Ich ohne Wir: Transformation - Heike Bicher-Seidel - E-Book

Ich ohne Wir: Transformation E-Book

Heike Bicher-Seidel

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Beschreibung

Der andvarischen Säuberungswelle auf seinem Heimatplaneten entkommen schafft es Xori, sich als Andvara auszugeben. Seine ganze Welt ist vernichtet, er ist der letzte seiner Art. Allein unter Feinden, voller Trauer und Verzweiflung, versucht er, unentdeckt zu bleiben. Schutz und Trost findet er bei Rali und Rala, die ihn in ihre Mitte aufnehmen. Doch auch sie wissen nichts von seiner wahren Herkunft … Gemeinsam bereiten sie sich auf die Säuberung des nächsten Planeten vor. Planet 1523, von seinen Bewohnern „Erde“ genannt.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

11/2022

 

Ich ohne Wir - Transformation

 

© by Heike Bicher-Seidel

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2021 by Creativ Work Design, Homburg

Bildnachweis: Avramescu Florin /Stock-Fotografie-ID 1091687306

Bildnachweis: diephosi / Stock-Fotografie-ID:182186849

Lektorat: Paul Lung

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: Coverface

 

Coverbild ›Man flucht viel mehr, wenn man tot ist‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Predyl‹

© 2017 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Remoment‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-184-3

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

Printed in Germany

 

 

Heike Bicher-Seidel

 

Ich ohne Wir

 

Transformation

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Science-Fiction

 

 

Prolog

XORI

1. Kapitel — Die Rückkehr des Schreckens

2. Kapitel — Kolonisierungsschiff Heiliges Leben

3. Kapitel — Casal Ral plus eins

4. Kapitel — Leto

5. Kapitel — Der Test

6. Kapitel — Die Methoden des psychologischen Dienstes

7. Kapitel — Der Rat

8. Kapitel — Planet 1524

9. Kapitel — Die Landung

10. Kapitel — Erste Erkundungen

11. Kapitel — Die Mos

12. Kapitel — Das Tunnelsystem

13. Kapitel — Die Befragung

14. Kapitel — Das Nest

15. Kapitel — Der Anschlag

16. Kapitel — Das verletzte Ich

17. Kapitel — Dino

18. Kapitel — Ein neues Wir

19. Kapitel — Musik und Wein

20. Kapitel — Vergiftet

21. Kapitel — Nachrichten

22. Kapitel — Die Rasur

23. Kapitel — Das neue Heim

24. Kapitel — Das erste Mal

25. Kapitel — Die Wahrheit

26. Kapitel — Entscheidungen

27. Kapitel — Rettungsmission

28. Kapitel — Pläne schmieden

29. Kapitel — Erforschung einer Spezies

30. Kapitel — DS-Pharma

31. Kapitel — Tun, was getan werden muss

32. Kapitel — Der Meisterschütze

33. Kapitel — Rückkehr ins Basislager 15

Danksagung

Die Autorin

Mehr von der Autorin

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für die Weltverbesserer, Fantasten und Träumer.

Bleibt, wie ihr seid.

Prolog

 

Silberblau lag das den Planeten umfassende Meer der Xori unter der Sonne und den Sternen. Ein sanfter Wind kräuselte die Oberfläche des Ich, während es Energie aus den Sonnenstrahlen absorbierte. Die Zeit im Sonnenschein gehörte zu seinen liebsten Momenten und es teilte sein Wohlgefallen mit den Milliarden von Ich, die das Meer bildeten. Befriedigt sank es in die Tiefe, gab den Platz frei für das nächste Ich, das das Licht der Sonne herbeisehnte. Auf seinem Weg zum Grund lauschte es den Gedanken und Gefühlen der anderen, die von der Schönheit der Sterne, der Kühle des Windes und der anregenden Rauheit des Meeresbodens berichteten. Die Betrachtungen des Wir drehten sich in ewigen Kreisen, genau wie das Aufsteigen und Absinken der Ich. Jedes Ich ein eigenständiges Wesen und Teil eines Wir, größer als die Summe seiner Elemente.

Nur an wenigen Stellen ragte der Grund aus dem planetenumspannenden Körper des Wir heraus. Mit grünen Pflanzen übersäte Inseln, essenziell für das Klima und den Wasserhaushalt. Daher hielt sich das Wir von ihnen fern. Die Flora und das Wir lebten in perfekter Symbiose.

Auf halbem Weg zum Grund fühlte das Ich Unruhe im Wir. Interessiert öffnete es sich den Wahrnehmungen der anderen, den Bildern von zwei Sternen, die langsam größer wurden. Fasziniert beobachtete das Wir die Punkte, die sich zu eckigen Gebilden wandelten. Sie kamen näher! Vor Aufregung kräuselte sich die Oberfläche des Wir, Säulen erhoben sich, um das Phänomen besser zu studieren. Schon mehrmals waren Felsen von den Sternen auf den Planeten gestürzt, hatten dem Wir und der Flora Schaden zugefügt. Doch anders als in den Erinnerungen des Wir stürzten diese Unbekannten nicht senkrecht zu Boden, schlugen keine Krater. Die Sterne zischten parallel zur Oberfläche dahin, verursachten Wind, der die Flüssigkeit streichelte. Die Ich seufzten in kollektivem Wohlbefinden, aber dann landeten die Besucher auf einer der Inseln und verschwanden aus der Wahrnehmung der Xori. In Wellen näherten sich einige Ich über den sandigen Strand der Landestelle, um zu beobachten.

