstabletts stand, die die Gefangenen mit in ihre Zellen nahmen. Wie immer hatte sie ihre langen, dunkelblonden Haare zu einem Zopf gebunden, der ihr ein strenges Aussehen verlieh. Ihr kritischer Blick begegnete seinem und er löste die Fäuste, versuchte, weniger aggressiv zu erscheinen. Er wollte endlich wieder zum Arbeitsdienst eingeteilt werden, damit die Tage schneller vergingen und er wenigstens für ein paar Stunden seiner Klaustrophobie entkam.

Aslan hatte scheinbar weniger Sorge, sich Ärger einzufangen. »Apropos Leute, die auf Fesselspiele stehen. Wie geht es deiner Schwester? Ihr Stecher soll ja Mühe haben, sie zu bändigen.«

Joona wirbelte herum, packte Aslan am Kragen seines blauen Anstaltspullovers und versenkte die Faust in seinem Gesicht. Der Mann schrie auf, taumelte rückwärts. Joona setzte ihm nach. Der nächste Schlag streckte Aslan nieder. Jensen sprang zur Seite, damit er ihn nicht mit zu Boden riss. Schmerzhaft fest krallten sich die Hände von zwei Schließern in Joonas Arme. Er wehrte sich, hatte aber gegen die beiden geübten Wärter keine Chance. Sekunden später lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und trug Handfesseln.

»Verdammt, Demiter«, schrie Tellmann, »was soll der Scheiß? Gefällt Ihnen der Schlichtungsraum so gut?«

Joona biss die Zähne zusammen. Tellmann fasste seinen Arm und zog ihn auf die Beine. Im Aufrichten sah er Jensens hämisches Gesicht. Joonas Augen wurden schmal. Er hätte diesem Arschloch auch eine verpassen sollen. Die Sache mit seiner Schwester hatte Aslan doch mit Sicherheit von Jensen, der wusste immer über jeden Bescheid.

»Hey, Demiter. Sehen Sie mich an!« Die kleine Schließerin hatte die Stirn in Falten gelegt. »Geht es wieder?«

Joona nickte knapp und Tellmann löste den schmerzhaft festen Griff um seinen Arm. Statt seiner fasste die Kanter zu. Obwohl sie selbst gefesselt für ihn keine wirkliche Gegnerin war, ließ er zu, dass sie ihn in Richtung Schlichtungsraum schob. Gegen das, was jetzt kam, war er ja doch machtlos.

Die Schließerin öffnete die Zelle, in der das Mobiliar mit Boden und Wänden verschraubt war. Nichts bot eine Möglichkeit, seine Wut daran auszulassen.

»Setzen Sie sich dort hin«, kommandierte sie.

Geschlagen ließ sich Joona auf der Kante der nackten Pritsche nieder. Jetzt, wo der Adrenalinrausch abnahm, hätte er sich am liebsten selbst eine verpasst. Wie konnte er Jensen und Aslan so leicht in die Falle laufen? Aber wenn es um Evelin ging, hatte er sich nie im Griff. Bei dem Gedanken an seine Schwester brodelte die Wut schon wieder in ihm. Erst als sich die Schließerin zu ihm beugte und ihre Hand auf sein Bein legte, merkte er, dass er nervös wie ein Rennpferd in der Startbox zappelte. Er zwang sich zur Ruhe.

Die Kanter setzte sich auf den am Boden verschraubten Hocker ihm gegenüber. »Auch wenn vielleicht nicht okay war, was Aslan zu Ihnen gesagt hat, dürfen Sie nicht so ausrasten. Kommen Sie zu mir oder zu einem meiner Kollegen, wenn Sie Ärger haben. Solche Aktionen wie eben oder die Sache vor zwei Tagen bringen Sie nur weiter in Schwierigkeiten.«

Joona starrte zu Boden, zu sagen hatte er nichts.

»Sind Sie friedlich, wenn ich Ihnen die Fesseln abnehme?«

Joona nickte.

»Sprechen Sie mit mir!«

Er atmete genervt durch und sah sie an. »Ja, ich bin friedlich.«

»Okay. Stehen Sie auf!«

Er wandte ihr den Rücken zu und sie befreite ihn von den engen Fesseln, die sich schmerzhaft in seine Handgelenke gegraben hatten.

»Ich sehe später noch mal vorbei, aber sie bleiben für vierundzwanzig Stunden im Schlichtungsraum. Das kennen Sie ja.« Sie ging zur Tür.

Joona sah ihr nach. »Frau Kanter?«

Sie wandte sich noch mal um. »Ja?«

»Ach, schon gut.« Dumm von ihm, er hätte nichts sagen sollen, das bot den Schließern nur eine zusätzliche Möglichkeit, ihn zu bestrafen.

»Sagen Sie, was Sie möchten.«

»Kann ich vielleicht ein Buch haben? Ich werde hier drinnen sonst irre.« Er wappnete sich für eine Ablehnung mit Hinweis auf sein Benehmen.

»Mögen Sie lieber Thriller oder Abenteuerromane?«

Erstaunt sah er sie an. »Egal, Hauptsache Ablenkung.«

»Ich sehe mal, was ich in der Anstaltsbibliothek finde.« Sie nickte ihm zu, dann schloss sie Joona ein.

 

Die 24 Stunden im Schlichtungsraum waren dank der zwei Bücher, die ihm die Schließerin gebracht hatte, nicht so unangenehm wie befürchtet. Dennoch war Joona froh, als er am Morgen das vertraute Knarren des Schlüssels im Schloss hörte.

»Na, haben Sie sich beruhigt?«, begrüßte ihn der Wärter und stellte ein Tablett mit Frühstück auf den Tisch der Zelle.

»Morgen«, sagte Joona, ohne auf die Frage einzugehen.

