Ich schenke dir die Angst - Ralf Gebhardt - E-Book

Ich schenke dir die Angst E-Book

Ralf Gebhardt

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der hallesche Kriminalhauptkommissar Richard Störmer wird aus seiner regionalen Welt gerissen, als gleichzeitig seine Freundin Magdalena, seine Tochter Verena und zwei Autorinnen verschwinden. Alle haben auf der Leipziger Buchmesse eine Lesung besucht. Eigentlich war nur Mary Tomm, eine junge Staranalystin des Börsenparketts, das Ziel. Gleichzeitig versuchen betrügerische Investmentbanker bei mehreren Großbanken, Brokern und Hedgefonds zuzuschlagen: Sie manipulieren Kurse mit gigantischen Summen und setzen auf einen folgenschweren Verfall des Euro. Als wäre das nicht genug, suchen die Banker als Erben einer mächtigen DDR-Seilschaft der Partei und Staatssicherheit gleichzeitig nach einem Goldschatz aus DDR-Beständen, der in den alten Bergwerksschächten des Mansfelder Landes vermutet wird. Für Störmer geht es bald schon um mehr als das eigene Leben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ich schenke dir die Angst

Ralf Gebhardt

#MitteldeutschlandKRIMI

edition oberkassel

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Epilog

Danksagung

Dank an die LeserInnen

Ralf Gebhardt

Bleiben Sie auf dem Laufenden!

Impressum

Landmarks

Titelbild

Inhaltsverzeichnis

Dieses Buch ist ein Werk der Fantasie.

Die nachfolgenden Charaktere und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten sowie lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Bei Orten und Örtlichkeiten habe ich mir die Freiheit genommen, sie den Erfordernissen der Geschichte anzupassen.

Prolog

Das Geräusch war laut, furchtbar laut. Er konnte es nicht zuordnen. Unmöglich, die Augen zu öffnen, um nachzusehen.

Dunkel erinnerte er sich an gestern, den Abend der Entscheidungen und des Alkohols.

War das Geräusch jetzt endlich weg?

Die Freunde hatten auf ihn eingeredet, manche geschrien.

Überlege es dir, hier einfach aufzuhören, du hast einen Eid geschworen. Auf Lebenszeit! Wir sind deine Heimat, für immer, da geht man nicht!

Aber er wollte gehen, unbedingt. Seine eigene Familie gründen, Jana heiraten, Schluss machen mit alledem.

Da war es wieder, das Geräusch. Ein helles Kreischen, mal lauter, mal leiser. Er hielt sich die Ohren zu, bis es schließlich aufhörte, und er erkannte, dass es von innen kam. Er seufzte.

Gestern Abend hatten sie ihm einen Auftrag gegeben, den er als Chance verstehen wollte, Nein zu sagen. Das hatte er sich fest vorgenommen. Die Entscheidung, auszusteigen, war länger gereift. Und Jana hatte der Verlobung nur zugestimmt, wenn er sich von seinem bisherigen Leben verabschieden würde. »Geh hin, iss was bei denen und lass eine kleine Erinnerung da.« Der Satz war leicht dahingesagt. In Wirklichkeit sollte er den Gastwirt eines Landgasthofes besuchen, der sich geweigert hatte, ihnen weiterhin einen Vereinsraum für geheime Treffen zur Verfügung zu stellen. Und das, weil der Wirt, früher Genosse der Partei, mitbekommen hatte, dass einige Kapitaltransaktionen, die sie über sein WLAN hatten laufen lassen, vielleicht die Aufmerksamkeit der Börsenaufsicht auf sich zogen. In den DDR-Zeiten war es seine Aufgabe gewesen, wichtige SED-Geheimnisse zu schützen. Um jeden Preis.

»Schluss mit der Diskussion«, war das Einzige, was ihm einfiel. Und sie: »Geh hin. Nimm drei Röhrchen, mit lebenden Kakerlaken, eins für die Sanitärräume, ein kleines in die Essensreste auf deinem Teller sowie das dritte in die Abfalltonnen hinter dem Haus. Deckel ab und gut. Mehr musst du nicht tun, um eine bleibende Erinnerung zu hinterlassen. Der Rest fügt sich von allein. Dem machen wir die Bude dicht. Dann hast du deine Schuldigkeit getan.«

Das war zu viel für ihn, er konnte es nicht und lehnte ab.

Das Geräusch in seinen Ohren war zurück.

Überleg dir gut, was du tust. Wir geben dir Zeit bis morgen früh, um deine Entscheidung zu überdenken. Und jetzt Prost …

Er schüttelte sich, griff neben sich, öffnete die Augen einen Schlitz weit und nahm das Telefon ab, das sich mit dem kreischenden Geräusch vermischt hatte. Sofort Ruhe. Endlich.

»Hallo?«

Er atmete nur, genoss die Stille und versuchte¸ die stechenden Kopfschmerzen zu ignorieren. Irgendwie wusste er, dass es besser war, sich nicht zu bewegen.

»Hallo?«

Keine Antwort. Er widerstand der Versuchung, aufzulegen.

»Wer ist da?«

»Entschuldigen Sie, Herr Reichelt, hier ist die Rezeption.«

»Hm. Wie spät ist es?« Er erinnerte sich nicht daran, einen Weckdienst bestellt zu haben.

»Kurz nach acht Uhr, sorry, aber wir haben ein Problem. Im Nachbarzimmer gab es einen Rohrbruch. Wir müssten nur mal eben an die Wand. Es dauert nicht lang, versprochen.«

Er schnaufte rüde.

»Dürfen wir?«

»Ja.« Er legte den Hörer zurück. Scheiße. Mehr als die Bettdecke hochziehen konnte er nicht. Er war zu schwach.

Unmittelbar darauf klopfte es.

»Hausmeisterservice, wir kommen jetzt rein.« Das Kartenschloss klackte, dann traten drei Angestellte herein. Er öffnete die Augen, soweit es ging. Frauen als Hausmeister?