Die Gebilde von den Sternen öffneten sich und aus ihrem Inneren lösten sich kleinere Felsen, von denen sich zwei zum Ufer bewegten. Das Wir durchsuchte sein ewiges Gedächtnis, fand jedoch nichts, was mit diesem Ereignis vergleichbar war. Vorsichtig näherten sich einige Ich den beiden Einzelsternen. Einer davon wich zurück, der andere beugte sich zum Wir, berührte es. Aufgeregt vibrierte die Flüssigkeit. Das war kein unbelebter Stein, sondern ein unbekanntes Ich! Ein Ich voller Gedanken und Gefühle, so exotisch, neu und reizvoll. Das Wir umfloss einen größeren Teil des Fremden und der Strom der Gedanken und Empfindungen wurde stärker. Ein entzücktes Seufzen durchflutete das Wir und strömte zurück zu dem Besucher.

Wer seid ihr?, sandte das Wir aus, bekam aber keine Antwort. Konnte es den Eindringlingen vertrauen? Sie hatten dem Wir und der Flora bei der Landung nicht geschadet, waren anders als die fallenden Sterne früherer Zeiten. Die neue Erfahrung, die schon die kurze Berührung des Unbekannten dem Wir bescherte, war verlockend.

Das Wir erhob sich, nahm das fremde Ich in die Gemeinschaft auf. Sei willkommen im Wir, Besucher.

Es drängte sich um das Wesen, untersuchte den Körper, absorbierte die fremdartigen Gedanken, die Gefühle, die Art zu kommunizieren, die auf unbekannten Ebenen verlief. Es fand eine Kommunikationsform aus Geräuschen und Gesten, die so viele faszinierende Möglichkeiten bot. Mit dem Verstehen der Sprache erschloss sich das Wissen dieses Ich, dessen Wir sich Andvara nannte.

Das fremde Ich bewegte sich ruckartig, der Körper verkrampfte, dann war es still. Der Strom der Gedanken und Gefühle ebbte ab. Das Wir durchsuchte sein neues Wissen und erkannte zu spät, dem Andvara-Ich fehlte Sauerstoff, den es im Wir nicht gab. Das Wir war voller Trauer über den Verlust des fremden Ich, das für immer in den Erinnerungen der Xori leben würde.

 

Ein plötzliches Gefühl der Leere durchfuhr das Wir. Ein Xori-Ich fehlte! Entsetzt suchte das Wir nach ihm und ein weiteres Ich verschwand. Stetig wuchs die Zahl der Verschwundenen. Solche Verluste von Ich hatte es bis zu diesem Tag nur durch den Einschlag von Felsen von den Sternen gegeben, aber das hier war anders. Das Wir durchsuchte sein neuerworbenes Wissen und erkannte mit Schrecken, was ihm widerfuhr. Die Fremden löschten Ich mit ihren Eliminierungsstrahlern aus!

Panisch floh das Wir, weg von der Insel, fort von diesem Quell faszinierender Erkenntnisse und abgrundtiefen Grauens. Den toten Andvara-Körper ließ es zurück.

Dann hörte das Verschwinden von Xori-Ich auf. Erfüllt vom Schmerz des Verlustes sah das Wir den Eindringlingen nach, die zwischen den Sternen verschwanden.

Seither verursachte die Erinnerung der Xori an dieses Ereignis Schrecken wie Glück. Das Fehlen der Ich schmerzte, aber der Schatz des neuen Wissens beschäftigte das Wir unablässig. Jedes Detail wurde analysiert, die Erlebnisse aus den Gedanken des Andvara nachgelebt, die Gefühle nachempfunden. Doch diese neue Welt, die die Begegnung mit den Fremden den Xori eröffnet hatte, war den unwiederbringlichen Verlust so vieler Ich nicht wert.

 

 

 

 

 

XORI

 

1. Kapitel — Die Rückkehr des Schreckens

 

Zufrieden träumte das Ich am Grund des Xori-Meeres, als Unruhe im Wir auf der gegenüberliegenden Planetenseite aufkam. Fluggeräte näherten sich. Ungezählte Umrundungen der Sonne waren seit dem schmerzhaften Besuch der Andvara vergangen, aber die Erinnerung an den Verlust nicht verblasst. Angst, ein Gefühl, das die Xori erst durch die Wesen von den Sternen kennengelernt hatten, flutete das Wir.

Das Ich zog sich in die unterirdische Höhle zurück, vor deren Eingang es geruht hatte. Der schmale Tunnel endete nach einigen Windungen in einem kugelförmigen Hohlraum, gerade ausreichend, um das Ich aufzunehmen. Doch die Erleichterung, Schutz gefunden zu haben, wurde Momente später von Einsamkeit verdrängt, einem Gefühl, das das Ich ebenfalls nur aus den Erinnerungen des Andvara kannte, der im Wir gestorben war.

Panisch strömte es durch den schmalen Gang zurück zum Wir. Doch statt in die Gemeinschaft der Xori einzutauchen, spiegelte sich das Sonnenlicht im silberblauen, flüssigen Körper des Ich. Es richtete sich zu einer Säule auf, aber auch aus der erhöhten Position war das Wir nicht zu erkennen. Es lauschte auf die Gedanken und Gefühle der anderen, doch zum ersten Mal in Tausenden von Leben war da nur Stille.