Der Wärter verschwand und ein anderer Schließer mit einem Bündel Kleidung kam herein. »Ziehen Sie die Arbeitskleidung an. Tellmann hat Sie für die Renovierungsarbeiten in der Sporthalle eingeteilt.«

Joona sah den Wärter erstaunt an. »Okay.«

Der Mann nickte ihm zu und schloss ihn wieder ein. Verwundert schaute Joona auf das Kleiderbündel. Arbeitseinsätze waren unter den Gefangenen beliebt, weil sie Abwechslung versprachen. Warum hatten sie gerade ihn eingeteilt? Nach dem Schlichtungsraum folgten normalerweise Tage der Langeweile in der Zelle, bis sie ihn, einen renitenten Häftling, wieder zusammen mit den anderen arbeiten ließen.

Er frühstückte und zog sich wie angeordnet um. Kurz darauf wurde der Schlichtungsraum erneut aufgesperrt.

Diesmal war es die kleine Schließerin. »Guten Morgen. Schön, Sie sind schon in Arbeitskleidung, dann können wir ja sofort loslegen.«

Joona trat erleichtert aus der Zelle, aber das befreiende Gefühl hielt nur eine Sekunde. Jensens Anblick, ebenfalls in Arbeitskleidung, senkte seine Laune unter Kellerniveau. Mit starrer Miene folgte er den beiden hinunter ins zweite Untergeschoss der JVA. So tief unter der Erde befiel Joona das gleiche klaustrophobische Gefühl wie in der Zelle.

»Sie machen wohl viel Sport?«, fragte Nina Kanter und deutete auf Joonas Oberarme, um die sich die Ärmel des T-Shirts spannten.

Er antwortete nicht.

»Ich meine nur, Sie sehen so aus«, versuchte die Wärterin, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.

»Ich bin nicht zum Quatschen mitgekommen.« Er hatte zwar nichts gegen die Kanter, dafür umso mehr gegen Jensen. Ständig versuchte dieses arrogante Arschloch, sich bei den Wärtern einzuschleimen. Wahrscheinlich war seine kriecherische Art von Vorteil gewesen, als er seine Klienten um ihr Erspartes gebracht hatte. Die meisten Leute glaubten doch alles, wenn man ihre Egos nur genug streichelte.

Abfällig grinsend verdrehte Jensen die Augen.

»Hast du ein Problem mit mir?«, schnauzte Joona ihn an.

Nina Kanter schob sich zwischen die Männer. »Hey, jetzt beruhigen Sie sich mal wieder.«

Joona funkelte Jensen noch einmal an, dann ging er weiter. Der Idiot war den Ärger nicht wert.

Die Schließerin öffnete die Turnhalle, die, seit Joona zuletzt hier gewesen war, einen neuen Fußbodenbelag erhalten hatte. In der Mitte des Raumes lagen Rollen mit Maler-Vlies und Klebeband.

Sie breiteten das Abdeckmaterial aus. Widerwillig arbeitete Joona neben Jensen, aber nicht mit ihm zusammen. Statt nur herumzustehen, wie es die anderen Wärter bei Arbeitseinsätzen meistens taten, half die Kanter mit und klebte die Türrahmen ab.

Als der Untergrund sicher verpackt war, holte sie zu Joonas Überraschung einen Korb aus dem Geräteraum und ließ sich in der Mitte des Sportraumes auf dem Boden nieder. »Was halten Sie von einer Pause? Ich spendiere ein zweites Frühstück.«

Jensen setzte sich zu ihr und bediente sich. »Danke, echt nett von Ihnen.«

Er biss in ein Stück Streuselkuchen. Die junge Frau nahm eine Cola und reichte sie Joona. Statt zuzugreifen, versenkte er die Hände in den Taschen seiner Arbeitshose.

Sie sah zu ihm auf. »Na los, packen Sie Ihren Frust weg und setzen Sie sich zu uns. Wir sind nicht der Feind.«

Ihr Lächeln wirkte ehrlich. Wenn Jensen nicht gewesen wäre, hätte er das Angebot angenommen, aber er fürchtete, dem überheblichen Arschloch wieder eine Gelegenheit zu bieten, ihn zu reizen, daher wandte er sich um und klebte die restlichen Lichtschalter ab.

»Hat einer von Ihnen Erfahrungen als Maler?«, fragte die Kanter.

»Ich habe das immer machen lassen«, antwortete Jensen kauend.

Joona hatte nichts anderes erwartet, so ungeschickt, wie er sich anstellte.

»Was ist mit Ihnen, Demiter?«

Eine Antwort bekam sie nicht, ignorierte aber anscheinend Joonas unhöfliches Verhalten und sprach einfach weiter. »Ich habe meine Wohnung selbst renoviert, als ich nach Saarlouis gezogen bin, aber meine Lieblingsbeschäftigung wird das nicht.«

Die Tür des Sportraums wurde geöffnet und Tellmann kam herein. »Was ist denn hier los? Ich dachte, hier wird gearbeitet und nicht Picknick gemacht.«

»Das Picknick ist nur für die arbeitende Bevölkerung, du bekommst nichts«, antwortete die Schließerin grinsend.

»Kann ich dich kurz draußen sprechen, bitte?«

Die beiden Wärter verließen die Sporthalle, die Tür schlossen sie nicht. Joona sah stur an Jensen vorbei, der ihn herausfordernd angrinste, und klebte die Schalter neben der Tür zum Gang ab.

»Meinst du nicht, du trägst ein bisschen dick auf mit deinem Picknickkorb?«, hörte er Tellmann.

»Ich versuche nur, Demiter dazu zu bewegen, die Deckung fallen zu lassen.«

»Wie benimmt er sich denn?«

»Gut. Wir bekommen das hin.« Sie hörte sich nicht so zuversichtlich an, wie ihre Worte glauben machten.

»Sei vorsichtig. Er ist wütend, steht die ganze Zeit unter Strom und er hat eine ziemlich niedrige Toleranzgrenze. Soll ich lieber hierbleiben?«

»Ich werde ja wohl zwei Häftlinge beaufsichtigen können, aber ich verspreche, ich passe auf.« Sie klang genervt.