»Sehr freundlich von Ihnen, uns hereinzulassen. Wir sind auch gleich wieder verschwunden, müssen kurz an die Wand hinter dem Bett.«

Sie trugen hellblaue Hotelkleidung, bestehend aus Kittel und Hose. Außerdem weiße Schuhe. Links und rechts trat je eine der Damen neben seinen Kopf an die Wand. Sie waren beide blond und ähnelten sich wie Zwillinge. Es dauerte einen Moment, bis er bemerkte, dass jede von ihnen ein Drachen-Tattoo im Gesicht hatte: die eine Schwester auf der linken und die andere auf der rechten Wange. Die Drachen neben seinem Kopf schienen sich zuzuzwinkern. Faszinierend!

Die dritte blieb am Fußende stehen, hielt ein Klemmbrett in der Hand. Ihr teigiges Gesicht wurde vom Filz grauer, strähniger Haare umrahmt und passte nicht zum Versuch, militärisch aufzutreten. In kurzen Abständen zuckte ihre Zunge über die feuchte Oberlippe und versuchte, die Nase zu erreichen. Ab und zu tropfte etwas Speichel herab.

Verdammt, ist die fett!

Er schloss die Augen.

»Sorry, nur kurz.« Schnell hatten die Schwestern seine Arme gegriffen und über den Kopf gestreckt. Er sah, wie sie unter ihren Kitteln Elektrokabel hervorholten. In wenigen Sekunden fesselten sie seine Hände an die Bettpfosten. Der Versuch, instinktiv die Beine anzuziehen, misslang. Die beiden Damen sprangen direkt in der Rückwärtsbewegung zu den Füßen. Noch ehe er begriff, was geschah, hatten sie die Fußgelenke ebenfalls fixiert. Gerade als er den Kopf anheben und schreien wollte, drehten sich die beiden Blondinen wieder zu ihm herum. Die hellblauen Kittel fielen ihnen von den Schultern. Sie waren extrem jung, fast noch kindlich. Und im Gegensatz zu der anderen am Fußende elegant wie Models. Sein Blick verfing sich in ihren straffen Brüsten, sein Mund blieb offen, er hechelte.

»Was?« Es reichte noch nicht für einen vollen Satz. Aber die Zeit genügte, dass eine der beiden hinter ihn trat, kurz über das Tattoo auf der linken Wange strich und dann ihre Frisur richtete. Erst später würde er sich bewusst erinnern, dass sie in diesem Moment eine Actionkamera auf ihrem Kopf befestigte. Sie beugte sich herab und verschloss seinen Mund mit einem Kuss. Er hatte keine Chance, denn gleichzeitig drückte sie ihm die Nase zu. Er wand sich hin und her, versuchte Luft zu bekommen. Plötzlich eine Stimme neben seinem Ohr. Die musste von der zweiten Drachenträgerin sein. »Psst, mein Kleiner.« Sein Mund wurde freigegeben. Er konnte erkennen, wie die andere Junge auf das Bett kletterte und sich auf seine Beine setzte. Lächelte der Drache auf ihrer rechten Wange?

Die Dicke im Hintergrund schaltete den Fernseher ein, zum ersten morgendlichen Livebericht der Börse Frankfurt. »… werden die Kurse wohl den asiatischen Vorgaben folgen und im Handelsverlauf deutlich anziehen …« Der Ton wurde lauter gestellt. Während sich die Frau, die auf seinen Beinen saß, nun ebenfalls eine Kamera auf dem Kopf befestigte, verklebte ihm ihre Schwester den Mund. Sie beugte sich weit vor und rollte die Bettdecke nach unten bis über seine Shorts. Synchron zogen beide Models ihre blauen Hosen aus.

Verdammt, das sind ja gar keine weißen Hausmeisterschuhe, das sind High Heels!

Sein Herz wummerte, fassungslos registrierte er, dass sein Körper auf die weiblichen Reize reagierte. Doch egal, was er im Rahmen seiner Möglichkeiten an Geräuschen von sich gab, der Fernseher war lauter. Er erstarrte, als die dicke Aufpasserin hinter ihrem Rücken ein Rasiermesser und einen Lippenstift hervorholte. Zuerst zog sie sich ihre Lippen nach, aufdringlich und breit. Auf seinen Bauch malte sie ein Herz. Den Stift warf sie achtlos neben sich auf das Bett. Ein Schnitt genügte, um die Shorts links und rechts auseinanderzuklappen. Dann setzte sie sanft die Klinge an und fing an, ihn unterhalb des Bauchnabels zu rasieren. Ohne Schaum, Seife oder andere Hilfsmittel. Einfach so. Er warf sich hin und her, soweit es seine Fixierungen zuließen. Als sie fertig war, wurde ihr ein Föhn gereicht, mit dem sie die herumliegenden Haare einfach wegpustete. Sein Gehirn konnte dem Geschehen nur mit Mühe folgen. Als sie den Föhn weglegte und etwas aus ihrer Tasche zog, erstarrte er: Es war ein Kondom! Eine der Hübschen reckte sich und zerriss ihren eigenen Slip. Sie stand völlig nackt vor ihm. Ihm schien, als würden ihm die Augen aus den Höhlen treten. Er wollte es nicht, aber er reagierte heftig auf sie. Sie sprach nicht, lächelte nur. Während sie die Packung öffnete und ihm das Kondom überstreifte, fingerte die andere kurz an der Kopfkamera herum. Sie zeigte auf den Drachen ihrer rechten Wange, berührte sein Gesicht mehrmals mit ihren Brüsten, bevor sie sich aufrichtete und mit beiden Händen zu ihrer Partnerin zeigte. Diese schickte sich an, sich in Zeitlupe auf ihn, direkt auf das Kondom, zu setzen. Sein Herz pumpte, seine Haut färbte sich rot. Im letzten Moment, als sie fast auf ihm saß, klatschte die Dicke in die Hände.

»So, Mädels, das ist genug, ich denke, wir haben den Wasserschaden gefunden. Ihr dürft duschen.«

Die Gesichter der beiden Angesprochenen zeigten keine Reaktion. Sie kletterten vom Bett, zogen ihre Hotelkleidung wieder an und verließen das Zimmer.