Der Drang, Teil des Wir zu sein, trieb das Ich vorwärts. Es schlängelte über den leeren Grund, suchte das Meer der Xori. Es wollte die Erkenntnis nicht hören, die ihm aus den Erinnerungen des Andvara entgegenschrie. Die Fremden hatten das Wir ausgelöscht, ihn zu einem Ich ohne Wir gemacht. Der Schmerz der Einsamkeit war unerträglich. Es durfte nicht das letzte Ich seiner Art sein. Wenn es überlebt hatte, konnten das andere Ich auch, es musste sie nur finden.

Hoffnung trieb das Ich an. Die Sterne zogen über den Himmel, aber es sah ihre Schönheit diesmal nicht. Es floss durch eine endlose, mit weißem Staub bedeckte Ebene, den leeren Horizont im Blick. Bei Sonnenaufgang stieg das Gelände an. Erschöpft sammelte sich das Ich an einem Felsen, sog die Energie der Sonnenstrahlen auf. Seine Gedanken kreisten um Schmerz und Verlust.

 

Die Luft vibrierte und schreckte das Ich auf. Es umschloss den Stein neben sich, untersuchte die Form und imitierte sie.

Staub wirbelte auf und ein Shuttle setzte in unmittelbarer Nähe der beiden identischen Felsen auf. An den Erschütterungen des Bodens erkannte das Ich, dass ein Wesen das Fluggerät verließ. Nach dem Vorbild des verstorbenen Andvara imitierte das Ich einen Hör- und einen Sehsinn und nahm die Mörder seines Wir zum ersten Mal direkt wahr. Von nur einem Standort aus zu sehen und zu hören, war ungewohnt für das Ich und zwang es zu äußerster Konzentration.

»Endlich wieder frische Luft.« Der Andvara wandte das Gesicht der Sonne zu und atmete geräuschvoll ein. Weitere Mörder verließen das Shuttle. Sie sahen sich um, einige nahmen Bodenproben, andere spähten in die Ferne. Zwei von ihnen, die völlig gleich aussahen, kam hinüber zu den identischen Felsen. Einer der beiden kontrollierte seine Waffe. Bitter sah das Ich auf den unscheinbaren Gegenstand, der einen Xori in Nichts verwandeln konnte.

»Du kontrollierst den Strahler zum dritten Mal, Rala. Meinst du, er hat sich in den letzten fünf Minuten von selbst entladen?«, fragte eines der Wesen.

»Tu nicht so, als wärst du nicht aufgeregt, Rali.«

Rali wandte sich der Ebene zu. »Kaum vorstellbar, dass hier noch gestern alles von einer lebendigen Flüssigkeit bedeckt war. Die Eliminierungsstrahler der ersten Welle haben sauber aufgeräumt. Nicht eine Pfütze ist übrig.«

Rala legte den Arm um seinen Begleiter. »Bist du enttäuscht?«

»Ein wenig schon. Wir haben ewig trainiert, und wofür? Es gibt nichts für die zweite Welle zu tun.«

»Casal Ral, Ihr bleibt bei der Fähre«, kommandierte der Fremde, der zuerst ausgestiegen war. »Der Rest teilt sich in zwei Gruppen auf und untersucht die Umgebung. Wenn ihr eine Pfütze seht, schießt. Das glänzende Zeug mag harmlos wirken, hat aber schon einmal einen von uns umgebracht.«

Die Andvara marschierten mit gezogenen Strahlern davon, nur die beiden Andvara, die neben dem Ich standen, blieben zurück.

Rala warf seinen Rucksack zu Boden und trat gegen den Stein, nach dessen Vorbild sich das Ich geformt hatte. »Hoffentlich kracht Nori ein verdammter Meteorit auf seinen sturen Schädel. Warum lässt er gerade uns die Fähre bewachen? Er weiß doch, dass wir uns auf den Einsatz gefreut haben.« Er ballte die Fäuste und starrte auf den Stein, der nur ein kurzes Stück geflogen war.

Rali legte die Hand auf Ralas Arm, aber der schüttelte ihn ab.

»Lass mich!«

Er holte eine Flasche aus seinem Rucksack und reichte sie Rala, der einen großen Schluck trank und dann seufzte. »Entschuldige, ich wollte es nicht an dir auslassen.«

»Schon gut, mir geht es ja genauso. Lass uns auf den Hügel steigen und die Pflanzen dort ansehen.«

»Nori sagt, wir sollen bei der Fähre bleiben.«

»Wir sehen sie auch von da oben. Was soll hier schon passieren? Ich bin sicher, die Präfekten werden nach unserer Rückkehr verkünden, dass das flüssige Zeug vollständig ausgelöscht wurde.«

Die Fremden entfernten sich, ihr Gepäck ließen sie zurück.

Der Schmerz über den Verlust seines Wir flammte erneut heiß in dem Ich auf. War es das Letzte seiner Art? Wenn die Andvara den Planeten verließen, würde es allein zurückbleiben, auf ewig einsam unter den Sternen? Der Gedanke an ein solches Leben war schrecklicher als alles, was sich das Ich vorstellen konnte. Es spähte zu den Pflanzen, zwischen denen die Fremden verschwunden waren, und löste seine Steinform auf. Dann umschloss es einen der beiden Rucksäcke, analysierte die Form und die Materialien und zog ihn zu einer Felsgruppe. Nach einem weiteren Kontrollblick hob es die Tasche hinter die Steine und bedeckte sie mit Sand. Vor Aufregung vibrierend sah sich das Ich um, erwartete jeden Moment, einen der Fremden mit gezogenem Eliminierungsstrahler zu sehen, aber es war noch immer allein. Schnell schlängelte es zurück und formte aus seinem Körper einen Rucksack. Äußerlich identisch mit dem, den es versteckt hatte. Solange kein Andvara versuchte, die Tasche zu öffnen, fiel es nicht auf, andernfalls war seine Eliminierung sicher. Aber verglichen mit der Einsamkeit schien selbst der Tod verlockend.