»Ich habe über die Kameras ein Auge auf euch. Hier, steck das ein.«

»Pfefferspray? Ernsthaft?«

»Es würde mich beruhigen.«

Kopfschüttelnd kam sie zurück in die Turnhalle. Sie stutzte, als sie Joona neben der Tür sah, sagte aber nichts dazu, dass er das Gespräch offensichtlich gehört hatte.

 

Eine halbe Stunde später waren die Vorbereitungen abgeschlossen.

Nina Kanter ging zur Tür. »Kommen Sie mit, wir holen die Farbe.«

Joona folgte den anderen zu einer Panzertür gegenüber dem Sportraum.

Jensen sah stirnrunzelnd auf die Eisentür. »Wollen Sie den Sportraum mit Blattgold verzieren, oder warum lagern Sie die Farbe in einem Tresor?«

»Das ist ein alter Luftschutzbunker. Das Gebäude war nicht immer eine JVA.« Die Kanter schloss die schwere Tür auf. Vor ihnen lag ein stockfinsteres Loch, aus dem ihnen abgestandene Luft entgegenschlug. Sie tastete an der Wand nach dem Lichtschalter, und eine Reihe trüber Deckenlampen flammte auf. Die Farbe und das Malerwerkzeug waren an der gegenüberliegenden Wand gestapelt. Joona betrat zögernd den Raum. Sein Herzschlag beschleunigte genauso wie die Atmung. Die anrollende Panik brachte nicht nur Angst, sie machte ihn auch wütend. Das miese Schwein würde seine Schwäche sehen und unter Garantie nutzen, um ihn wieder in Schwierigkeiten zu bringen.

»Lassen Sie die Tür auf!«, knurrte Joona.

Trotz seiner Aufforderung, oder wahrscheinlich gerade wegen ihr, fiel die Tür krachend zu. Die Wärterin zuckte zusammen und funkelte Jensen böse an, dessen fieses Grinsen nicht schnell genug verschwand. Joona stürmte auf den Dreckskerl zu. Bevor die Wärterin einschritt, verpasste er dem Arsch bereits einen Kinnhaken, der seinen Kopf zur Seite fliegen ließ. Eine Welle der Genugtuung durchflutete Joona. Jensen stolperte rückwärts, blieb aber auf den Beinen.

»Drei Schritte zurück, Demiter!« Die Kanter drückte den Alarmknopf an ihrem Funkgerät.

Da er sowieso wieder im Schlichtungsraum landete, wollte Joona wenigstens diesem Widerling geben, was er verdiente. Erneut stürzte er sich auf ihn, aber ein feuchter Nebel verwandelte seine Augen in ein höllisches Inferno, stoppte ihn, bevor er sein Ziel erreichte. Pfefferspray! Der Schmerz nahm ihm den Atem. Er schlug die Hände vors Gesicht und sank auf die Knie.

»Ich benötige Unterstützung im Bunker«, rief die Wärterin in ihr Funkgerät. Statt einer Antwort auf ihren Hilferuf hörte er nur statisches Rauschen und das Zuschlagen der schweren Tür. Dann war alles still. Still wie in einem Grab.

Keuchend blieb Joona in der Enge des niedrigen Raumes zurück. Er blinzelte, aber seine Sicht war verschwommen und verschwand komplett, als das Licht ausging. Zeitschaltuhr. Betäubende Schwärze drückte ihn nieder.

Saarbrücken - L’Osteria da Dino

 

Zwei Stunden bis zur ersten Welle

 

DINO

 

Verärgert wischte sich Dino die Hände an einem Tuch ab und funkelte den Küchenhelfer wütend an. »Über die Sauerei reden wir noch, Carlo. Mach den Kühlraum sauber, aber diesmal richtig!«

Er würde nicht zulassen, dass diese Schlamperei den guten Ruf seines Restaurants beim Gesundheitsamt ruinierte. Er führte hier ein Spezialitätenlokal, keine billige Pizzeria.

Carlo verdrehte die Augen. »Ist ja gut, Boss. Jetzt reg dich doch nicht gleich wieder so auf.«

Dino setzte zu einer Erwiderung an, aber die Töne einer verstimmten Gitarre, die aus dem Gastraum in die Küche drangen, lenkten ihn ab. Mit einem Schnauben stapfte er in den Schankraum und seine Wut wandelte sich zu einem versonnenen Lächeln. Der blond gelockte Junge auf dem Barhocker mit der Gitarre im Arm sah aus wie das jüngere Abbild des Mannes auf dem Foto an der Wand.

»Maxim, was machst du hier?«

Der Junge hängte das Instrument zurück an den Haken. »Hi, Dino. Die Saiten der Gitarre sind absolut tot. Warum ziehst du nicht mal neue auf?«

»Seit Nick spielt ja doch niemand mehr darauf. Bist du hungrig? Soll dir der Koch eine Pizza machen?«

»Nein danke, Mama wartet auf mich. Die letzten beiden Stunden sind ausgefallen, da dachte ich, ich nutze die Gelegenheit und frage dich nach einem Job.«

Dino schob ihn an einen der noch leeren Tische.

»Was schwebt dir denn vor?«

Der Junge zeigte auf das Bild des Sängers an der Wand. »Ich dachte, ich könnte am Wochenende für deine Gäste singen, so wie Nick es früher gemacht hat.«

Dino seufzte, der Junge erinnerte ihn jeden Tag mehr an dessen Vater Nick. »Ich weiß, du bist ein angehender Rockstar, aber ich kann dich trotzdem nicht hier singen lassen. Du bist erst dreizehn.«

»Ich habe doch schon mal hier gesungen.«

»Ja, zusammen mit deinem Vater und deine Mutter war auch dabei.«

»Also gibst du mir den Job, wenn Mama zustimmt?«, verhandelte Maxim.