»Und du, mein Gutster, bekommst gleich einen fantastischen Film auf dein Handy gespielt.«

Sie hob das Rasiermesser auf und zerschnitt damit die fesselnden Elektrokabel, bevor sie es einsteckte. Als sie neben ihm stand, konnte er ihre ölig-raue Haut fühlen und ihre jauchigen Ausdünstungen riechen. Er musste sofort würgen. Dann griff sie zu, mit beiden Händen. Sie riss ihm das Klebeband vom Mund und stopfte das Kondom hinein, das sie ihm zuvor brutal heruntergerissen hatte. Sie küsste ihn. Er war nahe daran, dem Brechreiz nachzugeben. Schließlich trat sie an das Fußende des Bettes, winkelte seine Beine an, nahm den Lippenstift und rammte diesen in einer einzigen Bewegung in ihn wie ein Zäpfchen. Er schrie.

Sie deckte ihn zu, langsam.

»Wenn ich irgendwelche Reklamationen über unseren Hausmeisterservice höre, dann drehen wir zwei Hübschen den nächsten sehr intimen Film, klar? Also nur du und ich, wir beide ganz allein, damit wir uns richtig verstehen.« Sie gluckste und verließ das Zimmer.

Julian Reichelt war unfähig, sich zu bewegen, so, als sei er noch immer gefesselt.

Die Tür öffnete sich einen Spalt und die Dicke streckte ihren Kopf nochmals herein.

»Ach ja, und deine süße kleine Jana-Frau wird sich das Video sicherlich spätestens in eurer Hochzeitsnacht ansehen. Oder jedes Mal, wenn du mit ihr schläfst? Das liegt an dir, du darfst entscheiden. Dabei würde ich so gern sehen, wie sie reagiert.«

In diesem Moment summte sein Handy. Er ahnte, dass es die Videodatei war.

»Alternativ können aber auch wir festlegen, zu welcher Zeit sie es sieht, wann es sich für immer in ihre Sehnerven einbrennt. Denk daran, ja?« Sie zögerte einen letzten Moment. »Du kannst ihr ja schon mal deine neue Intimfrisur erklären, mein Schöner!« Sie lachte brüllend auf und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Als er verzweifelt versuchte, nicht an Jana zu denken, erfasste ihn der heftigste Krampf, den er je erlebt hatte. Er übergab sich.

Eins

Damit hatten sie nicht gerechnet.

»Bleib dicht hinter mir!«

Magdalena versuchte, sich nicht abdrängen zu lassen. Gemeinsam mit Verena, der Tochter ihres Freundes, hatte sie eine überfüllte, aber inspirierende Lesung auf der Leipziger Buchmesse besucht. Jetzt strömte das Publikum nach draußen, über den Verbindungsgang zur Nachbarhalle, in der sich einige der Nominierten des diesjährigen Buchpreises für eine Autogrammstunde angekündigt hatten. Das Interesse daran war noch größer als das an der gerade beendeten Veranstaltung.

Durch die Scheiben des Glastunnels sahen sie erste aufziehende Gewitterwolken. Sie versuchten, sich nicht ablenken zu lassen und direkt hinter den beiden Frauen zu bleiben, die soeben noch auf dem Podium gelesen, diskutiert und dabei die geplante Zeit überschritten hatten. Magdalena war selbst Kriminalschriftstellerin, für sie war es normal, eine Buchmesse zu besuchen. Dass ausgerechnet Verena wegen des Buchpreises jetzt Interesse an einer Wirtschaftsvorlesung hatte, verstand sie zwar nicht, freute sich aber darüber. Sie würde ihrem Partner, Kriminalhauptkommissar Richard Störmer, später davon erzählen. Wahrscheinlich hatte er seine Tochter so auch noch nicht erlebt.

Ich weiß, dass er die Gefühle mir gegenüber nicht so zeigen kann, wie er möchte. Aber ich spüre es, und das ist heftiger als alles, was ich je hatte. Er passt auf mich auf, als wäre ich zerbrechlich, versucht, das Böse von mir fernzuhalten. Als würde er mich auf Händen tragen. Er schottet das, was mir schaden könnte, völlig ab. Vielleicht hat er im Leben mehr schlimme Dinge gesehen, als ich mir als Autorin jemals vorstellen kann. Leider weiß ich nichts von seinem Früher, weiß nicht, ob die Tochter behütet aufgewachsen ist, nicht, wie ihre Mama zu ihr und Richard ist. Die andere Frau war vor mir da, und sie muss etwas gehabt haben, was ihn fasziniert hat. Ob aus Liebe letztlich Feindschaft geworden ist? Er lebt in einer Welt, in der es für mich keinen Zutritt gibt, eine, in der ich gern wäre. Für ihn da sein, sooft ich kann, seine Liebe erwidern, Wärme zurückgeben. Ich weiß nicht, ob ich ihm das schon gesagt habe, und auch nicht, wie viel er davon zulässt. Und wenn das Glück ewig hält? Ich kämpfe dafür, jede Minute voller Dank, so lange ich kann. Für immer vielleicht. Noch nie in meinem Leben gab es tieferes Vertrauen. Wie erkläre ich ihm, dass er ein Held ist, auf der Seite der Guten steht? Wie oft darf ich ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe?

Die Lesung war kurzweilig und teilweise sogar lustig gewesen. Sie hatten einiges über die Psychologie des Geldes gelernt. Die in der Präsentation gezeigten Karikaturen zu den einzelnen Geldtypen verbreiteten eine gelöste Heiterkeit, weil sich jeder Besucher in einem der überspitzten Bilder wiederfinden konnte.

Störmers Tochter Verena, die Teenagerin, hatte es bisher nicht leicht in ihrem Leben. Sie musste sich zwischen den getrennt lebenden Eltern entscheiden. Zumindest, wo sie wohnen wollte. Erschwerend kam hinzu, dass sie beim letzten Besuch ihres Vaters unangenehm in die polizeilichen Ermittlungen hineingezogen wurde. Die Erinnerungen an die Entführung sowie die eingeschlagenen Scheiben in Störmers Dienstwagen voller frischem Blut hatten sich ihr eingebrannt. Umso schöner, dass sie sich jetzt unerwartet für die Buchmesse interessierte. Und wer weiß, vielleicht ist ja die Ökonomie der Börsen ihre zukünftige berufliche Heimat? Eben in der Veranstaltung hätte man den Eindruck gewinnen können.