2. Kapitel — Kolonisierungsschiff Heiliges Leben

 

Mit einem Ruck setzte das Shuttle auf. Das Ich zögerte, neben dem unauffälligen Hörsinn einen Sehsinn zu bilden. Die Angst, entdeckt zu werden, lähmte es, aber es war wichtig, sich zu orientieren. Es formte den blausilbernen Punkt, der für die Sicht notwendig war, so klein wie möglich und schaute sich um. Es lag in der Form des Rucksacks zu Füßen von Rala, der neben seinem Casal saß und dessen Hand hielt.

Mit einem Seufzen erhob sich der Andvara, schulterte seine Tasche und stieg gefolgt von Rali aus. Aus dem absorbierten Wissen des verstorbenen Andvara wusste er, sie waren im Hangar eines Raumschiffes, der zur Hälfte mit Fluggeräten gefüllt war. Obwohl er nie zuvor etwas Ähnliches gesehen hatte, wusste er doch, dass links die großen Fähren der ersten Welle standen, rechts Shuttles der zweiten Welle parkten und weitere landeten. Jede einschwebende Transportfähre spuckte ein Andvara-Kolonisierungsteam in schwarzen Uniformen aus, aber auch Soldaten in Grün bevölkerten den riesigen Raum. Die grünen Andvara lösten ein ungutes Gefühl in dem Ich aus. Psychologischer Dienst war die Bezeichnung dieser Gruppe, Psy-Soldaten.

»Wartet!« Ein Grüner baute sich vor Rali und Rala auf. »Was habt ihr von dem Planeten mitgebracht?«

»Nichts. Was sollte man von diesem öden Felsen schon mitnehmen?«, antwortete Rali.

Der Psy zeigte ihnen etwas. »Mein Scanner sagt, ihr habt Fremdstoffe bei euch. Kommt mit zur Durchsuchung.«

Panik erfasste das Ich. Sollte es fliehen? An Ralas Rücken hinunterfließen und durch das Gitter am Boden sickern? Sein Blick zuckte von einem Eliminierungsstrahler am Gürtel der Soldaten zum nächsten. Niemals würde er entkommen, wenn er seine Tarnung jetzt aufgab. Ihm blieb nur, zu warten und auf eine bessere Gelegenheit zu hoffen.

»Kannst du uns nicht einfach durchlassen?«, bettelte Rali. »Wir waren den ganzen Tag da unten und haben Hunger.«

Der Psy-Soldat schnalzte verneinend. »Mitkommen.«

Rala setzte den Xori-Rucksack ab. »Dann durchsuch uns hier, das geht schneller.«

»Gut, zeigt, was ihr in den Taschen habt.«

Rali nahm ebenfalls das Gepäck ab und öffnete es.

Der Soldat in Grün hockte sich daneben und durchwühlte die Ausrüstung, dann richtete er sich wieder auf.

»In Ordnung. Jetzt der andere.«

Das Ich fühlte das Gitter unter sich und ließ etwas von seiner Masse hinabsinken. Schon nach wenigen Zentimetern stieß es auf eine undurchdringliche Bodenplatte. Es gab kein Entkommen, kein Versteck, keinen Schutz vor den Eliminierungsstrahlen der Andvara. Der Soldat zog den Xori-Rucksack zu sich und legte die Hand auf den nachgebildeten Verschluss. Das Ich unterdrückte nur mit Mühe das Beben seines Körpers.

»Oh, kann das den Alarm beim Scannen ausgelöst haben?« Rali zeigte dem Psy-Soldaten eine blaue Kugel.

Der Grüne erhob sich. »Es ist verboten, etwas außerhalb eines Sicherungsbehälters auf die Heiliges Leben zu bringen. Mitkommen zu den Psy-Kommandanten.«

Rala hob den Xori-Rucksack auf seinen Rücken. »Es tut uns leid, daran haben wir nicht gedacht. Es war unser erster Einsatz in der zweiten Welle. Bitte, kannst du nicht einmal darüber hinwegsehen?«

Der Psy nahm Rali die blaue Kugel aus der Hand. »Gib schon her. Es ist immer das Gleiche mit euch Neulingen. Fremde Materie auf ein Schiff zu bringen ist gefährlich, ihr könntet das komplette Schiff verseuchen.«

Rala hob die Hände. »Das ist nur eine harmlose Nuss. Die wachsen da unten überall.«

Der Soldat in Grün schnaubte. »Und die Injektionspistolen des Psychologischen Dienstes beinhalten nur harmlose Mittel, um euer Pflichtbewusstsein und den Gehorsam zu erhöhen.«

»Schon gut, du hast recht.« Rali schob sich vor seinen Casal. »Es war dumm von uns und kommt nie wieder vor.«

Der Psy-Soldat winkte sie weiter. »Ja, ja. Macht, dass ihr wegkommt.«

Die Ral folgten den überfüllten, verschlungenen Gängen des Schiffs. Sie wichen Entgegenkommenden aus, warteten immer wieder, bis sich ein Stau auflöste und sie weiter kamen. Von der erhöhten Position auf Ralas Rücken hatte das Ich einen guten Überblick. Wände, Boden und Decke der Flure waren mit Metallplatten verkleidet, so dass sie auf den ersten Blick keine Verstecke boten. Aus den Erinnerungen des Andvara wusste das Ich jedoch, dahinter waren Hohlräume, Versorgungstunnel und Röhren, in die es in einem unbeobachteten Moment verschwinden konnte.