Dino hob die Augenbrauen. »Und du glaubst ernsthaft, sie erlaubt dir das? In meinem Laden?«

Mit einem unzufriedenen Brummen lehnte sich der Junge zurück. »Eher friert die Hölle ein.«

»Na, dann brauchen wir wohl nicht mehr darüber zu reden.«

»Sonst ist es dir doch auch egal, wenn ich herkomme, ohne dass sie davon weiß.«

Da hatte er recht. Ganz sicher würde Lyn ihrem Sohn den Kontakt zu ihm verbieten, sobald sie davon Wind bekam, deshalb hielt er immer eine Straße von Lyns Haus entfernt, wenn er Maxim heimfuhr. Viel zu groß war seine Angst, mit dem Jungen auch noch das Letzte zu verlieren, was von Nick auf dieser Welt übrig war.

»Es tut mir leid, ich kann dich abends nicht auftreten lassen, aber im Juli plane ich zwei Grillabende. Die fangen am späten Nachmittag an und dann bist du wenigstens schon vierzehn.«

Maxim strahlte. »Das wäre super. Was zahlst du?«

Dino schmunzelte. »Da werden wir uns schon einig, Mini-Nick. Willst du auf eine Runde Autorennen an der Spielekonsole mit raufkommen? Die kommen hier unten momentan auch ohne mich zurecht.«

»Sorry, Linus und Maya kommen heute zum Essen vorbei. Mama wird sauer, wenn ich zu spät da bin.«

»Stört es Maya nicht, wenn Linus seine Ex besucht?«

Der Junge schnaubte. »Sie lässt sich jedenfalls nichts anmerken.«

»Bist du oft bei Linus?«

Maxim drehte die ehemals kunstvoll gefaltete Damast-Serviette in den Händen. »Jeden zweiten Samstag holt mich Linus ab. Wenn Maya nicht da ist, gehe ich gern hin.«

»Ja, junge Mütter mit Babys sind eine Plage.« Dino nickte verstehend.

»Die Kleine ist cool, aber bei Maya merkt man eben, dass sie Deutschlehrerin ist.« Er spuckte die Berufsbezeichnung abfällig aus.

Schmunzelnd stand Dino auf. »Na komm, ich fahre dich heim. Nicht, dass dich deine Hexen-Mutter wegen Zuspätkommens verzaubert.«

Maxim lachte und folgte Dino hinaus.

Bochum - Deutsches Bergbau-Museum

 

1 Stunde bis zur ersten Welle

 

LOLA

 

»Herzlich willkommen im Deutschen Bergbau-Museum. Mein Name ist Kalle Labovsky.« Der ältere Mann in Bergmannskluft lächelte in die Runde der 23 Mitarbeiter von UL Consulting.

Lola schob die dunkle Sonnenbrille in die Haare und betrachtete ihre Reflexion in der Glasscheibe einer Vitrine. Das knallige Rot, das sie ihren Haaren gestern verpasst hatte, gefiel ihr.

Auf der anderen Seite des Glaskastens stand ihr Chef, Ulf Lehmann, das arroganteste Arschloch der Welt. Mit verschränkten Armen hörte er dem Vortrag zu. Er hatte heute auf einen Anzug verzichtet und trug Jeans und ein Poloshirt. Ein ungewohnter Anblick. Im Büro versuchte er, alle Mitarbeiter zu Businesskleidung zu zwingen, aber da biss er sich bei ihr die Zähne aus. Lola war klar, dass er ihre löchrigen schwarzen Röhrenjeans, die dunklen Shirts mit ihren Lieblingssprüchen und die geschnürten Stiefel nur akzeptierte, weil er sie brauchte. Sie war die mit Abstand begabteste Programmiererin in seiner Unternehmensberatung, ohne sie wäre er am Arsch.

Der Bergmann wies einladend auf das geöffnete Fahrstuhlgitter. »Folgen Sie mir bitte in den Förderkorb. Er bringt uns zwanzig Meter unter die Erdoberfläche zu unserem Anschauungsbergwerk. In einem echten Bergwerk geht es natürlich viel tiefer hinunter.«

Er setzte einen gelben Helm auf, ein Mitarbeiter des Museums verteilte blaue Helme an die Besucher. Ulf Lehmann sah angewidert auf die Kopfbedeckung, nahm ein Haarnetz aus dem Spender an der Wand und verpackte seine blonden, mit Gel nach hinten frisierten Haare, bevor er den Helm darauf platzierte.

Schmunzelnd wandte sich Lola ab. Sie interessierte das Bergwerk nicht, aber zu sehen, wie sich Lehmann durch diesen Betriebsausflug quälte, entschädigte sie für die zu erwartende Langeweile auf der Besichtigungstour.

Sie schlenderte zu Klaus, ihrem Bürokollegen, der sich an einem Tisch abstützte. Seine Miene verriet nichts von den Schmerzen, die sein krummer Rücken verursachte, aber ihr machte er nichts vor, dazu kannte sie ihn schon zu lange.

Ihre Buchhaltungskollegin Silvia kicherte wie ein junges Mädchen über etwas, was Klaus gesagt haben musste. Lola verkniff sich ein Grinsen. Zu schön, die beiden passten gut zusammen. Hoffentlich merkten sie es auch endlich.

Lola lehnte sich neben Klaus an die Tischplatte. »Außer Ulf und unserem Püppchen Evi scheint es allen gut zu gefallen.«

Klaus spähte zu der Blondine. »Sie hat sich von dem Ausflug mit ihrem angebeteten Chef sicher anderes versprochen.«

Silvia nahm die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu verstecken. Unnötig, fand Lola. Wenn man seine Sekretärin vögelte, musste man mit so was rechnen. Aber Ulf hielte vermutlich alle, einschließlich seiner Ehefrau, für bescheuert.

Lola stieg mit den anderen in den Förderkorb.