Magdalena verwarf die aufziehenden Gedanken, auf ihrem Handy nach neuen Nachrichten zu schauen. Zu dicht war das Gedränge. Bei dem eher grenzwertigen Empfang würde sie sich später darum kümmern.

In der Zwischenzeit hatten sie eine der Ausgangstüren erreicht, froh darüber, die abgestandene Luft hinter sich zu lassen. Plötzlich schoben sich mehrere schwarzgekleidete Männer vom Sicherheitspersonal zwischen sie und versuchten, sie auseinanderzubringen. Magdalena und Verena griffen sich instinktiv bei den Händen. Sie hielten dagegen, da sie sich vorgenommen hatten, noch einige persönliche Fragen an die beiden Autorinnen von eben zu stellen. Sie versuchten deshalb, ihnen weiterhin zu folgen, auch, um sie um ein Autogramm zu bitten. Für einen kurzen Moment gab es einen Tumult, dann ließ man sie notgedrungen passieren.

Zusammen mit einem Menschenpulk drängten sie in die Übergangsröhre zur nächsten Halle. Sie wurden dabei mehr geschoben, als dass sie laufen konnten. Im Gegensatz zu Frankfurt, der großen Schwester der Leipziger Buchmesse, war es hier nicht so chaotisch. Keine über verschiedene Ebenen und Halb-Ebenen verteilten und mit Laufstegen verbundenen Hallen, für die man zumindest als Neuling unbedingt einen Messeplan brauchte, um sich zurechtzufinden und den Überblick zu behalten.

Das Gedränge hielt an. Sie hatten sich noch immer bei den Händen gefasst, mussten nun aber feststellen, dass sich direkt vor und hinter ihnen jeweils zwei Leute von der Security befanden. Auch wenn sie es nicht unmittelbar greifen konnten, fühlte es sich irgendwie unsicher an. Selbst aus der Gegenrichtung wurde es voll, da hier ständig weitere Besucher über den Haupteingang von den Parkplätzen und der S-Bahn hereindrängten. Überall wurde gedrückt und geschoben. In Frankfurt waren der Donnerstag und der Freitag traditionell jeweils Fachbesuchertage. Erst am Wochenende öffnete dort die Messe für das breite Publikum, was dann das Gedränge nochmals potenzierte. Hier in Leipzig ging es jedoch gleich am ersten Tag zur Sache.

An einem Übergang zweier Hallen, an denen man sich zwischen den Wartenden vor den Toiletten durchschlängeln musste, standen weitere in Schwarz gekleidete Männer. Diese schoben sich von der Mitte heran und drängten die Autorinnen seitlich ab. Schon ihre starke Präsenz war ungewöhnlich. Die Männer, die sich vor und hinter Magdalena und Verena befanden, drehten jetzt ihre eigenen Körper so geschickt in den Weg, dass sie keine Chance hatten, den Autorinnen direkt weiter zu folgen. Sie wurden stolpernd von den Massen vorwärtsgedrückt. Erst im letzten Moment, bevor man sie in einen der Gänge zwischen die Aussteller schieben konnte, riss Magdalena sich und Verena zur Seite. Die beiden Autorinnen waren jedoch ebenso wie die Sicherheitsleute verschwunden.

»Verdammt. Los, komm!«

Magdalena atmete schwer, drängte sofort zurück in die Gegenrichtung und hoffte darauf, dass Verena ihr folgte. Es gelang, auch wenn sie diese Aktion nur mit mehreren verbalen Entgleisungen und blauen Flecken überstanden.

Nach Luft schnappend erreichten sie wenig später die Stelle, an der sie die beiden Autorinnen zuletzt gesehen hatten. Außer dem glänzenden Parkettboden, weißen Wänden, einem Erste-Hilfe-Kasten nebst Feuerlöscher und zwei Leuchtplakaten war nichts zu sehen. Als sie suchend ein Stück weiter gingen, konnten sie eine schmale Glastür ausmachen. Sie schlüpften hindurch auf eine Freifläche zwischen den Hallen. Frühlingskälte und ein feuchter Wind umfingen sie.

Jetzt war es Verena, die den Finger auf ihre Lippen legte und sie in den Schatten einer Säule zog. Von hier aus konnten sie in der Mitte des Platzes mehrere dunkle VW-Busse ausmachen. Außerdem sahen sie, wie die beiden Frauen, denen sie gefolgt waren, je links und rechts von einem Schwarzgekleideten flankiert, hinübergeführt wurden. Es blieb keine Zeit, Entscheidungen zu treffen, denn in diesem Moment öffnete sich hinter ihnen die Tür, durch die sie selbst kurz zuvor gekommen waren. Zwei Security-Leute hetzten direkt auf sie zu.

»Hey Ladys, lasst das, ja? Das ist nicht eure Baustelle.«

»Das werden wir ja sehen. Sagen Sie mir erst mal, was das hier zu bedeuten hat!« Magdalena hatte sich aufgerichtet und trotzig zu den Männern gesprochen. Unbewusst hatte sie sich dabei gewundert, wie durchtrainiert diese waren.

»Wir haben hier für die Sicherheit zu sorgen, das soll als Auskunft genügen. Und jetzt lassen Sie uns in Ruhe unsere Arbeit machen. Bitte gehen Sie!«

Einer hielt die Tür auf und deutete hochnäsig nach hinten zurück in den Gang zur Messehalle. Der andere hatte als ein Zeichen der Entschlossenheit die Hand wie zufällig auf den Schlagstock an seinem Gürtel gelegt und schritt langsam auf sie zu. Zusammen mit dem Kollegen verstellte er ihnen damit die letzte Fluchtmöglichkeit. Magdalena wich zurück. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich die Türen der VW-Busse schlossen.