»Rali, Rala, wartet!« Zwei Soldaten in Schwarz drängten sich zu ihnen. »Wie war euer erster Einsatz?«

»Weri, Wera.« Rala nickte einen Gruß. »Frag nicht. Wir haben so lange hierauf gewartet und die Nor lassen uns als Wache bei der Fähre zurück. Wir haben nur auf diesem Fels im All herumgesessen und uns gelangweilt.«

Rali legte die Hand auf den Arm seines Casal. »Vielleicht bekommen wir ja morgen nochmal die Chance, runterzufliegen.«

Weri reckte verneinend das Kinn vor und schnalzte. »Darauf solltet ihr nicht hoffen. Die ersten Untersuchungsergebnisse der Pioniere haben sich schon herumgesprochen. Die Bodenqualität von 1523 ist schlecht und es gibt nur wenig Wasser. Der Planet wird nur einen Bruchteil der geplanten Bevölkerung ernähren. Ich denke nicht, dass wir lange hierbleiben.«

Rala seufzte. »Also wieder herumsitzen, bis wir 1524 erreichen. Wisst ihr, wie lang der Flug dauern wird?«

»70 Standardtage, haben wir gehört.«

Rala ließ die Schultern hängen. »Besteht denn das Leben eines Kolonisierungssoldaten nur aus Warten?«

Weri legte den Kopf schräg. »Ihr wolltet doch unbedingt in den Kolonisierungsdienst. Oder haben sie euch als Erzieher aus der Aufzuchteinrichtung geworfen, weil ihr nichts anderes könnt, als auf Felsen herumzusitzen und auf Fähren zu starren?«

»Wer starrt auf Fähren?«, fragte ein weiterer Andvara in Schwarz, der mit seinem Casal zu der Gruppe stieß.

»Hallo Mosi, Mosa«, grüßte Weri. »Wir sind gerade dabei, die neuen Fährenwächter zu einer Partie Leto zu überreden.« Er wandte sich von den Mos zu den Ral. »Oder ist euch das zu aufregend.«

»Kannst du die Sprüche bitte lassen«, beschwerte sich Rala. »Habt ihr etwas Neues?«

Weri entblößte bejahend die obere Zahnreihe.

»Was für eine Mission ist es?« Rala legte den Kopf interessiert schräg. »Kolonisierung? Bergerklimmen? Schadspezies auslöschen?«

»Zweikampf«, flüsterte Weri.

»Wie, Zweikampf?«, fragte Rali.

»Du gegen mich, würde ich vorschlagen. Mal sehen, wie ihr euch in einem Kampf um Leben und Tod macht, wenn ihr in der zweiten Welle nur für das Bewachen von Fähren zu gebrauchen seid.«

»Kampf-Arenen sind gefährlich und verboten.« Mosas schmale Augen drückten Missbilligung aus.

Wera atmete tief durch, Weri wirkte nicht weniger genervt. »Es ist nur ein virtueller Kampf, wir schlagen uns ja nicht wirklich die Nasen blutig.«

»Wir haben gehört, die Gedankenverbindung mit der Konsole führt zu Hirnschäden, wenn man in einer Leto-Kampfarena stirbt.« Mosi verschränkte die Arme.

Verneinend schnalzte Wera. »Die Gerüchte sind absolut übertrieben. Vielleicht hat man nach einem ordentlichen Treffer Kopfschmerzen, aber wo bleibt der Reiz, wenn das Spiel keinen Einsatz fordert.«

»Wir sind dabei«, sagte Rala und warf einen Blick zu seinem Casal, der bejahend die Zähne bleckte.

 

Sie machten Halt in der Messe, tranken eine Ration Nährmittelkonzentrat, und betraten dann zu sechst das Quartier der Casal Wer und Mos. Rala stellte den Ich-Rucksack auf den Boden.

Das Ich kannte Räume wie diesen aus den Erinnerungen des verstorbenen Andvara. Wie alle Unterkünfte war diese mit vier Betten, einem Tisch und vier an der Bodenplatte fixierten Stühlen ausgestattet. Eine schmale Tür führte in einen Reinigungsraum mit Schallreinigungsgerät, in dem sowohl die Körper als auch die Kleidung gesäubert wurden.

Die Mos verzogen sich in ihre Schlafkojen.

»Wollt ihr nicht mitmachen?«, fragte Rali.

»Ganz sicher nicht. Zweikampf ist moralisch untragbar und zu Recht verboten.«

»Die Führung hat Leto für das Training der Kolonisierungstruppen geschaffen«, gab Rali zu bedenken. »So unmoralisch kann es nicht sein.«

Mosa breitete die Decke über sich aus. »Aber ein Kampf Andvara gegen Andvara ist kein Training. Allein der Gedanke, ein Andvara-Leben auszulöschen, ist abartig.« Er legte sich hin und wandte ihnen den Rücken zu.