Bevor der Bergmann das Gitter schloss, winkte er einen jungen Mann mit langen, braunen Haaren heran. »Nordmann, fahr mit runter. Unten liegt jede Menge Müll vor dem Förderkorb.«

Schweigend stellte der junge Mann den Wischmopp zur Seite, nahm einen leeren Eimer und schlurfte gelangweilt in den Aufzug. Kalle wippte ungeduldig mit dem Fuß und knallte das Gitter dann mit Schwung zu, ratternd setzte sich der Korb in Bewegung.

 

Unten traten sie in einen großen Raum. Drei Bänke standen an den Wänden, einige Holzgestelle lehnten neben mehreren Kartons daneben. Am Boden lagen leere Verpackungen, benutzte Taschentücher und Getränkeflaschen. Die Luft roch nach Maschinenöl und Staub. Nordmann seufzte, machte aber keine Anstalten, mit dem Aufräumen zu beginnen.

Das Gesicht des Bergmanns färbte sich rot. »Na los, worauf wartest du? Das Arbeitsamt hat dich nicht zum Rumstehen hergeschickt. In deinem Alter hatte ich schon zehn Jahre unter Tage hinter mir.« Kopfschüttelnd wandte sich der Bergmann ab und stapfte in den Tunnel.

Nordmann verdrehte die Augen und stellte den Eimer ab. Sein Blick schweifte durch den Raum und traf Lolas.

»Augen auf bei der Berufswahl«, sagte sie schmunzelnd.

Der junge Mann warf einen Kontrollblick in den Tunnel, in dem der Bergmann mit der Gruppe verschwunden war, dann zog er ein Päckchen Zigaretten aus der Bauchtasche seines grauen Hoodies. »Glaub mir, dieser Job war nicht meine Idee. Willst du auch?« Er hob die Zigarettenschachtel vor Lolas Gesicht.

Sie rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf.

Mit dem bereits brennenden Feuerzeug in der Hand hielt er inne. »Stört dich doch nicht, wenn ich eine rauche?«

»Mach nur. Legst du es drauf an, dass Kalle, das Bergmännchen, dich rausschmeißt?« Sie ließ sich auf eine Bank nieder.

»Macht der nicht. Er hat viel zu viel Spaß daran, mich herumzukommandieren und mir sein hartes Leben unter die Nase zu reiben. Wie heißt du?«

»Lola. Und du?«

»Ich bin Patrick, der Bergwerk-Sklave.« Grinsend blies er den Rauch aus.

»Machst du diesen Traumjob schon länger?«

Er setzte sich neben sie und streckte die Beine aus. »Seit zwei Monaten. Ich habe einen neuen Sachbearbeiter beim Amt bekommen und der hält das hier für eine super Möglichkeit, mich an ein geregeltes Berufsleben heranzuführen.«

Lola sah ihn von der Seite an. »Warum machst du, was die sagen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Man hat weniger Ärger, wenn man unter dem Radar bleibt und tut, was die wollen.«

Sie zeigte auf den Eimer. »Wenn das so ist, warum räumst du dann nicht hier auf?«

»Übertreiben muss man ja auch nicht.«

»Klingt nach jahrelanger Erfahrung als Sozialarbeiter-Flüsterer.«

Er schnippte die Zigarette in Richtung des Eimers, verfehlte ihn jedoch. »Ich weiß, wie die ticken und wie man sie nehmen muss. War beim Jugendamt nicht anders als jetzt beim Jobcenter. Als ich fünfundzwanzig wurde, habe ich gehofft, sie lassen mich in Ruhe, weil sie nicht mehr verpflichtet sind, mir eine Ausbildung aufzudrücken, aber du siehst, ich habe mich geirrt. Und was für ein Verein seid ihr?«

Bevor Lola antwortete, bewegte sich der Förderkorb nach oben. Patrick stand auf, hob die Zigarette auf und warf sie in den Eimer.

»Mist«, murmelte er und wedelte wenig erfolgreich mit der Hand herum, um den Geruch des Rauchs zu vertreiben.

Belustigt sah Lola ihm zu. »Sag einfach, du hättest mich mit einer Kippe erwischt.«

»Nett von dir, aber was sollen die schon tun? Mir den tollen Ein-Euro-Job wieder wegnehmen?« Trotz seiner Worte versuchte er, arbeitsam zu wirken, und sammelte Müll ein.

Der Förderkorb brachte einen großen, hageren Mann mit schwarzen Haaren herunter. Er öffnete das Gitter und weitere Kartons wie die, die neben den Bänken standen, kamen zum Vorschein. »Oh, hallo. Störe ich?«

Patrick stellte den Eimer wieder weg und reichte dem Mann die Hand. »Nein, willkommen in der Hölle. Ich bin Patrick, das da ist Lola. Du bist der mit den Bildern, oder?«

»Jarik.« Der Mann schlug ein. »Und ja, ich stelle meine Gemälde hier aus. Kunst unter Tage heißt die Aktion.«

Patrick zeigte auf die Kartons. »Soll ich helfen?«

»Danke, das ist nett.«

»So bin ich. Fleißig wie eine Hummel.« Er zwinkerte Lola zu und holte einen großen Karton aus dem Förderkorb.

Lola stand auf und half beim Ausladen. »Sind da die Bilder drin?«

»Ja, möchtet ihr sie sehen?«, fragte Jarik. Lola nickte und der Maler zeigte auf die Holzgestelle an der Wand. »Ich baue die Staffeleien auf, dann kann ich sie auspacken.«

Patrick beobachtete ihn beim Aufbau des ersten Gestells, dann half er auch hier. Lola schmunzelte über seinen plötzlichen Fleiß. Wenn man Patrick nicht wie einen minderwertigen Idioten behandelte, schien er mit Arbeit kein Problem zu haben. Schnell waren die zehn Staffeleien bereit und Jarik stellte das erste Bild auf.