Im selben Moment sprang plötzlich Verena vor, riss ihr rechtes Knie nach oben und rammte es dem ersten der Männer in den Unterleib. Als dieser mit schmerzverzerrtem Gesicht ansatzlos zu Boden ging, griff sie zu und nahm sich seinen Schlagstock. Sie schwang ihn rasch durch die Luft, um ihn dann direkt auf die noch auf der Türklinke liegende Hand des fassungslos zusehenden Kollegen zu schmettern. Das Geräusch der dabei brechenden Knochen war kurz und eklig. Der Mann schrie auf, fingerte umständlich mit der gesunden Hand nach seinen eigenen Stock und kam auf sie zu. Verena nutzte das Überraschungsmoment, zog Magdalena am Arm hinter sich her zurück in den Gang.

Den Schlagstock schleuderte sie in Richtung des ihnen folgenden verletzten Sicherheitsmannes, sodass dieser in Deckung gehen musste.

»Entschuldige, das war unüberlegt und sehr heftig. Aber ich hatte riesige Angst, verstehst du? Und wir sind doch ein gutes Team, oder?«

Sie rammten die Tür hinter sich zu.

Magdalena blinzelte, rang um Fassung. Dann lächelte sie. »Ich habe nicht die Spur einer Ahnung, was hier gerade passiert. Das ist Wahnsinn! Zwei Zivilistinnen greifen normalerweise keine Security an, selbst wenn sie das Gefühl haben, dass es keinen anderen Ausweg gibt. Einfach deren Ansage Folge zu leisten, geht natürlich auch nicht. Später musst du mir auf jeden Fall erklären, wo du das gelernt hast.«

»So zu kämpfen? Nun, das Leben auf dem Schulhof und auch sonst in Berlin ist kein Ponyhof, das kannst du mir glauben.«

»Das hier glaubt uns niemand. Okay, jetzt komm, folge mir. Ich war schon öfter hier. Wenn ich mich nicht irre, müssen die gleich mit ihren Autos um die Hallen fahren, um wieder die Hauptstraße zu erreichen. Das verschafft uns etwas Zeit.« Sie zeigte quer über den Verbindungsgang. »Lass uns dort drüben abkürzen, vielleicht haben wir eine Chance, sie aufzuhalten! Mit einer Entführung dürfen die Verbrecher nicht durchkommen!«

Sie rannten los und erreichten genau in dem Moment die Tür, als die Fahrzeugkolonne um die Ecke bog. Sie stellten sich mitten auf die Fahrbahn und blieben stehen.

»Merk dir für alle Fälle die Autokennzeichen!« Magdalena hob ihr Handy und machte Fotos. Die VW-Busse mussten zwangsläufig bremsen. Nur Zentimeter vor ihnen hielt der erste hupend an. Der Fahrer ließ die Scheibe herunter und beugte sich brüllend heraus: »Verdammt, was soll die Scheiße?«

Noch ehe sie antworten konnten, erschienen auch ihre verletzten Verfolger. Es roch sofort stechend nach Schweiß. Ihre Gesichter waren dunkelrot angelaufen und schmerzverzerrt. Einer riss ein Funkgerät vom Gürtel und schrie hinein: »Nehmt sie mit!«

Wie auf Kommando öffneten sich mehrere Schiebetüren der wartenden Autos, mehrere Männer sprangen heraus und ergriffen die beiden Frauen. Der Verfolger, dem sie nicht auf die Hand geschlagen hatte, richtete sich auf und gab ihnen jeweils eine heftige Ohrfeige.

»Ihr hättet euch nicht einmischen sollen, verdammt. Die Warnung war deutlich, Ladys. Keine Ahnung, was euch hierher treibt. Es gibt jedoch auf dieser Welt Dinge, die eure Kompetenz und Vorstellungskraft übersteigen. Die Amerikaner sagen dazu in ihren Filmen oft: Das ist eine Frage der nationalen Sicherheit. Aber dafür ist es jetzt eh zu spät.«

Er verzog sein Gesicht zu einer Fratze, was wohl wie ein Lächeln aussehen sollte. Dann trat er dicht an sie heran, sodass sie die blutunterlaufenen Augen und den Rotz sehen konnten, der sich zäh über seine Oberlippe zog. Aus allen Poren atmete er Hass. Im nächsten Moment schlug er unvermittelt und brutal mit der Kante der rechten Hand jeweils gegen ihre Schläfen. Niemand machte sich die Mühe, den Sturz abzufangen. Die beiden bewusstlosen Frauen warf er in einen der VW-Busse.

Der Mann mit dem Funkgerät öffnete die Beifahrertür des ersten Fahrzeuges und drehte seine Hand, als würde er einen Rotor anlassen.

»Aufsitzen, Abfahrt!«

Die Fahrzeugkolonne setzte sich als geschlossener Verband in Bewegung und fuhr in Richtung Autobahn.

Zwei

Kriminalhauptkommissar Richard Störmer rührte gelangweilt im Kaffeesatz. Er hatte keine Lust zu joggen. Schlafen konnte er auch nicht mehr, also saß er im Büro. Selbst der Weg zum Kühlschrank, um sich eine Dose seiner geliebten Cola mit Kirschgeschmack zu holen, war ihm heute zu lang.

Es roch schwach nach abgelagertem Bohnerwachs und Desinfektionsmittel, als würde ab und zu ein Schleier des Geruch-Mixes vorbeiziehen.

Die Stadt Halle war noch dabei, aufzuwachen. Eine gute Zeit, um durchzuatmen, bevor sich nachher die Abgase wie eine Glocke über den Berufsverkehr legen würden.

Die durch die schmuddeligen Fensterscheiben der halleschen Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Süd drückende Morgensonne blendete ihn. In der letzten Stunde hatte er nichts anderes getan, als Kaffee zu trinken und sein Handy festzuhalten, ohne dass ihn eine Nachricht erreichte. Von hier aus war es nicht weit bis zum Riebeckplatz, dem größten Verkehrsknotenpunkt und Herz der Stadt.