Mit genervtem Blick zog Weri Rali zum Tisch. »Die Diskussion ist sinnlos. Die Mos verstehen einfach keinen Spaß.«

Die Bedienung der Konsole übernahm Wera. Rali passte die Hirnwellenabnehmer, die in Helmen mit blickdichtem Visier installiert waren, bei Rala und Weri an.

»Alles klar, ich habe ein Bild«, murmelte Wera, dann wandte er sich an Rali. »Komm her, wir verfolgen den Kampf auf dem Bildschirm.«

Das Xori-Ich auf dem Boden ließ einen kleinen Teil seines Körpers an der Wand nach oben fließen, darauf achtend, als hauchdünner Film in der Farbe des Untergrundes unsichtbar zu bleiben. Nur der silberblaue Punkt des Sehsinns störte die Tarnung. Von seiner Position aus hatte es einen guten Überblick.

Auf dem Monitor schaute sich Rala in der Arena um, eine quadratische Sandfläche, die an drei Seiten von Bäumen, an einer von einer Felswand begrenzt wurde. »Das sieht fast wie auf 1456 aus. Da sind wir aufgewachsen.«

Er sah am haarigen Körper seines Avatars hinunter und bewegte die vier Arme und zwei Beine. In jeder Hand trug er eine martialisch anmutende Schlagwaffe. Zwei mit scharfen Klingen, zwei mit hammerartigen, stumpfen Enden. Er schwang die Waffen probehalber und hüpfte auf der Stelle. Schon traf ihn der erste Schlag von hinten.

»Hey, das ist unfair«, beschwerte sich Rala.

Man hörte Weris kehliges Lachen aus der realen wie aus der virtuellen Welt.

Rala wirbelte herum und landete einen Treffer mit einer der stumpfen Waffen, der Weri die Heiterkeit aus dem pelzigen Gesicht seines Avatars wischte. Rala senkte den Kopf, nun war sein raues Lachen zu hören. Sofort griff er erneut an.

Sein Gegner hatte Mühe, die Schläge zu parieren. »Verdammt, hast du das schon mal gemacht?«

»Ich bin ein Naturtalent. Hast du Angst, ich schere deinem Avatar den Pelz?«

Weri keuchte, schwitzte virtuell wie real, und wurde von Rala immer weiter zurückgedrängt, bis er mit dem Rücken an die Felswand prallte. Auch Ralas Atem ging schwer. Er holte mit beiden Klingen aus. Mit gekreuzten Schwertern fasste er den Hals seines Gegners ein, als hätte er eine große Schere in den Händen, durchbrach die pelzige Haut des Avatars jedoch nicht.

Den Körper angespannt röchelte Weri. »Na los, bring es zu Ende!«

Rala zögerte.

Selbst aus der Entfernung fühlte das Xori-Ich Ralas Hemmung, das Leben eines Artgenossen zu beenden, auch wenn es sich nur um ein Spiel handelte. Der Andvara, der im Wir gestorben war, hätte in einer solchen Situation ebenso empfunden.

Ralas Avatar senkte die Waffen und ging zurück zur Mitte der Arena. Die Chance nutzend griff Weri von hinten an. Rala schrie auf und starrte auf das glänzende Metall, das aus seiner Brust ragte. Sein Gegner hatte scheinbar keine ethischen Bedenken, einen Andvara in Leto zu töten. Das Ich spürte Ralas Schmerzen, die Verletzung schien absolut real. Es fühlte sich an, als ströme das Leben aus dem Andvara heraus, aber dann wurde die Verbindung zur Leto-Konsole unterbrochen und die Illusion war vorbei.

Rali riss seinem Casal den Helm vom Kopf, der seine Brust abtastete, aber es gab keine Verletzung.

»Du bist ein hinterhältiger Monz, Weri«, knurrte der Geschlagene.

Weri senkte den Kopf und lachte selbstzufrieden. »Du hättest es zu Ende bringen sollen, wie ich dir gesagt habe. Schließlich heißt die Arena Zweikampf bis zum Tod.«

Das Ich zog sich wieder komplett in die Rucksackform zurück.

Schwankend stand Rala auf und nahm sein Gepäck. »Passiert mir nicht nochmal.«

Weris Lachen verfolgte sie bis in den Gang.

3. Kapitel — Casal Ral plus eins

 

»Die Teams der zweiten Welle melden sich zur Nachbesprechung in den Teamräumen«, tönte eine Stimme aus dem Lautsprecher des Quartiers der Ral.

Schwerfällig quälte sich Rala aus seiner Schlafkoje. »Erinnere mich, nicht mehr gegen Weri zu spielen.«

Mitfühlend strich Rali über den Rücken seines Casal. Gemeinsam verließen sie das Quartier, den Rucksack ließen sie zurück.

Nur mit Mühe unterdrückte das Ich den Impuls, den beiden zu folgen. Die Einsamkeit überrollte es wie eine Welle. Selbst die Gesellschaft seiner Feinde schien im Gegensatz zu diesem bohrenden Schmerz verlockend. Nur das Wissen, dass die Andvara in ihr Quartier zurückkommen würden, machte die Situation erträglich. Ablenkung suchend gab das Ich die Rucksackform auf und richtete sich zu einer silberblauen Säule auf. Verstecke gab es hier einige. Das Ich zwängte sich in ein Regalfach unter einer der vier Schlafkojen. Sich hier zu verbergen hätte den Vorteil, während der Ruhephasen in Ralis und Ralas Nähe zu sein, um sich weniger verloren zu fühlen. Aber der Gedanke an die Stunden des Alleinseins in den Dienstphasen der Ral ließ das Ich erschaudern. Auch wenn die Gefahr größer war, entdeckt zu werden, blieb nur eine Möglichkeit, in erträglicher Form weiterzuleben, obwohl sich das Ich für diesen Verrat am Wir der Xori verachtete.