Patrick pfiff durch die Zähne. »Scharf, die Kleine.«

Er schaute sich das Aktbild einer braunhaarigen Frau mit glühenden grünen Augen aus der Nähe an.

»Vorsicht, die scharfe Kleine ist meine Frau Ivy.« Jarik betrachtete das Bild mit einem versonnenen Lächeln, dann stellte er weitere Bilder auf die Staffeleien. Besonders die Gemälde, die leere Räume zeigten, gefielen Lola. Sie strahlten eine Melancholie aus, die sie gut nachvollziehen konnte. Die Bilder, die Jarik von seiner Frau gemalt hatte, waren anders. Sie sprühten nur so vor Leben und Liebe.

Patrick schien das ebenfalls aufzufallen. »Muss toll sein, jemanden wie Ivy zu haben.«

Der Maler nickte, ohne den Blick von dem Bild zu wenden. »Oh ja, das ist es. Wir sind Seelenverwandte.«

Lola wünschte ihm, dass es tatsächlich so war. Ihre Erfahrung hatte sie gelehrt, man konnte sich auf niemanden verlassen. Sie wandte sich den anderen Bildern zu, die ihr Jarik bereitwillig erläuterte, bis ihre Kollegen von der Bergwerkbesichtigung zurückkamen.

»Du bist noch immer nicht fertig?«, maulte Kalle, der Bergwergführer, und schickte den größten Teil der Gruppe mit dem Förderkorb nach oben. Der Rest sah sich erst noch Jariks Bilder an.

Patrick trottete zu seinem Eimer. »Doch, fast.« Er sammelte den restlichen Müll ein.

Kalle warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Der Förderkorb kam wieder nach unten und der Bergmann stieg mit den restlichen Gästen ein. »Komm rauf und wisch oben die Toiletten«, kommandierte er und schloss das Gitter.

Patrick zeigte dem nach oben verschwindenden Aufzug den Mittelfinger, dennoch stieg er ein, als der Korb wieder nach unten kam.

Lola folgte ihm.

Auch Jarik lief zu ihnen. »Wartet, ich komme mit. Ich muss noch etwas aus dem Wagen holen.«

Oben angekommen bot sich ihnen ein verwirrendes Bild. Der Bergmann und die Menschen, die mit ihm im Förderkorb gewesen waren, standen in der Eingangshalle und starrten auf überall verstreute Haufen mit Kleidung.

Kalle nahm den Helm ab und kratzte sich am Kopf. »Was soll das denn? Sind Ihre Kollegen Nudisten oder warum haben die sich ausgezogen?«

Klaus hob ein T-Shirt auf. Weißer Staub rieselte heraus. Ulf stieg über die am Boden liegenden Kleiderhaufen und trat vor die Tür. Lola, Patrick und Jarik folgten ihm. Die Frühlingssonne schien vom blauen Himmel und es war ungewöhnlich ruhig. Kein Verkehrslärm, keine Stimmen, nur das Zwitschern eines Vogels im Baum neben dem Museum. Doch dann erklang ein lautes Pfeifen und der Knall einer Explosion zerriss die Stille. Der Boden bebte, die Luft zitterte. Ulf fiel auf die Knie und bedeckte seinen Kopf mit den Händen. Die großen Scheiben der Eingangshalle vibrierten und am Horizont schlugen Flammen hoch. Patrick griff nach Lola und zog sie schützend hinter sich, was sie mit erhobenen Augenbrauen zur Kenntnis nahm. Die Rolle des Bodyguards hatte sie ihm nicht zugetraut.

Klaus stürmte zu ihnen nach draußen. »Was war das?«

Ulf stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Dass nur er sich ängstlich zu Boden geworfen hatte, war ihm sichtlich peinlich. »Ich glaube, ein Flugzeugabsturz.«

Auch die anderen kamen nun aus dem Gebäude und schauten auf die in der Ferne lodernden Flammen. Merkwürdigerweise hörte man keine Sirenen.

»Ich muss die Bilder holen«, murmelte Jarik und drängte sich an Patrick und Lola vorbei in die Eingangshalle.

»Hey, fahr da nicht runter«, rief ihm Patrick nach. »Wenn die Erde noch mal so bebt, kann der Aufzug stecken bleiben.«

Der Maler ignorierte ihn.

Patrick wandte den Blick wieder dem Rauch zu. »Was meinst du, was hier los ist?«

Lola starrte wie er auf den Horizont. »Keine Ahnung.«

Saarlouis - Leere Welt

 

JOONA

 

Joona zog zitternd die Knie an die Brust, die Hände auf seine vom Pfefferspray brennenden Augen gepresst. Der Boden war eiskalt. Er blinzelte, presste die Lider unter dem beißenden Schmerz aber sofort wieder zusammen. Sehen konnte er in der totalen Finsternis sowieso nichts.

Das Knarzen des Türschlosses ließ ihn zusammenzucken, weiter bewegte er sich nicht.

»Sie wollen doch nicht etwa allein zu dem Irren gehen?«, hörte er Jensen.

»Ich nicht, aber Sie«, sagte die Schließerin. »Der Lichtschalter ist gleich links.«

Es klackte und Joona zwang sich, die Augen erneut zu öffnen. Das elektrische Licht, das ihm vorhin trüb vorgekommen war, stach nun hell in seine Pupillen und verwandelte den Raum in eine neblig-weiße Höhle. Schritte näherten sich.

»Ich glaube nicht, dass das den Vorschriften entspricht«, meckerte Jensen.

»Scheiße«, murmelte die Kanter ganz in der Nähe. »Legen Sie ihm den Gürtel um. Dann die Handschellen vorn durch die Metallschlaufe am Gürtel ziehen und die Hände fesseln.«

Grob wurde Joona auf die Knie gezogen. Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Etwas wurde um seine Taille geschlungen, dann schnappte eine Fessel an seinem rechten Handgelenk zu. Beide Hände wurden nach unten gezogen und an der Metallschlaufe an der Vorderseite des Gürtels befestigt. Das Klirren der Handfesseln im Befestigungsring erinnerte ihn schmerzlich an seine Gerichtsverhandlung. Verschwommen sah er, dass es das Arschloch und nicht wie erwartet einer der Wärter war, der ihn fesselte. Er versuchte, ihn von sich zu stoßen, aber es war zu spät.