Er seufzte. Sein Blick schweifte über das Sideboard, auf dem sich die Akten der letzten Fälle stapelten. Sie warteten darauf, dass sie jemand ins Archiv brachte. Er selbst konnte und wollte es nicht tun, zu sehr enthielten sie Teile seines eigenen Lebens. Störmer versuchte, nur minimal sentimental zu werden. Es misslang.

Diese Fälle hatten ihm das Schönste und zugleich das Schlimmste gebracht, was er sich vorstellen konnte. Bereits während der Ermittlungen zum ersten Fall, die sich auf Schloss Mansfeld konzentrierten, hatte er seine Nachbarin Magdalena Siegert kennen und lieben gelernt. Störmer wusste, dass er sich oft wie ein kleines Kind benahm, wenn er in ihrer Nähe war. Als Kriminalschriftstellerin war sie ihm eine Partnerin auf Augenhöhe, als es darum ging, den eigentlich schon dingfest gemachten Serienmörder Michels nach dessen Flucht erneut zu jagen. Dabei hatten sie zu Beginn ihrer Ermittlungen noch nicht gewusst, dass sich der Täter mit einem weiteren bestialischen Killer, seinem Blutsbruder aus Kindheitstagen, verbündet hatte.

Das Verhältnis zu ihr war sehr intensiv geworden. Seitdem bedankte sich Störmer jeden Morgen, wenn er bei ihr übernachtet hatte dafür, dass er ihre Zahnpasta benutzen durfte.

Jeden Morgen schmierten sie sich gegenseitig und rumalbernd ihr Frühstücksbrötchen. Im Moment war sie auf der Buchmesse, zum Glück nur in Leipzig und nicht in Frankfurt. Heute war sie sehr zeitig losgefahren, sodass die Zeit nicht zum gemeinsamen Frühstücken gereicht hatte. Das verbesserte seine Stimmung nicht, im Gegenteil. Jetzt fehlte sie ihm, sehr sogar.

Er seufzte erneut, als er an seine Tochter Verena dachte. Sie hatte schnell ein erstaunlich vertrauensvolles Verhältnis zu Magdalena aufgebaut und schließlich spontan gefragt, ob sie mit zur Buchmesse dürfe. Störmer blieb daraufhin nur, die Tochter bei ihrer Wochenendanreise am Bahnhof zu begrüßen, um sie dann zusammen mit seiner Freundin gleich wieder in die S-Bahn zu schicken, in ein verlängertes Messe-Wochenende. Bis spät in die Nacht wollten sie Veranstaltungen von Leipzig liest besuchen.

Er las die knappe Mail von Verena zum wiederholten Male, in der sie sich bei ihm bedankte, dass sie hatte mitfahren dürfen. Schließlich nickte er sich selbst zu. Tja, das sind sie dann wohl, die beiden wichtigsten Frauen in meinem Leben.

Seine Exfrau war sicherlich ebenfalls froh, dass die gemeinsame Tochter nicht die ganze Zeit bei ihm, einem Kriminalhauptkommissar in laufenden Mordermittlungen, verbrachte. Beim letzten Besuch war das schief gegangen. Verena erlitt einen Schock, als sie in Störmers völlig mit Blut verschmiertes Auto stieg. Er war sich im Klaren, dass Magdalena mit ihrer Einwilligung zum gemeinsamen Messebesuch auch den Versuch unternahm, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Er hoffte, dass sie versuchte, ein Stück Familie zu sein. Das war nicht einfach bei einer Heranwachsenden, die, von Gefühlen hin- und hergerissen, noch nicht wusste, was sie wollte.

Ich weiß nicht, wie oft ich dir sagen darf, dass ich dich liebe, Magdalena. Es gehört nicht zu meinen Stärken, dies zu tun, und doch habe ich das Gefühl, nichts anderes mehr zu wollen. Du willst Krimis schreiben, leben, in einer eigenen Welt. Eine heile Welt, wo es das Böse nur im Kopf und auf dem Papier gibt, die nicht so kaputt ist wie meine, die eines Kriminalhauptkommissars.

Wie viel erträgst du davon?

Was gebe ich dir für dein Leben?

Wie kann ich für dich da sein?

Du kennst meine Tochter kaum, von der selbst ich sehr wenig weiß, weil ich nicht der beste Vater bin. Ich habe mit dir nie darüber geredet, besonders, da ihre Mutter ein Teil meiner Vergangenheit ist. Es gibt nichts Verbindendes dazwischen, auch wenn ich es gern hätte. Es ist, als wäre jede Welt ein Kreis für sich. Da, wo sich die Welten berühren, stehe ich. Und wie nehme ich dich mit, wie wird es unsere gemeinsame Welt, für immer vielleicht? Ich weiß nicht, ob ich das Glück mit dir verdient habe, aber ich halte es fest, so lange ich kann.

Störmer hatte versprochen, die beiden am Sonntag vom Bahnhof abzuholen und zum Essen einzuladen. Ihm war eigentlich bereits jetzt danach, ihre Stimmen zu hören. Als Vorwand für einen Anruf würde er die Frage nach ihrer Ankunftszeit benutzen. Er erhob sich, brühte einen neuen Kaffee auf und griff zum Telefon. Die Enttäuschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, als er bei beiden nur die Mailbox erreichte.

»Hallo, meine kleine Schriftstellerin, euch scheint es ja gut zu gehen, wenn ihr dem alten Mann in der Heimat nicht mal eine Nachricht hinterlasst. Meldet euch, damit ich weiß, wann ich übermorgen am Bahnhof sein soll, ja? Passt auf euch auf!« Und nach einer kurzen Pause: »Habe euch lieb.« Dann legte er auf.

Er gönnte ihnen den Spaß. Wahrscheinlich sind sie so beschäftigt, dass sie im Moment keine Zeit für mich haben.

Plötzlich fragte er sich, wann er eigentlich das letzte Mal ein Buch gelesen hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern. Heute Abend gehe ich in Magdalenas Wohnung und hole mir einen ihrer Krimis, dann bin ich wenigstens nicht ganz allein.