Es konzentrierte sich auf sein Erscheinungsbild, erinnerte sich an das Aussehen des im Wir Verstorbenen und bildete sein Äußeres nach dessen Vorbild.

Er betrachtete sich in der spiegelnden Metalltür des Quartiers. Karamellfarbene Haut umhüllte den schlanken Körper. Sein Kopf war bedeckt von kurzen, schwarzen Haaren, die großen Augen schillerten im typischen Grün. Die Nase war gerade, die Gesichtsform schmal. Er drehte sich, musterte seine Rückseite. Vom Haaransatz am Hinterkopf bis zur Mitte des Rückens verlief ein Geflecht aus sich kreuzenden, braunen Linien, das sich unten teilte und über die Seiten bis auf den Bauch hinunterlief. Am Unterbauch vereinten sich die Bänder wieder. Die dunklen Streifen waren erhaben, er ertastete sie mit den neugebildeten Fingern. Das Ich nahm eine schwarze Uniform aus dem Regal unter einer der Schlafkojen, entfernte das angeheftete Namensschild auf der Brust und zog sie an. Die Ärmel und Beine der Kleidung waren etwas zu lang, daher erweiterte er die Körpergröße, bis sie passte. Er setzte sich auf einen Stuhl, seine Hände ruhten auf den Oberschenkeln. Regungslos probierte er seine neuen Sinne. Er fühlte den leichten Luftzug der Klimaanlage im Gesicht, sah die blassen Farben des Quartiers, die über alle Schattierungen von Weiß bis Dunkelgrau reichten, und hörte die Geräusche außerhalb. Da waren Stimmen und Schritte, die in einem nicht endenden monotonen Strom vor der geschlossenen Tür entlang fluteten.

 

Die Quartiertür öffnete sich und das Ich stand auf. Wie erwartet kamen die Ral zurück.

Überrascht sahen sie ihn mit großen Augen an. Rali trat näher. »Wer bist du? Hat man euch diesem Quartier zugeteilt?«

Unsicher, ob er die Kommunikationsform per Stimmbänder beherrschte, entblößte der Xori lediglich bejahend die oberen Schneidezähne.

Rala legte interessiert den Kopf schräg. »Dann herzlich willkommen.«

»Wir sind Casal Ral. Ich bin Rali.« Der Andvara berührte grüßend die linke Schulter mit der rechten Hand.

Das Ich ahmte die Geste nach.

»Und wie ist dein Name?«, fragte Rala.

Das Ich nahm das wachsende Unbehagen seiner Gegenüber wahr. Es musste die Stimmbänder benutzten, alles andere war zu auffällig.

»Xori.« Er hätte die Bezeichnung des Andvara benutzen sollen, der im Wir sein Leben gelassen hatte, aber er wollte wenigstens dieses kleine Stück seiner Identität behalten.

Rali sah sich um, obwohl das Quartier so klein war, dass er einen weiteren Anwesenden nicht hätte übersehen können. »Wo ist Xora?«

»Ich bin allein.«

Die Gesichter der Ral spiegelten Betroffenheit. Rala legte die Hand an Xoris Oberarm. »Ist dein Casal tot?«

»Ja.« Xori musste die Trauer nicht spielen.

Rali schob ihn auf den Stuhl und die Andvara setzten sich zu ihm. »Schon lange her?«

»Nein, erst vor Kurzem.« Xori spürte die Bestürzung der Ral. Ihr Mitgefühl vertrieb seine verzweifelte Einsamkeit, schenkte ihm einen Moment, in dem er wieder zu einem Wir gehörte. Diese winzige Pause von dem verzehrenden Schmerz ließ ihn aufatmen, auch wenn er wusste, es war nur die Illusion einer Gemeinschaft und die Emotionen der Ral basierten auf ihren falschen Annahmen.

»Ist Xora bei der Kolonisierung von 1523 umgekommen?«

Xoris unangebrachtes Zugehörigkeitsgefühl zu seinen Feinden verbrannte im Schmerz der Erinnerung. Er bleckte erneut bejahend die Schneidezähne. Wenn er so nah wie möglich bei der Wahrheit blieb, war die Gefahr geringer, Fehler zu machen.

Rala legte die Hand auf Xoris. Dieser genoss den Trost der Berührung und fühlte sich gleichzeitig wie ein Verräter.

Das Gefühl wurde noch besser und schlimmer zugleich, als Rali ihn umarmte. »Dein Verlust tut uns unendlich leid.«

Xori schloss die Augen und schmiegte sich in die warme Berührung, die ihn entfernt an das Gefühl erinnerte, Teil seines Wir zu sein. Dieser Kontakt nach den vielen einsamen Stunden tat so gut. Die Freundlichkeit war Balsam für ihn, obwohl er hasste, was sie seiner Art angetan hatten. Die beiden Andvara gehörten zu denen, die sein Volk ohne Skrupel ausgerottet hatten. Sie waren grausame Mörder — gleichzeitig aber fühlende Wesen, und zogen ihn, der immer in einem Schwarm gelebt hatte, unwiderstehlich an. Er verachtete sich für diese Schwäche und konnte dennoch nicht verleugnen, dass er sich sehnte, Teil des Wir von Rali und Rala zu sein.