»Treten Sie bis zur Wand zurück, Jensen«, sagte die Wärterin. Noch immer kniend fühlte Joona ihre kleine Hand an seiner Schulter. Die erniedrigende Position war ihm unangenehm und er versuchte, aufzustehen.

»Bleiben Sie unten, Demiter, sonst komme ich nicht an Ihre Augen ran. Legen Sie den Kopf in den Nacken, ich spüle Ihr Gesicht ab.«

Er kam der Aufforderung erst nach, als sie ihre Hand auf seine Stirn legte und den Kopf sacht zurückdrückte. Kühles Wasser rann über sein Gesicht und Joona ächzte, da die Flüssigkeit den Schmerz im ersten Moment intensivierte.

»Wird gleich besser«, sagte sie.

Der kühlende Strom verebbte und Joona öffnete seine wunden Augen. Dank des Wassers war sein Blick etwas klarer, doch der Anblick der Spraydose in der Hand der Schließerin ließ ihn zurückweichen.

»Das ist ein Erste-Hilfe-Spray, keine Angst.« Sie hielt ihn an der Schulter fest und besprühte seine Augen. »Besser?«

Er nickte.

»Gut, dann bitte nach Ihnen, meine Herren.« Sie zeigte auf die Tür.

Auf der Treppe drehte sich Jensen zu der Schließerin um. »Was ist hier eigentlich los?«

»Das erfahren Sie früh genug. Sie werden jetzt verlegt.«

»Was? Warum das denn?«, beschwerte sich das Arschloch.

Die Wärterin dirigierte sie zur Garage und holte dann den Schlüssel zu einem Kleintransporter. Der hintere Teil des Wagens war durch eine Scheibe mit kleinen Löchern vom Fahrer getrennt. Hinten gab es drei Sitzreihen, auf die erste ließ sich Jensen unter vielen Beschwerden und Joona schweigend nieder. Sie verriegelte die Tür und setzte sich auf den Fahrersitz.

Joona spähte aus dem Fenster in die Garage. Warum lagen an drei Stellen Schließeruniformen auf dem Boden?

Der Wagen setzte sich in Bewegung, fuhr aber nur bis zum verschlossenen Tor. Die Kanter stieg aus, kurz darauf öffnete sich das Tor und sie kam zurück.

»Hey, warum ist hier denn niemand?«, rief Jensen.

Sie steuerte den Wagen auf die Straße. Joona wandte sich um. Das Tor blieb geöffnet, als seien sie die Letzten, die in dem Gebäude gefangen gehalten worden waren.

Die Welt außerhalb des Wagens war gespenstisch still. Kein Mensch war zu sehen, obwohl die Straßen voller Autos waren. Sie standen herum, als hätten die Fahrer sie zurückgelassen, um zu Fuß weiterzugehen. Einige waren ineinander verkeilt, aber es gab niemanden, der sich über die Blechschäden aufregte. Die Szenerie wirkte surreal. Er fühlte sich wie in einem Albtraum oder als sähe er einen Film, der nichts mit ihm zu tun hatte. Es fehlten nur noch die Zombies.

Die Wärterin fuhr über Bürgersteige oder Slalom zwischen den Fahrzeugen auf beiden Spuren. Sie wirkte nervös, die Knöchel ihrer Hände traten weiß hervor, so fest umklammerte sie das Lenkrad.

Jensen beugte sich zur Trennscheibe. »Wo bringen Sie uns hin?«

Sie ignorierte ihn.

 

Minuten später hielten sie vor einem Bürogebäude am Rand der Innenstadt von Saarlouis. Kanter und Hoffmann, Architekten, stand auf der großen Scheibe, die den Blick auf eine Empfangstheke freigab. Die Wärterin sprang hinaus und rannte in das Architektenbüro.

»Hey! Sie können uns bei dieser Hitze doch nicht hierlassen«, brüllte das Arschloch der jungen Frau nach.

»Lass sie, die kommt schon wieder«, murmelte Joona. Das mulmige Gefühl, das ihn seit dem Verlassen der JVA quälte, verwandelte sich immer mehr in Angst. Wenn hier alle Menschen verschwunden waren, was war dann mit Evelin? Er musste zu ihr oder sie wenigstens anrufen. Hilflos sah er auf seine gefesselten Hände. Keine Chance, sich zu befreien.

Jensen versuchte erfolglos, die Tür des Transporters zu öffnen. »Scheiße, wo ist die Schlampe?«

Da seine Hände ohne Gefangenentransportgürtel nur mit Handschellen gesichert waren, konnte er an die Scheibe trommeln, aber niemand reagierte auf den Lärm.

Joona deutete mit dem Kopf zum Firmenlogo. »Wahrscheinlich sucht sie ihren Mann.«

»Hier läuft doch ein ganz schräges Ding. Wo sind denn alle? Das geht doch nicht, dass die uns hier einfach parkt.«

»Halt endlich die Schnauze, Jensen.« Joona warf seinem Mitgefangenen einen verstohlenen Blick zu. Hatte er das Zittern in seiner Stimme bemerkt? Warum pochte sein verdammtes Herz wie verrückt? Er schloss die Augen, konzentrierte sich. Einatmen – eins, zwei – ausatmen.

Ein Bellen ließ ihn zusammenfahren. Er sah sich um, aber die Hoffnung, andere Menschen zu sehen, zerplatzte, als ein kleiner Hund neben ihnen die Straße überquerte. Die Leine schleppte er hinter sich her.