In diesem Moment betrat seine Assistentin Sabine Achenbach das Vorzimmer. Gut gelaunt rief sie von weitem: »Morjen, Chef.«

»Morjen, wird ja Zeit, dass du kommst, alles muss ich hier allein machen.«

Er grinste. Also dann, auf in einen neuen Arbeitstag.

***

Störmer hatte sich in Berichte und Statistiken vergraben, sodass er erst gegen 22 Uhr nach Hause kam. Er fingerte ein Bier aus seinem Kühlschrank, öffnete es jedoch nicht sofort, da er sich daran erinnerte, dass er sich zuvor ein Buch von nebenan holen wollte.

In Magdalenas Wohnung roch es nach frischen Blumen. Er gab ihnen neues Wasser und schlenderte dann zum Bücherregal. Verdammt, vielleicht hätte ich etwas mehr aufpassen sollen, was denn nun das erste Buch war, das sie geschrieben hat. Er zog das Handy hervor, öffnete eine leere Suchseite und tippte ein: »Magdalena Siegert Reihenfolge«. Dann nahm er sich das entsprechende Taschenbuch aus dem Regal. Das Cover zeigte ein Foto einer Treppe. Zusammen mit dem dunklen Einband und der roten Schrift war es sofort als Krimi zu erkennen. Das gefiel ihm.

Er versuchte nochmals, Magdalena oder Verena anzurufen. Wieder nur die Mailboxen. Alter Esel, jetzt wirst du auch noch romantisch. Ohne darüber nachzudenken setzte er sich in ihren Schaukelstuhl. Hier war er ihr so nah, wie er es im Moment sein konnte. Er schlug das Buch auf und begann zu lesen. Fast hundert Seiten später schlief er ein. Dass das Bier in seiner Wohnung in der Zwischenzeit warm wurde, interessierte ihn nicht.

***

Als er auch am nächsten Morgen keine Nachricht auf seinem Handy oder im Maileingang hatte, beschloss er, nur kurz zu duschen und dann direkt in die Polizeidirektion zu fahren. Sein Rücken schmerzte von der unbequemen Schlafhaltung im Sessel. Aber er war trotzdem froh, geblieben zu sein. Er warf dem Bücherregal eine Kusshand zu. Du fehlst mir. Das Taschenbuch nahm er mit in seine Wohnung. Dort suchte er ein Stück Papier, um es als Lesezeichen zu benutzen. Er wusste, dass Magdalena es hasste, Bücher auf die geöffneten Seiten zu legen, da sie das als Folter für Einband und Papier betrachtete.

Sein Magen knurrte, sodass er sich unterwegs belegte Brötchen kaufte. Mehr als einen Tag hatte er nichts gegessen, fast so wie früher, in seinen Junggesellenzeiten.

Heute war Sabine vor ihm im Büro. Sie versuchte, ernst zu gucken und auf die Neckereien der Vergangenheit zu reagieren. »Ah, der werte Herr Chef gibt sich die Ehre. Guten Morgen, oder besser gesagt Mahlzeit, wünsche wohl geruht zu haben. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Bis jetzt musste ich hier heute die ganze Arbeit allein machen.«

Störmer antwortete nicht. Er ging zu ihrem Schreibtisch, beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann lief er in sein Büro. Kurz darauf folgte sie ihm und setzte Kaffee auf.

»Was ist los, Chef, das hast du doch noch nie getan. Was ist passiert?«

»Ich wollte sehen, ob du rot wirst.«

»Quatsch. Na ja, das tut hier nichts zur Sache.« Sie wischte durch die Luft, als wäre eine Fliege zwischen ihnen. »Also, was ist los?«

»Magdalena und Verena sind doch in Leipzig …«

»Ja, auf der Buchmesse. Und?«

»Sie haben dort übernachtet, in dem Zimmer, das der Verlag gesponsert hat. Ich erreiche sie nicht. Bekomme keine Nachrichten, nichts.«

»Lass sie in Ruhe, die beiden haben ihren Spaß. Die sind ganz froh, mal vom alten Griesgram wegzukönnen.«

»Hm. Aber …«

»Was aber?«

Störmer wartete, bis der Kaffee durchgelaufen war.

»Da stimmt was nicht.«

»Sagt wer?«

»Ich.«

»Das ist Unsinn.«

»Doch, glaub mir, wenigstens eine kurze Nachricht hätten sie mir geschickt, ein Video, ein Bild, einen Gruß, irgendwas.«

»Und es kam nichts?«

»Nein.«

»Es wird schon nichts Schlimmes passiert sein. Wenn sie wieder da sind, fragen wir sie einfach. Bestimmt gibt es eine einfache und logische Erklärung.“

Da glaubst du doch selbst nicht dran!

„Und vielleicht sind sie ja gerade in diesem Moment auf der Suche nach einem passenden Buch. Du hast sie doch gebeten, eins mitzubringen. Wenn da schon mal so viele Schreiberlinge rumlaufen, dann gern auch mit einem Autogramm. Das waren deine Worte, erinnerst du dich?«

»Ja klar.« Er schlürfte seinen heißen Kaffee.

»Da der Herr Chef ein wenig gedrückter Stimmung zu sein scheint, sei mir die Frage erlaubt: Was hast du bereits unternommen?«

»Angerufen, mehrmals. Nachrichten geschickt. Auch mehrmals. Und gewartet.«

»Sehr einfallsreich, der Herr Kriminalhauptkommissar, Respekt, tolle Ermittlungen.«

Sie sah ihn an, versuchte, strenger zu gucken als sonst, nahm einen Block und einen Bleistift.

»Erzähl mir, was sie für die Messezeit geplant haben, in welches Hotel sie wollten und so weiter. Alles, was dir einfällt. Ich werde dich nicht unterbrechen.«

Störmer erinnerte sich an die aufgeregte Vorbereitungszeit, als sie voller Energie den Besuch von Lesungen und Vorträgen geplant hatten. Es war zwar meist telefonisch gewesen, aber er hatte Magdalena stets dabei zugesehen. Wie er sich jetzt zugestehen musste, wohl mehr bewundert als zugesehen. Ihre gute Laune hatte ihm selbst gutgetan.