Rali löste sich von ihm und Xori öffnete die Augen. Die Blicke der Ral ruhten besorgt auf ihm. Er hätte sich nicht so sehr an den Andvara klammern dürfen. Sein Verhalten musste ihnen ungewöhnlich vorkommen, wusste er doch aus den absorbierten Erinnerungen, dass enger Körperkontakt in dieser Gesellschaft meist nur unter Casal üblich war.

»Wo sind deine Sachen?«, fragte Rala.

Xori sah zu Boden. »Ich habe nichts.«

»Wie meinst du das, du hast nichts?«

Fieberhaft durchsuchte Xori die Erinnerungen des verstorbenen Andvara nach einem Ausweg aus der Falle, in die er sich hineingeredet hatte. »Xora und ich waren auf einem anderen Schiff, aber dort kann ich nicht mehr länger sein.«

»Weil dich dort alles an Xora erinnert?« Ralis leise Stimme klang mitfühlend, beinah wie ein Streicheln.

Rala ging zum Regal unter einer Schlafkoje. »Ist kein Problem, wir besorgen dir morgen eine neue Ausrüstung und heute bekommst du Nachtkleidung von uns. Geh schon mal in den Reinigungsraum, dann legen wir uns schlafen.« Er holte Hemd und Hose heraus.

Der dünne, graue Stoff fühlte sich kühl in Xoris Händen an. »Danke.«

 

Allein im Reinigungsraum, lehnte sich Xori gegen die Tür. Was tat er nur? Warum hielt er keinen Abstand zu seinen Feinden? Er sollte sich vor ihnen verstecken, statt sie zu umarmen, sie bekämpfen, nicht ihre Nähe suchen.

Stimmen vor der Tür lenkten ihn von seiner Selbstzerfleischung ab.

»Meinst du, Xori will das?«

»Er will das Lager vielleicht nicht mit uns teilen, aber er braucht das jetzt. Er konnte mich ja kaum loslassen, um nach nebenan zu gehen. Hast du ein Problem damit, wenn er bei uns schläft?«

»Nein. Ist eine gute Idee, ich mache mir auch Sorgen um ihn.«

»Genau wie die Führung. Sie haben bestimmt in unserer Akte gesehen, dass wir vor dem Kolonisierungsdienst Erzieher waren und trauen uns daher eher als den anderen zu, uns um Xori zu kümmern.«

»Denkst du, es geht ihm so schlecht, dass er lieber stirbt, als ohne Xora zu leben?«

»Wie würdest du dich in seiner Situation fühlen? Wir müssen in seiner Nähe bleiben, auf ihn aufpassen und ihm zeigen, dass er nicht allein ist.«

 

Als Xori aus dem Reinigungsraum kam, lag Rala in einer Schlafkoje mit drei Kissen und Decken. Er winkte ihn zu sich. Zögernd kam Xori der Aufforderung nach.

»Rutsch näher an Rala«, forderte Rali und legte sich ebenfalls in die Koje.

Rala schlang den Arm um Xoris Taille, der nicht widerstehen konnte und sich nähesuchend an Ralas Brust zusammenkauerte. Er spürte die Körper beider Andvara warm und tröstlich an seinem. So nah nahm er ihre Besorgnis deutlich wahr, misstrauisch waren sie jedoch nicht. Sein Verhalten kam ihnen merkwürdig vor, aber sie erklärten es sich mit der Trauer um seinen verlorenen Casal. Eine gute Strategie, die Andvara selbst Erklärungen suchen zu lassen und ihre Vermutungen dann zu bestätigen. Vielleicht schaffte er es ja tatsächlich, sich als einer der ihren zu verstecken und so den Schmerz des Alleinseins zu mildern. Kurzfristig war dies seine beste Alternative, langfristig zu planen, wagte er nicht. Zu grausam war der Gedanke, nie wieder im Wir der Xori zu existieren.

 

 

4. Kapitel — Leto

 

Xori tauchte aus Träumen voller grausamer Bilder und Emotionen auf. Der Schmerz und die verzweifelten Schreie des sterbenden Xori-Wir hallten in ihm nach, fühlten sich real an, als wäre es eben erst passiert. Regungslos lag er zwischen Rali und Rala, um sie nicht zu wecken und so das Gefühl, Teil ihrer Gemeinschaft zu sein, noch eine Weile zu behalten. Es ließ die schrecklichen Träume verblassen. Leider tönte kurz darauf ein Weckruf aus der Kommunikationseinheit des Quartiers und die Casal regten sich. Xori mied den Blick seiner Bettgenossen, zu sehr schämte er sich für die Schwäche, die Nähe der Mörder des Wir gesucht zu haben, und dennoch fehlte ihm der Kontakt, sobald sie aufstanden.

 

Ihr erster Weg führte zur Nahrungsausgabe. Noch unter dem Eindruck seiner Träume rief Xori mental nach anderen Xori-Ich, die vielleicht ebenso wie er hierher geflohen waren, aber mit jedem Gang, jedem Schiffsdeck sank seine Hoffnung, eine Antwort zu erhalten. Er war allein unter Feinden, die er durch die Erfahrungen des Wir gut genug kannte, um zu wissen, sie würden ihn ohne Zögern töten, wenn sie ihn entlarvten. Um zu überleben, musste er zu einem Andvara werden. Im Kolonisierungsschiff war er von der Energiequelle der Xori — ihrer Sonne — abgeschnitten.

---ENDE DER LESEPROBE---