Jensen prustete geräuschvoll Luft aus. »Nur ein Köter. Verdammt, jetzt ein Glas eiskalten Chardonnay.«

Ein Tropfen Schweiß rann über Joonas Schläfe, für Ende Mai war es wirklich heiß. Er streifte ihn an der Schulter ab, da er die Hände nicht heben konnte. Er würde eine Cola vorziehen, für Alkohol hatte er sich noch nie begeistert, vor allem nicht für solche Yuppie-Brühe.

 

Die Tür des Architektenbüros öffnete sich und die Wärterin kam heraus. Ihre Augen waren so rot und geschwollen, wie sich Joonas anfühlten.

Jensen klopfte an die Scheibe. »Machen Sie auf, wir werden hier drin gekocht!«

Sie sah aus, als erwache sie aus einer Trance, und öffnete die Seitentür des Transporters.

Jensen kletterte aus dem Wagen. »Sie sagen uns jetzt sofort, was hier los ist!«

Hilflos hob sie die Arme. »Ich habe keine Ahnung. Alle sind weg.«

Er streckte ihr die gefesselten Hände entgegen. »Nehmen Sie mir endlich die bescheuerten Handschellen ab!«

»Nein, ich bringe Sie beide in die JVA nach Saarbrücken, da ist noch jemand.«

Jensen schien fassungslos. »Hier geht die Welt unter und Sie denken nur daran, uns wieder hinter Gitter zu verfrachten?«

»Steigen Sie ein, wir fahren weiter.«

»Ich steige nicht wieder ein. Ich habe Durst. Wenn Sie sich hier als Oberaufseher aufspielen, müssen Sie für unser Wohl sorgen.«

Unstet wanderte ihr Blick umher, dann nickte sie. »Kommen Sie mit. Sie auch, Demiter.« Sie wies auf das kleine italienische Restaurant neben dem Architektenbüro.

Die Schließerin öffnete die Eingangstür, ein verbrannter Geruch schlug ihnen entgegen. Sie ließen die Tür offen und traten in den Schankraum. Überall lag Kleidung, halb gegessene Gerichte standen auf den Tischen.

»Hinsetzen«, befahl die Kanter. Sie öffnete zwei Fenster, dann ging sie in die Küche. Joonas Blick wanderte zum Ausgang, dann hinunter zu seinen an den Gefangenentransportgürtel gefesselten Händen. Er setzte sich zu Jensen an einen Tisch. Aus der Küche drang ein Husten, dann ein Klappern und die Schließerin kam zurück. Sie ging zur Theke und nahm ein Baguette aus dem Korb auf dem Büffet und zwei Schälchen mit Butter aus dem Kühlschrank daneben. Sie schien sich hier auszukennen. Hinter der Theke zapfte sie zwei Cola und brachte alles zu ihnen. Dann ließ sie sich auf den Stuhl am Kopfende des Tisches fallen und starrte auf die weiße Tischdecke.

Jensen leerte sein Glas in einem Zug, dann brach er etwas von dem Brot ab, bestrich es mit Butter und biss hinein.

»Trinken und essen Sie auch etwas«, forderte die Wärterin Joona auf. Er rasselte mit den Handschellen am Gürtel. Bis zum Mund reichten seine Hände nicht.

Die Schließerin seufzte erschöpft, machte aber keine Anstalten, ihn von den Fesseln zu befreien. Bitter starrte er auf seine Hände. Klar, er war der gefährliche Verbrecher, den man fixieren musste, Jensen war nur ein harmloser Betrüger, der sowieso bald auf Bewährung rauskam. Es wunderte ihn, dass die Schließerin Handschellen bei dem überhaupt für nötig gehalten hatte.

Die Kanter holte einen Strohhalm für Joona, bestrich ein Stück Brot mit Butter und hielt es vor seinen Mund.

Er sah sie mit erhobenen Augenbrauen an. »Ist das Ihr Ernst? Sie wollen mich füttern?«

»Entweder das, oder Sie essen nichts. Ich nehme Ihre Fesseln nicht ab.«

Er schnaubte und biss ab, dabei fiel sein Blick auf den zu weiten Ring an ihrem Daumen, der genauso aussah wie der Ring an ihrem Ringfinger. »Ihr Mann?« Er wies mit dem Kopf in Richtung des Architektenbüros.

Sie nickte stumm, ihre Lippen bebten. Sie presste sie fest zusammen.

Jensen stand auf. »Ich schaue mal in die Küche und in den Weinkühlschrank da drüben.«

»Hinsetzen!« Die Schließerin legte die Hand auf die Waffe an ihrem Gürtel, die Joona vorher nicht aufgefallen war.

»Ganz ruhig, war ja nur ein Vorschlag, Frau Kanter.« Das Arschloch hob beschwichtigend die gefesselten Hände, doch sobald sie wegsah, funkelte er sie wütend an. Die Schließerin hielt Joona erneut das Brot vor den Mund.

Er biss nicht ab. »Sie sollten auch etwas trinken, Sie sehen aus, als ob Sie gleich umfallen, und dann können Sie nicht mehr auf uns aufpassen.«

Sie nickte benommen und ging erneut hinter die Theke, trank ein Glas Wasser. »Wir fahren weiter. Stehen Sie auf, zum Wagen.«

Bereits halb im Auto hielt Joona inne. »Frau Kanter, bevor wir nach Saarbrücken fahren, muss ich zu meiner Schwester.«

»Tut mir leid, das geht nicht.« Sie schob ihn hinein und schloss die Tür des Transporters hinter ihm.

Sobald sie am Steuer saß, beugte sich Joona zu den Löchern in der Verbindungsscheibe. »Sie haben doch auch nach Ihrem Mann gesehen und wir haben auf Sie gewartet. Meine Schwester wohnt nicht weit von hier, ist kaum ein Umweg. Bitte, ich mache keinen Ärger, aber ich muss zu ihr. Was ist, wenn sie in ihrem Keller eingeschlossen ist und nicht rauskommt?

---ENDE DER LESEPROBE---