»Hör auf zu träumen, Chef. Wie war noch mal der Name des Hotels, in dem sie gebucht haben?«

»Sie hat den Namen ganz bestimmt gesagt. Aber jetzt, so direkt und gleich, da fällt er mir gerade nicht ein. Hm, Moment …« Ich kann dir doch nicht sagen, dass ich ein ganz blödes Bauchgefühl habe, verdammt! Sie meldet sich sonst immer, verstehst du? IMMER!

»Du hast ihn also vergessen.«

Sabine stand auf und kam mit einem Tablet-Computer zurück. Sie öffnete die Hotelsuche von Leipzig, konzentrierte sich dabei auf den Stadtrand in Richtung Messe und schob ihm den Bildschirm zu. »Schau mal.«

Jetzt erinnerte er sich nach einem Blick an eins der Airport-Hotels.

»Geht doch.« Sabine notierte sich den Namen und rief direkt an. Sie musste lange diskutieren. Zuerst wollte man ihr keine Auskunft geben. Erst als sie darum bat, mit Magdalena Siegert verbunden zu werden, sagte man ihr, dass sie zwar ein Zimmer gebucht habe, aber im Moment wohl nicht im Hotel sei, da sie nicht ans Telefon ging. Sabine bat, einen Zettel mit der Nachricht um Rückruf in das Zimmer zu legen. Sie blieb ausgesprochen höflich bis zum Schluss des Telefonates. Die gute Seele.

»Hm, ich bekomme eine Info, vermutlich sind sie schon wieder unterwegs.«

»Wahrscheinlich.« Seine Antwort war schwach und ungläubig.

»Hör zu, Richard, wenn wir bis morgen nichts hören, rufst du Staatsanwalt Nagel an. Er ist dein Freund, und ich denke, dass er mehr als einen guten Rat für dich hat und weiß, was in so einem Fall zu tun ist. Aber jetzt ist es dafür zu früh.«

Störmer nickte. Er griff über den Schreibtisch, zog den Zettel heran, auf dem sie den Namen des Hotels notiert hatte, und antwortete erst dann.

»Also gut. Lass uns irgendetwas machen, das uns hoffentlich bei unserer Suche weiterbringt. Zeig mir mal die Meldungen, die über Nacht hereingekommen sind.«

***

Störmer hatte das Gefühl, den Morgen nicht aushalten zu können. Ein unerträglich langes Wochenende mit viel freier Zeit lag vor ihm, an dem er sich nicht in der Polizeidirektion ablenken konnte.

Eigentlich war er gern allein, genoss die Ruhe. Doch jetzt hasste er sie. Er tigerte durch die Wohnung und rief abermals im Hotel an, um sich nach den beiden zu erkundigen. Wieder das gleiche Spiel wie gestern bei Sabine. Auch ihm wollten sie keine Auskunft erteilen.

Erst als er ins Telefon brüllte und erklärte, Polizist zu sein, versuchte man, ihn zu verbinden. Doch das Gespräch kam nach mehrmaligem erfolglosen Klingeln zurück an die Rezeption.

»Tut mir leid, da nimmt niemand ab.«

Störmer war geistesgegenwärtig genug zu erwähnen, dass man gestern eine Nachricht auf’s Zimmer gelegt hatte. Daraufhin knallte der Hotelangestellte den Hörer auf den Tresen, um mit einem der Zimmermädchen zu reden. Störmer zuckte zusammen.

»Hier bin ich wieder. Also, die Nachricht liegt unverändert im Zimmer. Scheint wohl niemand dagewesen zu sein. Mehr weiß ich nicht. Auf Wiederhören.«

Das Gespräch war zu Ende.

Scheiße verdammt! Verdammt, verdammt, verdammt! Was mache ich jetzt?

Störmer lief aufgeregt hin und her. Er ging auch kurz in Magdalenas Wohnung hinüber, um den Anrufbeantworter zu überprüfen. Nichts. Er verwarf den Gedanken, seine Assistentin Sabine anrufen. Die wenigen Möglichkeiten waren sie gestern bereits mündlich durchgegangen.

Schließlich fasste er sich ein Herz und rief seinen Freund an, Staatsanwalt Nagel. Auch hier leider nur die Mailbox.

Soll ich mich ins Auto setzen und gleich selbst nach Leipzig fahren? Was kann ich ausrichten? Vielleicht lasse ich sie zur Fahndung ausschreiben? Dann vorsichtshalber nach Rücksprache mit einem Staatsanwalt oder Richter.

Dem Vorwurf der Befangenheit wollte er sich nicht aussetzen. Auch wenn er es eigentlich besser wusste. Wahrscheinlich war es so etwas wie Vorahnung, die ihm unterschwellig Angst einflößte. Sie kroch in jede Faser seines Körpers, immer weiter in Richtung Gehirn. Es gab bisher wenige Momente, in denen er sich jemals richtig allein gefühlt hatte. Jetzt war es soweit. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Tränen zu unterdrücken.

Gerade als er duschen wollte, klingelte das Handy. Gott sei Dank! Staatsanwalt Nagel rief zurück.

Drei

Es würde ein guter Tag werden. Zumindest hatte er alles dafür vorbereitet.

Durch den Fensterschlitz kam frische, feuchte Luft. Entspannt sah er zur Zimmerdecke des Hotels. Das ruhige Summen des Ventilators konnte er hören, ihn selbst aber nicht sehen, dafür reichte das Licht des frühen Morgens nicht aus. Er dachte nach.

Riga, die lettische Hauptstadt, gefiel ihm sehr. Hier war seine Ostblockabstammung egal, hier war er unauffällig. Er konnte das Leben genießen, kommen und gehen, wann er wollte. So wie jetzt, in diesem Fünf-Sterne-Hotel mit einer unscheinbaren Sandstein-Fassade. Um die frühe Tageszeit war es besonders still, da die Straßenbahnen ihren Dienst auf den quietschenden und altersschwachen Schienen noch nicht aufgenommen hatten.

Ein Lächeln schlich über sein Gesicht.

---ENDE DER LESEPROBE---